Florian Schwiecker / Michael Tsokos
Justiz-Krimi
Knaur eBooks
Florian Schwiecker ist 1972 in Kiel geboren und hat viele Jahre in Berlin als Strafverteidiger gearbeitet. Während seiner Tätigkeit für ein internationales Wirtschaftsunternehmen in den USA entstand die Idee zu seinem ersten Thriller »Verraten«. Außerdem empfiehlt Florian Schwiecker regelmäßig Krimis in seiner Thriller-Kolumne auf freundin.de.
Michael Tsokos, 1967 in Kiel geboren, ist Professor für Rechtsmedizin und international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Forensik. Seit 2007 leitet er die Berliner Rechtsmedizin. Seine Bücher sind allesamt Bestseller und wurden bereits mit hochkarätiger Besetzung verfilmt. Mit dem Schauspieler Jan Josef Liefers ist er in der Doku-Reihe »Obduktion« bei TVNOW zu sehen. Weitere TV-Produktionen sind in Arbeit. Instagram: @dr.tsokos
Von Florian Schwiecker und Michael Tsokos ist bereits folgender Titel im Knaur Verlag erschienen:
Die siebte Zeugin
© 2022 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Ein Projekt der AVA International GmbH Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Redaktion: Antje Steinhäuser
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Collage unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46367-3
Jörg Grünwald stützte sich so ungeschickt auf dem wackeligen Holztisch ab, dass dieser beinahe umgekippt wäre. Solange er gesessen hatte, hatte er die Wirkung des Alkohols kaum gespürt. Doch beim Aufstehen machte sich jedes einzelne der fünf Biere deutlich bemerkbar. Dass er weder das Gleichgewicht verloren noch den Tisch umgerissen hatte, grenzte an ein Wunder.
Trotzdem machte er dermaßen viel Krach, dass er die Aufmerksamkeit einiger Gäste auf sich zog, die an den übrigen vier Tischen auf dem Gehsteig vor dem Eingang der Dicken Oma saßen. Der Außenbereich der typischen Berliner Kiezkneipe war wie an jedem Abend in diesem langen und heißen Sommer bis auf den letzten Platz gefüllt. Neben Anwohnern kamen auch immer mehr Touristen in das ehemals berüchtigte Kreuzberg, das sich längst vom Arbeiterbezirk zu einer Oase für das linksalternative Berlin gewandelt hatte. Während die Vertreter der Toskana-Fraktion tagsüber als Lehrer oder Architekten ihre Brötchen verdienten, schwadronierten sie abends und bis spät in die Nacht voller Leidenschaft darüber, wie sie eines Tages die Welt verbessern würden.
Mit alldem hatte Jörg Grünwald wenig gemein. Er mochte die Dicke Oma wegen des preiswerten Biers und der Nähe zu seiner Wohnung. Von hier waren es keine fünf Minuten bis zu ihm nach Hause. Wobei er noch lange nicht daran dachte, den Abend zu beenden. Als er wieder sicher zum Stehen gekommen war und realisierte, dass er die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich gezogen hatte, hob er entschuldigend die Hände.
»Sorry«, lallte er mit einem breiten Grinsen in die Runde. »Das letzte Bier war wohl doch schlecht.« Dann blickte er herausfordernd zu seinem Tischnachbarn herab. »Nehm’ wir noch eins? Ich muss nur mal kurz schiffen gehen.«
Sein Gegenüber zog die Augenbrauen hoch, vermittelte aber nicht den Eindruck, als hielte er Grünwalds Plan für eine gute Idee.
»Ach komm schon, eins noch«, bettelte Grünwald daraufhin und setzte einen Hundeblick auf. »Ein klitzekleines Letztes. Einen Scheidebecher. Mehr nicht.«
Der andere Mann schien kurz nachzudenken. Dann nickte er, und Grünwald ballte in einer übertriebenen Geste, so als hätte er gerade das Wimbledon-Finale gewonnen, seine Faust.
»Bin gleich wieder da«, verkündete er gut gelaunt und war im nächsten Moment im Inneren der Kneipe verschwunden.
Als er einige Minuten später wieder zurückkam, blickte er mit großer Freude auf die beiden frisch gezapften Biere herab, die auf dem Tisch standen.
»Super«, rief er und setzte sich extra vorsichtig wieder an den Tisch, um die beiden Veltins auf keinen Fall in Gefahr zu bringen.
»Na dann«, erwiderte sein Gegenüber und hob das Glas.
»Prost«, antwortete Grünwald, griff ebenfalls nach seinem Bier und trank es durstig und in großen Schlucken hinunter. Mit einem genießerischen Ausdruck stellte er das Glas vor sich auf den Tisch und wischte sich den Mund mit seinem Handrücken ab.
»Ach«, seufzte er, »das tat jetzt gut.« Zufrieden ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen und schloss für einen Moment die Augen. Dann griff er mit der linken Hand an die Brusttasche seiner Jeansjacke, die hinter ihm über der Lehne des Klappstuhls hing. Eine Zigarette wäre jetzt genau das Richtige. Als er das Päckchen aus seiner Tasche ziehen wollte, blieb er jedoch mit dem Ärmel an seinem Pin hängen. Er musste lächeln. Der kleine vergoldete Anstecker in Form des US-Bundesstaates Texas war sein Glücksbringer. Vor vielen Jahren hatte er ihn als Kind an einem Kiosk am Bahnhof Zoo geklaut. Er schüttelte kurz seine Hand, sodass sein Ärmel wieder frei war, fischte sich eine Kippe aus der Schachtel und zündete sie an. Er inhalierte tief, und für einen kurzen Moment vergaß er all den Ärger und die Sorgen, die ihn noch am Nachmittag geplagt hatten. Für diesen kurzen Moment war die Welt für ihn in Ordnung. Der perfekte Abend. Was Jörg Grünwald nicht wusste, war, dass es sein letzter sein würde.
Zwei Wochen später
»Was meinst du damit, dass du mir nichts mehr sagen kannst?«, rief Rocco Eberhardt wütend und kickte einen Stein in hohem Bogen von dem breiten Schotterweg direkt in den Landwehrkanal, der sich neben ihnen durch die Berliner Innenstadt schlängelte. Seit etwa zehn Minuten lief er schon mit Sven Beister durch den Tiergarten.
Beister, Ermittler beim LKA, dem Berliner Landeskriminalamt, sah betreten zu Boden. Schweiß stand ihm auf der von der Sonne rot verbrannten Stirn, und unter den Achseln seines etwas zu engen T-Shirts bildeten sich dunkle Flecken.
