Martin Rüfenacht

Reussstrudel

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Vrzalski / istockphoto

ISBN 978-3-8392-7158-2

 

 

Prolog

Die Marktgasse verschwamm vor seinen Augen. Er blinzelte mehrmals, konnte den Fokus aber nicht stabilisieren. Seine Beine begannen zu zittern. Sein rechtes Knie gab nach und er torkelte mit starker Schlagseite Richtung Hirschengässli. Seine tauben Füße stolperten über den hohen Randstein. Nur mit Mühe bekam er den breiten Brunnenrand zu fassen. Mit beiden Ellenbogen musste er sich darauf abstützen. Sein Kopf wog schwer. Unter äußerstem Kraftaufwand richtete er seinen Blick nach oben. Der wasserspeiende Delfin starrte ihn bösartig an. Die abscheuliche Fratze kam immer näher. Schon konnte er den fischigen Atem riechen. Die gierigen Lefzen öffneten sich, um seinen Kopf zu zermalmen. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Eine noch nie so heftig verspürte Übelkeit stieg in ihm hoch. Bleiern breitete sie sich in seinem ganzen Körper aus. Das Untier schnappte zu. Blitzschnell drehte er seinen Kopf von der Bestie weg. In einem kurzen Moment der Klarheit erkannte er, dass die Brunnenfigur unbeweglich wie eh und je auf ihrem Sockel thronte. Er wollte sich aufrichten, diesem Spuk ein Ende bereiten, sich wieder konzentrieren. Salziger Speichel sammelte sich in seiner Mundhöhle. Sein Magen verkrampfte sich zu einem harten Klumpen. Er fuhr zusammen und wurde gleichzeitig auseinandergezogen. Sein Erbrochenes mischte sich im Brunnentrog zu einer unansehnlichen wässrigen Suppe. Einige Stückchen trieben auf den Ausguss in der Mitte des Beckens zu und verschwanden darin. Er schnappte nach Luft. Seine Arme spürte er nicht mehr. Er schlug mit dem Kinn heftig am Brunnenrand auf. Ein Schwall von Blut schoss aus seinem Mund und verfärbte die Suppe hellrot. Er ging in die Knie, musste sich hinlegen. Ein weiterer Magenkrampf ließ ihn zusammenzucken. Dieses Mal konnte er das Erbrechen vermeiden. Die aufstoßende Gallenflüssigkeit schmeckte bitter und brannte an seinem Gaumen. Kriechend gelang es ihm, sich ein Stück in die Hauptgasse hinauszuschleppen. Jeder Armzug bestand nur noch aus Schmerzen. Speichel lief unkontrolliert aus seinen Mundwinkeln und seine geröteten Augen tränten unentwegt. Er spürte, wie die Hose triefnass an Beinen und Hintern klebte. Sein Blickfeld verengte sich zu einem kleinen, verschwommenen Punkt. Seine Lungen brannten wie von abertausend Nadeln durchbohrt. Im nächsten Moment fühlte sein Körper sich an, als ob all seine Organe zerfetzt würden. Seine Hände krallten sich ins Kopfsteinpflaster. Dieses gab plötzlich nach, seine Finger glitten hindurch wie durch Butter und ballten sich zu Fäusten. Die Fingernägel bohrten sich in seine Hände, bis die Handflächen zu bluten begannen. Sein Gesicht schleifte über den kalten Boden und hinterließ eine feuchte Spur. Geschmacks- und Geruchssinn verließen ihn und er versank in sich selbst. Das Atmen fiel ihm immer schwerer, als ertränke er langsam, aber unaufhaltsam. Er spürte seinen Puls heftiger werden. Die Halsschlagader wölbte sich im schneller werdenden Takt seines Herzschlags. Irgendwo in seinem Körper musste ein Blutgefäß geborsten sein. Unsäglich heftige Schmerzen trafen ihn wie ein Vorschlaghammer am Kopf. Er schaffte es, die Hände an seine Schläfen zu führen und sich auf die Knie aufzurichten. Sein Herz begann, arrhythmisch zu schlagen, was wiederum mit heftigen Schmerzen verbunden war. Sie wurden immer stärker. Er hatte das Gefühl, von einer tonnenschweren Last erdrückt zu werden. Sein Brustkorb sank in Sekundenschnelle in sich zusammen. Sein linker Arm wurde von den Schmerzen nach hinten gedrückt. Mit letzter Kraft wuchtete er sich auf die Füße. Die Arme hingen wie längliche Fremdkörper schlaff von seinen Schultern.

