Das Buch
Für Frau Honig gehören Bücher zu den wunderbarsten Dingen der Welt. Nicht so für die Bewohner der kleinen Stadt. Denn hier wird lieber am Computer gesessen, das Lesen von Büchern gilt als Zeitverschwendung. Charly allerdings, ein kleiner Einzelgänger, flüchtet sich in seine Bücherwelt. Und Frau Honig bemerkt schnell, dass der schüchterne Junge eine ganz besondere Gabe hat: Wenn Charly vorliest, erwachen die Figuren der Geschichten zum Leben. Ob es Frau Honig mit seiner Hilfe gelingen wird, die Menschen zum Lesen einzuladen und den Buchladen von Charlys Mutter vor der Schließung zu retten?
Die Autorin
© Christian Hartmann
Geboren wurde Sabine Bohlmann in München, der schönsten Stadt der Welt. Als Kind wollte sie immer Prinzessin werden. Stattdessen wurde sie (nachdem sie keinen Prinzen finden konnte und der Realität ins Auge blicken musste) Schauspielerin, Synchronsprecherin und Autorin und durfte so zumindest ab und zu mal eine Prinzessin spielen, sprechen oder über eine schreiben. Geschichten fliegen ihr zu wie Schmetterlinge. Überall und zu allen Tages- und Nachtzeiten (dann eher wie Nachtfalter). Sabine Bohlmann kann sich nirgendwo verstecken, die Geschichten finden sie überall. Und sie ist sehr glücklich, endlich alles aus ihrem Kopf rausschreiben zu dürfen. Auf ein blitzeblankes, weißes – äh – Computerdokument. Und das Erste, was sie tut, wenn ein neues Buch in der Post liegt: Sie steckt ihre Nase ganz tief hinein und genießt diesen wunderbaren Buchduft.
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Der Verlag
Du liebst Geschichten? Wir bei Planet in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!
Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.
Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer*in erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.
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Viel Spaß beim Lesen!
Nein, eine Leseratte war ich nicht. Auch kein Bücherwurm. Ich las hin und wieder und meine Lieblingsbücher las ich auch mehrmals. Der geheime Garten, Die kleine Prinzessin, Fünf Freunde. Mit neun schrieb ich mein erstes Buch, na ja, zumindest die ersten drei Seiten meines ersten Buches. Gleich danach ein Theaterstück und brachte es sogar zur Aufführung. Ich liebe den Geruch von Büchern und einmal ging ich in eine riesige alte Bibliothek und musste weinen, weil die vielen Bücher mein Herz berührten. Ich hoffe, die Bücher, die für mich geschrieben sind, werden mich finden. Und genauso sehr hoffe ich, dass dieses Buch hier euch finden wird.
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Bücher sind Bienen, die Leben zeugenden Blütenstaub von einem Geist zum andern tragen.
James Russell Lowell
Eine Biene – gelb-schwarz geringelt, zwei Fühler, ein Rüssel, zwei Flügelpaare und sechs Beine, zwölfeinhalb Millimeter klein – landete auf einer honiggelben Blume. Irritiert betasteten ihre Fühler die Blütenblätter. Etwas stimmte nicht! Denn diese Blume roch so überhaupt nicht nach Nektar, und wieder einmal ärgerte sich die Biene, dass sie erst ihren Augen und dann ihrem Geruchssinn vertraut hatte, und nicht umgekehrt. Doch immerhin duftete diese Blüte nach Gras, Leim und einem Hauch Vanille. Vielleicht aber auch nach einer Spur Säure und Essig und Tinte. Ja, nach Tinte roch es am allermeisten. Denn diese Blume war keine Blume, die auf einer Wiese wuchs, es handelte sich um eine Blume auf einem …
»Buch!«, hauchte in diesem Moment eine junge Frau. Und es klang, als wäre sie verliebt. Sie trug einen gelben Mantel, einen Hut auf dem Kopf, hatte lustige Augen und war 1,67 m groß. Kein Zweifel, es war Frau Honig. Das Kindermädchen. Sie hob das Buch mit der Blume und der Biene hoch, um daran zu schnuppern. »Ich liebe den Duft von Büchern. Er riecht fast so gut wie der Duft von Honig. Oder der Duft von Blumen. Von frisch gemähtem Gras. Oder von Weihnachtsplätzchen.« Sie schloss die Augen und nahm erneut einen tiefen Atemzug. Dann legte sie das Buch behutsam zurück in den Korb, der vor einem Laden stand. Sie kramte einen kleinen Zettel aus ihrer Manteltasche.