Rocco, einer von Berlins bekanntesten Strafverteidigern, überragte den Polizisten um Haupteslänge. Er hatte den Eindruck, dass sich der Beamte zunehmend unwohl in seiner Haut fühlte. Aber das war ihm vollkommen egal. Ihm selbst kam es so vor, als würde Beister ihn auf den Arm nehmen wollen. Rocco wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Ihr Treffen an diesem Morgen verlief gänzlich anders, als er sich das vorgestellt hatte.
Der LKA-Ermittler hatte ihn keine drei Tage zuvor unvermittelt angerufen und berichtet, dass Roccos Vater, Helmut Eberhardt, in ein Ermittlungsverfahren verwickelt sei, das in den nächsten Monaten die Berliner Politik und Wirtschaftsszene erschüttern würde. Auch Oberstaatsanwalt Doktor Bäumler, mit dem Rocco schon öfter vor Gericht die Klingen gekreuzt hatte, sollte etwas damit zu tun haben. Mehr hatte Beister am Telefon nicht preisgeben wollen, weshalb Rocco ihn um das heutige Treffen gebeten hatte. Und jetzt rückte Beister nicht mit der Sprache raus.
»Echt, Rocco, ich habe dir schon viel zu viel gesagt. Und egal, was ich dir jetzt noch sage, wirst du eh deine Nachforschungen anstellen«, druckste Beister herum. »Wenn ich dir noch mehr Infos gebe, wird das früher oder später jemand mitkriegen. Und wenn das passiert, dann werde ich auffliegen. Und darauf habe ich keinen Bock. Das kann ich mir nicht leisten.«
Rocco realisierte langsam, dass er hier nicht weiterkam. Der LKA-Beamte hatte offensichtlich seit letzter Woche seine Meinung geändert. Irgendetwas musste ihn dazu veranlasst haben. Und was immer das auch war, er schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, dazu nichts mehr zu sagen. Zumindest jetzt nicht.
»Okay«, sagte Rocco verärgert und beschloss, das Gespräch zu beenden. Er hatte weder Lust noch Zeit, die ohnehin unangenehme Situation weiter künstlich in die Länge zu ziehen. »Wenn du es dir anders überlegst, weißt du ja, wo du mich erreichst. Ich muss zurück in die Kanzlei.«
Beister nickte.
Rocco machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück in Richtung Hotel Interconti, wo er sein Auto geparkt hatte. Unterwegs griff er zu seinem iPhone und rief Tobias Baumann, seinen besten Freund, an. Die beiden kannten sich seit Jahren. Tobi, der sich nach einigen Jahren bei der Polizei als Privatdetektiv selbstständig gemacht hatte, war immer wieder als Ermittler für Rocco in komplexen Strafmandaten tätig.
Tobi nahm das Gespräch nach dem zweiten Klingeln an.
»Hey Rocco, schön, dich zu hören. Was gibt’s?«
»Ich muss mit dir reden«, erwiderte Rocco und kam gleich zum Punkt. »Es gibt da eine Sache, bei der du mir helfen musst.«
Der Blick auf die Uhr zeigte Anja Liebig, dass Timo Krampe in den nächsten Minuten anrufen sollte. Sie zog einige Blätter Papier aus dem Drucker und kritzelte ein paar Kreise mit ihrem Fineliner in die obere rechte Ecke. Sie konnte es nicht leiden, wenn sie sich Notizen machen wollte und der Stift nicht schrieb.
Liebig wirkte deutlich jünger, als sie war. Ihre dreiunddreißig Jahre sah man ihr nicht an. Das liegt in der Familie, hatte ihre Mutter immer wieder betont, der es schmeichelte, dass man auch ihr das Alter offenbar nicht ansah. Liebig wusste diesen Umstand geschickt für ihren Vorteil zu nutzen, denn wer sie nicht kannte, neigte dazu, die erfolgreiche Journalistin zu unterschätzen.
Doch der Eindruck täuschte. Als Lokalredakteurin berichtete sie seit fünf Jahren über die Geschehnisse in der Hauptstadt. Mit Herzblut und Engagement widmete sie sich insbesondere den unbequemen Themen. Dabei konnte sie sich zu einhundert Prozent auf die Unterstützung ihres Chefredakteurs, Torsten Seewald, verlassen. Er ließ ihr nicht nur die Freiheit, sondern gab ihr auch die Zeit, ihre Storys mit der nötigen Sorgfalt zu recherchieren und vollständig aufzuklären. Ganz getreu dem Motto, das Seewald so gerne zitierte und das an prominenter Stelle auf der Titelseite jeder Ausgabe der Tagespost prangte: »Rerum Cognoscere Causas«. Oder: »Den Dingen auf den Grund gehen«, wie die deutsche Übersetzung des Vergil-Zitats lautete. Und diesem Motto hatte auch Liebig sich verschrieben.
Timo Krampe war einer der beiden Männer, um die sich ihre aktuelle Story drehte. Für den nächsten Tag hatten sie ein Interview geplant und vereinbart, heute noch einmal den genauen Ablauf und die geplanten Fragen zu besprechen.
Es war exakt neunzehn Uhr, als ihr Telefon klingelte. Mit der linken Hand drehte sie ihre dunklen, langen Haare zu einem Dutt und steckte sie mit einem Bleistift fest, sodass sie ihr nicht in die Stirn fielen, ehe sie das Gespräch annahm.
»Hallo, Herr Krampe«, sagte sie und schnippte mit der rechten Hand die Schutzkappe ihres Stiftes ab. »Schön, dass Sie anrufen. Alles okay bei Ihnen?«
»Na ja, geht so«, antwortete Krampe, und Anja Liebig meinte eine gewisse Anspannung in seiner Stimme zu hören. Das überraschte sie. Zwar war Krampe bei ihrem ersten Treffen noch sehr unsicher gewesen, was einfach seinem Charakter zu entsprechen schien. Doch nachdem sie sich einige Male getroffen hatten, fasste er nach und nach Vertrauen und zeigte sich jedes Mal ein kleines bisschen weniger aufgeregt in ihrer Gegenwart.
»Wieso, was gibt’s denn?«, fragte sie deshalb nach.