Auf einmal war alle Pein verflogen. Eine angenehme, beruhigende Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er öffnete die Augen und sah vor sich eine liebliche Quelle mit kristallklarem Wasser. Schmetterlinge tanzten in den Auen am Ufer. Die Sonne schien durch das Blätterdach und zeichnete wunderschöne Schattenmuster auf die ruhig daliegende Wasseroberfläche. Ein Bach bildete, von einem moosbewachsenen Felsen stürzend, einen kleinen Wasserfall. Tautropfen glitzerten im Gras, und aus der Ferne meinte er, eine feine Melodie zu vernehmen. Er ging auf den kleinen Quellsee zu und sah, dass der Bach in einer Steinstufe ein kleines Wasserbecken gebildet hatte. Das frische, kalte Wasser würde seinem erhitzten, schmutzigen Gesicht guttun. Er streckte seine Hände aus und formte sie zu einem Kelch. Er tauchte sie langsam in das kühle Nass und ließ es seine Handflächen füllen. Dann führte er seine Hände nach oben und benetzte damit sein Gesicht. Es fühlte sich herrlich erfrischend an. Er lehnte sich nach vorne und sah sein Spiegelbild im Wasser. Dann gab er sich einen Ruck und tauchte sein Gesicht vollständig ein.

Kapitel 1

Kantonspolizist Stephan Bernauer saß am Frühstückstisch und suchte einen Platz für sein Aprikosenjoghurt. Die Baupläne und Verkaufsunterlagen für die Eigentumswohnung in Berikon bedeckten die ganze Tischplatte. Die beiden Töchter und seine Frau Kathrin gönnten sich noch etwas Schlaf an diesem Sonntagmorgen. Bernauer genoss die Ruhe und die rare Möglichkeit, ganz allein für sich seinen Gedanken nachzuhängen. Am liebsten hätte er die Stereoanlage aufgedreht und sich entweder von Mark Knopfler, John Fogerty oder Bruce Dickinson dabei begleiten lassen. Die Rücksicht seiner Familie gegenüber hielt ihn davon ab. Mit dem Joghurtbecher in der Hand stand er wieder auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Die Maschine signalisierte mit einem kurzen Dampfstoß ihre Arbeitsbereitschaft. Bernauer wählte die Tasse mit dem Aufdruck »Papa is the best«, die er einmal von Laura und Sophie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, während der Kaffee in die Tasse floss. Er drehte sich zum Küchenfenster um und starrte müde in die wohlbekannte Szenerie. Der Hof war seit 18 Jahren etwas vom Ersten, was er nach dem Aufstehen sah. So lange wohnten er und seine Frau schon in dieser Mietwohnung. Eingezogen waren sie bereits, bevor sie Kinder hatten. Wer hätte voraussehen können, dass sie so lange hier wohnen würden? Anfangs war diese Bleibe nur als Übergangslösung gedacht. Es war Kathrin und ihm immer klar gewesen, dass sie bald eine größere, modernere Wohnung suchen würden, gerade auch, weil sie Kinder wollten. Aber irgendwie hatten sie sich nie aufraffen können, wirklich aktiv zu werden. Und als dann Laura und später Sophie zur Welt kamen, war der Alltag dermaßen anstrengend, dass für die Wohnungssuche keine Zeit und Energie mehr übrig blieb. Nun waren die Kinder älter und selbstständiger. Bernauer und seine Frau hatten am Abend etwas mehr Zeit, ihre Zukunft zu planen. Auf die Wohnung in Berikon waren sie per Zufall durch ein Inserat im Bezirksanzeiger gestoßen. Ein Anruf genügte, und ehe sie es sich versahen, saßen sie dem umtriebigen Verkäufer in einer Baubaracke gegenüber. Eingedeckt mit Stößen von Plänen und Dokumentationen hatten sie den Container voller Emotionen und Tatendrang wieder verlassen. Das war gestern Nachmittag gewesen. Sofort hatten Kathrin und er sich darangemacht, die Pläne zu studieren und mit den Kindern zu diskutieren. Diese schienen wenig interessiert und hatten sich bald in ihre Kinder- beziehungsweise Teenagerzimmer verzogen. Bis tief in die Nacht hinein hatte das Ehepaar Bernauer über Grundrissen, Baubeschrieben und Umgebungsgestaltungen gebrütet. Nun lagen die Papiere immer noch auf dem Tisch und Bernauer kehrte aus der Küche zurück mit dem Joghurt in der einen und der Kaffeetasse in der anderen Hand. Kurzentschlossen stellte er den Kaffee auf den Stoß mit den Plättli-Katalogen und das Joghurt auf den Grundriss der Küche.

