Susanne Fröhlich
Roman
Knaur eBooks
Susanne Fröhlich ist eine der bekanntesten Autorinnen Deutschlands. Die Schriftstellerin, Journalistin und Moderatorin arbeitet unter anderem für den hessischen Rundfunk. Seit 2005 moderiert sie die MDR-Literatursendung Fröhlich lesen. Sowohl ihre Sachbücher wie Fröhlich Fasten und Romane, zuletzt Ausgemustert und Abgetaucht, wurden alle zu Bestsellern. Susanne Fröhlich lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Sabine Schröder
Coverabbildung: Collage von Sabine Schröder unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com.
ISBN 978-3-426-45720-7
Für Conny und Bärbel
Mit Euch gehe ich in jedes Heim
Sie war überrascht, wie schnell Sterben gehen kann.
So lautlos und ohne jedwedes Aufsehen.
Auf den Tag genau vor zehn Jahren ist Klaus gestorben. Da war sie gerade mal achtundfünfzig Jahre alt. Es war ein sonniger Frühlingstag, harmlos, ein ganz gewöhnlicher Morgen. Klaus und sie haben gefrühstückt, 6.45 Uhr, wie immer. Als er sich die erste Zigarette des Tages anstecken wollte, hatte sie gemeckert. Auch wie immer. »Sei nicht so eine zickige Ziege!«, hatte er erwidert. Und als sie in die Küche ging, um für beide eine weitere Tasse Kaffee zu holen, ist er vornüber auf den Tisch gesunken und war, als sie mit dem Kaffee ins Esszimmer zurückkam, tot.
Ein Herzinfarkt. »Nichts zu machen, das war heftig!«, hatte der Notarzt nur gesagt und bedauernd den Kopf geschüttelt.
Sie hatte sich hingesetzt und eine Zigarette aus Klaus’ Packung genommen. Sie, die Nichtraucherin. Er braucht sie ja nicht mehr, hatte sie nur gedacht. »Zickige Ziege« war das Letzte, was er zu ihr gesagt hatte. Weil sie, wie eigentlich jeden Morgen, genörgelt hatte. Über seine Raucherei. Jetzt war es zu spät für jegliche Freundlichkeit. »Gehen Sie nie schlafen oder getrennter Wege, ohne jede Streitigkeit aus dem Weg geräumt zu haben!«, lautet eine Weisheit aus Frauenzeitschriften. Aber sie war bloß mal eben in die Küche gegangen. Und statt zu rauchen, stirbt Klaus. Das kann man nun wirklich nicht ahnen. Da dürfte man ja nie was sagen. Er hat die kurze Gelegenheit genutzt, um sich davonzustehlen. So jedenfalls hat sie es eine Weile gesehen. Inzwischen ist sie milder gestimmt, zehn Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Genug, um Tatsachen zu akzeptieren.
Zweiundvierzig Jahre waren sie zusammen, seit der Schule. Sie haben die Mittlere Reife gemeinsam gemacht. Sie nennt es noch immer Mittlere Reife. Passt besser als Realschule, findet sie. Und Klaus macht sich einfach aus dem Staub. Stirbt. Nach all den Jahren, ohne jede Vorwarnung. Das hatte sie sich anders vorgestellt.
Noch heute wird sie ein klein bisschen wütend, wenn sie daran denkt. Nie ist er zur Vorsorge gegangen, egal, wie sehr sie gedrängt hat. »Brauche ich nicht, keine Zeit, ich geh zum Arzt, wenn ich krank bin!«, waren seine Ausreden. »Das kommt davon!«, hätte sie ihm gerne am Grab hinterhergerufen. »Jetzt hast du wirklich keine Zeit mehr!«
Diese Wut hat ihre Trauer all die Jahre überschattet. Vielleicht auch erträglicher gemacht. Heute, zum zehnjährigen Todestag, will sie rausfahren zum Grab. Das macht sie nur noch selten. Wozu auch? Es ist kein Ort, an dem sie Klaus nah ist. Aber waren sie sich je wirklich nah? Funktioniert haben sie, sich etwas aufgebaut, und gut verstanden haben sie sich zumeist auch. Verlässlich war er gewesen. Berechenbar. Kein schlechter Ehemann.