»Also«, fuhr Krampe fort. »Jörg meldet sich nicht mehr!«
»Was meinen Sie, er meldet sich nicht mehr?«
»Ich kann ihn nicht erreichen. Wir wollten uns heute eigentlich treffen, um Sie dann zusammen anzurufen, aber er ist nicht gekommen.«
»Wieso ist er nicht gekommen? Und wo wollten Sie sich treffen?«, fragte Liebig nach und ärgerte sich im selben Moment, dass sie zwei Fragen auf einmal gestellt hatte. Sie wollte Krampe nicht noch nervöser machen. »Ich meine … wieso ist er nicht gekommen?«
»Das weiß ich nicht. Er wollte für zwei Wochen wegfahren, in den Urlaub. An die Ostsee, glaube ich. Er müsste aber längst wieder da sein.«
»Verstehe«, stellte sie fest und malte kleine Kringel auf das Blatt Papier vor ihr. Ohne Jörg Grünwald würde es mit dem Interview nichts werden, sie brauchte beide Sichtweisen. Das würde die Glaubhaftigkeit ihrer Story erhöhen und das Ganze zudem lebendiger und interessanter machen. Dafür hatte ihr Chef ihr eine ganze Seite in der Sonntagsausgabe versprochen. Und auf die wollte sie auf keinen Fall verzichten. Außerdem lag ihr die Story am Herzen. Die Geschichte der beiden Männer musste an die Öffentlichkeit.
»Wollte er denn heute erst zurückkehren?«, fragte sie. Ihr war nicht ganz klar, ob Krampe einfach überbesorgt war oder ob wirklich etwas dahintersteckte.
»Nein, gestern schon, aber heute wollten wir uns treffen«, erwiderte Krampe. »Um noch mal alles wegen des Interviews zu besprechen. Und um Sie dann halt anzurufen.«
Grünwald hatte also zwei Verabredungen platzen lassen, dachte Liebig. Ausgerechnet jetzt. Warum wohl? Hatte Grünwald sich womöglich alles anders überlegt?
Sie musste sich hier eindeutig etwas mehr Klarheit verschaffen. »Ist das ungewöhnlich für ihn?«, hakte sie deshalb weiter nach. »Ich meine, ist Ihr Freund öfter einfach mal für ein paar Tage weg und meldet sich nicht?«
»Ich weiß nicht. Also nein … eigentlich nicht.«
»Verstehe. Und sagen Sie, wäre es Ihnen vielleicht möglich, bei ihm vorbeizuschauen? In seiner Wohnung, meine ich. Vielleicht gibt es ja eine ganz einfache Erklärung und er hat den Termin nur vergessen.«
»Klar, könnte ich schon machen«, erwiderte Krampe angespannt.
»Und wenn Sie ihn nicht treffen, wenn er nicht da ist, kennen Sie vielleicht Bekannte von ihm, die Sie fragen könnten? Vielleicht ist er einfach nur unterwegs?«, versuchte Anja Liebig weiter, Licht ins Dunkel zu bringen. Grünwald war Krampes Freund, da musste es doch Möglichkeiten geben, mehr herauszubekommen.
»Und was machen wir, wenn ich ihn nicht antreffe?«, entgegnete Krampe.
Tja, gute Frage, dachte Anja Liebig und war unschlüssig, wie sie die Unsicherheit in Krampes Stimme deuten sollte. War das Sorge? Oder Angst? Erstaunlich wäre das nicht. Immerhin war das Thema ihrer Story sehr brisant. War davon etwas nach außen gedrungen? Konnte Grünwald etwas zugestoßen sein? Sie hielt inne. Nein, das war unwahrscheinlich. Das wäre wirklich zu absurd. Grünwald war weg, aber das konnte eine Million Gründe haben. Vielleicht war ihm schlicht etwas dazwischengekommen. Also erst mal von einem Versehen und nichts Schlimmem ausgehen. In Aufregung zu verfallen würde niemandem helfen.
»Hören Sie«, sagte sie deshalb mit betont zuversichtlicher Stimme, um Krampe erst einmal zu beruhigen. »Ihrem Freund ist bestimmt nichts zugestoßen. Möglicherweise kommt er einfach zwei Tage später, weil es ihm so gut gefällt, wo er gerade ist. Und bestimmt gibt es eine ganz einfache Erklärung, warum er gerade nicht zu erreichen ist. Deshalb werden wir jetzt Folgendes tun. Sie schauen mal bei ihm vorbei und probieren heute und morgen, ihn zu erreichen. Aber machen Sie sich nicht verrückt. Wenn Sie ihn bis morgen früh nicht kriegen und er sich nicht meldet, dann rufen Sie mich erneut an, und wir besprechen das.«
Liebig hielt kurz inne, um sicherzugehen, dass Krampe auch alles verstanden hatte. Als er nach fünf Sekunden nichts gesagt hatte, fügte sie hinzu: »Was halten Sie davon? Wollen wir das so machen?«
Sie hörte Krampes schweres Atmen, ehe er antwortete. »Ja, okay. Ich denke schon.«
»Na, sehen Sie, dann sind wir uns ja einig.« Nachdem sie aufgelegt hatte, beschloss sie, die Sache für den Moment auf sich beruhen zu belassen. Für heute hatte sie alles getan, und morgen wüssten sie hoffentlich mehr.
»Mein Name ist Liebig, Anja Liebig. Ich bin Redakteurin bei der Tagespost. Und das hier ist Timo Krampe. Wir müssen dringend mit Rechtsanwalt Eberhardt sprechen.«
Klara Schubert, Rocco Eberhardts Bürochefin, musterte das ungleiche Paar, das vor ihr im Empfangsbereich der Kanzlei stand, und konnte sich nicht wirklich einen Reim auf die beiden machen. Sie passten so gar nicht zusammen. Auf der einen Seite die junge, sehr selbstbewusste und energisch wirkende Frau, die sich Schubert ihrem Aussehen nach eher in dem Audimax einer Uni als dem traditionsreichen Redaktionsgebäude der Tagespost vorstellen konnte, und auf der anderen Seite der unscheinbare Mann, der ihr irgendwie deplatziert vorkam. Aber vermutlich würde er überall fehl am Platz wirken. Mit hängenden Schultern und Kleidungsstücken, die etwas zu groß waren, stand er da und nestelte nervös herum. Er wirkte verkleidet. Sein Outfit passte nicht zu ihm. Aber das war es nicht, was Klara Schubert an ihm auffiel. Es war der Ausdruck seiner Augen, der ungewöhnlich war. Eine Mischung aus Hilflosigkeit, Unsicherheit und Angst. Wer auch immer dieser Krampe war, dachte sie, er muss etwas erlebt oder gesehen haben, was ihn stark geprägt hat.