Sein Smartphone begann, »Given to Fly« von Pearl Jam zu trällern. Umständlich kramte er es aus der Hosentasche hervor und nahm den Anruf entgegen.

»Ciao, Capo«, meldete sich sein Mitarbeiter Michelangelo Ponte am anderen Ende der Leitung.

»Buongiorno, Miki«, antwortete Bernauer, der sich zu dieser saloppen Begrüßung hinreißen ließ, weil er spürte, dass es ein guter Tag werden würde, und er sich mittlerweile fit und voller Elan fühlte. Das sollte sich aber rasch wieder ändern.

»Ich hoffe, du kannst bald ins Büro kommen, Stephan. Da gibt es etwas, das solltest du dir unbedingt ansehen.«

»Worum geht es?«, forschte Bernauer nach, alarmiert durch Pontes ernsten Tonfall.

»Das kann ich dir nicht am Telefon sagen. Bitte komm schnell auf den Posten. Oder noch besser direkt in die Marktgasse. Du wirst es dann schon sehen.«

»Alles klar, bin schon unterwegs.«

»Und, Chef …«

»Ja?«

»Sorry für den verpatzten Sonntag.«

»Schon gut, Miki. Wir sind es ja gewohnt.«

Mit diesen Worten und einem halblauten Seufzer nahm Bernauer das Smartphone vom Ohr, beendete den Anruf und wollte es wieder in seiner Hosentasche verstauen. Er stand ruckartig auf. Dabei riss er einen ausgebreiteten Plan mit und verursachte eine Papierwelle, welche die Kaffeetasse und das Joghurt umstieß. Die braune Brühe flutete den Bauplan des ersten Stockwerks, traf auf halbem Weg zur Tischkante auf das träger dahinfließende Joghurt und schoss schließlich über den Tisch hinaus auf den Parkettboden, wo sich innert kürzester Zeit eine ansehnlich große Pfütze bildete. Einen Fluch unterdrückend, hechtete Bernauer in die Küche zurück, schnappte sich ein Handtuch und warf es auf den Kaffeestrom. Sofort saugte es sich voll. Erst ein Haufen Küchenpapier schaffte es, den Kaffeefluss aufzuhalten. Behutsam tupfte er den Rest der Flüssigkeit und das Joghurt von den Plänen und trug Tasse und Becher in die Küche. Erst nachdem er auch den Boden gereinigt hatte, getraute er sich, die Bescherung in Augenschein zu nehmen. Von den Räumen auf den Plänen war nicht mehr viel zu erkennen. Das Papier war braun verfärbt und stark gewellt. Dort, wo das Joghurt sich Bahn gebrochen hatte, bedeckte ein schmieriger Fleck die Unterlagen. Angesichts der Zerstörung knüllte Bernauer kurzentschlossen den ganzen Wust zusammen, trug ihn in die Küche und stopfte alles in den Abfalleimer. Der Tag erschien ihm plötzlich doch nicht mehr so großartig wie noch vor fünf Minuten. Eiligst machte er sich auf den Weg zu Ponte in die Marktgasse.

Kapitel 2

Bernauer stellte seinen treuen Fünfgänger beim Polizeiposten in den Ständer und machte sich auf den kurzen Weg Richtung Marktgasse. Schon beim Einbiegen in die Hauptgasse der Altstadt erblickte er den weißen Pavillon vor der Bäckerei. Die Zeltwände waren zugezogen und nur auf der Seite Richtung Bogen war eine schmale Öffnung erkennbar. Davor stand ein Regionalpolizist in Uniform. Er war gerade dabei, ein paar Schaulustige abzuweisen. Viel war noch nicht los an einem Sonntagmorgen um diese Zeit. Die kühlen Frühlingstemperaturen luden noch nicht zum Verweilen im Freien ein und die Restaurants und Bars hatten die Außenbestuhlung noch nicht installiert. Viel Platz blieb ihnen dafür ohnehin nicht, denn die Stände für den bevorstehenden Markttag waren bereits aufgestellt worden. Fleißige Hände der Stadt hatten die Holztische mit ihren typischen Dachverstrebungen in der Nacht aufgebaut. Noch standen sie kahl in zwei langen Reihen links und rechts der Gassenmitte und warteten darauf, von den Marktfahrern bestückt und dekoriert zu werden. Nur einige wenige Frühentschlossene machten sich bereits ans Werk. Die meisten Feilbietenden würden erst am Nachmittag oder dann morgen in aller Herrgottsfrühe ihren Stand herrichten.

