Douglas Preston / Lincoln Child
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Benthack
Knaur eBooks
Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts, geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Naturwissenschaften und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim American Museum of Natural History in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, Relic, dem viele weitere internationale Bestseller folgten. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher und verfasst regelmäßig Artikel für diverse Magazine. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern an der Ostküste der USA.
Lincoln Child wurde 1957 in Westport, Connecticut, geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur arbeitete er zunächst als Verlagslektor und später für einige Zeit als Programmierer und System-Analytiker. Während der Recherchen zu einem Buch über das American
Museum of Natural History in New York lernte er Douglas Preston kennen und entschloss sich nach dem Erscheinen des gemeinsam verfassten Thrillers Relic, Vollzeit-Schriftsteller zu werden. Obwohl die beiden Erfolgsautoren 500 Meilen voneinander entfernt leben, schreiben sie ihre Megaseller gemeinsam: per Telefon und Internet. Lincoln Child publiziert darüber hinaus auch eigene Bücher. Er lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
In der Reihe um Nora Kelly und Corrie Swanson sind bereits folgende Titel erschienen:
Old Bones - Tote lügen nie
Old Bones - Das Gift der Mumie
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Diablo Mesa« bei Hachette Book Group, New York.
© 2022 by Splendide Mendax, Inc. and Lincoln Child
© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Collage unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46526-4
Für Montague Rhodes James,
in Dankbarkeit.
QUI EST ISTE QUI VENIT?
Langsam breitete Dr. Marcelle Weingrau, Leiterin des Archäologischen Instituts Santa Fe, ihre Hände auf dem polierten, wuchtigen Schreibtisch aus. Genauso langsam streckte sie anschließend die Hand nach einem schmalen, braunen Aktendeckel aus, den sie mit überaus gepflegten Fingern zu sich heranzog. Selbst die einfachsten Bewegungen wirkten, wie Nora bemerkte, als seien sie genau geplant. Doch Nora hatte sich daran gewöhnt, seit Weingrau die Ernennung zur Leiterin angenommen hatte, und ihr war auch bewusst, dass solche Inszenierungen kein Grund zur Sorge waren – jedenfalls nicht zwangsläufig.
Jetzt lächelte Weingrau ein breites, freundliches Lächeln. »Ich habe Sie heute Morgen hierhergebeten, weil sich uns unverhofft eine großartige Chance bietet. Ein wundervolles neues Projekt, eine wirklich außergewöhnliche Gelegenheit. Connor und ich möchten gerne, dass Sie es leiten.«
Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete Nora. Ihr war nicht ganz klar gewesen, warum sie heute Vormittag ins Büro der Institutsleiterin zitiert worden war. Seit sie im Oktober bei einer Beförderung übergangen worden war und Connor Digby – der neben ihr saß – die Stelle bekommen hatte, unterhielt sie eine distanzierte, sorgfältig abgestimmte Arbeitsbeziehung zu Weingrau. Noras und Digbys Büros lagen nebeneinander, und obgleich er ein guter Archäologe wie auch ein eher unauffälliger Bursche war, war das Verhältnis zu diesem unerwarteten Chef von Anbeginn kompliziert. In dem halben Jahr seit Digbys Beförderung hatte sich Nora bedeckt gehalten und auf die Arbeit konzentriert und vergeblich versucht, ihren Groll über den Verrat zu überwinden.
»Nicht, dass ich ein unangenehmes Thema ansprechen möchte«, fuhr Weingrau fort, »aber ich weiß, dass Sie enttäuscht waren, nicht den Posten der Chefarchäologin zu bekommen. Sie haben herausragende Arbeit für das Institut geleistet und uns die so dringend benötigte positive Publicity verschafft. Tatsächlich ist dieses neue Projekt das unmittelbare Ergebnis davon.« Dreimal tippte sie mit einem ihrer roten Fingernägel auf den Aktendeckel.
»Vielen Dank«, sagte Nora.
»Das Projekt unterscheidet sich möglicherweise ein wenig von denen, die wir normalerweise durchführen – auch wenn es durchaus im Bereich unserer archäologischen Mission liegt.«
Nora wartete ab, um mehr zu erfahren. Dass Weingrau diese Worte wählte – schmeichelnd und heiter –, das passte gar nicht zu ihr.
»Ihre Arbeit bei der Lokalisierung und Bergung des Schatzes am Victorio Peak hat die Aufmerksamkeit eines bekannten Geschäftsmannes – und potenziellen Sponsors, wie ich hinzufügen könnte – erregt, der die treibende Kraft hinter diesem spannenden Projekt ist.«
Nora wurde ein wenig mulmig zumute. Wieso trug Weingrau derart dick auf?
»Der Mann heißt Tappan. Lucas Tappan. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört?«
Nora hielt inne. »Ist das nicht der Mann, dem dieses Raumfahrtunternehmen gehört – Icarus? Meinen Sie den?«
»Ja, genau den. Tappan ist vor allem als Gründer von Icarus Space Systems bekannt, aber sein Hauptinteresse gilt der Windenergie. Die Raumfahrt ist eher eine Nebenbeschäftigung. Beides sind ehrenhafte Geschäftsfelder, wie ich hinzufügen könnte. Zudem ist er ein wohlhabender Mann.« Wieder ein breites Lächeln.