Doch Schubert war Profi genug, sich ihre Einschätzung nicht anmerken zu lassen. Stattdessen antwortete sie freundlich und bestimmt: »Guten Tag, Frau Liebig, hallo, Herr Krampe. Worum geht es denn?«
»Wir brauchen dringend Hilfe«, erwiderte die junge Journalistin in einem Ton, der eher wie ein Befehl und nicht wie eine Bitte klang.
Schubert, die zwar großes Verständnis für Menschen in Notlagen hatte, sich aber ganz sicher nicht von den Mandanten herumschubsen ließ, zog die Augenbrauen hoch und sah Liebig mit einem Blick direkt in die Augen, der unmissverständlich die Botschaft vermittelte: So nicht, meine Liebe!
Tatsächlich verfehlte der Blick seine Wirkung nicht, und der gerade noch übermäßig selbstbewusste Ausdruck verschwand von Liebigs Gesicht und wich sehr viel milderen, geradezu bittenden Zügen. »Ich glaube, nein, wir glauben«, sagte sie und sah Krampe an, »dass etwas Schlimmes passiert ist.« Sie machte eine Pause und schien sich die passenden Worte für ihren nächsten Satz genau zu überlegen: »Der Freund von Herrn Krampe ist verschwunden.«
Die Bürochefin blickte die beiden zweifelnd an. »Glauben Sie nicht, dass Ihnen da möglicherweise die Polizei besser helfen kann? Oder vielleicht Verwandte oder Bekannte des Freundes von Herrn Krampe?«
»Nein, nein, das glauben wir nicht«, antwortete Liebig. »Es geht hier um mehr als nur den vermissten Freund. Und zur Polizei möchten wir erst einmal nicht gehen.« Sie machte eine Pause, suchte offenbar nach den richtigen Worten. »Sagen wir mal so, Herr Krampe hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht. Außerdem geht es nicht nur darum. Was Herr Krampe dringend benötigt, ist rechtliche Unterstützung. Jörg Grünwald, sein vermisster Freund, vermutlich auch.«
»Haben Sie denn die Bekannten und Verwandten von Herrn Grünwald schon kontaktiert und gefragt, ob die etwas wissen?«, hakte Klara Schubert nach, mehr um sich ein Bild der Situation zu machen und zu hören, was noch hinter der Geschichte steckte, als dass sie wirklich an eine aufschlussreiche Antwort glaubte.
»Verwandte hat er keine, zumindest keine, die wir kennen. Herr Krampe ist auch sein einziger Freund.«
Klara Schubert machte sich eine kurze Notiz. »Wie sind Sie auf unsere Kanzlei gekommen?«
»Durch den Fall Nölting. Ein Kollege von mir, Tommi Lobrecht, hatte über den Fall berichtet. Und um eine ungewöhnliche Geschichte handelt es sich bei Herrn Krampe auch.« Anja Liebig zuckte mit den Schultern. »Tommi ist unser Gerichtsreporter, und ich habe ihn gefragt, ob er eine Idee hat. Er meinte, ich sollte mich als Erstes an einen Anwalt wenden, bevor wir zur Polizei gehen. Nach seiner Einschätzung ist Eberhardt der beste. Nicht mehr und nicht weniger.«
Klara Schubert dachte kurz nach. Die Kanzlei lief gut und war nicht darauf angewiesen, jedes Mandat anzunehmen. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen, weil Eberhardt der einzige Anwalt in der Kanzlei war. Nach dem langen und sehr aufwendigen Prozess in der Sache Nölting hatte ihr Chef ohnehin genug damit zu tun, sich um seine aktuellen Fälle zu kümmern, die er in den letzten Wochen ein wenig vernachlässigt hatte. Doch irgendetwas an dem ungleichen Paar hielt sie davon ab, die beiden sofort wieder wegzuschicken. Kurzerhand entschied sie, den beiden eine Chance zu geben. Sollte der Chef sich doch selbst eine Meinung bilden, ob er das Mandat annahm oder nicht.
Fasziniert blickte Rocco auf den Mann und die junge Frau, die auf der gegenüberliegenden Seite seines langen Besprechungstisches saßen.
Was für ein ungewöhnliches Paar, dachte er und verspürte eine spontane Neugier, herauszufinden, was die beiden in seine Kanzlei geführt hatte.
»Meine Mitarbeiterin, Frau Schubert, hat mir schon ein bisschen was berichtet. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann. Ich schlage vor, Sie erzählen mir Ihre Geschichte einmal von Anfang an. Und dann sehen wir weiter.« Rocco blickte abwechselnd zwischen Anja Liebig und Timo Krampe hin und her.
Der klammerte sich mit beiden Händen an den Armlehnen des hellen, ledernen Besprechungsstuhls fest. Seine Augen hatte er auf den Boden gerichtet.
Er ist sich nicht sicher, ob er wirklich alles erzählen soll, dachte Rocco. Er fragt sich, ob es überhaupt eine gute Idee war, hierherzukommen.
Rocco lächelte Krampe ermutigend zu, blieb dabei aber ebenfalls stumm. Er wusste, dass er Krampes Aussage nicht erzwingen konnte. Ganz im Gegenteil, ein falsches Wort könnte ihn davon abbringen, überhaupt etwas zu sagen.
Krampe schloss seine Augen und verkrampfte seine Hände. Als er sie wieder aufschlug, blieb er allerdings weiter stumm.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war es Liebig, die die Stille durchbrach. »Timo Krampe und Jörg Grünwald sollten der Tagespost ein Interview geben«, erklärte sie. »Die beiden sind Opfer und Zeugen eines bislang nicht aufgeklärten Verbrechens. Ein Skandal, der weit nach oben in die Berliner Politik hineinreicht.«
»Sie sind doch aber vor allem hier, weil Jörg Grünwald verschwunden ist, oder?«, fragte Rocco.