Ist das Nähe? Oder braucht es da mehr? Sie weiß es nicht, sie kennt es ja nicht anders. Vielleicht ist diese romantische Vorstellung, diese oftmals zitierte Seelenverwandtschaft nur ein Mythos, eine Überhöhung. Etwas, was zu einer immerwährenden Enttäuschung führt. Vielleicht ist das, was sie beide hatten, das, was man auf der langen Strecke im besten Fall erwarten kann. Diese Sehnsucht nach dem Mehr impliziert auch immer das Vermissen. Eine latente Unzufriedenheit.
Und trotzdem: Jutta hatte insgeheim immer auf die Rente gehofft. Die Zeit ohne Arbeit. Da werden wir uns mal was gönnen. Da durchbrechen wir diesen unsäglichen Kreislauf von Arbeit und noch mehr Arbeit. Klaus und der Betrieb. Sie und ihre Filiale. Für viel mehr war nie Muße. Und dann war der Kreislauf abrupt unterbrochen. Aber eben nicht durch die herbeigesehnte Rente, sondern durch Klaus’ Tod. Das Danach war erledigt. Ohne dass sie entscheiden konnte. Es würde keines geben. Keines, an dem sie beide teilhaben konnten.
Zumindest das Haus war abbezahlt. Das Haus. Das war Klaus wichtig. All die Jahre hatten sie sich abgerackert, um die Hypotheken für das Haus zu bezahlen. Und jedes Jahr noch ein paar Euro Sondertilgung obendrauf erwirtschaftet. Als wäre die schuldenfreie Immobilie das angestrebte Klassenziel. Zu welchem Preis? Wenig Urlaub und wenig Zeit. »Die Kinder sollen mal alle Möglichkeiten haben!«, war sein Credo. Wie stolz war er gewesen, als die Zwillinge mit dem Studium angefangen hatten. Seine Söhne auf dem Weg ins Akademikerdasein. Die Jungs.
Die beiden haben ein wirklich prima Abitur hingelegt und dann an der Uni irgendwie nicht die Kurve gekriegt. Vielleicht gut, dass er das nicht erlebt hat. Er wäre sehr enttäuscht gewesen von Mads und Pelle. Die Namen hat Klaus ausgesucht. Jutta fand sie nie gut. Noch heute bereut sie, vor allem zu Pelle Ja gesagt zu haben. Immer muss sie an Wurst denken, wenn sie den Namen ausspricht. Dänische Vornamen, was für eine Schnapsidee!
Klaus hat Dänemark immer geliebt. Wenn es mal in den Urlaub ging, dann nach Dänemark. Eine Woche, selten zehn ganze Tage. Mehr ging nicht. Die immer gleiche Ferienwohnung. Günstig und zentral gelegen. Klaus war kein Mann für Experimente. Wenn was gut ist, sollte man daran festhalten, fand er. Und Dänemark war gut für ihn. Nicht so heiß und nicht so weit weg. Sie wäre gern mal woanders hingefahren. Hätte sich gern mehr von der Welt angeguckt. Hätte gern mal nicht gekocht und geräumt und geputzt im Urlaub. Hätte und wäre. Der ewige Konjunktiv steht stellvertretend für ihr Leben. Aber sie hat sich gefügt. Für die Familie, das große Ganze. Hat sich selbst nie in den Fokus gestellt. So ist sie nicht erzogen. »Wir statt ich« lautete die Devise.
Nach dem Tod von Klaus hat sie sich die erste wirkliche Unvernünftigkeit ihres Lebens gegönnt. Eine neue Küche. Jahrelang hatte sie darum fast schon gebettelt. »Die tut es doch noch!«, war die Antwort ihres Mannes gewesen. Es stimmte ja. Kaputt war nichts, aber diesen Holzcharme der Achtziger war sie nach all den Jahren einfach leid. Sie wollte was Modernes. Helles. »Ich kaufe mir doch auch kein neues Auto, nur weil mir die Farbe nicht mehr gefällt!«, hatte Klaus ihren Wunsch immer abgetan. Die neue Küche war eine Form der besonderen Trauerbewältigung. Ein Zeichen dafür, dass sie ab sofort allein für sich verantwortlich ist. Entscheidungen selbst trifft. Ohne Rücksprache.