Nora nickte. Er war nicht nur ein »wohlhabender Mann«, sondern Milliardär.
»Nicht nur hat uns Mr Tappan einen sehr faszinierenden Vorschlag unterbreitet, sondern zugleich eine größere finanzielle Zuwendung in Aussicht gestellt. Connor und ich haben das Ganze erörtert und die Zustimmung des Vorstands erhalten.«
Nora fühlte sich zunehmend unwohl. Normalerweise mischte sich der Vorstand des Instituts nicht in die Projektvergabe ein. Und warum hatte sie bislang noch nichts von der Sache gehört?
»Connor wird Sie jetzt in die Details des Projekts einweihen«, sagte die Institutsleiterin.
»Okay.« Digby wandte sich zu Nora um. Er war erheblich nervöser als die coole Weingrau. »Sind Sie mit den Geschehnissen vertraut, die sich unweit des Städtchens Roswell zugetragen haben?«
Hatte sie sich verhört? Sie sah Digby ungläubig an.
»Der Ort liegt in der Wüste, nördlich von –«
»Sprechen Sie von der Gegend, in der angeblich ein Ufo abgestürzt ist?«, unterbrach ihn Nora.
»Ja, genau der«, sagte Digby und redete weiter, bevor Nora darauf antworten konnte. »Zur Erinnerung: 1947 fand der Vorarbeiter einer Ranch nordöstlich von Roswell, New Mexico, ein ungewöhnliches Wrack auf einem Abschnitt staatlichen Lands, das die Ranch gepachtet hatte. Das Militär rückte aus, um Nachforschungen anzustellen, und gab am 8. Juli eine Pressemeldung heraus, wonach die 509th Composite Group das Wrack einer fliegenden Untertasse gefunden habe. Zwei Stunden darauf wurde die Verlautbarung eilig dahin gehend geändert, dass es sich um einen abgestürzten Wetterballon gehandelt habe. Erst Jahre später konnten die Ermittler die Wahrheit aufdecken, nämlich dass ein Ufo, das anscheinend US-Atomwaffentests überwachte, vom Blitz getroffen und abgestürzt war. Die Regierung barg damals die Überreste des Raumfahrzeugs und möglicherweise auch die sterblichen Überreste mehrerer Außerirdischer. Anschließend kam es zu einer massiven Vertuschung seitens der Regierung.«
Dies alles trug er überaus hastig vor, schließlich hielt er inne.
Nora sah Digby noch immer verwundert an. Wieso nannte er diese irre Theorie »die Wahrheit«?
»Mr Tappan hat uns ein Angebot unterbreitet, gut vorbereitet und vollständig finanziert, demzufolge wir in der Wüste unweit von Roswell eine Grabung vornehmen sollen. Eine professionelle archäologische Ausgrabung, nach allen Regeln der Kunst.«
»Und das ist das wunderbare neue Projekt, das ich Ihrem Wunsch zufolge leiten soll?«
Er lächelte verunsichert. »Genau. Ausgestattet mit allen Mitarbeitern, allem Equipment und allem Geld, das Sie benötigen, um eine Grabung nach den höchsten professionellen Standards durchzuführen.«
Als Nora ihn weiterhin entgeistert anstarrte, verfiel er in Schweigen, zog einen Stift aus der Hemdtasche und begann, damit herumzuspielen.
Schließlich wandte sich Nora zu Weingrau um. »Soll das jetzt ein Witz sein?«
»Nein, ganz und gar nicht. Das Projekt wurde gründlich geprüft, und der Vorstand hat seine Genehmigung erteilt. Etwas ist in der Gegend abgestürzt. Was, wissen wir nicht.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Bitte ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse, Nora. Wir befürworten nicht irgendwelche Theorien über Ufos. Im Gegenteil. Wir haben uns auf eine professionelle Ausgrabung der Absturzstelle geeinigt. Mehr nicht.«
»Bei allem gebotenen Respekt, Dr. Weingrau, indem Sie dieser Sache Ihre Zustimmung erteilt haben, unterstützen Sie sie. Ich meine, mit diesem Märchen über das angebliche Ufo-Ereignis wurde doch schon vor Jahren aufgeräumt.«
»Es gibt vernünftige Leute, die da anderer Meinung sind. Niemand weiß genau, was passiert ist. Wie Connor erwähnt hat, gibt es Hinweise auf eine Vertuschung seitens der Regierung. Mr Tappan hat den Vorfall gründlich erforscht und ist dabei auf bisher unbekannte Informationen gestoßen, die bestätigen, dass in jener Region hoch entwickelte technologische Geräte gefunden wurden, die von Aliens stammen, möglicherweise sogar sterbliche Überreste.«
»Soll heißen, Leichen von Aliens? Entschuldigung, aber haben Sie wirklich vor, das Institut in etwas derart … Unseriöses hineinzuziehen?«
»Das haben wir bereits«, sagte Weingrau, durchaus mit Schärfe in der Stimme. »An der Vereinbarung ist nicht mehr zu rütteln. Und außerdem nehme ich Ihnen Ihre Charakterisierung übel. Ich war geduldig mit Ihnen, Nora. Sehr geduldig … selbst dann noch, als Sie noch lange nach Verstreichen des Stichtags am Tsankawi-Projekt weitergearbeitet haben, ohne dass ein Ende in Sicht war.«
Nora konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Ich stelle mir vor, dass Mr Tappan zusätzlich zur Finanzierung der Ausgrabung dem Institut einen Haufen Geld versprochen hat – richtig?«
»Es handelt sich zwar um eine großzügige Spende, aber darum geht es uns nicht. Wir haben es mit einem wirklich ungelösten Rätsel zu tun. Wenn wir mithilfe der Archäologie Licht darauf werfen können, ist nichts gegen das Projekt einzuwenden. Ich verschaffe Ihnen eine wunderbare Gelegenheit, Ihren Lebenslauf aufzupolieren und Ihr berufliches Profil zu schärfen.«
»Vergessen Sie’s«, sagte Nora, bevor sie sich stoppen konnte.