Bernauer liebte diese Atmosphäre der Vorbereitung auf den Markttag. Eigentlich konnte er ihr mehr abgewinnen als dem Markt selbst, an dem er sich als Berufs- oder Privatperson einen Weg durch die dichte Menschenmenge bahnen musste. Er hasste das Gedränge und war froh, dass er nicht mehr den Kindern zuliebe an diesem Spektakel teilnehmen musste. Als Chef der Kriminalpolizei vor Ort konnte er sich zudem den Dienstplan so zurechtlegen, dass er einen Einsatz am Markttag vermeiden konnte.

Aus der Pavillon-Seitenwand tauchte ein Kopf auf. Michelangelo Ponte lächelte, als er seinen Vorgesetzten erblickte, und winkte ihn zu sich herüber. Bernauer beeilte sich, zu seinem Mitarbeiter zu gelangen. Dieser war mittlerweile vor das Zelt getreten und begrüßte Bernauer pflichtbewusst mit einer kurzen Lagebeurteilung: »Guten Morgen, Capo. Wie gesagt, das solltest du dir ansehen. Wir haben es mit einer männlichen Leiche zu tun. Alter: Vermutlich 51 Jahre. Name: Vermutlich Daniel Steiner.«

»Unser Daniel Steiner, der Marktchef?«

»So sieht’s aus.«

»Was meinst du mit vermutlich? Was soll das ganze Getue, Miki?« Bernauer wurde ungeduldig und versuchte, an Ponte vorbei einen Blick ins Innere des Pavillons zu erhaschen.

Ponte streckte seinen rechten Arm aus, um seinen Chef daran zu hindern. »Du solltest wissen …«

»Michelangelo Ponte. Ich bitte dich! Wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen? Du weißt, dass du nichts vor mir verheimlichen kannst. Und schon gar nicht, wenn ihr hier die halbe Marktgasse in Beschlag nehmt.«

Ponte wollte etwas erwidern, wurde aber von einem Polizisten im weißen Einweg-Overall überrascht, der sich in diesem Augenblick aus dem Pavillon schälte: »Entschuldigung, bitte.«

Ponte musste einen Schritt zur Seite machen und gab dadurch Bernauer die Gelegenheit, sich an ihm vorbeizudrängeln. Ponte versuchte noch, ihn an der Schulter zurückzuhalten, was misslang. Als ehemaliger aktiver Fußballspieler wusste Bernauer geschickt auszuweichen. Nun stand er im kleinen Innenraum. Stickige Luft und ein seltsamer Geruch erfüllten den Pavillon. Bernauer atmete reflexartig durch den Mund. Drei Personen waren damit beschäftigt, den Ort nach Spuren abzusuchen. Zwei von ihnen trugen weiße Overalls und hatten die Kapuzen hochgezogen.

Aus der gegenüberliegenden Ecke hörte Bernauer eine vertraute Stimme: »Stephan Bernauer. Auch dir einen schönen guten Morgen. So früh schon auf den Beinen?« Die Worte wurden von einem breiten Grinsen in Dr. Siglinde Bernhards Gesicht begleitet. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen und Kollegen trug sie keinen weißen Ganzkörperanzug, sondern Jeans und ein mintgrünes Poloshirt.

Bernauer rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Seit ihrem letzten gemeinsamen Fall hatte er die Rechtsmedizinerin zwar nicht gerade in sein Herz geschlossen, aber sie war ihm sympathischer geworden. Dennoch mochte er solche ironischen Begrüßungen nicht, besonders nicht an einem Sonntagmorgen, der durch die Umstände von einem freien zu einem Arbeitstag geworden war. Missmutig schlenderte er zu Sigi Bernhard hinüber. »Morgen, Frau Doktor. Ponte hat mich vorinformiert. Der Tote ist der Marktchef?«

»Na ja, wir haben im Portemonnaie, das der Tote bei sich trug, die Identitätskarte von Herrn Steiner gefunden. Ob er tatsächlich das Opfer ist, können wir noch nicht genau sagen, es deutet aber alles darauf hin.«

Während sich Bernauer noch über diese Worte wunderte, trat die Rechtsmedizinerin einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf die Leiche frei. Der Mann hing seltsam schlaff am Tisch, der aufgestellt worden war, um die berühmten frischen Schenkeli am Markttag verkaufen zu können. Die Knie des Leichnams waren leicht durchgebogen, berührten aber den Boden nicht. Erst als sich Bernauer der Leiche von hinten näherte, erkannte er, dass sie mit dem Kopf in einer Fritteuse festgeklemmt war. Obwohl nur der Hinterkopf und ein halbes Ohr herausragten, sah er durch das bräunlich-grüne Öl, dass vom Antlitz des Toten nur noch eine verbrannte Masse übrig war. Keine Chance, die ehemaligen Gesichtszüge zu erkennen. Das erklärte zudem auch den seltsamen Geruch im Pavillon.