»Ja«, erwiderte Liebig. »Aber das ist nicht alles. Der Umstand, dass es überhaupt so weit kommen konnte, mit Herrn Krampe und mit Herrn Grünwald, meine ich, beruht auf einem großen Unrecht.«
Rocco zog die Augenbrauen hoch. »Was meinen Sie damit?«
»Ganz einfach. Die beiden sind Opfer eines Missbrauchsskandals in ihrer Kindheit geworden. Und das Erschreckende daran ist, dass das Ganze, also dieses Verbrechen in der Vergangenheit, kein üblicher Missbrauch war. Keiner der Fälle, die uns allen leider nur allzu geläufig sind. Keine zerstörte Familiengeschichte. Das Ganze war geplant.«
»Geplant?«
»Allerdings. Mitten in Berlin. Mitten unter uns. Von staatlichen Stellen, die eigentlich dazu da sein sollten, Kinder zu beschützen.« Liebig saß jetzt auf der Kante ihres Stuhls. Ihre Augen funkelten vor Wut. »Und das, Herr Eberhardt, ohne dass bis heute auch nur ein Einziger der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurde.«
Rocco war irritiert. Er wusste nicht, worauf die Redakteurin hinauswollte. »Was genau meinen Sie damit?«
Mit gepresster Stimme antworte Anja Liebig: »Haben Sie jemals von dem Granther-Experiment gehört?«
Rocco zuckte mit den Achseln. »Nein, habe ich nicht. Worum geht es dabei?«, fragte er und beobachtete, wie Krampe in seinem Stuhl noch weiter in sich zusammensackte. In den nächsten zehn Minuten, während Rocco Liebigs Ausführungen mit größter Aufmerksamkeit folgte, konnte er nicht fassen, was Berliner Kindern unter staatlicher Obhut bis in die frühen Zweitausender hinein passiert sein sollte. Als Anja Liebig zum Ende gekommen war, nahm Rocco die Personenbeschreibung von Jörg Grünwald auf.
»Ich denke, dass er knapp einen Meter neunzig groß ist«, sagte Krampe mit leiser, fast flüsternder Stimme, sodass Rocco sich alle Mühe geben musste, den verunsicherten Mann zu verstehen. »Mittellange schwarze Haare und eher schlank als zu viel Gewicht. Vielleicht so wie Sie«, fügte er hinzu.
Rocco notierte sich die Details und fragte dann weiter nach, um das Bild des Verschwundenen zu komplettieren. »Können Sie sich erinnern, was Ihr Freund zuletzt getragen hat?«
»Seine dunkle Jacke, schätze ich. Die hat er eigentlich immer getragen. Und dazu Jeans.«
Rocco merkte, wie seine Hoffnung schwand, Grünwald anhand seines Äußeren zu finden. Die Beschreibung, die Krampe abgab, passte auf mehrere Zehntausend Männer allein in der Hauptstadt.
»Hatte er irgendwelche besonderen Merkmale? Ein Tattoo vielleicht oder sonst etwas, woran man ihn erkennen könnte? Oder haben Sie vielleicht ein Foto von Ihrem Freund, das Sie mir zur Verfügung stellen können?«
Krampe schien ernsthaft nachzudenken, schüttelte dann aber den Kopf.
»Okay«, sagte Rocco. »Ich glaube, dann habe ich fürs Erste genug Informationen. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Sollten Sie etwas hören, melden Sie sich bitte sofort.« Rocco reichte den beiden eine Visitenkarte über den Tisch. »Am besten rufen Sie an, das geht am schnellsten.«
Liebig nickte und blickte kurz auf die Karte, ehe sie diese in die Tasche ihrer roten Sommerjacke steckte. Kurz darauf war sie mit Krampe aus Roccos Büro verschwunden.
Wie jedes Jahr drängten sich auch in diesem September wieder zahlreiche Besucher auf der Greenwichpromenade und feierten bei bestem Spätsommerwetter das traditionelle Tegeler Hafenfest. Während sich der eine Teil der Besucher auf der kulinarischen Meile mit gegrillten Champignons, Knoblauchbrot oder Lachs von der Holzplanke versorgten, standen die anderen entweder vor einer der Bühnen zwischen Sechserbrücke und Kanonenplatz oder genossen einfach die Aussicht auf den idyllisch gelegenen Tegeler See.
Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht saugte Markus Palme die Atmosphäre ein und ließ den Blick über die Menge schweifen. Keine fünf Minuten mehr, und die Aufmerksamkeit würde ihm gehören. Er liebte den Wahlkampf und er liebte den großen Auftritt vor Publikum. Und so wie es aussah, liebten die Berliner ihn. Voller Genugtuung faltete er die aktuelle Ausgabe der Bild-Zeitung zusammen und legte sie auf der kleinen Treppe ab, die zur Bühne führte. Die anstehenden Wahlen waren das Thema auf der Titelseite. Und die aktuellen Zahlen sprachen für sich. Auf die Frage »Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Abgeordnetenhauswahl wäre?« hatten die Berliner der aktuellen Koalition, bestehend aus SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, nach einem schwachen Ergebnis in den vergangenen drei Jahren jetzt wieder steigende Werte bescheinigt.
Das lag weniger an der guten Arbeit der Regierung als vielmehr an dem Umstand, dass die CDU sich auf Bundesebene gerade ihr eigenes Grab schaufelte und ihre umstrittene Innenpolitik sich auch auf die Stimmung der Bevölkerung in der Hauptstadt durchschlug. In zwei Monaten standen die Wahlen zum nächsten Berliner Abgeordnetenhaus an, und Palme konnte sich als Spitzenkandidat der SPD zwischenzeitlich realistische Hoffnungen machen, die nächsten fünf Jahre als Regierender Bürgermeister ins Rote Rathaus einzuziehen.
Das lag nicht nur an der schwindenden Sympathie für die Oppositionspolitik. Palme war einfach beliebt. Beinahe einen Meter neunzig groß, mit vollen, silbernen Haaren und stets in maßgeschneiderte Anzüge gekleidet, wäre er ohne Weiteres als reifer Held in einer Hollywood-Produktion durchgegangen. Außerdem war er ein ausgesprochener Familienmensch. Vor zwei Wochen war er zum zweiten Mal Großvater geworden, und auch wenn er sein Privatleben aus der Öffentlichkeit herauszuhalten versuchte, hatten es einige private Schnappschüsse auf die Titelseiten der Berliner Boulevard-Presse geschafft. Als »die Kennedys von Berlin« hatten sie ihn und seine Familie bezeichnet und damit insofern recht, als auch sein Sohn Andreas kürzlich mitgeteilt hatte, seinem Vater nach Abschluss des Studiums in die Politik folgen zu wollen.