»Die Existenz von Dingen zu leugnen, die unser Wissen übersteigen, ist ebenso gefährlich, wie sie zu befördern.«
Einen Augenblick lang versuchte Nora, es aus dem Blickwinkel der Institutsleiterin zu betrachten, doch es gelang ihr nicht ganz. »Tut mir leid, aber ich mache das nicht. Ich könnte es nicht.«
Weingrau sah sie ungläubig an. »Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Wir bitten Sie nicht um Ihre Zustimmung. Das Projekt wurde angenommen, und Sie werden es leiten. Punkt.«
»Das ist nicht in Ordnung«, sagte Nora, die ihre Wut nun zunehmend im Griff hatte. Sie senkte die Stimme.
»Ich wurde nicht konsultiert, während all dies beschlossen wurde, dabei hätte ich von Rechts wegen zurate gezogen werden müssen. Ich befinde mich im Moment mitten in einem wichtigen Projekt, das sich ohne mein Verschulden durch die Geschehnisse am Victorio Peak verzögert hat. Sie können mir dieses neue Projekt nicht ohne vorherige Benachrichtigung aufbürden. Fest steht, dass Sie mich seit Ihrem Erscheinen hier nicht mit der Professionalität behandeln, die ich verdiene – und das jetzt ist nur ein weiteres Beispiel dafür. Das Projekt würde das Institut zum Gespött der archäologischen Gemeinde machen. Es wird mein berufliches Profil keinesfalls schärfen, es wird meine Karriere gefährden. Ich verweigere die Teilnahme.«
»Sie haben doch gehört, was Dr. Weingrau gesagt hat«, meldete sich Digby in schrillem Ton. »Die Sache ist bereits beschlossen.«
Sie taxierte ihn kühl, dann richtete sie den Blick wieder auf Weingrau. Digbys Aufforderung, zusätzlich zu allem anderen, brachte das Fass zum Überlaufen. »Ich habe da eine Idee. Beauftragen Sie doch den Kriecher hier, das Projekt zu leiten.«
»Diese Äußerung ist nicht nur unangebracht, sie ist unverschämt.«
»Da haben Sie vermutlich recht. Lassen Sie also Digby für sich selbst sprechen.« Sie wandte sich zu ihm um. »Warum wollen eigentlich nicht Sie die Ausgrabung leiten, Connor?«
»Weil …«, stammelte er, »Mr. Tappan speziell Sie für die Arbeit haben wollte.«
»Ach ja?«, erwiderte Nora kühl. »Nun, dann richten Sie Mr. Tappan bitte aus, dass ich nicht zur Verfügung stehe.«
Eine angespannte Stille breitete sich in dem Büroraum aus. Schließlich sagte Weingrau: »Ist das Ihr letztes Wort, Nora?«
»Ja.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie in Ihr Büro zurückgehen, Ihre persönlichen Sachen zusammensuchen, Ihre Dateien in Ordnung bringen und das Institut verlassen.«
Nora atmete tief durch. Dass ihr ihre Ablehnung derart ungefiltert über die Lippen gekommen war, damit hatte sie fast ebenso wenig gerechnet wie Weingrau. Doch nun war alles gesagt – und vielleicht war es auch besser so. Fakt war, dass sie ehrlich gesagt schon seit einiger Zeit nach einer Ausflucht suchte, das Institut zu verlassen. Und hier war sie, serviert auf dem Silbertablett. Wenn das Institut seinen Ruf ruinieren wollte, bitte schön, aber wenigstens würde sie dann nicht mehr hier arbeiten und die negativen Konsequenzen des Projekts mitbekommen.
»Mit anderen Worten, Sie werfen mich raus.«
»Wenn Sie uns auf dem Weg zur Tür hinaus ein Rücktrittsschreiben dalassen, müssen wir das Ganze nicht als Entlassung bezeichnen. Wir würden es dann Ausscheiden auf eigenen Wunsch nennen.«
»Nein.«
»Nein was?«
»Wenn Sie mich feuern wollen, dann feuern Sie mich auch richtig.« Sie wandte sich zu Digby um. »Viel Glück. Sie werden es brauchen.«
Und damit stand sie auf und verließ das Büro.