Die Kinder waren entsetzt. Obwohl sie beim Preis nicht die Wahrheit gesagt hat. Zwanzigtausend hat sie behauptet. Sie haben es geschluckt. Daran sieht man, dass die drei von Küchen keinen Schimmer haben. Für zwanzigtausend hätte sie eine solche Küche nicht bekommen. »IKEA hat auch schöne Sachen, und bisher war die Küche schließlich gut genug!«, hat ihre Tochter gemeckert. »Dafür ist das Geld aber wirklich zu schade!«, fanden die Zwillinge. Alle drei waren sich einig, dass es wirklich sinnvollere Verwendungszwecke für diese Summe gegeben hätte. Sie selbst zum Beispiel. »Du bist allein, was musst du da groß kochen?«, war ein weiteres Argument. Aber obwohl sie sonst nicht zu Alleinentscheidungen neigt, wie auch – jahrelang hatte Klaus bestimmt, welche Anschaffung wichtig ist und getätigt wird –, hat sie die Sache durchgezogen. Und die Kinder vorab auch nicht über ihre Pläne informiert. Sie wollte über den Kauf nicht diskutieren.
Geplant, gekauft und auch noch aufbauen lassen. Etwas, was für Klaus an Dekadenz sicherlich kaum zu überbieten wäre. »Was man selbst machen kann, dafür zahlt man doch nicht!«, hatte er immer gesagt. Die Kinder waren ziemlich baff, als sie ihre Superküche gesehen haben. Erster Kommentar: Lohnt sich das denn noch? Sie war gekränkt. »Ich bin sechzig und nicht achtundachtzig!«, hatte sie nur gesagt. Und gedacht: Alles muss man sich ja nicht gefallen lassen. »Kann man die zurückgeben?«, wollte Mads, der eine Minute ältere der Zwillinge, wissen. Eine Einbauküche zurückgeben? Nein. Zum Glück nicht, denn sie liebt ihre neue Küche bis heute. Nicht nur weil sie neu und schön und praktisch ist, sondern weil sie ihre ist. Weil sie sie einfach gekauft hat. Ohne Zögern, ohne Handeln, ohne Angebot. Ein Wunsch, den sie sich einfach erfüllt hat. Es ist mehr als eine Küche, es ist ein Zeichen. Dafür, dass sie nicht länger jemand ist, der so gar nichts zu melden und zu entscheiden hat. Diesmal hat sie sich von niemandem reinreden lassen. Die Hälfte ihrer Ersparnisse hat sie für die Küche ausgegeben. Fünfunddreißigtausend Euro. Einmal nicht knausern, einmal kein Sonderangebot. Wenn die Kinder das wüssten, würden sie sie einweisen lassen. Siebzigtausend Euro hatten Klaus und sie zusammengespart. Ein Teil davon war das Erbe ihrer Eltern, schon deshalb hält sich ihr schlechtes Gewissen in Grenzen. Dass sie überhaupt was geerbt hat, hat sie damals erstaunt. Ihre Eltern waren sogenannte kleine Leute. Der Vater Bäcker, die Mutter Aushilfe im Laden.
Immer Streuselkuchen, nie Geld. Kein Urlaub, und wie der Vater sagte: keine Ausgaben für Fisimatenten. Unter Fisimatenten fiel alles, was nicht lebensnotwendig war. Markenjeans, ein zusätzlicher Badeanzug, undenkbar. Und dann knapp dreißigtausend Euro Erbe. Für jeden ihrer Brüder noch mal dasselbe. Da wären die ein oder anderen Fisimatenten ab und an durchaus drin gewesen. Neunzigtausend Euro auf dem Konto und immer geknausert.
