Cover

Hinweis

In diesem Buch werden an einigen Stellen unter anderem psychische und physische Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen thematisiert.

Für meine Tochter
und alle anderen Mädchen und ihre Mütter,
die neue Wege gehen
und laut oder leise rebellieren wollen.

Inhalt

Einleitung

Eins
Warum es immer noch keine Gerechtigkeit gibt

Ein diffuses Gefühl des Unwohlseins …

… und die darunterliegenden Schichten

Wie Kinder – besonders Mädchen – diskriminiert werden

Wie Mädchen vom androzentrischen Weltbild geprägt werden

Familie im Patriarchat

Erziehung und Bildung im Patriarchat

Wie verschieden sind sie denn nun?

Rechte von Frauen und Mädchen

Interview Mirja Siegl: »seiten.verkehrt«

Formen der Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen heute

Muss ich Feminist*in sein, um Mädchen heute gut zu begleiten?

Zwei
Was wir unseren Töchtern mitgeben

Die Angst der Mütter

Die Eltern-Kind-Bindung

Wie sich die Probleme unserer eigenen Erziehung auf die Bindung zu unserem Kind auswirken

Kreisläufe durchbrechen

Unsere (Groß-)Mütter, die den Krieg erlebten, und die Traumafolgen bis heute

Meine schwierige Mutter

Bindung und Partnerschaften

Die Veränderung der Perspektive auf unsere Mütter

Wir sind die, die eben immer da sind

Mutter ist zuständig – der Mythos um die Mutterbindung

Wir sind nicht allein verantwortlich

Das ewige Zeitproblem

Den eigenen Verletzungen auf der Spur

Verzeihen? Muss ich das?

Neue Werte für neue Mütter

Drei
Väter, Töchter, Brüder, Söhne

Wie die Partnerschaft der Eltern prägt

Interview Nils Pickert: »Lebenskomplizinnen«

Getrennte Eltern

Warum wir auch »New Dads« brauchen

Sich als feministische Mutter in der Familie positionieren

Geschwisterrivalität und Nischenbesetzung

Söhne erziehen

Vier
Wie wir Mädchen heute stärken

Die Entwicklung deiner Tochter entspannt begleiten

Interview Melanie Büttner: »Consent«

Resilienz, Selbstwertgefühl und Widerspruchsrecht vermitteln

Körper, Sex und Zärtlichkeit – ein neues Selbstbewusstsein für eine neue Generation

Beziehungskompetenz, Liebe und Liebeskummer

Interview Michèle Loetzner: Liebeskummer

Auch das Online-Leben ist Leben

Es geht um Bildung

Lass uns die Rebellion beginnen

Begriffe, die New Moms und Dads heute kennen sollten

Anmerkungen

Einleitung

EINS: Warum es immer noch keine Gerechtigkeit gibt

Zwei: Was wir unseren Töchtern mitgeben

Drei: Väter, Töchter, Brüder, Söhne

Vier: Wie wir Mädchen heute stärken

Begriffe, die New Moms und Dads heute kennen sollten

Danke

Ausgewählte Literatur

Einleitung

Die wohl häufigste Frage, die mir während meiner ersten Schwangerschaft gestellt wurde, war die nach dem Geschlecht des Kindes. Als offene, selbstbewusste und moderne Mutter entgegnete ich dem zunächst oft mit einem schulterzuckenden »Das ist uns ganz egal!«. Aber ganz tief in mir drin war es mir ganz und gar nicht egal. Ganz tief in mir wünschte ich mir damals (wie viele andere Mütter laut Umfrage aus dem Jahr 20071), irgendwann – nicht unbedingt jetzt, aber eben irgendwann – ein Mädchen zu bekommen und es beim Aufwachsen zu begleiten. Ich stellte mir vor, wie wir zusammen Filme sehen und dabei im Bett Eis essen würden, wie wir zusammen Musik hören und ich sie beim ersten Liebeskummer im Arm halte. Meine Tochter und ich, das Team. Gleichzeitig war da aber auch etwas Mahnendes, Schmerzhaftes: Wenn es eine Tochter werden würde, dann dürfte sie anders aufwachsen als ich – und sie sollte nicht jene negativen Erfahrungen mit Menschen, Schule und Arbeit machen müssen, die ich gemacht hatte, weil ich ein Mädchen und später eine Frau war. Ich würde sie stärken wollen für diese Welt und gleichzeitig die Welt verändern, damit sie darin so wachsen könnte, wie sie es braucht, und geschützt ist vor jenen Gefahren, denen insbesondere Menschen, die von der Gesellschaft als weiblich angesehen werden, ausgesetzt sind. Sie sollte in dieser Welt die Person sein können, die sie ist, und sowohl die Chance haben, einen Nobelpreis zu erlangen2, als auch die Möglichkeit, »einfach« ohne Auszeichnungen oder Preise in ihrem Leben grundlegend glücklich zu sein – oder irgendetwas dazwischen. Sie sollte anziehen können, was sie will, sich selbstbewusst im Matheunterricht melden und ihren Körper mögen. Vor allem wollte ich ihr das Gefühl mitgeben, dass ich bedingungslos auf ihrer Seite stehe und dass es da draußen noch viele andere gibt, mit denen sie ein festes, sicheres Band verbindet. Mit denen sie sich verschwestern kann, um ihr ganz persönliches Glück zu finden und die Freiheit zu haben, den für sie richtigen Weg zu gehen. Ich wollte eine Art neue, entspannte, starke Mutter für die Tochter sein, die ich irgendwann bekommen würde. Und merkte dabei schon langsam, dass das vielleicht gar nicht so einfach sein würde.