Als Nora anderthalb Stunden später durch den Haupteingang des Instituts in den hellen Aprilsonnenschein trat, ging sie mit einem kleinen Karton auf den Händen und einem Rucksack auf dem Rücken zu ihrem Wagen. Ihr Zorn hatte sich ein wenig gelegt, bittere Reue und Selbstzweifel waren an seine Stelle getreten. Wenn sie mit der Situation doch nur anders umgegangen wäre, wenn sie nicht so entschieden widersprochen hätte, wenn sie gesagt hätte, dass sie ein wenig darüber nachdenken müsse, wenn sie das Projekt nicht unseriös, Digby nicht Kriecher genannt hätte … vielleicht hätte sie sich dann herausreden und die Ausgrabung auf ihn abwälzen können. Abgesehen davon war es pure Dickköpfigkeit gewesen, die sie davon abgehalten hatte, Weingraus Angebot, auf eigenen Wunsch auszuscheiden, anzunehmen. Es würde schwierig genug werden, beim derzeitigen Arbeitsmarkt für Akademiker eine neue Anstellung zu finden, aber mit einer Kündigung im Lebenslauf … Was dachte sie denn da? Trotzdem, ein ordentliches Kündigungsschreiben abzugeben, und zwar nach allem, was sie gesagt hatte, diese Selbsterniedrigung war ihr nun doch unerträglich.
Und sie konnte auch nicht anders, als sich wegen ihres Bruders Skip Sorgen zu machen, der ebenfalls am Institut angestellt war. Er würde vermutlich beleidigt kündigen, sobald er erfuhr, dass man sie gefeuert hatte. Dabei befand er sich in einer schwierigeren Lage als sie: Im Grunde hatte er seinen Master in Physik in Stanford nicht besonders sinnvoll genutzt. Wie viele Stellen als Sammlungsmanager gab es denn in Santa Fe? Aber selbst wenn er nicht kündigte – Weingrau schmiss ihn womöglich raus, nur um sie zu ärgern. Nora wollte nicht, dass ihr Bruder noch einmal völlig aus der Bahn geriet, so wie vor einigen Jahren.
Auf dem Parkplatz stand ein Auto mit laufendem Motor, es blockierte den Weg zu ihrem Wagen. Als sie um das Fahrzeug herumging, schwer beladen mit ihren Sachen, stieg ein Mann aus.
»Dr. Kelly?«
Sie blieb stehen. »Ja?«
»Könnten wir uns kurz unterhalten?«
»Tut mir leid. Ich habe wirklich viel zu tun und muss weiter.« Was immer er wollte, was immer er hier am Institut tat, es interessierte sie nicht mehr. Sie ging weiter.
»Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen mit dem Karton.« Er schritt eilig zu ihr herüber.
»Nein danke«, sagte sie schroff. Sie kam an ihrem Wagen an, kramte den Schlüssel aus dem Rucksack, schloss auf und legte den Karton auf den Rücksitz, den Rucksack hinterher. Als sie die Tür zuknallte, bemerkte sie, dass der Mann näher gekommen war und hinter ihr stand.
Sie ignorierte ihn, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Er legte eine Hand auf die Tür, wodurch er verhinderte, dass Nora sie ihm vor der Nase zuschlug. »Ich nehme an, sie haben Ihnen gekündigt?«
Sie starrte ihn ungläubig an, kurzzeitig verwirrt. Hatte die Sache schon die Runde gemacht? Noch wusste doch niemand davon, nicht einmal Skip.
»Wer zum Teufel sind Sie?«
Er lächelte. »Lucas Tappan.« Er streckte die Hand aus.
Sie schaute ihn an, nahm ihn zum ersten Mal richtig wahr. Er war ungefähr in ihrem Alter, Mitte bis Ende dreißig, bekleidet mit einem Leinenjackett, einem schwarzen Lammfell-Cowboy-Shirt, Jeans, Lanvin-Leder-Sneakers. Er hatte lockiges schwarzes Haar, graue Augen, weiße Zähne, Kinn mit Grübchen. Sein selbstgefälliger Ich-habe-unbegrenzt-Geld-aber-das-hat-mich-nicht-wirklich-verändert-Look missfiel ihr auf der Stelle.
»Nehmen Sie die Hand von der Tür, oder ich rufe die Polizei.«
Er gehorchte. Sie knallte die Tür zu und steckte den Zündschlüssel ins Schloss. Der Motor sprang an, und sie drehte sich um, um den Wagen zurückzusetzen. Dabei trat sie fester als beabsichtigt aufs Gaspedal, sodass die Räder auf dem Schotter durchdrehten.
»Ich freue mich, dass Sie gekündigt haben.« Er hob die Stimme, damit er durchs Fenster gehört wurde. »Jetzt können wir frei von Behinderungen arbeiten.«
Unvermittelt trat sie auf die Bremse und ließ das Fenster herunter. »Wie bitte?«
»Ich hatte es gehofft. Ich hatte mich ehrlich gesagt nicht gerade auf die Zusammenarbeit mit dieser Weingrau gefreut.«
»Sie hatten es gehofft? Das ist doch lächerlich –«
»Schauen Sie, können wir reden? Nur einen Moment?«
Nora sah ihm fest in die Augen. »Ich habe wirklich keine Zeit dafür.«
»Sie haben alle Zeit der Welt. Sie haben keinen Job.«
»Vielen Dank für nichts. Sie sind ein Arschloch, wissen Sie das? Und Sie sind irre. Ufos. Roswell. Was für ein Stuss.« Ihre ganze Wut kam raus.