Den größten Rückhalt bekam er allerdings für seine politische Arbeit. In den vergangenen fünf Jahren, die er als Senator für Inneres und Sport tätig war, hatte er sich vor allem dem Kampf gegen die Kriminalität verschrieben. Das Ergebnis ließ sich sehen. Die Zahl der erfassten Straftaten war um nahezu zehn Prozent zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum war es Palme gelungen, die Aufklärungsrate der Verbrechen zu steigern. Alles in allem also ein einwandfreies Zeugnis seiner Arbeit. Trotz der immer viel zu knappen Haushaltsmittel des Landes war es ihm darüber hinaus gelungen, einen überproportionalen Betrag für die Ausstattung der Berliner Polizei zu erkämpfen, was ihm die Sympathie der Beamten in Uniform eingebracht hatte.
Palmes Staatssekretär, der ihn bei den meisten Auftritten begleitete, klopfte ihm auf die Schulter. Es war an der Zeit, sich den Wählern zu stellen. Keine zwei Minuten später, nach einer kurzen Anmoderation durch einen Mitarbeiter des Veranstalters, stand Palme auf der Hauptbühne und zog die Zuschauer sofort in seinen Bann. Wie auch bei den vorhergehenden Veranstaltungen hingen sie geradezu an seinen Lippen. Palme war ein rhetorisches Naturtalent, und er hatte die Menge im Griff. Er gab ihnen, was sie wollten, und die Berliner belohnten ihn auch heute wieder mit reichlich Applaus. Mit großer Genugtuung ließ Palme seinen Blick weithin schweifen und gab auf diese Weise jedem einzelnen Besucher das Gefühl, er würde ihn anschauen. Ein alter Trick aus der Kiste geübter Redner, der nie seine Wirkung verfehlte. Doch mit einem Mal zuckte Palme zusammen. Das konnte doch nicht sein! Er blickte angespannt und gleichzeitig darum bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, in die Mitte der großen Menschentraube, die sich vor der Bühne angesammelt hatte.
Er war sicher, da gerade jemanden gesehen zu haben. Einen Mann, den er nur zu gut kannte. Und der eigentlich gar nicht da sein durfte.
»Ich fasse es nicht!«, rief Tobias Baumann voller Wut im Blick und schrubbte dabei den Grillrost mit so viel Kraft, dass sich der Stahl zu biegen begann. Rocco hatte ihn gebeten, am Abend noch bei ihm vorbeizukommen, und er hatte sich enorm darauf gefreut. Es war schon viel zu lange her, dass er sich privat mit Rocco getroffen hatte, und er hatte sogar ein paar Steaks und eine Flasche Ortiz Gin mitgebracht. Grillen auf Roccos Dachterrasse war immer gut. Sie ragte trotz der zentralen Lage der Wohnung mitten in Berlin-Wilmersdorf etwa eine Etage über den Dächern der benachbarten Häuser in Richtung des Hofs hinaus. Eine kleine Oase, von niemandem einsehbar und völlig ruhig.
»Granther heißt der Kerl?«, schnaufte Baumann, schmiss die Stahlbürste auf den Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Hitze hatte die Hauptstadt fest im Griff, und trotz der frühen Abendstunde war es in der untergehenden Sonne noch knapp dreißig Grad heiß. Die warme Luft stand über den Dächern Berlins wie unter einer Glocke.
»Hieß er«, erwiderte Rocco und mixte seinem Freund einen Gin Tonic. Mit dem Schnaps ging er dabei ausgesprochen großzügig um. »Ist 2008 gestorben.« Trocken fügte er hinzu: »Kein großer Verlust für die Menschheit, wenn du mich fragst.« Wie fast immer, wenn er nicht arbeitete, trug Rocco beigefarbene Chinos und ein dunkelblaues T-Shirt. Die Hitze schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Braun gebrannt, mit schwarzem vollen Haar und einem dichten Fünftagebart kam er mehr nach seiner italienischen Mutter als nach seinem deutschen Vater. Dabei bildete er rein optisch den kompletten Kontrast zu seinem besten Freund. Baumann trug seine blonden Haare militärisch kurz geschnitten und war im Gesicht glatt rasiert. Seine helle Haut verbrannte im Sommer leicht und war auch jetzt mehr rot als braun.
»Was um alles in der Welt hat der Typ sich dabei gedacht?«, fuhr Baumann fort und nahm Rocco den Longdrink aus der Hand.
»Nichts Gutes, so viel steht fest«, meinte Rocco und goss sich ebenfalls einen Drink ein. »Granther hatte sich dafür eingesetzt, dass auffällig gewordene Kinder und Jugendliche auf Vermittlung der Jugendämter in die Obhut von pädophilen Männern gegeben wurden. Er hat das damit begründet, dass das immer noch besser wäre als das Leben in ihren Familien, in denen sie geschlagen wurden. Oder auf der Straße, wo sie Drogen nahmen oder im schlimmsten Fall der Prostitution ausgesetzt waren. Erschreckenderweise hat er von Anfang an in Kauf genommen, dass die Kinder missbraucht würden.«
»Das ist doch vollkommen pervers! Vom Regen in die Traufe. Auf die absurdeste Art und Weise. Der Missbrauch war vorprogrammiert!« Baumann konnte nicht fassen, was Rocco ihm in der letzten halben Stunde über den Besuch von Krampe und Liebig in seiner Kanzlei erzählt hatte.
Rocco nahm einen großen Schluck und sah seinen Freund dann mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Du hast vollkommen recht, Tobi. Ein Mensch, der unzählige Leben zerstört hat. Und nur weil er tot ist, heißt das nicht, dass die Sache erledigt ist.« Er stellte das Glas ab und lehnte sich neben Baumann an die etwa einen Meter zwanzig hohe Mauer, die die Terrasse auf zwei Seiten einrahmte.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Baumann.
»Weiß ich auch nicht genau. Komischer Fall. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt weitermachen sollte. Ich meine, die Sache mit dem Missbrauch und diesem Granther ist schlimm genug. Aber erst mal geht es hier eigentlich darum, den Freund von Krampe wiederzufinden. Und das ist nun nicht eben meine Kernkompetenz. Eigentlich sollte das eher die Polizei machen.«
»Na, da wissen wir ja wohl beide, was dabei rauskommt. Die Polizei ist derart überlastet, dass sie kaum mit der Aufklärung der Straftaten hinterherkommt, bei denen es konkrete Hinweise auf ein Verbrechen gibt. Und solange nicht einmal klar ist, ob Grünwald wirklich verschwunden, einfach nur ein bisschen länger im Urlaub oder, warum auch immer, abgetaucht ist, werden die gar nichts machen.«
Rocco schien das ähnlich zu sehen. »Wenn ich mich nicht um den Fall kümmere, ist das vermutlich vorerst das Ende des Ganzen. Und ich bin echt nicht sicher, ob ich das machen sollte. Ich bin Strafverteidiger und keine Agentur für Vermisstensuche. Für so was habe ich keine Zeit und auch nicht wirklich den Apparat oder die Kompetenz.«
»Aber das wusstest du auch schon vorher. Warum hast du das Mandat dann überhaupt angenommen?«, fragte Baumann lächelnd, wobei er schon so eine Ahnung hatte, was Rocco antworten würde.