Mit dem Gedanken daran, vielleicht eine Tochter zu gebären, änderte sich mein Blick auf die Welt. Und es wuchs der Drang, am Leben nicht nur teilzunehmen, sondern es zu gestalten, aktiv zu werden – mehr, als ich dies für mich selbst bislang als notwendig erachtet hatte. Denn schon die Frage nach dem Geschlecht des Kindes ist gar nicht so nebensächlich, wie ich es in der Schwangerschaft noch angenommen hatte. Der Grund, warum die Neugierde an den Intimorganen zwischen den Beinen eines Kindes so groß ist, ist durchaus interessant, denn kaum eine andere Zuordnung am Anfang des Lebens bestimmt so folgenreich, wie sich das Kind weiterentwickeln wird. Unsere zweidimensionale Einordnung in »männlich« oder »weiblich« bestimmt nicht nur häufig den lebenslangen Vornamen, die Farbe der Erstausstattung und der Windeltorten, die wir geschenkt bekommen, die Haarlänge und Frisur des Kindes oder lässt uns in der Warteliste für den Kindergartenplatz weiter vorn oder hinten stehen, je nachdem, welches »Geschlecht« gerade gesucht wird. Egal mit welcher Person unser Kind im Laufe der Jahre in Kontakt kommt, immer wird diese Geschlechtszuschreibung die Beziehungen zu anderen prägen: Familienmitglieder, Nachbar*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Freund*innen und deren Eltern, selbst die Verkäufer*innen im Supermarkt, die meine Tochter im Kleinkindalter »na, Süße« und meine Söhne später »kleiner Mann« nannten, reagieren unterschiedlich, je nachdem, welchem Geschlecht sie ein Kind zuordnen, und bilden ein Klima, in dem das Kind sich als Mädchen oder Junge wahrnimmt und darüber hinaus weitere Bilder von sich ausbildet.

Nicht einmal vor der Geburt sind Kinder (und ihre Eltern) vor Zuschreibungen und Erwartungen aufgrund ihres Geschlechts geschützt, denn wer kennt nicht die Prophezeiungen und Ammenmärchen in Bezug auf die Bauchform oder das Aussehen der Schwangeren wie jene, die ich von einer Verwandten hörte, welche anhand meines Aussehens das Geschlecht des Kindes in meinem Bauch bestimmen wollte: »Ein Mädchen raubt der Mutter die Schönheit. Ein Junge lässt sie erstrahlen.«

Damit sind wir – ganz am Anfang des Werdens dieses Kindes – bereits mitten in einem der Problemfelder, die das Aufwachsen von weiblich zugeordneten Kindern prägen: dem Konkurrenzgedanken zwischen Frauen, dem Schönheitsanspruch, der Mutter-Tochter-Rivalität und der mangelnden Solidarität unter Frauen. Denn seien wir doch mal ehrlich: Was steckt alles in so einer Aussage? Dass Frauen schön sein müssen, dass es schlimm ist, wenn sie es nicht sind, dass ein Mädchen unser Aussehen zerstört und uns damit abwertet, dass Mädchen also weniger gut sind für uns. (Aber das sehen wir uns später noch einmal genauer an.)

Es wurde dann tatsächlich ein Mädchen, und ich fühlte mich in dieser ersten, aufregenden Schwangerschaft mit meinen 20 zusätzlichen Kilo so schön wie nie zuvor.

Nachdem ich die Intimorgane im Ultraschall gesehen hatte, stellte sich mir viel drängender als jemals zuvor die Frage, in was für eine Welt dieses Kind denn eigentlich hineingeboren werden würde. Ich hatte im Laufe meines Lebens – und dem der mich umgebenden Frauen – gesehen, an wie vielen Stellen es in unserer Gesellschaft noch die Notwendigkeit von Veränderungen gab. Aufgrund angeborener und erworbener Privilegien kann ich selbst auf einen von außen erfolgreichen Lebenslauf zurückblicken, während andere Frauen hier und weltweit verschiedensten Diskriminierungen gleichzeitig ausgesetzt sind. Je mehr ich mich damit beschäftigte und der Frage nachging, welche Ungleichheiten sich irgendwann auf meine Tochter auswirken könnten und welche es überhaupt gibt, wurde mir bewusst, wie sehr wir im Hier und Jetzt etwas verändern müssen.

Und nicht nur in Hinblick auf die aktuelle Lage: Mit jeder neuen Krise in der Welt wird die Notwendigkeit, aktiv zu werden und alte Glaubenssätze und Regeln infrage zu stellen, größer. Gerade in der Corona-Pandemie haben wir erlebt, wie schnell wir als Frauen und Mütter in alte Rollenvorstellungen zurückgedrängt werden: Dass wenn, dann eben doch eher die Frauen ihre Arbeitszeiten zugunsten der Familie reduzieren und mehr Sorgearbeit leisten. Und dass Väter insbesondere kleinerer Kinder genau dies aufgrund der Krise auch erwarten und befürworten.3 Gerade Familien mit geringerem Einkommen und Frauen, die im schlecht bezahlten Care-Arbeits-Sektor beschäftigt sind, sind dazu gezwungen, mit langfristigen Gefahren für die Erwerbsarbeitsverläufe und ihre Rente.4 Aber auch auf Mädchen hat sich die Krise ausgewirkt: Sie müssen eher im Haushalt mithelfen, was sich nachteilig auf andere Aktivitäten und auf die Schule auswirken kann. Auch in Deutschland sind, wie weltweit, überdurchschnittlich viele Frauen in der Pflege beschäftigt,5 da ihnen dieser Arbeitsbereich soziokulturell besonders zugewiesen wird. Weibliche Jugendliche beginnen darin ihre Ausbildung und tragen somit ein höheres Infektionsrisiko. Nicht zuletzt sind Kinder durch die Verlagerung von Freizeit und Schule in die eigenen vier Wände und an den Computer einem höheren Risiko für digitale Gewalt ausgesetzt, welche besonders Mädchen betrifft. Es gibt viele Punkte, an denen wir sehen: Die letzte Krise war und ist auch eine geschlechtsspezifische Krise.

Dass es in Krisenzeiten zu einem solchen Rückschritt kommen kann, liegt ganz besonders auch daran, wie weit (oder wie wenig) unsere Gesellschaft in den letzten Jahren Gleichberechtigung gestaltet hat und wie sehr sie noch in Stereotypen und Klischees verhaftet ist: Denn wie geht es Mädchen heute? Wie werden sie in ihrem Aufwachsen beeinflusst? Was wirkt auf sie? Und was in unserer Gesellschaft macht es möglich, dass in Krisen so etwas passieren kann?