»Ich verstehe«, murmelte Bernauer mehr zu sich selbst als zu Dr. Bernhard. Sie gesellte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Bernauer war zu perplex, um darauf zu reagieren. Er musste immerzu auf den Kopf in der Fritteuse stieren.

»Wieder ein Fall für den guten alten DNA-Abgleich«, befreite Sigi Bernhard ihn aus seiner Starre. »Oder ein Gebissvergleich. Vorher kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich um Daniel Steiner handelt. Aber es deutet, wie gesagt, einiges darauf hin. Kümmert ihr euch um die Probe und die Röntgenaufnahmen?«

Bernauer hatte keine Zweifel daran, dass er den Marktchef vor sich sah. Immerhin kannte er ihn schon lange, und die Postur und das restliche Erscheinungsbild – mit Ausnahme des Gesichts – waren unverkennbar. Bernauer nickte mechanisch. Er brauchte frische Luft. Ohne ein weiteres Wort stürmte er ins Freie und sog die Kühle des Morgens gierig ein. Er warf den Kopf in den Nacken und blickte gedankenverloren in den blauen Himmel.

»Krasse Sache, nicht wahr, Chef?« Bernauers zweiter Mitarbeiter Othmar Staubli begrüßte seinen Vorgesetzten mit der gewohnt direkten, bisweilen taktlosen Art. Langsam ließ Bernauer seinen Kopf nach unten sinken und drehte sich langsam zu Staubli um. Dieser trat unwillkürlich einen Schritt zurück, um den gebührenden Abstand zu seinem Chef zu halten. Wie ein scheues Tier zeigte sich Staubli auf eine Standpauke gefasst, war dann aber erstaunt, dass Bernauer sich nicht dazu hinreißen ließ. Sehr ruhig sah dieser Staubli einen Moment lang direkt in die Augen, schüttelte nur leicht den Kopf und wandte sich dann von ihm ab. Noch im Weggehen gab er ihm den Auftrag, eine DNA-Probe von Daniel Steiner aufzutreiben und dessen Zahnarzt für den Gebissabgleich ausfindig zu machen. Staubli schüttelte langsam den Kopf. Er wollte etwas erwidern, ließ es dann aber dabei bewenden und schlurfte Richtung Polizeiposten davon.

Kapitel 3

Die metallenen Gartenstühle bei Goldie versprachen Raum zum Nachdenken. Bernauer nahm einen vom Stapel und ließ sich wie ein Marathonläufer nach überstandenem Wettkampf hineinfallen. Der klein gewachsene Wirt des »Henry’s« kam mit wehender Lockenpracht aus seinem Lokal geschossen, wie eine Spinne, die fette Beute in ihrem Netz wähnte. Im Unterschied zum Achtbeiner hatte der Barkeeper es aber irgendwie geschafft, einen Espresso zuzubereiten, den er seinem Gast nun ungefragt in die Hand drückte. Umständlich balancierte Bernauer die viel zu kleine Untertasse auf dem Schoß.

»Schlimm, schlimm, nicht wahr, Bernauer?«

Der Polizist sah Goldie mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Resignation an. Hatte sich die ganze Welt an diesem Morgen gegen ihn verschworen? »Ach, Goldie«, brachte er hervor, ehe dieser wie gewohnt zu einem Redeschwall ansetzte.

»Ich denk mir noch: Was soll denn dieser hässliche Pavillon gleich neben meinem Pub? Der vergrault mir ja die Gäste. Wieder so eine Extrawurst, die jemand beim Marktchef durchgebracht hat. Da checke ich erst, dass der von euch ist. Habe mir natürlich sofort selbst ein Bild gemacht. Das hat der Furie da drin aber gar nicht gepasst. Hat mich sofort wieder rausspediert, die Frau Doktor. Ist doch eine Frau Doktor, oder? Na ja, wie auch immer. Natürlich habe ich sofort gesehen, dass das der Steiner ist, der da gebrutzelt wurde. Viel erkennen kann man ja nicht mehr von ihm, aber der Steiner ist das auf jeden Fall.«

Bernauer versuchte, aus Goldies Vortrag das Wesentliche herauszuhören. Der Wirt erzählte zwar viel und gern, meistens war er jedoch sehr gut über die Geschehnisse in Bremgarten informiert, und ihm war des Öfteren der eine oder andere wichtige Hinweis zu einem Fall zu entlocken.