»Weil das Ganze zum Himmel stinkt. Und es nicht sein kann, dass keiner diesem Krampe hilft.«
»Sehe ich auch so,«, erwiderte Baumann, während er die weißen, quadratischen Grillanzünder zwischen den schwarzen Kohlebriketts verteilte. »Und was machen wir jetzt damit?«
Rocco dachte einen Moment nach. »Als Erstes müssen wir mal Grünwald wiederfinden«, sagte er. »Denn der ist seit ein paar Tagen wie vom Erdboden verschluckt.«
»Was, meinst du, hat es damit auf sich?«, fragte Baumann. »Ist der nur mal eben weg, oder gibt es da noch mehr?«
Rocco zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Er wollte einen weiteren Schluck trinken, stellte dann aber fest, dass sein Glas leer war. Er blickte sich um und griff die Gin-Flasche von dem teakhölzernen Terrassentisch. »Ich bin ja kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber von ›Er taucht morgen wieder auf‹ bis hin zu ›Das hat alles was mit dem beabsichtigten Interview in der Tagespost zu tun und jemand will ihn verschwinden lassen‹ ist alles denkbar, oder?«
»Hast recht«, erwiderte Baumann, »kann alles sein. Und Annahmen ohne Grundlage haben in den seltensten Fällen zum Ziel geführt. Was auch immer dahintersteckt, wenn wir erst mal anfangen, ein paar Steine umzudrehen, werden wir unter dem ein oder anderen sicher was finden.«
Rocco lächelte. »Wie jedes Mal, oder?«
Jetzt musste auch Baumann lächeln. »Wie jedes Mal.«
»Gut«, sagte Rocco, »dann lass uns die Arbeit aufteilen. Du suchst Grünwald über deine Quellen, und ich spreche noch mal mit der Journalistin. Vielleicht hat sie noch eine Info, die uns weiterhilft.«
Genervt versuchte Enno Friedrich, seinen Euro aus dem Einkaufswagen zu bekommen. Er war eh schon viel zu spät dran, seine Tochter aus dem Kindergarten abzuholen. Und jetzt auch noch das. Die Münze hatte sich irgendwie verklemmt. Mit der Faust schlug er ungeduldig auf den Griff. Plötzlich öffnete sich die Vorrichtung, und mit viel Schwung sprang das Geldstück aus der Fassung, fiel auf den Boden und rollte beinahe bis auf den Gehsteig, ehe Friedrich sie zu fassen bekam. Er kniete sich hin, griff nach der Münze und zuckte mit einem Mal zusammen. Was war denn das? Über die Straße hinweg sah er, wie etwas Merkwürdiges im Landwehrkanal trieb. War das … ein menschlicher Körper? Die Entfernung vom Parkplatz war zu groß, als dass er es mit Sicherheit hätte sagen können.
Er ließ seine beiden Einkaufstaschen stehen und eilte ans Ufer. Tatsächlich. Da trieb jemand im Wasser. Er sah dunkle Haare, wahrscheinlich war das der Hinterkopf. Das Gesicht schien unter der Oberfläche zu sein. Friedrich sah sich um. Es musste doch jemand helfen? Aber außer ihm war hier niemand. Wenn er jetzt die Feuerwehr rief, würde das auch nichts bringen. Die würden viel zu spät kommen. Wenn der da noch lebte, musste jemand sofort etwas unternehmen. »Verdammt«, fluchte er laut. Jetzt würde er es auf keinen Fall mehr rechtzeitig zu Laura schaffen. Aber er hatte keine Wahl.
Eilig zog er seine Turnschuhe aus und blickte skeptisch in die dreckige Brühe. Er hatte keine Ahnung, was sich unter der Oberfläche verbarg. In der Hoffnung, sich nicht zu verletzen, sprang er in das dunkle Wasser des Kanals.
Doktor Justus Jarmer, Facharzt am Berliner Institut für Rechtsmedizin, parkte seinen weißen Smart unmittelbar vor der Absperrung der Polizei. Das gesamte südliche Maybachufer zwischen der Liberdastraße und der Nansenstraße war mit rot-weißem Flatterband großflächig abgesperrt.
Neugierig blickte er sich um, registrierte jedes Detail.
Schaulustige säumten die Szenerie, und hier und da hörte Jarmer Spekulationen, was es mit dem Großaufgebot an Feuerwehr und Polizei auf sich hatte. Das gilt es in der Tat herauszufinden, dachte er. Genau aus diesem Grund hatte man ihn hierher bestellt.
Mit einem Klick verschloss er sein Auto mit dem elektronischen Zündschlüssel und wollte gerade unter der Absperrung durchgehen, als eine Stimme ihn schroff zurechtwies: »Entschuldigung, aber Sie können hier nicht parken. Steigen Sie wieder ein und fahren Sie weiter, das hier ist ein Polizeieinsatz.«
Jarmer zog die Augenbrauen hoch, überlegte kurz, ob er sich auf ein Wortgefecht mit dem jungen uniformierten Polizisten einlassen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen zog er seinen Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke und hielt ihn dem Beamten entgegen.
»Seien Sie doch so gut und sagen Sie mir, wer hier den Einsatz leitet«, entgegnete er höflich und zugleich mit einer Direktheit in der Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Verdutzt blickte der Beamte erst auf den Ausweis und dann wieder in Jarmers auffallend grüne Augen. Daraufhin erhellte sich sein Gesicht, und seine Miene entspannte sich. Er drehte sich zur Seite. »Da vorne, das ist die Kollegin Müller.« Er zeigte auf eine mittelgroße Frau mit blonden, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren, die als einzige Nichtuniformierte mit ihrem dunkelgrünen Parka aus der Gruppe uniformierter Beamter herausstach.