Die meisten werden jetzt vielleicht denken: Was hat sie denn nur? Es geht Mädchen doch heute ganz wunderbar! Blicken wir aber ein wenig genauer hin, dann sehen wir, dass es immer noch heißt: »Sei nicht Pippi, sei Annika!« Mädchen dürfen zwar Hosen tragen, Funktionskleidung und kurze Haare, gleichzeitig führt der Spielzeugkatalog aber vor, dass die Puppenküche für Mädchen und der Akkuschrauber für Jungen ist. Ausmalbücher und Rätselhefte gibt es für Mädchen in Rosa und Jungen in Blau – die Inhalte ebenfalls an die bekannten Klischees angepasst. Es gibt eine Body-Neutrality-Bewegung, aber wenn Mädchen sich dem gängigen Schönheitsideal verweigern, bekommen sie nicht nur »heute kein Foto«, sondern werden ausgegrenzt und beschämt. Laut BZgA empfinden sich die Hälfte der Mädchen im Alter von 15 Jahren als zu dick, obwohl sie normalgewichtig sind.6 Schon Mädchen im Alter von drei bis fünf Jahren verbinden positive Eigenschaften mit einer dünnen Körperform und würden laut US-amerikanischer Studie7 auch eher mit dünnen Kindern spielen. In der Schule haben Mädchen scheinbar aufgeholt, wenn die Leistungen einer bestimmten Gruppe von Mädchen betrachtet werden: Sie sind früher schulreif, wiederholen weniger häufig eine Klasse, machen eher einen Schulabschluss und beginnen sogar häufiger ein Studium. Dennoch wirken weiterhin Rollenklischees auf die Auswahl des Studienfachs oder des Ausbildungsberufes. Jungen sind trotz schlechterer Leistungsbilanz mehr von sich überzeugt und halten sich für klüger8, während Frauen häufiger vom Impostor-Syndrom betroffen sind: Betroffene haben erhebliche Selbstzweifel und können Erfolge nicht internalisieren, sondern halten sich selbst für Hochstapler*innen. Es gibt also durchaus eine ganze Liste an Problemfeldern, die heute auf Mädchen, weibliche Jugendliche und (junge) Frauen wirken und den Rückschritt in Krisenzeiten noch befeuern. Auch wenn es in den letzten 120 Jahren im Vergleich zu den Jahrtausenden zuvor mit der Gleichberechtigung relativ schnell vorangegangen ist und sich auch die Erziehung von Mädchen, wie wir noch sehen werden, in ihren Inhalten stark verändert hat, gibt es noch viele Punkte, an denen es hapert und/oder wo Gleichberechtigung zwar auf dem Papier beschrieben, im Alltag aber noch nicht umgesetzt ist.

Die Krisen werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aber nicht weniger werden, denken wir allein an die Klimakrise. In einem Diskussionspapier haben die Verbände genanet, GenderCC und Life die genderspezifischen Parallelen der Corona- und der Klimakrise, die die Krise der Care-Arbeit verschärfen, aufgezeigt: »Befürchtet werden […] von vielen Genderexpert*innen langfristige negative Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse und eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen.«9 Gerade in Krisenzeiten ist die Versuchung groß, auf bewährte Strukturen zurückzugreifen, die ein System scheinbar schon immer am Laufen gehalten haben. »Krisen sind nie geschlechtsneutral«10, erklärt entsprechend UN-Women. Sie bergen die Gefahr von Retraditionalisierung, Unterdrückung, Ungerechtigkeit. Denken wir beispielsweise auch an die erfolgreiche Bestseller-Dystopie The handmaid’s tale  Der Report der Magd, wo sich nach einer atomaren Katastrophe ein streng patriarchaler, christlich-fundamentaler Gottesstaat ausgebildet hat, in dem Frauen keine Rechte haben, eine Zukunftsvision, die so manche US-Amerikaner*innen laut Süddeutscher Zeitung für »erschreckend realistisch«11 halten, und auch Bradley Whitford, einer der Schauspieler der Serie, erklärt: »Aber sie kommt der Realität sogar ein wenig zu nahe.«12 Tatsächlich bewegt sich beispielsweise der Bundesstaat Texas in der Krise darauf zu: Schwangerschaftsabbrüche sind dort seit Frühjahr 2021 wie in zehn anderen Bundesstaaten ab dem ersten Herzschlag des Fötus verboten, auch nach einer Vergewaltigung.13 Und auch hierzulande haben wir gesehen, dass die Krise zu einer Rückbesinnung auf traditionelle Familienrollen geführt hat.

Es ist schwer, in Krisenzeiten neue Wege zu gehen oder zumindest bisherige Errungenschaften nicht zu verlieren. Deswegen müssen wir uns bereits jetzt dafür einsetzen, dass es entweder gar keine Rückschritte gibt oder diese zumindest nicht zu groß werden. Wir müssen uns jetzt für unsere Gegenwart und die unserer Töchter einsetzen und gleichzeitig für ihre noch ungewisse, aber wahrscheinlich krisenreiche Zukunft. Wir müssen sie heute gut begleiten, stärken und die Welt um sie herum verändern. Denn die nächste Krise kommt. Und selbst wenn sie es nicht tut, gibt es gute Gründe, Mädchen heute zu stärken, Stereotypen und Rollenklischees abzubauen und die Welt, in der sie leben, zu verändern.