Sie ist das Nesthäkchen der Familie, ungeplant, wie ihre Mutter ihr mal ungefragt erzählt hat. Kontakt zu ihren Brüdern hat sie eher selten. Sie streiten nicht, selbst dafür sind nicht genug Emotionen da. Hans und Peter sind nicht unrecht, aber drei sind halt eine zu viel, hat sie oft gedacht. Beide Brüder sind Handwerker geworden, reich ist keiner, aber, wie sagt man immer, sie haben ihr Auskommen. Auf dem Land in Schleswig kann man auch mit wenig ganz gut leben. Außerdem: Keiner von ihnen neigt zur Prasserei. Woher sollte das auch kommen, woher sollten sie es können? Prasserei muss man lernen, und verwöhnt worden sind sie nun wirklich nicht. Oft genug hat sie in ihrer Jugend eifersüchtig auf die Meiers geschaut. Die Metzgersfamilie. Nur einen Sohn hatten die. Neidisch war sie auf sein Einzelkinddasein. Daniel. Klein und breit um die Hüften. Schon als Jugendlicher leicht schwammig. Eine riesige Metzgerei hatten die Meiers, zwei Autos und ein Haus mit einem kleinen Außenpool. Die waren wer damals. Lange hat ihre Mutter gedacht, dass sie vielleicht die Richtige für den Meier-Sohn sein könnte. Raufheiraten nannte die Mutter es. Gucken und planen. Nicht blind verlieben. »Die Liebe trägt kein Leben lang, aber keine Geldsorgen zu haben, entspannt enorm.« Früher fand sie das oberflächlich und hat nur milde und einen Hauch mitleidig gelächelt bei dem Gedanken, Pummel-Daniel zu heiraten. Heute würde sie es vielleicht anders sehen. Vielleicht. Aber Daniel hatte sowieso nie Interesse an ihr. Er hat Sybille aus dem Nachbarort geheiratet. »Geld zu Geld«, hatte ihre Mutter gesagt, und es hatte bitter geklungen. Die Schöne und das Biest, hatte man im Ort getratscht. Sybille war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Und ihre Eltern hatten einen Hof mit einer riesigen Schweinezucht. Hat eben gut gepasst, allerdings nicht lange gehalten. Die beiden seien geschieden, hat man ihr erzählt. Sybille hat einen aus der Stadt genommen. Einen Anwalt. Mit Doktortitel sogar. Da konnte auch die Metzgerei mit Pool nicht mithalten.
Ihre Eltern leben schon lange nicht mehr. Kaputtgerackert könnte man sagen. So will sie nicht enden. Der Tod von Klaus war eine Art Warnschuss. Wenn ich weiter so mache, hat sie gedacht, dann bin ich auch bald in der Kiste. Aber das will sie mit Sicherheit nicht, weder bald sterben, noch in einem Sarg verwesen. Von Insekten und Würmern zerfressen werden. Sie möchte nicht neben Klaus auf dem Dorffriedhof liegen, auch wenn das so geplant ist. Das Grab hatte Klaus schon vor Jahren gekauft. Da waren sie noch keine fünfzig. Keine neue Küche, aber ein Grab.
»Niemandem zur Last fallen, seine Angelegenheiten vorab regeln«, das war ihm wichtig. Sie hingegen möchte verbrannt werden. Und dann verstreut. Irgendwo, wo es schön ist. Am liebsten unter ihren Hortensien. Den rosafarbenen, die Klaus so geliebt hat. Keine Steinplatte auf sich drauf, keine schwülstige Grabinschrift. Als sie das den Kindern gesagt hat, waren die verwirrt. »Wir dachten, du willst bei Papa sein, ihr habt doch ein Doppelgrab gekauft. Wer soll da denn jetzt mit rein?« Ist mir wurscht, hätte sie fast gesagt. »Das ist Vergeudung«, haben sie noch ergänzt. »Ihr könnt meinen Platz anderweitig vergeben!«, hat sie, für ihre Verhältnisse recht forsch, erwidert. Ob sie sich an ihre Wünsche halten werden? Sie hofft es.
Manchmal hat sie den Eindruck, den Kindern kann es gar nicht schnell genug gehen mit ihrem Ableben. Aber vielleicht ist sie da auch zu empfindlich. Wirklich kümmern tun sich die drei jedenfalls nicht. Sie haben eben ihr eigenes Leben, ihre eigenen Sorgen, das ist der normale Lauf der Dinge, versucht sie eine Entschuldigung für ihre Kinder zu finden. Sie ist gut darin, anderer Leute Verhalten zu beschönigen. Aber insgeheim kränkt es sie. Wie sehr hatten sie sich die Kinder gewünscht. Es hat lange gedauert, bis sie damals endlich schwanger war. Sie hatten es schon fast aufgegeben, Klaus und sie. Waren enttäuscht. Und dann, mit zweiunddreißig, hat es doch noch überraschend geklappt. Sophia kam auf die Welt. Auch hier war Klaus der Namensgeber. Sophia Loren war für ihn immer »die« Frau überhaupt. Die lebende Sinnlichkeit. Objektiv betrachtet, ohne den mütterlichen Blick, hat Sophia wenig bis gar nichts von ihrer Namenspatin. Kurven ja, aber nicht da, wo die Schauspielerin ihre hat. Ihre Tochter hat all ihr Gewicht an Beinen und Po. Das, was sie untenrum zu viel hat, fehlt ihr an Oberweite. Ihr Gesicht ist nett, aber weit entfernt von aufregend. Sophia hat viel von Klaus, ist weder hübsch noch hässlich. Durchschnitt eben. Sympathisch aussehend, aber mehr nicht. Aber clever ist sie, das muss man ihr lassen. Mit Sicherheit klüger als ihre Brüder. Trotzdem hat sie nach der Mittleren Reife aufgehört mit der Schule und bei der hiesigen Sparkasse eine Banklehre gestartet. Klaus war einverstanden, sie hingegen hätte es gern gesehen, wenn Sophia Abitur gemacht hätte. »Hat bei uns ja auch gelangt! Wahrscheinlich wird sie eh bald heiraten«, fand Klaus. Das hat sie dann auch früh getan. Und direkt Kinder bekommen.