Obwohl sie mit dem Rücken zu Jarmer stand, erkannte er sie sofort. Es war schon etwas her, dass er das letzte Mal mit Müller zu tun gehabt hatte. Damals war sie Hauptkommissarin bei der kriminalpolizeilichen Sofortbearbeitung in Berlin-Neukölln gewesen. So wie es aussah, war sie noch immer für dieselbe Direktion tätig. Jarmer wusste aus unzähligen Einsätzen, dass die Beamtinnen und Beamten der Sofortbearbeitung üblicherweise die ersten kriminalpolizeilichen Ermittlungen unmittelbar am Tatort übernahmen. Erst wenn sie sich nach Sicherung der Spuren und Vernehmung der ersten Zeugen einen Eindruck über die Geschehnisse verschafft hatten, übergaben sie die weitere Ermittlungsarbeit an die zuständigen Fachdienststellen.
Mit großen Schritten ging Jarmer auf die Hauptkommissarin zu. Sie musste ihn aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, denn noch bevor er sie erreichte, drehte sie sich um und blickte ihn an.
»Ah, Doktor Jarmer, wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Wir haben Sie schon erwartet«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Ihre blauen Augen, die von feinen Lachfalten gesäumt waren, blitzten fröhlich.
Jarmer erwiderte ihren festen Händedruck und nickte freundlich zurück. »Na, immer noch bei der schnellen Eingreiftruppe?«
»Nach wie vor«, antwortete sie.
»Und, was haben wir heute?« Jarmer sah sie neugierig an.
Sie drehte sich zu einem der beiden Notarztwagen um und zeigte auf einen etwa Mitte dreißigjährigen Mann mit blonden schütteren Haaren, der eingehüllt in eine Decke mit einem der Sanitäter sprach.
»Das ist Enno Friedrich. Er war in einem Discounter da drüben einkaufen, als er einen Körper den Landwehrkanal runtertreiben sah. Kurz entschlossen ist er ins Wasser gesprungen und hat ihn rausgezogen.« Sarah Müller drehte sich um und zeigte dann auf einen Bereich direkt am Ufer, der von einem Sichtschutz verdeckt war. »Allerdings kam jede Hilfe zu spät. Der Mann war bereits tot. So wie er aussieht, vermutlich sogar schon seit einiger Zeit. Aber …«, fügte sie hinzu und lächelte Jarmer an, »… das können Sie natürlich viel besser beurteilen.«
Jarmer nickte. »Wissen Sie schon irgendetwas über den Toten? Hatte er persönliche Dokumente dabei?«
»Nein«, erwiderte Müller. Sie wusste, worauf die Frage abzielte. Über eine rasche Identifizierung konnte – je nachdem, wie der Fall gelagert war – häufig recht schnell ein Motiv für einen möglichen Suizid, zum Beispiel eine gravierende ärztliche Diagnose, ermittelt oder ein Abschiedsbrief, den der Betreffende bei sich zu Hause hinterlassen hatte, gefunden werden. Oder es konnten noch vor der Obduktion über den Hausarzt Informationen zu schwerwiegenden, möglicherweise tödlich verlaufenden Grunderkrankungen oder über die Angehörigen Angaben zu einer psychischen Erkrankung oder zu Streitigkeiten im Umfeld des Toten in Erfahrung gebracht werden. »Der Tote trug weder Portemonnaie, Geld noch sonst irgendwelche Papiere bei sich.«
»Na, dann mal los«, meinte Jarmer und bedeutete der Hauptkommissarin, ihn in Richtung Ufer zu begleiten.
Unruhig wälzte Timo Krampe sich in seinem Bett von links nach rechts. Eigentlich hätte er längst bei der Arbeit sein müssen, wo er als Maler und Lackierer beschäftigt war. Aber er hatte sich für heute krankgemeldet. Er musste die ganze Zeit an das Gespräch bei dem Anwalt denken. Diesem Eberhardt. Anja Liebig war der Meinung, er könne ihnen helfen, doch Krampe war davon keinesfalls überzeugt. In all den Jahren hatte ihm niemand geholfen. Und jetzt, wo er das erste Mal Gehör gefunden hatte und es sogar ein Interview in der Zeitung geben sollte, schien sich auch das zu zerschlagen. Dabei waren sie so kurz davor gewesen. Das Interview in der Tagespost würde bestimmt einiges in Gang bringen. Das musste es. Irgendwie musste er das schaffen. Aber er wusste nicht, wie.
Verzweifelt schob er seine Decke beiseite und setzte sich auf die Kante seines Bettes. Wie spät war es eigentlich? Krampe blickte auf seine Armbanduhr. Acht Uhr zwölf. Aufstehen oder noch ein bisschen liegen bleiben? Was soll’s, dachte er. Noch eine halbe Stunde. Er griff unter seine Decke und suchte die Fernbedienung. Als er sie gefunden hatte, kroch er wieder in sein Bett. Mit einem Druck auf den Knopf erwachte der Fünfzig-Zoll-Fernseher zum Leben. Der Apparat war eines der Dinge, auf die er wirklich stolz war. Er hatte ihn sich vergangenen Dezember selbst geschenkt, bezahlt von dem Weihnachtsgeld, mit dem er nicht gerechnet hatte.
Krampe rieb sich die Augen. Im ZDF-Frühstücksfernsehen interviewte Dunja Hayali gerade Markus Palme, den Spitzenkandidaten der SPD für das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Irgendwie kam Palme ihm bekannt vor. Natürlich stand er als Politiker in der Öffentlichkeit, aber da war noch etwas anderes. Palme und Hayali lachten, denn auf eine kritische Frage hatte der Politiker gerade eine unerwartet schlagfertige Antwort gegeben.
»Herr Palme«, leitete die Moderatorin dann das Ende des kurzen Gesprächs ein. »In einem Satz: Worauf können die Berlinerinnen und Berliner sich freuen, wenn Sie in zwei Monaten der nächste Bürgermeister unserer schönen Stadt werden?«
Palme dachte einen Moment nach, antwortete nicht gleich. »Darauf, dass ich ehrlich sein und meine Versprechen einlösen werde. Auch wenn das nicht immer auf Begeisterung stoßen wird. Aber manchmal ist es wichtig, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Vor allem, wenn es langfristig das Beste sein wird.«
Während Dunja Hayali sich nach einem kurzen Dank von ihrem Gast verabschiedete und bereits den nächsten Beitrag anmoderierte, drehte Krampe sich wieder auf die Seite. Typischer Politiker. Vor der Wahl gibt es immer große Versprechen, und hinterher halten sie dann nichts ein. Wird bei dem Palme auch nicht anders sein. Mit der linken Hand griff Krampe nach der Fernbedienung und schaltete den Apparat ab, während er überlegte, wann er Palme eigentlich das erste Mal gesehen hatte.