Der Vorteil eines aktiven Umgangs mit den Problemen unserer Gegenwart und der Zukunft ist auch, dass wir uns nicht mehr so hilflos fühlen. Oft versperrt uns die Angst vor der Zukunft unserer Kinder den Blick, kann uns sogar handlungsunfähig machen. Ganz besonders dann, wenn wir aufgrund unseres Geschlechts selbst negative Erfahrungen gemacht haben. Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexueller Gewalt betroffen. Wir erleben Stigmatisierung und Benachteiligung, beispielsweise im beruflichen Bereich. Diese Erfahrungen können zu (unbewussten) Ängsten führen, die wir auf unsere Töchter übertragen. Auch unser historisches Erbe kann uns daran hindern, unsere Töchter heute frei und stark zu begleiten. Wenn wir uns aber jetzt mit den Problemen unserer Gesellschaft und Erziehung auseinandersetzen, sie ansehen und jene Punkte entdecken, an denen wir selbst etwas ändern können (und das mag von Mutter zu Mutter verschieden sein), dann sind wir aktiv, nicht mehr machtlos, sondern handlungsfähig. Wir stellen uns dem Problem, statt uns ausgeliefert zu fühlen. Was für ein gutes Gefühl!

Natürlich stimmt auch das Meme, das sich nach dem Fall von sexueller Gewalt gegenüber Brittany Higgins14 über Social Media verbreitete – »Don’t protect your daughter, educate your son«. Daher müssen wir auch die patriarchale Prägung von Männern und Jungen sowie toxische Maskulinität, die sowohl für Frauen als auch Männer schädlich ist15, in den Blick nehmen. Aber insgesamt sollten wir nicht »nur« etwas an der Bildung und Wertevermittlung von Jungen ändern, sondern auch dahin sehen, wo uns als Frauen und Müttern Idealvorstellungen vermittelt wurden, die wir nun an unsere Töchter weitergeben. Das können beiläufige, kleine Bemerkungen sein wie ein »Ich geh mich erst mal schön machen für den Tag« oder ein »Ach, ich Dummchen, ich hab …«. Diese Sätze habe ich in meinen 41 Lebensjahren wirklich noch niemals aus dem Mund eines Mannes gehört.

Wie die feministische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza beschreibt, bildet das Patriarchat nicht nur einfach eine Herrschaft von Männern über Frauen aus, sondern eine komplexe soziale Pyramide abgestufter Herrschaft und Unterordnung, in der Frauen durchaus auch einflussreiche Machtpositionen haben (können).16 Wir können die Verantwortung also nicht »einfach« abgeben. Sondern müssen unseren jeweils möglichen Einfluss sehen, anerkennen und nutzen, um etwas zu ändern. Es ist die Aufgabe unserer gesamten Gesellschaft und aller darin lebenden Personen, dass wir Ungleichheit und Ungerechtigkeit überwinden – und zwar auf den verschiedensten Ebenen.

Als ich meine Tochter dann tatsächlich in den Armen hielt, merkte ich mit jedem weiteren Jahr, dass nicht nur die Welt um mich herum verändert werden muss, sondern dass auch die Welt in mir einer Reflexion und Überarbeitung bedarf, um mein Kind wirklich überzeugt und gestärkt stützen zu können. Ich merkte, wie ihr Wachsen mich mit immer neuen Fragen und verschiedensten, auch unangenehmen Gefühlen konfrontierte und ich nicht nur die Welt, sondern auch mich selbst infrage stellte: Warum tat/sagte/wollte ich dieses und jenes von meinem Kind? Welche Gedanken prägten meine reflexartigen Handlungen und Erklärungen? Warum wollte ich doch zu dem rosa »Hello Kitty«-Kleid greifen, das die anderen Mädchen im Kindergarten trugen? Und ich merkte, wie ich viele Dinge falsch weitergab, weil ich sie einfach nicht besser wusste, da ich selbst anders aufgewachsen war. Die Nachricht beispielsweise, dass es das Jungfernhäutchen gar nicht gibt, sondern dass es ein patriarchales Märchen ist, das Mädchen vom vorehelichen Sex abhalten soll, traf mich als erwachsene Frau nach drei Geburten. Genauso wie das Nachdenken über die Herkunft der Worte »Schamlippen« und »Scheide«.

Mädchen wachsen heute in einer anderen Welt auf, als wir es taten. Sie sind mit anderen Gesellschaftsstrukturen konfrontiert, mit denen wir uns auch auseinandersetzen müssen. Sie bringen Worte, Definitionen und Weltanschauungen mit, die für uns vielleicht neu sind: Ganz selbstverständlich gehen Jugendliche mit Bezeichnungen wie LGBTQ um, bringen Freund*innen mit nach Hause, bei denen sie uns vorher erklären, dass sie eine nichtbinäre Geschlechtsidentität haben und wir das bitte in unserer Ansprache berücksichtigen sollen, und bewegen sich in einem kulturell anders geprägten Feld. Sie sind schon mittendrin in einer Veränderung, in einer Rebellion, die aber von uns Älteren an vielen Stellen noch durch unseren Unwillen behindert wird, uns mit dem Neuen auseinanderzusetzen. Die Reaktion einiger Älterer auf die Fridays for future-Bewegung ist auch ein Beispiel dafür, wie sehr Erwachsene oft versuchen, Veränderungen von sich fernzuhalten. Doch dieser Widerstand nützt nichts: Die Welt um uns und unsere Kinder herum hat sich verändert. Neben Frauenerwerbstätigkeit, verschiedenen Geschlechtsidentitäten und weltweiten Slutwalks treffen unsere Kinder auf sehr traditionelle Bilder, die sie ebenfalls prägen. Sie sind auf eine andere Weise als wir mit widersprüchlichen Leitbildern konfrontiert und suchen ihren Weg hindurch. Als Mütter, als Eltern, ist es unsere Aufgabe, uns mit alldem auseinanderzusetzen und sie gestärkt und informiert zu begleiten.

»Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle«, zitiert Simone de Beauvoir im zweiten Band des Anderen Geschlechts Jean-Paul Sartre, um aufzuzeigen, wie notwendig es ist, sich von der erlernten Passivität zu trennen. Ja, »man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«. Um die Welt zu verändern, müssen wir erst einmal viele gedankliche Altlasten loswerden, die ein kreatives, freies Denken behindern, und uns dem Neuen öffnen, um neue Denkstrukturen anzulegen. Zum Beispiel die Gedanken darüber, was für Persönlichkeitseigenschaften uns als Frauen angeblich angeboren sind. Wie verschieden sind die Geschlechter wirklich? Denn die Grenzen zwischen Evolution und Kultur sind wesentlich verschwommener, als wir oft annehmen: »Angeboren bedeutet nicht automatisch evolutionär bedingt. Nachgeburtlich bedeutet nicht automatisch sozio-kulturell«, wie die Biologin Meike Stoverock es ausdrückt.17 Frühkindliche Einflüsse können sich auf die DNA auswirken, ebenso wie Umweltfaktoren schon intrauterin wirken. Es ist gar nicht so einfach, zu verstehen, welcher Mensch das Kind vor einem wirklich ist. Welche Eigenschaften unserer Töchter sind angeboren, und wo genau fangen wir an, sie mit unserem Einfluss zu prägen? Gibt es nun »typisch Mädchen« und »typisch Junge«, oder ist es nur unsere Gesellschaft, die festlegt, was »typisch« ist?

Was dabei jede Einzelne von uns an Belastungen, Diskriminierungen, Rollenvorstellungen und »Altlasten« mit sich herumträgt, kann ganz unterschiedlich aussehen. Auch wenn wir an einigen Stellen gemeinsam in dieser Welt wachsen, gibt es durchaus viele Unterschiede. Und jeder gesellschaftliche Umstand trifft auf eine Frau mit einem anderen Temperament, unterschiedlichen individuellen Geschichten, die dann wieder im Zusammensein mit einer eigenen Tochter wach gerüttelt werden können. Mädchen in Freiheit wachsen zu lassen bedeutet, zunächst selbst Freiheit als Mutter und Frau zu erlangen, um das Verständnis von Freiheit dann weitergeben zu können. Dazu müssen wir auf das blicken, was das Frau- und Muttersein in den vergangenen Jahrhunderten geprägt hat, was an Mutter-Tochter-Beziehungen so einzigartig sein soll und wo die vielen Problem herkommen, mit denen Mütter und Töchter in ihrer Beziehung konfrontiert sind.

Laut einer Studie aus dem Jahr 2006 geben 92 Prozent der 12- bis 13-jährigen Mädchen an, dass die Mutter ihre wichtigste Bezugsperson ist, und drei Viertel aller Mädchen schätzen diese Beziehung als sehr gut und vertrauensvoll ein.18 Das ist eine gute Basis, um ihnen Werte zu vermitteln, die sie durchs Leben tragen werden. Denn willentlich oder unwillentlich geben wir Werte und Haltungen weiter und erzeugen ein emotionales Klima, in dem unser Kind wächst. Als Mütter sind wir nie perfekt und müssen es auch nicht sein. Aber bei all den unterschiedlichen Wegen an Mutterschaft und Familienleben gibt es durchaus grundlegende Dinge, die uns im Muttersein vereinen können: Wir sollten unsere Kinder mit Selbstvertrauen und Sicherheit wachsen lassen, damit sie sich ihres eigenen Wertes bewusst sind, sich und ihre Bedürfnisse (be)achten und das Gefühl haben, die Welt gestalten zu können.

Leider haben viele von uns als Töchter ganz andere Erfahrungen gemacht. Viele mussten sich ihren Weg schmerzhaft erkämpfen – oder sind noch immer in diesem Kampf gefangen, während sie eigentlich schon die nächste Tochtergeneration begleiten müssen, an die sie die eigenen Verletzungen nicht weitergeben wollen.

Wenige Mütter wollen ihre Töchter aktiv schwächen oder offenen Auges in ein Problem hineinrennen lassen. Im Gegenteil: Wir wollen sie schützen, und dieses Schutzverhalten wird von unbewussten Bildern und Emotionen gesteuert. Wir sind nicht objektiv, unser Blick ist getrübt durch eigene Erfahrungen und eine Ordnung, die wir nicht – oder zu wenig – infrage stellen. Dies verleitet zu einer Anpassung an die bisherigen »Spielregeln«, anstatt dagegen aufzubegehren und das eigene Kind darin zu unterstützen, andere Wege zu gehen, die Welt anders zu sehen und infrage zu stellen. Es mag an der einen oder anderen Stelle schmerzen, dahin zu schauen, wo wir bisher blind waren. Aber gerade jetzt und gerade heute ist es wichtig, dass wir uns dieser Herausforderung stellen und auf die Probleme blicken, die uns und unseren Töchtern aufgedrängt werden.

Wie geht es dir als Mutter und Mensch?

Wenn du viele dieser Fragen mit »Ja« beantworten kannst, kann das ein Hinweis darauf sein, wie sehr du selbst in eine Rolle gezwungen wurdest und dich den Erwartungen anderer anpassen musstest. Vielleicht ist dir dieses Gefühl oder Wissen auch nicht neu, und du spürst schon länger die Last des Gefühls, dass in deiner eigenen Kindheit Stärke, Sicherheit und Anerkennung gefehlt haben. Wir werden uns später in diesem Buch noch damit beschäftigen, wie sehr unsere eigene Geschichte und die Geschichte der Mädchenerziehung auf uns selbst und unser Denken Einfluss nehmen. Zunächst aber wollen wir einen anderen wichtigen Bereich reflektieren, der auch in diesem Buch angesprochen wird: der Platz von Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft. Denn wie sie gesehen und behandelt werden, beeinflusst ihre Selbstsicht und ihre weitere Entwicklung.

Wusstest du, …

… dass schon bei weiblichen und männlichen Babys Schreie unterschiedlich eingeordnet werden und bei gleichem Schreien einem männlichen Baby größere Schmerzen zugeschrieben werden als einem weiblichen?19

… dass laut einer Studie aus dem Jahr 2006 an fünf- bis achtjährigen Mädchen Barbie-Besitzer*innen unzufriedener mit ihrem eigenen Aussehen sind und noch dünner sein wollen als Mädchen ohne Barbie?20

… dass laut einer Studie in Disneyfilmen für Kinder männliche Figuren deutlich mehr Sprechanteile haben als weibliche Figuren?