»Ich wollte nicht so eine alte Mutter wie du sein!«, hat sie Jutta spitz gesagt. Als wäre das bei ihr eine bewusste Entscheidung gewesen. Außerdem: Alt ist zweiunddreißig nun nicht gerade. Heutzutage schon gar nicht mehr. Sophia hat kurz nach ihrer Lehre Heiner geheiratet, einen Polizisten, den sie in der Tanzschule kennengelernt hat. Heiner arbeitet auf dem Revier im Bahnhofsviertel in Frankfurt. Spannend findet er es. Oft ernüchternd, aber immer spannend. Sophia will unbedingt, dass Heiner sich nach all den Dienstjahren endlich als Revierleiter bewirbt, aber Heiner hat wenig Ambitionen. Schreibtisch ist nix für mich, lautet sein Argument. Sophia arbeitet wegen der Kinder nur noch halbtags. Die beiden leben in Fulda, und Heiner pendelt täglich mit dem Zug nach Frankfurt. Eine Stunde hin, eine zurück. Zum Leidwesen von Sophia. Nie habe Heiner Zeit. Alles bliebe an ihr hängen. Der Garten, der Haushalt und die Mädchen. Aber in der Stadt oder dem unmittelbar angrenzenden Speckgürtel könnten sie sich ein eigenes Haus nicht leisten. Wäre Heiner endlich Revierleiter oder zumindest Stellvertreter, sähe das, ihrer Meinung nach, anders aus. All das ein Grund für ihre latente Unzufriedenheit. Für ihr Quengeln und Drängeln. Aber Heiner, sonst nicht sehr konsequent und willensstark, zeigt bei diesem Thema, dass er auch anders kann. Er will nicht. Und das ist ein ständiges Thema und Ärgernis zwischen den beiden. »Wenn du Karriere willst, mach doch selbst eine!«, argumentiert Heiner. »Waschlappen!«, hat ihn Sophia beim letzten gemeinsamen Grillen im Reihenhäuschen der beiden genannt. Angst vor der Verantwortung hat sie ihm unterstellt. Und das alles vor Jutta. Ihr war das unangenehm. Klaus und sie haben solche Dinge unter sich ausgemacht. Außerdem: Sie mag Heiner. Aber es ist ihr peinlich, wenn der sich so gar nicht wehrt.
Sophia kennt, einmal in Rage gekommen, wenige Grenzen. Und Heiner hält die Klappe. Lässt sich das gefallen. Sitzt es einfach aus. Mit ihren Töchtern ist Sophia anders. Weniger rabiat, liebevoller und fast schon auf eine seltsame Art devot. Sie will ihren Kindern gefallen. Jutta will das auch, aber nicht um jeden Preis. Kinder sind Kinder, und Eltern sind Eltern, denkt sie. Sie und Klaus hätten gar nicht die Zeit gehabt, den Kindern diesen immensen Raum zuzugestehen. Bei ihnen musste jeder funktionieren. Sie waren strenge Eltern, schon weil das Zusammenleben damit einen klaren Rahmen hatte. Die Strenge nicht als bewusste Entscheidung, eher als Notwendigkeit. Es war nun mal so.