»Schillerstraße 17«. Ja, hier war sie richtig. Auf dem Schild über dem Eingang stand in großen Buchstaben:
Im Schaufenster lag auf der neuesten Ausgabe der Unendlichen Geschichte eine Katze und schlief. Über Frau Honigs Gesicht huschte ein Lächeln.
»Bücher!«, sagte sie noch einmal und zwinkerte der Biene zu, die sich in diesem Augenblick von der Blume auf dem Buch erhob und auf der Plastikanemone auf Frau Honigs Hut Platz nahm.
Auch nicht besser, dachte sie wohl, denn Plastikanemonen dufteten noch weniger als Buchblumen. Die Glocke über der Ladentür klingelte und kündigte die Kundin an, bei der es sich in diesem Fall jedoch gar nicht um eine Kundin handelte, sondern um ein Kindermädchen.
Eine Frau mit orangefarbenen Haaren, die wild auf ihrem Kopf zusammengesteckt waren und an ein Vogelnest ohne Vogel erinnerten, hob den Kopf. Mit der Hand fasste sie sich ans Herz.
»Haben Sie mich erschreckt!«, rief sie aus und rutschte von der Theke, auf der sie gesessen hatte.
»Das tut mir leid!«, sagte Frau Honig höflich, stellte den Bienenkorb und den Koffer ab und blickte sich um. Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Mit Ihnen hätte ich jetzt gar nicht gerechnet!« Die Vogelnestfrau musterte Frau Honig von oben bis unten.
»Das erstaunt mich nicht«, antwortete diese, »denn mit mir rechnet man meistens nicht. Und abgesehen davon, dass ich rechnen nicht so gern mag, erwartet mich auch niemals niemand!«
»Wir sind Kunden nicht so gewöhnt«, flüsterte die junge Frau, als wäre das ein Geheimnis. Ihre Zähne waren etwas schief, aber sie lächelte ein lustiges Lächeln. Frau Honig mochte sie sofort.
»Wollen Sie was kaufen? Vielleicht ein Buch?«, fragte die Verkäuferin und machte eine ausladende Bewegung.
Der Laden war bis zur Decke mit Büchern vollgestopft. Die Bücher füllten nicht nur die Regale, sie stapelten sich in windschiefen Stapeln überall im Raum. Es roch nach Staub und eben nach, wie sollte es anderes sein, Büchern.
Frau Honig streckte der Verkäuferin die Hand entgegen. »Honig. Elsa Honig. Die VFFDAÜDKWVAB schickt mich!«
Die ohnehin schon großen Augen der Frau wurden noch größer. Ängstlich blickte sie Frau Honig an. »Nicht schon wieder!«, stieß sie heiser hervor.
»Nicht schon wieder was?«, fragte Frau Honig irritiert.