… dass das Gefühl, nicht schön genug zu sein, bei Mädchen dazu führt, sich weniger häufig im Unterricht zu melden?

… dass Periodenarmut (der Umstand, sich aufgrund von Armut keine Menstruationsprodukte kaufen zu können) auch in Deutschland ein Problem ist? Dass Mädchen der Schule fernbleiben, wenn ihnen Menstruationsartikel fehlen?

… dass sich 80 Prozent der jungen Frauen Beziehungen wünschen, in denen Hausarbeit, Kindererziehung, Beziehungspflege und berufliche Karrierechancen fair und gleichberechtigt aufgeteilt sind, aktuell aber 66,2 Prozent der Frauen mit kleinen Kindern in Teilzeit arbeiten, während nur 5,8 Prozent der Männer das tun?

… dass laut Umfrage der UK National Autistic Society aus dem Jahr 2013 nur 8 Prozent der Mädchen mit dem Asperger-Syndrom vor dem sechsten Lebensjahr richtig diagnostiziert werden im Vergleich zu 25 Prozent der Jungen und dass bis zu drei Viertel der Mädchen mit ADHS nach Schätzungen unentdeckt bleiben, weil die Diagnostik auf die Symptome von Jungen ausgerichtet ist21?

… dass im Jahr 2019 in Deutschland 141 792 Menschen, die in einer Beziehung lebten, Opfer von Mord, Körperverletzung, Vergewaltigung, sexueller Belästigung, Bedrohung oder Stalking wurden und darunter 81 Prozent Frauen waren?22 Und dass Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend Partnerschaftsgewalt miterleben, später mehr als doppelt so häufig selbst durch den Partner Gewalt erfahren wie Frauen, die nicht Zeuginnen von Gewalt wurden23?

… dass der Anteil von Frauen, die mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt durch einen Beziehungspartner erleben, in Deutschland bei 20 Prozent liegt24?

… dass es bis 2021 Frauenärzt*innen in Deutschland verboten war, auf ihrer Internetseite über Schwangerschaftsabbrüche aufzuklären, da die öffentliche Aufklärung als Werbung angesehen wird?

Wenn du viele dieser Fragen mit »Nein« beantwortet hast, kann dir dieses Buch dabei helfen, einen genaueren Blick für die Ungleichheit und Probleme in unserer Gesellschaft zu bekommen. Denn das alles sind beeindruckende Zahlen und Fakten – und dennoch ist es nur die Spitze des Eisberges. Wir können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und das Patriarchat nicht sofort in dieser Generation abschaffen. Aber wir können – gerade als Mütter – einen erheblichen Teil dazu beitragen, dass es unsere Töchter leichter haben: Wir können sie in Vertrauen, Liebe und Respekt wachsen lassen. Ihnen Stärke und Selbstbewusstsein vermitteln – unabhängig von ihrem jeweiligen Temperament –, damit sie sich in dieser Welt gut zurechtfinden. Wir können sie ermutigen, die Gesellschaft zu verändern und gegen Ungerechtigkeit zu rebellieren. Wir können – wenn wir die Zusammenhänge kennen und uns von alten Glaubensmustern frei machen – selbst anfangen, in der Gesellschaft etwas zu ändern. Damit ebnen wir ihnen den Weg, die Welt für uns selbst und alle Mädchen und Frauen, die noch kommen, zu verändern.

Dieses Buch ist deswegen beides: eine Anleitung zur individuellen Stärkung unserer Töchter – unter anderem durch die Reflexion unserer eigenen Rolle – und zur Veränderung der Welt, in der sie wachsen, um wirkliche Freiheit zu erlangen.

Im ersten Teil des Buches sehen wir uns an, warum bei der Begleitung von Mädchen alles so kompliziert ist: Worin liegen die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, und wie und warum wurden Mädchen viele Jahrhunderte lang anders erzogen? Sich auf die Spuren der Mädchenerziehung zu begeben, ist dabei nicht immer einfach. Denn sie war geprägt von Ausschluss und Gewalt, und wir werden sehen, wo es auch heute noch Gewalt in der Erziehung von Mädchen gibt. Wir wollen uns ansehen, was gerade die Mutter-Tochter-Beziehung beeinflusst hat, und können damit nicht nur unsere heutige Beziehung aus einem anderen Blickwinkel betrachten, sondern bekommen vielleicht auch einen neuen Blick auf unsere Mütter und auf das, was sie geprägt hat.

Im zweiten Teil des Buches werden wir uns die Dynamik der Mutter-Tochter-Beziehungen ansehen und unserem ganz persönlichen Einfluss nachgehen: Was hat mich und dich geprägt, was geben wir weiter und warum? Und wie können wir aus der Weitergabe negativer Muster aussteigen? Es gibt durchaus schon viele Errungenschaften des Feminismus, die unsere Mütter und Großmütter erarbeitet haben, gleichzeitig tragen sie und wir oft noch schwer – und unterschiedlich belastet – an der Last des Patriarchats.

Natürlich ist es auch wichtig, die anderen Bezugspersonen innerhalb der Familie in den Blick zu nehmen: Daher betrachten wir im dritten Teil Väter, Paarbeziehungen und Brüder – und ihre Einflüsse auf die Entwicklung von Mädchen.

Schließlich widmen wir uns im vierten Teil des Buches der Frage, wie wir Mädchen in den unterschiedlichen Facetten ihres Selbst heute wirklich gut begleiten und stärken können: in Bezug auf Bildung, ihr Körpergefühl, Selbstbewusstsein und viele andere Bereiche, die uns ausmachen. Wir sehen uns an, wie wir eine Patriarchatsresilienz entwickeln können, eine psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Wirken des Patriarchats, und wie wir gleichzeitig aktiv zur Veränderung beitragen können. Dafür ist es wichtig, dass wir einen Blick darauf werfen, wie sich Mädchen von der Babyzeit bis in die Pubertät entwickeln. Auf diesem Wissen können wir dann unser praktisches Handeln im Alltag aufbauen.