Laura und Lisa, ihre Enkelinnen, sind inzwischen zehn und dreizehn und anstrengend präpubertär und pubertär. Hübsche kleine Diven, die ihren Eltern ganz schön auf der Nase rumtanzen. Jutta mag die Ältere, Lisa, lieber. Irgendwie hat sie einen besseren Draht zu ihr. Vielleicht weil sie sich in den ersten Jahren viel um sie gekümmert hat. Um ihre Tochter zu entlasten. Obwohl sie voll berufstätig war, hat sie an ihren freien Tagen und an vielen Abenden Lisa bespaßt. Klaus war das manchmal zu viel. Er wollte, nach dem Arbeiten, kein Baby um sich haben. »Ich brauche Ruhe, habe den ganzen Tag auf den Baustellen genug Remmidemmi.« Aber ihr war es wichtig. Vielleicht eine Art von Wiedergutmachung. Eine Kompensationsleistung. Für Sophia hatte sie immer zu wenig Zeit. Unterschwellig hat sie sicherlich auch gedacht, damit das Verhältnis zu Sophia verbessern zu können. Ein Irrtum. Besonders dankbar hat sich Sophia nie gezeigt.
Mit der Geburt von Laura sind Heiner, Sophia und Lisa dann in die Nähe von Fulda gezogen. In ein kleines Reihenhäuschen, das sie seither abbezahlen. Manchmal hat Jutta das Gefühl, Geschichte wiederholt sich. Dieser unbändige Drang nach dem Eigenheim. Woher kommt der eigentlich? Wäre eine bezahlbare Wohnung zur Miete, nah an Heiners Arbeitsplatz, nicht die viel bessere Lösung? Familienfreundlicher? Für Sophia, ihre Tochter, nicht vorstellbar. Ein Haus ist ein Haus. Drunter tut sie es nicht. In einer Wohnung zu leben, ist für sie ein Synonym für die, die es nicht geschafft haben.
Sie hatte Jutta und Klaus vorgeschlagen, die Häuser zu tauschen, später, wenn die in Rente gehen. Klaus war nicht abgeneigt. »Für uns ist es doch egal, wo wir im Alter leben!«, hatte er gesagt. Aber Jutta war alles andere als begeistert. Was soll sie in der Peripherie von Fulda? Ihr Haus ist so nah an Frankfurt, dass man wunderbar mit der S-Bahn in die Stadt fahren kann. Vielleicht sogar mal in die Oper oder auch in eine Ausstellung. Einfach etwas zum puren Vergnügen tun. Oder zumindest die Möglichkeit haben. Direkt abgesagt haben sie Sophia allerdings nie. »Wir werden sehen, wenn wir Rentner sind, entscheiden wir!«, haben sie sich um eine klare Antwort gedrückt und das Thema so gut es ging vermieden.
Als Sophia kurz nach dem Tod ihres Vaters den Haustausch erneut mit Vehemenz angesprochen hat, hat sie abgelehnt. In einem kühnen, mutigen Moment. Sie will den Häusertausch jetzt noch weniger als vorher. Ohne Klaus wäre sie sehr allein da draußen. Hier kennt und mag sie die Nachbarn, und ihre paar Freunde leben in der Nähe. Sophia war enttäuscht und hat damit nicht hinterm Berg gehalten. »Du könntest in eine kleine Wohnung ziehen, du brauchst all den Platz doch gar nicht. Und du könntest echt auch mal an mich und deine Enkelinnen denken.«
Jutta hat jahrzehntelang an alle außer sich selbst gedacht und fühlt sich trotzdem ertappt von Sophias Vorwürfen. Sie hat mit dem Platzargument natürlich recht. Sie braucht kein Haus mit vier Schlafzimmern. Aber sie mag ihr Haus. Klaus und sie haben geschuftet für ihr Haus. Sie liebt den kleinen Garten, will ihn nicht tauschen gegen die kiesige Steinwüste mit Schaukel und Sandkiste bei ihrer Tochter, und vor allem will sie sich dafür nicht ständig rechtfertigen. Mit welchem Recht erwartet Sophia, dass sie ihr Leben dem ihrer Tochter unterordnet? Das bisschen Leben, das ihr noch bleibt.