»Nicht schon wieder so ein Amt. Wir hatten letzte Woche erst das ABGTNT, die Woche zuvor kamen sie vom BMFSFJ, dann waren hier noch Leute vom GGDBUDE – oder waren die vom BBDGADU? Ich weiß es doch auch nicht. Und jetzt Sie.« Sie klang verzweifelt. »Es ging um Rechnungen, die nicht bezahlt waren, um Charly, den Sohn von Frau Fink, der irgendwelche Schwierigkeiten mit seinen Mitschülern gehabt haben soll. Es waren Leute von der Steuer und sonstigen Behörden da. Und dann gab es noch welche, die sich den Laden angesehen haben, weil sie hoffen, dass wir nicht überleben, und sie die Nachmieter sein können. Wissen Sie, die Menschen hier lesen nicht mehr. Bücher empfinden sie als Zeitverschwendung. Dabei sind Bücher doch so hübsch. Jedes Buch hat ein anderes Bild vorne drauf. Es gibt dicke und dünne Bücher, große und kleine. Welche mit vielen Bildern drin und welche ganz ohne. Aber die Leute schauen lieber in ihre Handys und lesen Bücher auf Computern. Hach, ich rede schon wieder zu viel.«
Frau Honig lächelte geduldig. »Und Sie sind?«, fragte sie schließlich.
»Ilse Knüller. Wie Müller nur mit Kn«, fügte sie hinzu und kicherte. »Ich bin hier die Angestellte. Ich bin …«, sie machte eine kleine Pause, holte tief Luft und sagte dann, als würde es sich um ein Fremdwort handeln: »Buchhändlerin.« Dann erklärte sie: »Ich verkaufe Bücher.« Sie sagte es so, als könnte Frau Honig annehmen, sie würde hier zwischen den Büchern auch Schuhe anbieten. »Aber ich glaub, es sollte eigentlich Bücherhändlerin heißen. Weil man ja sonst immer nur ein Buch verkauft. Wenn man BUCHhändler ist. Aber man sollte doch mehrere Bücher verkaufen, finden Sie nicht? Oh, die Fantasie geht schon wieder mit mir durch. Tut mir leid.«
»Ich liebe es, wenn die Fantasie mit einem durchgeht.«
Die Frau mit der Vogelnestfrisur lächelte verlegen. »Aber Sie wollen sicher mit Frau Fink sprechen, richtig?«
Frau Honig nickte. »Das wäre fabelhaft!«
»Ich hole sie, sie wohnt in der Wohnung über dem Laden und sitzt gerade über den Abrechnungen. Einen Moment, ich bin flugs mit ihr zurück!«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Frau Knüller.«
»Ilse, Sie dürfen ruhig Ilse zu mir sagen.«
»Na, dann, lassen Sie sich ruhig Zeit, Ilse! Ich kann mir fast nichts Schöneres vorstellen, als in einer Buchhandlung, oder besser gesagt Bücherhandlung, zu stehen und zu warten!«
Ilse grinste Frau Honig noch einmal mit ihrem lustigen Lächeln an, dann verschwand sie in den Tiefen des Ladens.
Frau Honig ging langsam von einem Regal zum nächsten. Ihren Kopf hielt sie schief, da man so die Titel der Bücher besser lesen konnte. Mit der Hand streichelte sie über die Buchrücken.
Plötzlich hörte sie ein leises Lachen. Es kam aus einem besonders großen Bücherstapel. Als Frau Honig sich dem Bücherhaufen näherte, erkannte sie, dass die Bücher wie eine Höhle angeordnet waren. Eine Höhle mit einem runden Eingang, die Frau Honig an ein Iglu erinnerte. Sie ging in die Knie und streckte ihren Kopf vorsichtig durch das Loch. Da saß ein Junge. Neun Jahre alt. Mit wuscheligen dunklen Haaren. Ein Buch vor der Nase. Eine kleine Lampe erhellte die Bücherhöhle. Kissen sorgten für die Gemütlichkeit. Der Junge war so vertieft in sein Buch, dass er Frau Honig erst gar nicht bemerkte. Diese kniff die Augen zusammen, um den Titel des Buches besser lesen zu können.
»Tom Sawyers Abenteuer«, las sie leise vor. Aber nicht leise genug. Der Junge guckte erstaunt über den Rand des Buches direkt in Frau Honigs Gesicht. »Das war eines meiner Lieblingsbücher, als ich ein Kind war«, erklärte sie. Der Junge sagte immer noch nichts und starrte das Kindermädchen weiter an. Dieses streckte die Hand aus. »Honig. Elsa Honig. Ich bin das neue Kindermädchen.«
»Neues Kindermädchen?«, fragte der Junge.