»Okay, gut. Das hat man mir schon einmal vorgehalten – und Schlimmeres. Fünf Minuten? Bitte?«
Sie war kurz davor, loszufahren. Mit einem Mal fühlte sie, wie etwas in ihr nachgab, als wäre alle Kraft zusammen mit der Wut aus ihr entwichen. Waren die vergangenen beiden Stunden wirklich real gewesen? Am Morgen hatte sie noch in ihrem Büro an einem der Abschlussberichte über die Tsankawi-Ausgrabung gearbeitet … aber jetzt gab es kein Büro mehr, keinen Job, nur ein paar verbrannte Brücken, die sie hinter sich abgebrochen hatte.
»Na gut, meinetwegen. Fünf Minuten.« Sie blieb hinterm Steuer sitzen und verschränkte die Arme.
»Glauben Sie, wir könnten dieses Gespräch vielleicht nicht durch ein Autofenster führen? Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Wider bessere Einsicht lenkte Nora den Wagen vorsichtig zurück in die Parkbucht, stieg aus und folgte Tappan zu seinem Auto. Ein eisblauer Tesla. Natürlich.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen?«
Sie erfüllte ihm die Bitte und ließ sich auf den weichen, weißen Ledersitz sinken. Das Armaturenbrett schimmerte: Maserholz, mattchrome Oberflächen und ein großer Computerbildschirm.
Sie schloss die Tür. Tappan drückte eine Taste, die Fenster verdunkelten sich wie von Zauberhand. Er griff unter das Armaturenbrett und holte ein großes zusammengerolltes Dokument hervor, das er auseinanderrollte.
»Schauen Sie mal.« Er hielt das Dokument auseinander, damit sie alles sehen konnte.
Nora erkannte das Abgebildete sofort.
»Das ist eine mit Georadar gemachte Aufnahme –«, begann er.
»Ich weiß, was das ist«, sagte Nora ungehalten.
»Gut. Sehen Sie diesen Bereich hier? Das ist unser Zielgebiet – dort, wo das Ufo angeblich abgestürzt ist. Was sehen Sie?«
Nora betrachtete das graustufige Bild eingehender. Ganz klar, man sah sofort, dass dort irgendetwas passiert war.
»Sagen Sie mir, lässt sich diese Bodenstörung auf den Absturz eines Wetterballons zurückführen?«
Sie sah noch genauer hin. In dem Sand war undeutlich eine zwar verschwommene, aber tief aussehende Furche beziehungsweise Rinne zu erkennen, außerdem weitere Anhaltspunkte für weiträumige und breit gestreute Bodenstörungen.
»Nicht wirklich«, antwortete sie.
»Genau. Und schauen Sie mal, wie das Gebiet von alten Spuren von Gerätschaften und Fahrzeugen zur Erdbewegung umgeben ist. Zudem hat das Georadar zwei kaum sichtbare Straßen zum Vorschein gebracht, die von dem Gebiet wegführen, und eine weitere, die drum herumführt. Früher war das ein Ort mit viel Verkehr. Vielsagend, finden Sie nicht?«
»Ist die Furche nicht etwas klein für ein Ufo? Ich meine, sie ist nicht sehr breit. Die könnte doch von allem Möglichen herrühren – einer Rakete, einem kleinen Flugzeug, sogar von einem Meteoriten. Ich sehe da keinen Beweis, dass sie von einem Ufo stammt.«
»Worauf es ankommt, ist«, sagte Tappan, »dass sich hier etwas ereignet hat, das mit dem Absturz eines Wetterballons oder eines Geräts zur Überwachung von Atomexplosionen überhaupt nicht zusammenpasst. Außerdem sieht man, wo die Humusschicht, hier und hier, bewegt wurde, um das Zielgebiet zu verstecken und sämtliche Spuren zu verwischen und einzuebnen. Wieso hat man sich eigentlich so viel Mühe gegeben, einen Ballonabsturz zu vertuschen? Dazu waren doch umfangreiche Erdarbeiten erforderlich.«
Im beengten Raum des Wagens betrachtete Nora die Aufnahme genauer. Darauf waren Anzeichen für jede Menge alter Aktivitäten zu erkennen, die sich vom Zielgebiet in alle Richtungen erstreckten.
Tappan lächelte. Er nahm eine weitere Karte aus dem Handschuhfach und rollte sie auseinander. Hier handelte es sich offensichtlich um die Aufnahme eines Magnetometers, ein Instrument, das Archäologen zur Aufzeichnung der magnetischen Eigenschaften eines Bodens verwendeten, um so das unterirdische Terrain zu kartieren. Im Zielgebiet und drum herum waren verschiedene Anomalien und dunkle Flecken sichtbar. Auch das Gebiet mit der Bodenstörung und der kaum erkennbaren Furche war in schwachem Umriss zu erkennen.