Im Laufe dieses Buches tauchen vielleicht Begriffe auf, die du noch nicht kennst, die aber wichtig sind für die Begleitung unserer Töchter. Daher gibt es am Ende des Buches auch ein Glossar für New Moms.

Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Mütter mit Töchtern, die sich eindeutig dem Modell »Mädchen/Frau« zuordnen und in heteronormativen Beziehungsstrukturen leben. Geschlecht ist kein binäres Merkmal, sondern ein breites Spektrum. In diesem Buch werden jedoch vorwiegend jene Rollenklischees und Beziehungsfaktoren mit ihren Auswirkungen behandelt, die als Frauen sozialisierte Menschen an ihre weiblich gelesenen Kinder weitergeben, und es wird der Einfluss des Patriarchats in Bezug auf die Sexualität und andere Lebensbedingungen von weiblich gelesenen Menschen behandelt. Queere Kinder und Familienmodelle sollen dadurch nicht ausgeschlossen werden, aber einige Aspekte an diesem Buch treffen auf sie eventuell nicht zu. Da in diesem Buch kein Pinkwashing vorgenommen werden soll, ist es mir ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass die Inhalte keinen Anspruch darauf haben, allen Möglichkeiten der Identität und des Zusammenlebens zu entsprechen.

Was du in den folgenden Kapiteln lesen wirst, wird dich vielleicht an der einen oder anderen Stelle erschrecken, berühren, bestärken, vielleicht auch verletzen. Sich die »Geschichte der Weiblichkeit« anzusehen, rückt viele Erfahrungen und den Blick auf unsere Gesellschaft in ein anderes Licht. Über Gewalt an Mädchen und Frauen zu schreiben ist nicht einfach. Und auch nicht, darüber zu lesen. Die Geschichten in diesem Buch sind aus meinem Leben, aus dem Leben von anderen, nahestehenden Menschen und von Menschen, die mir in meinem beruflichen Kontext begegnet sind. Namen, Umstände und Zugehörigkeiten habe ich ausgetauscht und abgewandelt, damit alle Beteiligten ausreichend geschützt sind, einschließlich meiner Familie. Denn bei Themen rund um Geschlechteridentität und -erziehung ist dies (leider noch) von besonderer Bedeutung. In diesem Buch und auch in unserem Alltag. Beim Lesen und Reflektieren können alte Wunden aufbrechen – solche, die wir für überwunden gehalten haben, und solche, denen wir uns bislang gar nicht bewusst waren. Deswegen: Gehe achtsam mit dir um, wenn du dieses Buch liest. Es ist keine Gebrauchsanweisung dafür, wie Mütter ihre Töchter »modern« erziehen können. Es soll ein Buch sein, das uns alle ein wenig näher an Freiheit und Gleichheit heranführt. Ein Buch darüber, wie wir neue Mütter für Töchter sein können, die das Patriarchat überwinden. Aber wie viele und wie große Schritte du selbst dabei gehen möchtest oder kannst, bleibt dir überlassen. Zunächst ist es schon einmal ein großer Schritt, dieses Buch überhaupt in den Händen zu halten und zu erwägen, dass du dich damit jetzt auseinandersetzen willst. Schon allein dieser Gedanke ist ein Aufbruch. Wenn du möchtest, nehme ich dich mit auf die gemeinsame Reise zur Rebellion.

Eins

Warum es immer noch keine Gerechtigkeit gibt

»Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, Mama wäre für uns keine gute Mutter gewesen. Auf ihre Weise war sie es. Sie war eine gütige Frau, und sie liebte uns. Dass sie so tyrannisch und dominant war, lag vor allem an der absurden, einengenden Erziehung, die sie selbst erhalten hatte.«

Hélène de Beauvoir über
ihre Mutter1

Über Mütter und Töchter wird so einiges gesagt, geschrieben, erzählt. Wir finden ihre Beziehung wieder in Ratgebern, Bildern, Kinofilmen, Serien – und in den Gesprächen am Abend mit der besten Freundin bei einem Glas Rotwein. Wir lachen mit ihnen, wir weinen mit ihnen – und wir lachen und weinen über sie. Wir lesen über schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen der Geschichte wie bei Hélène und Simone de Beauvoir und deren Mutter, und eine ganze Generation junger Frauen hat mit Emily, Lorelai und Rory Gilmore2 mitgefiebert, gelitten, geliebt und sich manches Mal gewünscht, eine Mutter wie Lorelai zu werden oder wie Rory ein wenig stolz und liebevoll-ironisch über die eigene Mutter sagen zu können: »Eigentlich heiße ich Lorelai. Meine Mutter heißt auch so. Sie hat mir ihren Namen gegeben. Sie dachte damals: ›Wenn Jungs nach ihren Vätern benannt werden, kann es eine Mutter mit ihrer Tochter genauso machen.‹ Sie sagt, ihre feministische Ader habe sich gemeldet. Ich glaube, dass auch die vielen Schmerztabletten daran schuld sind.«

Der Mutter-Tochter-Beziehung wird nachgesagt, sie präge das Leben, die Liebe, die Beziehungen, Karriere, Partnerschaften und später das eigene Familienklima. Vieles davon wird auch den Söhnen zugeschrieben, denn nicht zuletzt durch Sigmund Freud wurde die Bedeutung der Mutter für die kindliche Entwicklung und für alle aktuellen und zukünftigen Probleme tief in den Köpfen des modernen Menschen verankert. Die Mutter-Tochter-Beziehung nimmt durch die Weitergabe von Rollenbildern an Töchter allerdings einen besonderen Platz ein. Und genau damit sind wir schon beim Kern des eigentlichen Problems angelangt: Was wäre, wenn die Mutter nicht über so viele Jahrhunderte die bevorzugte und größtenteils alleinige primäre Bezugsperson für ihre Kinder gewesen wäre? Wie und warum hat sich das Konstrukt der Mutterschaft auch negativ auf Mutter-Tochter-Beziehungen ausgewirkt? Welche Punkte haben dazu geführt, dass so viele Töchter die Beziehung zu ihrer Mutter an der einen oder anderen Stelle als belastet empfinden? Muss das überhaupt so sein? Denn nein: Es sind keine Einzelfälle. Wenn so viele Frauen das Gefühl haben, dass ihre Mutter-Tochter-Beziehung an der ein oder anderen Stelle belastet ist – dass sie nicht sein konnten, wer sie sein wollten, dass es immer Konfliktpunkte gab oder gibt –, dann müssen wir über den Tellerrand der Einzelfälle hinausblicken auf das, was all diese Mutter-Tochter-Geschichten verbindet. Und dies ganz besonders, wenn wir es anders machen wollen, wenn wir unsere eigenen Töchter stärken, stützen und liebevoll begleiten wollen.