Nach dem Tod von Klaus hat sie zunächst weitergemacht wie bisher. Nicht mal eine Woche hatte sie sich freigenommen. Nur den Todestag, den Tag danach und den Tag der Beerdigung. Die Arbeit hatte sie abgelenkt. Aber nicht nur das. Es war die Struktur, die sie brauchte. Die Kollegen und Kolleginnen waren erstaunt gewesen, und selbst Fred, ihr Chef, der normalerweise nicht zur Großzügigkeit neigte, hatte ihr mehrfach vorgeschlagen, es geruhsam wieder anzugehen. »Nimm dir halt ein paar Tage frei, Jutta!«, hatte er gesagt. »Du hast doch noch Urlaub über!« Aber einfach so weiterzumachen, kam ihr am natürlichsten vor. Einfach zur Arbeit zu gehen. Zu Hause zu hocken, hieße, ständig zu denken, dass etwas nicht stimme. Beim Arbeiten war kaum Zeit nachzudenken. Jedenfalls nicht über Klaus. Ihr bisschen Urlaub zu vergeuden, um daheim Trübsal zu blasen, kam ihr abwegig vor. Um zu trauern, brauche ich keinen Urlaub, hatte sie nur gedacht. Das kann ich nebenher erledigen.
Außerdem war es ja so: Sie als stellvertretende Filialleiterin von Fred hatte jede Menge Aufgaben. Und dazu Personalverantwortung. Angefangen hat sie mal als Kassiererin. Ein Job, den sie immer gemocht hat. Kassiererin zu sein, ist anspruchsvoller, als Menschen denken. Es heißt schnell sein, aufmerksam sein und dazu im besten Falle noch freundlich. Nach einigen Monaten an der Kasse ahnt man, was in Familien vorgeht. Man weiß, wer zu viel trinkt, raucht oder nie Obst isst. Wer gerade Diät macht, wer klamm ist und jedes Mal ängstlich auf die Gesamtsumme schaut oder wer sich nie was gönnt. Weil es gerade nicht geht oder weil es eben nie geht. Und auch nie gehen wird. Das ist ja oft das Schlimmste. Zu wissen, dass Einschränkungen keine zeitliche Sache sind, sondern der Dauerzustand. Einer, aus dem es keinen Weg hinaus gibt.
In ihrem Discounter kaufen aber nicht nur Menschen, die nicht anders können. Es gibt auch welche, die sehr wohl genüsslich an kleinen Marktständen oder anderweitig hochpreisiger einkaufen könnten. Die legen dann acht Flaschen des hauseigenen Champagners auf das Band. Eine der Kundinnen, die mit der immer perfekt geföhnten blonden Mähne wie aus den Achtzigern, hat ihr bei jedem Einkauf zugezwinkert und beteuert, dass der fast wie Markenchampagner schmecke. »Den müssen Sie mal probieren! Der ist wirklich gut. Und das bei dem Preis!« Sie hatte immer nett geguckt und genickt. Champagner! Wozu brauchte sie Champagner? Klaus hätte nur mit dem Kopf geschüttelt. 11,99 für einen Rosé-Champagner! Für Klaus war Alkohol etwas, um sich ein wenig zu beduseln. Ein Bier war ihm immer das Liebste. Bier ist was Reelles, hatte er immer gesagt. Bei Feiern auch mal ein Glas Wein oder für besondere Anlässe ein Gläschen Sekt. Champagner ist nicht für Leute wie uns, fand Klaus. Warum mehr Geld ausgeben, wenn gar nicht mehr Prickel drin ist? Jutta hatte gelegentlich überlegt, ob sie eine Flasche mitnehmen soll. Zu seiner Beerdigung hat sie sich eine geholt und sie, nachdem alle weg waren, alleine getrunken. Hatte auf ihren Klaus angestoßen. Und dabei nur gedacht: In unserem Leben war zu wenig Champagner, und die Kundin hat recht. Er ist gut, der 11,99-Rosé-Champagner.
Alles auf die Zeit der Rente zu verschieben war dumm. Das weiß sie jetzt. Hinterher ist man immer schlauer. Klaus hat auf die Rente hingefiebert. Und hat sie nie erlebt. Das zumindest hat sie durch seinen Tod gelernt: dass dieses Aufschieben bedeuten kann, dass etwas nie stattfindet. Aufgeschoben heißt nicht aufgehoben, sagt der Volksmund. Von wegen.
Seit seinem Tod gibt es deshalb jeden Monat eine Flasche Champagner. Auch ohne erkennbaren Anlass. Einfach nur, weil sie noch lebt. Als sie in Rente gegangen ist, hat sie fünf Kisten davon gekauft. Sicher ist sicher. Nicht, dass Lidl eines Tages entscheidet, den Champagner aus dem Sortiment zu nehmen.