»All diese dunklen Punkte und Flecken sind das, was Laien als ›vergrabenen Krempel‹ bezeichnen würden«, sagte Tappan. »Krempel, den Ihre Ausgrabung zutage fördern wird.«
»Es könnte alles sein«, sagte Nora. »Große und kleine Steine, Blechdosen, Müll.«
Tappan tippte auf die Karten. »Mag sein, aber das hier beweist eins: Die Regierung hat gelogen. Es gab weder einen Wetterballon noch ein geheimes Überwachungsgerät. Aber warum diese Lüge?«
Eine berechtigte Frage. Er musterte sie mit seinen grauen, forschenden Augen.
»Und die Lügerei geht noch weiter«, sagte Tappan. »Vor einigen Jahren hat die Regierung angeblich die Akten über die Ufos freigegeben. Darin befanden sich einige überraschende Dinge, wie Sie vermutlich wissen – Videos von Objekten, die unter anderem von Kampfpiloten beobachtet worden waren. Aber noch vor diesem Zeitpunkt hatte die Regierung Dokumente freigegeben, die darauf hindeuten, dass es sich bei dem unweit von Roswell abgestürzten Objekt nicht um einen Wetterballon handelte, sondern um ein geheimes regierungseigenes Gerät, entwickelt in Los Alamos zum Aufspüren von oberirdischen Atomexplosionen. Dieses Gerät wurde getestet, sei aber wegen starken Windes abgetrieben und in der Nähe von Roswell notgelandet. Bei der ›Scheibe‹, die Zeugen beschrieben haben, habe es sich in Wahrheit um einen Radardetektor gehandelt, der für Zielerfassungen eingesetzt wurde.«
»Klingt vernünftig«, sagte sie. »Das könnte die Furche erklären – vielleicht pflügte das Objekt ja den Boden durch.«
»Die Furche ist mindestens fünf Meter tief. Nein – auch dass es sich um ein nukleares Gerät mit einem daran befestigten Radardetektor gehandelt habe, ist eine Falschinformation, die zweite Ebene der Falschinformation. Erst ein Wetterballon, dann ein geheimes Überwachungsgerät. Alles Falschinformationen. Hier gibt es nichts zu sehen, Leute! Die echten Roswell-Akten und die Objekte und Trümmerteile, die man an dem Ort gefunden hat, sind bis heute geheim.«
Sie schüttelte den Kopf. »Und die Leichen der Aliens?«, fragte sie sarkastisch.
Er lächelte. »Schauen Sie, das Entscheidende ist doch: Am Absturzort ist noch mehr zu finden. Das ist auf diesen beiden Übersichtsaufnahmen zu erkennen. Eine professionelle archäologische Ausgrabung würde genau das enthüllen. Nicht nur eine Bodenstörung, sondern etwas mehr … vielleicht sehr viel mehr.« Er rollte die Karten zusammen. »Was sagen Sie dazu, Nora?«
»Hm, mehr als diese Karten haben Sie nicht?«
»Ich finde, das ist ziemlich viel. Hören Sie, ich wollte nicht das Institut. Ich wollte Sie. Ich habe mir gedacht, dass Sie vielleicht kündigen, nachdem Sie den Vorschlag gehört haben, und ich hatte recht.«
»Sie hatten unrecht. Man hat mich rausgeworfen.«
Er lachte. »Jetzt, wo ich Sie kennengelernt habe, verstehe ich, wie das passieren konnte. Digby, dieses bedauernswerte Männlein …« Er schüttelte den Kopf. »War er im letzten halben Jahr wirklich Ihr Vorgesetzter?«
Nora wich der Frage aus. »Wieso gerade ich? Es gibt da draußen doch jede Menge Archäologen.«
»Ich habe die Geschichte vom Schatz am Victorio Peak mit großem Interesse verfolgt. Anschließend habe ich mich mit den Grabungsarbeiten vertraut gemacht, die Sie am Donner-Pass durchgeführt haben und davor an der Ausgrabungsstätte unweit von Quivira. Ich wollte keinen schmalschultrigen Akademiker. Sie verfügen über alle Eigenschaften, die ich benötige: Mut, Fachkompetenz, Durchhaltevermögen, Urteilskraft. Ich habe mein Unternehmen aufgebaut, indem ich die richtigen Personen eingestellt habe.«
Fast mit Bedauern sah sie, dass er die Gummibänder um die Karten rollte und diese wieder weglegte.
»Es tut mir leid. Ich kann das nicht machen. Es geht einfach nicht.«
»Ich bitte Sie ja nicht, jetzt eine Entscheidung zu treffen. Sondern nur, dass Sie sich den Ort einmal selbst anschauen. Das Team kennenlernen, sich die Indizien ansehen. Ich verfüge über sämtliche bundesstaatlichen Genehmigungen, die Ausrüstung, die Ingenieure, ein paar halb domestizierte Postdoktoranden – alles, was für eine erstklassige Ausgrabung nötig ist. Alles, was mir noch fehlt, ist eine renommierte Archäologin. Ich biete ein gutes Gehalt.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mein Helikopter wartet auf dem Flughafen Sunport. In knapp über einer Stunde können wir an der Grabungsstätte sein, um sechs wären Sie wieder zu Hause. Oder wenn Sie sich entschließen zu bleiben, steht Ihnen für die Nacht ein Airstream-Wohnwagen zur Verfügung.«
Sie seufzte. Der Teil »Gutes Gehalt« war jedenfalls verführerisch. Sie und Skip teilten sich ein Haus, und es war gar nicht leicht, die Hypothek immer pünktlich zu bedienen. Santa Fe war eine teure Stadt und das Institut nicht besonders großzügig.