Frau Honig nickte. »Mit Ilses Genauigkeit bin ich wahrscheinlich nicht das neue Kindermädchen, sondern euer erstes. Denn neu würde ja bedeuten, dass ihr bereits ein altes hattet.« Der Junge nahm zögerlich ihre Hand und schüttelte sie leicht. »Du bist sicher Charly.« Er nickte. »Am lustigsten ist doch die Stelle, an der Tom den Gartenzaun streichen muss und es den anderen Kindern so schmackhaft macht, dass die sogar dafür bezahlen, wenn sie ihn streichen dürfen!«
Charly nickte erneut schüchtern. »An der Stelle bin ich gerade«, sagte er leise.
»Dann will ich dich jetzt nicht länger stören. Lies schnell weiter, bevor deine Geschichte ohne dich am Ende ankommt!« Frau Honig zog den Kopf aus der Höhle und richtete sich wieder auf. Sie klopfte ihren Rock aus, der etwas staubig geworden war.
»Sie wollten mich sprechen?« Frau Fink stand plötzlich hinter ihr.
Elsa Honig musterte sie. Eine zierliche Frau mit Brille. Die Ähnlichkeit zu ihrem Sohn Charly war nicht zu übersehen.
Zum dritten Mal streckte Frau Honig ihre Hand aus und stellte sich vor. »Honig, Elsa Honig. Ich bin Ihr neues Kindermädchen. Sie sind sicher Emma Fink, richtig?«
Emma Fink nickte und schüttelte ihre Hand. »Wir haben kein Kindermädchen angefordert. Und wir brauchen auch keines. Charly ist ein ruhiges Kind. Er macht keine Schwierigkeiten!«
»Oh, das glaub ich gern. Aber manchmal steckt man bis zum Hals in kleinen Problemen und merkt gar nicht, dass aus vielen kleinen schon ein großes Problem geworden ist. Bis einen diese Probleme nach und nach erdrücken. Wer braucht da nicht eine Frau Honig? Außerdem bin ich bekannt dafür, dass ich nicht nur bei der Kindererziehung helfe, sondern auch in privaten, geschäftlichen und sonstigen problematischen Angelegenheiten. Ich verleihe, sozusagen, den Problemen Flügel und lasse sie aus dem Fenster fliegen.«
Ilse gluckste.
»Und wer schickt Sie, sagten Sie?«
»Die VFFDAÜDKWVAB schickt mich! Die Vermittlungsstelle für Familien, denen alles über den Kopf wächst, vor allem Bücher. Und das Beste ist: Ich bin völlig umsonst – also nicht umsonst, eher kostenlos. Ich koste nichts, das wird alles von der Vermittlungsstelle übernommen. Also, was haben Sie zu verlieren? Sagen Sie einfach Ja, und ich greife Ihnen unter die Arme.«
»Für was es alles Vermittlungsstellen gibt, so was!« Emma Fink schüttelte den Kopf. »Aber wir haben gar keinen Platz. Wie Sie sehen, ist alles ein bisschen voll!« Sie deutete auf die Bücherstapel. »Und oben in der Wohnung geht es weiter. Wir bewohnen im Grunde nur zwei sehr kleine Zimmer – alle anderen Räume sind mit Büchern zugestellt.«
Frau Honig drehte sich einmal langsam um die eigene Achse. Ihre Augen formten sich zu Schlitzen, als würde sie durch Wände sehen können. Zielsicher ging sie auf eine Wand aus aufgestapelten Büchern zu. »Und was ist dahinter?«
Frau Fink folgte ihrem Blick.
»Dahinter war mal ein Zimmer. Das Hinterzimmer. Es wurde so genannt, weil es dahinter war«, erklärte Ilse, die neugierig der Unterhaltung gelauscht hatte.