»Falls ich an den Punkt kommen sollte, wo ich selbstbewusst genug bin, ein Kind zu bekommen, und mir sicher bin, dass ich es lieben und beschützen kann, dann ist vielleicht auch eine Beziehung zu meiner Mutter wieder möglich. Oft habe ich Momente, wo ich plötzlich ein warmes trauriges Gefühl bekomme, wenn ich an meine Mutter denke. Dann würde ich gerne mit ihr einen Kaffee auf ihrem gemütlichen Balkon trinken und einfach ein gutes Mutter-Tochter-Gespräch führen. Das ist mein eigenes inneres Kind, was da hochkommt und diesen Wunsch hat. Und das ich dann mit der Realität konfrontieren muss, denn so harmonisch und unbeschwert, wie das in meinem Kopf abläuft, wäre das natürlich niemals in der Realität. Es ist sehr schwer zu unterscheiden für mich, welcher Anteil sich gerade wieder Kontakt zu ihr wünscht. Für mich steht jedoch fest: Solange ich nicht mit Sicherheit sagen kann, dass es meine innere Erwachsene ist, die sich ein Gespräch mit ihr wünscht und dann auch in der Lage ist, unangenehme Dinge anzusprechen, so lange werde ich den Kontakt zu ihr nicht wiederherstellen.« Nina

Es ist ein kompliziertes Netz von Zusammenhängen, das die Familienbeziehungen prägt. Gerade in den letzten Jahren hat es in der Ratgeberliteratur eine Fokussierung auf Mütter und deren Töchter gegeben, die die Auswirkungen von Müttern, die nicht lieben, und emotional-missbräuchliche Mutter-Kind-Beziehungen in den Blick nimmt. Gleichzeitig gibt es Bücher dazu, wie wir unsere Töchter stärken können oder sollen, und dies ganz besonders in Umbruchphasen wie der Pubertät. Oft geht es darum, wie Erziehung »gelingen kann, wenn die Erziehenden nur berücksichtigen, was Mediziner und Psychologen herausgefunden haben«.3 Dabei werden aber oft die eigentlichen Kernprobleme und Ursachen übersehen, denn es sind nicht nur die Erziehenden mit ihren eigenen Geschichten und Erfahrungen, die Einfluss auf die Entwicklung und das Verhalten des Kindes nehmen – und schon gar nicht liegen die meisten Probleme in den Kindern selbst begründet. Wie in vielen anderen Bereichen der Probleme zwischen Eltern und Kindern hilft es nicht, wenn wir versuchen, nur an den Symptomen zu arbeiten. Wir müssen zu den wirklichen Ursachen durchdringen, um unser Verhalten zu verändern und dadurch Einfluss auf die Entwicklung der Kinder zu nehmen. Wir Erwachsenen sind die Stellschraube der Erziehung, nicht die Kinder.

Aus der Beratungspraxis

Britta ist 46 Jahre alt, Mutter einer Tochter und eines Sohnes. Sie hat Angst, dass ihre Kinder und insbesondere die ältere Tochter, die bereits in der Pubertät ist und mit der sie öfters streitet, sie später hassen könnten. Zu ihrer eigenen Mutter hat Britta keine gute Beziehung: Sie beschreibt die Mutter als emotional distanziert. Britta wurde ungeplant als Nachzüglerin geboren, ihre älteren Geschwister waren schon 10 und 14 Jahre alt. Ihre Mutter war ihre ganze Kindheit über Hausfrau, dabei unzufrieden und auch in der Beziehung zu ihrem Mann und Vater der drei Kinder unglücklich. Auch wenn es ihnen finanziell gut ging, sie in einem Reihenhaus in einem Vorort einer größeren Stadt wohnten, war Brittas Kindheit von dem Gefühl geprägt, Freude und echte Familiengefühle zu vermissen. Als sie selbst in der Pubertät war, hatte ihre Mutter im Streit einmal zu ihr gesagt, dass sie sie nur deswegen bekommen habe, weil sie schließlich als verheiratete Frau mit Familie nicht einfach so abtreiben konnte.

Wenn Britta heute Angst davor hat, dass ihre Kinder und insbesondere ihre Tochter ähnliche Gefühle ihr gegenüber entwickeln könnten, wie sie sie ihrer Mutter gegenüber hat, dann liegt das auch an der emotionalen Vernachlässigung in ihrer eigenen Kindheit und dem Gefühl, nie gewollt und gut genug für die Liebe gewesen zu sein. Gleichzeitig ist es wichtig, die Geschichte im Kontext der Zeit zu sehen und die Rahmenbedingungen zu betrachten, die auf ihre Mutter damals wirkten: das offenbar ungewollte Hausfrauendasein, die Ehe ohne Liebe, aus der sie das Gefühl hatte, nicht aussteigen zu können, und ebenso das Gefühl, dass die Gesellschaft eine Abtreibung bei einer verheirateten, gut situierten Frau nicht akzeptiert hätte. All dies entschuldigt das Verhalten der Mutter nicht, und Britta steht nicht in der Pflicht, ihrer Mutter deswegen zu verzeihen, aber wir sehen, wie sehr ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf die Beziehung wirken können und wie wichtig es ist, gute Rahmenbedingungen für Familien herzustellen.

Ein diffuses Gefühl des Unwohlseins …

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