»Es tut mir sehr leid.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. Sie drehte sich um und sah, dass Tappan sie verblüfft und erschrocken anschaute. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. »Haben Sie vielen Dank für Ihr Angebot, aber ich muss es leider ablehnen.«
Sie schloss die Tür und ging zurück zum Wagen. Zugleich fragte sie sich, ob sie wohl soeben den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte.
Nora war zu Hause angekommen, in dem Häuschen im Süden der Stadt, das sie gemeinsam mit Skip bewohnte. Sie stellte den Karton mit ihren Sachen auf dem Küchentresen ab, warf den Rucksack achtlos auf den Boden, stellte den Wasserkessel an, um Kaffee zu kochen, und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Mitty, ihrer beider Golden-Retriever-Rettungshund, kam herbeigelaufen und wedelte dabei so heftig mit dem Schwanz, dass sich das ganze Hinterteil hin und her bewegte. Zugleich drückte er ihr seine Schnauze in die Hand. Sie tätschelte ihn geistesabwesend und fragte sich, was sie nun mit ihrer Zeit anfangen sollte. Es war erst ein Uhr, und es kam ihr vor, als erstrecke sich der Tag endlos vor ihr. Vielleicht sollte sie anfangen, Bewerbungen zu schreiben.
»Nora! Du bist zu Hause!«
Fast wäre sie aufgesprungen, als Skip ins Zimmer gelaufen kam.
»Und du auch. Warum bist du nicht im Institut?« Plötzlich befürchtete sie, dass Weingrau auch ihn gefeuert hatte.
»Ich habe gekündigt!«
O nein. Sie bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie entsetzt sie war. »Du hast gekündigt? Und wieso?«
»Ich habe einen neuen Job!«
Der Wasserkessel fing an zu pfeifen.
»Ich mach uns einen Kaffee«, sagte Skip, »und erzähl dir alles.« Er beschäftigte sich mit dem Mahlen und Filtern, während Nora die Neuigkeit verarbeitete. Was für einen besseren Job konnte Skip bekommen haben?
»Also, was machst du zu Hause?« Skip löffelte Kaffeemehl in den Kaffeebereiter und goss heißes Wasser hinein.
»Hm, man hat mich rausgeworfen.«
Skip hielt inne. »Was?«
»Gefeuert.«
»Was soll das heißen, gefeuert? Du bist deren Star-Archäologin.«
Nora seufzte. »Die haben mich gebeten, ein Ufo auszugraben. Ich habe abgelehnt.«
Darauf folgte ein jähes Schweigen. Skip machte sich wieder daran, den Kaffee aufzugießen. »Ein Ufo?«, wiederholte er ungläubig.
»Du kennst doch diesen irren Roswell-Verschwörungsmythos über den Absturz eines Ufos und tote Aliens. Das Institut wollte tatsächlich, dass ich die Grabung leite. Ich habe geantwortet, dass ich mich nicht zum Gespött der archäologischen Welt machen möchte. Ein Wort ergab das andere, und dann hat mich Weingrau gefeuert.«
Skip hantierte mit dem Kaffeebereiter. Das Schweigen zog sich in die Länge. Ein unbehagliches Gefühl beschlich Nora. »Skip?«
»Ja?«
»Erzähl mir etwas über deinen neuen Job.«
Wieder lange Stille. »Wieso findest du die Roswell-Geschichte eigentlich so irre? Ich meine, es gibt viele Belege, die sie stützen. Sehr viele. Es gibt Augenzeugen. Es gibt Dokumente. Militärangehörige im Ruhestand sind an die Öffentlichkeit getreten und haben gesagt, dass sie dort gewesen seien, dass sie das Wrack, ja sogar die sterblichen Überreste von Aliens gesehen hätten.«
»Hm, Skip? Arbeitest du in deinem neuen Job zufällig für einen Typ namens Tappan?«
Er kam mit zwei Bechern Kaffee herüber, stellte sie trotzig auf den Tisch und nahm Platz. »Um ehrlich zu sein, ja.«
Sie schüttelte den Kopf. Der Tag wurde immer schlimmer.