Frau Honig schmunzelte über die lustige Erklärung. »Na perfekt!«, meinte sie dann.
»Es gibt nur einen Haken!«, begann Emma Fink. »Das Zimmer besteht mittlerweile ebenfalls ganz und gar aus Büchern.«
»Ach, das macht nichts. Da werde ich mir hoppladihoppo was Gemütliches zaubern. Mich durch Bücher zu graben, ist meine Spezialität. Aber natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind, Frau Fink, oder darf ich Sie Emma nennen?«
Emma Fink nickte und zuckte mit den Schultern. Denn sie hatte das sichere Gefühl, nicht Nein sagen zu können. Sie konnte generell schlecht zu etwas Nein sagen und noch dazu zu jemandem, der so nett war wie diese Frau Honig.
»Also gut, wir können es ja mal miteinander versuchen. Ich muss mich jetzt allerdings wieder um die Abrechnungen kümmern. Die Steuer sitzt mir im Nacken und …«
»Kein Problem!«, flötete Frau Honig. »Ich komme hier sehr gut allein zurecht.«
»Und ich kümmere mich um die … äh … Kunden. Also falls jemand reinkommt, der zufällig etwas kaufen will. Ein Buch zum Beispiel«, stotterte Ilse und stellte sich zur Kasse. Ihren Blick hatte sie erwartungsvoll auf die Tür gerichtet.
Tatsächlich ging diese in diesem Moment auf und eine ältere Dame trat herein.
Sie holte Luft, doch bevor sie eine Frage stellen konnte, meinte Ilse freundlich: »Nein, Frau Callas, wir verkaufen auch heute keine Reisen. Tut mir leid! Wir sind ein BUCHladen!«
Die alte Frau machte schwungvoll auf dem Absatz kehrt und verließ mit einem gemurmelten »Dann eben nicht« den Laden.
Ilse schüttelte den Kopf. »Neulich hat einer gefragt, ob wir Christbaumschmuck verkaufen. Und das war im Sommer! Ich hab ihm geraten, dass er sich Bücher an den Baum hängen soll.« Ilse kicherte zu Frau Honig hinüber.
Frau Honig schmunzelte und sah zur Bücherhöhle.
Charly, der alles genau beobachtet hatte, zog schnell seinen Kopf zurück.
Dann widmete sich das Kindermädchen dem Hinterzimmer. Sie kramte eine gelbe Schürze aus ihrem Koffer und streifte sie über. Erst griff sie nach zwei Büchern aus der Mitte, hinter denen sie den ursprünglichen Eingang vermutete. Die Bücher waren so ineinander verschachtelt, dass es egal war, welche man herausnahm, die Bücherwand hielt trotzdem. Es war ein wenig wie bei Jenga, dem Spiel mit den Hölzern, die übereinandergestapelt wurden und man versuchen musste, möglichst viele herauszuziehen, ohne dass der Turm umfiel. Frau Honig begann dies Spaß zu machen. Sie zog hier und da. Dann stapelte sie die Bücher einfach an anderen Stellen hinter sich. Immer schneller wurde sie und es sah schließlich fast so aus, als wäre sie Teil eines Films, der im Zeitraffer abgespielt wurde.
Ilse traute ihren Augen kaum, diese wurden immer größer und größer.
Da läutete die Glocke über der Tür erneut. Ein Mädchen kam herein.
»Hallo, Ruby Becker!«, rief Ilse freundlich und dachte nicht weiter über die wild um sich stapelnde Elsa Honig nach.
»Hallo, Ilse!«, antwortete das Mädchen.
Charlys Kopf kam erneut aus der Bücherhöhle heraus.
»Hey, Charly«, sagte Ruby. Charly hob die Hand und winkte. Rubys Augen leuchteten. Das Mädchen trug einen viel zu großen karierten Mantel, der an den Ellenbogen schon ganz abgenutzt schien. Ihre langen braunen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten. Zielsicher steuerte sie auf die Kinderbuchabteilung zu. Sie sah an den hohen Regalen nach oben und streichelte liebevoll über die Buchrücken, so wie es kurz zuvor Frau Honig getan hatte. Hier und da nahm sie ein Buch heraus und las die Inhaltsangabe auf der Rückseite.