»Nora, kannst du mir bitte einen Augenblick zuhören? Zunächst einmal: Tappan hat enorm umfangreiche Forschungen angestellt. Es handelt sich um ein ernst zu nehmendes Unterfangen. Es ist nichts seltsam daran. Er hat bereits Messungen mit dem Magnetometer, mit Lidar und mit Georadar durchgeführt. Er hat sämtliche Genehmigungen, alles.«
»Wie viel zahlt er dir?«
»Sechzehnhundert pro Woche.«
»Mehr nicht?«
»Hey, spar dir deinen Sarkasmus. Es ist ein fantastisches Projekt – und eine großartige Chance. Es wird die größte Vertuschung seitens der Regierung aller Zeiten aufdecken. Sieh mal, ich interessiere mich schon seit Jahren für den Roswell-Vorfall und Ufos. Und das weißt du.« Er hielt inne. »Ich fasse es nicht, dass du die Gelegenheit ausgeschlagen hast. Und auch noch entlassen wurdest!«
Nora trank einen Schluck Kaffee und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. »Wann hat er dich eingestellt?«
»Heute Mittag. Er ist in mein Büro im Institut spaziert, hat sich mir vorgestellt, hat mir erklärt, was er macht, und mich gefragt, ob ich mich seinem Team anschließen will. Er hatte einen ausgedruckten Arbeitsvertrag dabei. Den habe ich unterzeichnet, anschließend habe ich meine Kündigung geschrieben und gleich im Institut abgegeben, bevor ich gegangen bin.«
Das musste unmittelbar vor dem Zeitpunkt gewesen sein, als sie Tappan auf dem Parkplatz begegnet war. Immerhin hatte der Mann Skip nicht aufgesucht, nachdem sie abgelehnt hatte … Sie seufzte. Typisch Skip, sich in etwas hineinzustürzen und dann womöglich spektakulär zu scheitern. Bevor er die Stelle im Institut bekommen hatte, war er aus unzähligen Jobs rausgeworfen worden. Wie sollten sie da die Hypothek abbezahlen?
»Der Mann ist Milliardär, Nora! Ihm gehört dieses Raumfahrtunternehmen, Icarus. Und ein Grüner ist er auch, er baut gigantische Windkraft- und Solarenergieparks. Der Typ ist der Hammer.«
»Ich bin ihm zufällig auf dem Parkplatz begegnet, nachdem ich gefeuert worden war. Er hat mir den Job noch einmal angeboten. Ich habe Nein gesagt.«
Skip raufte sich vor Schreck die Haare und schaukelte vor und zurück auf seinem Stuhl. »Du hast zweimal Nein gesagt?«
Mitty fing an zu bellen.
»Ich kann in meinem Lebenslauf nicht aufführen, dass ich Ufos ausgegraben habe. Das klingt zu schräg.«
»Es ist nichts merkwürdig an einer ernsthaften, professionellen Ausgrabung an diesem Standort. Wir hätten zusammenarbeiten können. Es hätte so viel Spaß gemacht!« Er zückte sein Smartphone. »Ich rufe jetzt sofort Tappan an und sage ihm, dass du dich anders entschieden hast.«
Er begann, eine Nummer einzutippen, aber Nora hielt seine Hand fest. »Nein. Bitte.«
Im selben Augenblick klingelte ihr Handy. Erleichtert, aus dem Gespräch mit Skip herauszukommen, nahm sie den Anruf entgegen – und stellte fest, dass Tappan am anderen Ende war.
»Nora? Störe ich Sie?«
Fast hätte sie das bejaht, dann fiel ihr ein, dass ja Skip in der Nähe war. »Können Sie dranbleiben, während ich in ein anderes Zimmer gehe?«
Skip, der sofort erraten hatte, wer am Apparat war, sprang auf und begann, um sie herumzutanzen und zu gestikulieren. Sie lief ins Schlafzimmer und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
»Okay.«
»Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich Ihnen aufgelauert habe. Ich fürchte, ich habe Sie zu sehr bedrängt, sodass Sie über mein Angebot nicht in Ruhe nachdenken konnten.«
»Sie haben meinen Bruder eingestellt.«
»Seine Hauptaufgabe wird darin bestehen, mit unserem Astronomen und Artefakten-Kurator, Noam Bitan, zusammenzuarbeiten und sich um dessen Bibliothek und die Sammlung zu kümmern. Ihr Bruder hat einen Magister in Physik, scheint bereits eine Menge über den Roswell-Vorfall zu wissen und besitzt die erforderliche berufliche Vorbildung, was Sammlungsmanagement betrifft. Offenbar hat er auch viel Erfahrung im Assistieren bei Grabungsarbeiten – zweifellos, weil er oft mit Ihnen zusammengearbeitet hat.«
»Sie haben ihn eingestellt, um mich zu bekommen.«
»Überhaupt nicht! Wir freuen uns, ihn dabeizuhaben. Nora, hier ist der Grund für meinen Anruf: Ich lasse Skip morgen zu der Grabungsstätte fliegen, um ihn allen vorzustellen und ihm seine neue Unterkunft zu zeigen. Kommen Sie mit. Es verpflichtet Sie zu nichts. Sie können das Team kennenlernen, sich ansehen, was wir machen, und ein Gefühl dafür bekommen, wie Skip dort hineinpasst.«
»Es fühlt sich an wie Erpressung, dass Sie Skip eingestellt haben.«
»Nora, ich weiß, wie nahe Sie Ihrem Bruder stehen, und ich weiß auch …« Er zögerte. »Ich weiß, dass Sie einen großen Verlust erlitten haben. Ich möchte einfach nur ein möglichst einladendes und vertrautes Umfeld für Sie schaffen. Ich schicke jemanden zu Ihnen nach Hause, der Skip morgen früh um neun abholt. Hätten Sie Lust, sich Ihrem Bruder anzuschließen?«