Frau Honig hatte inzwischen eine große Öffnung geschaffen, durch die sie hindurchgehen konnte. Man hörte es rumsen, Bücher flogen durch die Luft, stapelten sich an anderen Stellen, und nach und nach konnte man ein richtiges kleines Zimmer erkennen.
»Hui!«, rief Ilse, als sie an das Hinterzimmer herantrat.
»Das können Sie laut sagen, Ilse!« Frau Honig wischte sich die staubigen Hände an ihrer gelben Schürze ab.
»Hui!«, rief Ilse also noch mal. Diesmal etwas lauter.
»Und wie praktisch. Eine alte Matratze hab ich auch unter den Büchern gefunden«, erzählte Frau Honig erfreut.
»Wie haben Sie das nur gemacht, Frau Honig?« Staunend kam Ilse näher.
Ein kleines Bett mit einer gemütlichen Decke stand an der Wand. Die restlichen Wände waren von oben bis unten voller Bücher. Einige waren zu einem hübschen Nachttischchen aufgehäuft. Frau Honigs Koffer stand ordentlich in der Ecke. Aufrecht, wie ein kleiner Kleiderschrank. Und statt einem Bettgestell unter der Matratze hatte Frau Honig – wie könnte es anders sein – ebenfalls Bücher gestapelt.
»Hübsch, nicht wahr? Man kann sich doch kaum was Schöneres vorstellen als ein Zimmer voller Bücher. Ich brauche einfach nur in meinem Bett zu liegen, strecke meine Hand am Abend in irgendeine Richtung und schon habe ich ein Buch, in dem ich noch ein Weilchen lesen kann. Ich schlafe sozusagen in und auf Büchern. Na, auf die Träume bin ich schon gespannt!«
Die Katze, die eben noch im Schaufenster gelegen hatte, sprang auf das Bett, drehte sich ein paarmal im Kreis und rollte sich auf Frau Honigs honiggelber Decke zusammen.
»Und wer bist denn du?«, fragte Frau Honig und streichelte der Katze über das Fell. Die schnurrte als Antwort.
»Das ist Shakespeare«, erklärte Charly, der neugierig um die Ecke lugte. »Er wurde zwischen Hamlet und Othello geboren und von seiner Mutter kurz darauf verlassen. Seitdem wohnt er hier.« »Aber dann hätten sich doch diese beiden Männer um ihn kümmern können«, überlegte Ilse, die diese Geschichte wohl auch zum ersten Mal hörte.
»Hamlet und Othello sind Bücher, die von Shakespeare geschrieben wurden. Theaterstücke«, erklärte Charly. Und an Frau Honig gewandt fragte er: »Werden Sie jetzt hier wohnen?«
»Ja, für eine Weile.«
»Aber ich brauch kein Kindermädchen!«
»Das ist wahr, er hat ja auch noch mich«, bestätigte Ilse stolz.
»Manchmal weiß man erst, was man braucht, wenn man es hat. Ich finde, es käme auf einen Versuch an«, schlug Elsa Honig vor.
»Ich brauch wirklich kein …«
»Hattest du denn schon mal ein Kindermädchen, Charly?«
Charly schüttelte den Kopf.
»Na, dann kannst du doch gar nicht wissen, ob du nicht doch eines brauchst. Wie sage ich immer? Du merkst erst, wenn es regnet, dass du einen Regenschirm brauchst. Und was wir alle auf jeden Fall brauchen können, ist Spaß und gute Laune. Und wenn jemand lustig sein kann, dann ist das eine Frau Honig, das kannst du mir glauben! Und weißt du, was ich noch gern sage?«
Wieder schüttelte Charly den Kopf. Er lächelte breit. Diese Frau Honig war wirklich eine lustige Person.