»Wir werden sehen, Goldie. Zuerst brauchen wir Gewissheit und einen DNA-Abgleich.«

»Also, ich brauche sicherlich keinen DNA-Abgleich, um zu sehen, dass dort drin«, dabei deutete er mit dem rechten Zeigefinger vehement in Richtung Pavillon, »Daniel Steiner, unser Marktchef, frittiert wurde.«

»Soso«, machte Bernauer.

»Ach, hör mir doch auf mit deinem ›Soso‹! Ich werde wohl noch unseren Marktchef erkennen. Mir Leute einzuprägen, ist schließlich Teil meines Berufs.«

Da musste Bernauer ihm recht geben.

»Außerdem würde es mich auch nicht wundern, wenn den jemand um die Ecke gebracht hätte«, fuhr Goldie in fast beleidigtem Tonfall fort.

Bernauer wurde hellhörig: »Wie meinst du das?«

In diesem Augenblick stieß Ponte zu den beiden, nickte Goldie zu und starrte gierig auf Bernauers Espresso. Goldie entging dieser Blick nicht und er verkrümelte sich rasch in sein Lokal. Von drinnen hörte man die Cimbali dampfen und zischen.

»Die nächste Zeit esse ich nichts Frittiertes.« Ponte hievte ebenfalls einen Stuhl vom Stapel und setzte sich neben Bernauer. »Was denkst du, Capo, Unfall oder Mord?«

Bernauer legte die Stirn in Falten: »Schwierig zu sagen. Gegen einen Unfall spricht, dass offensichtlich nichts verschüttet oder umgestoßen wurde, es gibt keine Ölflecken auf dem Boden, der Tisch wurde nicht verschoben oder umgeworfen. Wäre das Opfer gestürzt – wie und warum auch immer –, hätte es vermutlich irgendetwas in seinem Umfeld mitgerissen. Andererseits habe ich noch von keinem Fall gehört, bei dem jemand in einer heißen Fritteuse ertränkt wurde. Die Gefahr für den Täter wäre doch ziemlich hoch, sich dabei selbst zu verbrühen, besonders, wenn das Opfer sich wehrt. Und davon kann man ausgehen, wenn jemandem der Kopf in siedendes Öl gedrückt wird. Auf der anderen Seite haben wir beide schon viele seltsame Unfälle von Betrunkenen gesehen. Wobei ich Daniel Steiner noch nie alkoholisiert erlebt habe. Er wirkte auf mich immer sehr nüchtern – im doppelten Wortsinn. Wir werden die Blutalkohol-Werte abwarten müssen.«

»Habe ich ›Alkohol‹ gehört? Möchtet ihr lieber einen Corretto?« Goldie war zurück auf der Marktgasse und überreichte Ponte den Espresso. Die Polizisten winkten gleichzeitig ab. Der Wirt stellte sich zwischen die beiden und stützte sich mit den Armen je auf einer Stuhllehne ab. »Wie gesagt, die Herren, wenn der Steiner von selbst in die Fritteuse gefallen ist, dann fresse ich einen Besen samt Putzfrau. Oder noch besser: Ich serviere einen Monat lang im Lugano-Trikot.« Wie Bernauer und Ponte wussten, war der Wirt des »Henry’s« glühender Fan des Eishockeyclubs ZSC Lions. Im Dress eines der härtesten Konkurrenten aufzutreten, war für ihn ein sehr großer Wetteinsatz.

Die beiden warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Bernauer sah sich als Erster genötigt, Goldie zu fragen, nicht ohne dabei einen lauten Seufzer gen Himmel zu senden: »Und was macht dich so sicher, dass der Marktchef umgebracht wurde?«

Jetzt sprudelte es nur so aus Goldie heraus: »Ja was glaubt ihr denn, wie jemand zu so einem Marktstand kommt? Ich sage nur Korruption! Die Plätze sind begehrt. Immerhin locken die Märkte in Bremgarten jedes Jahr weit über 100.000 Besucher an.« Es hielt ihn nicht länger zwischen den Stühlen seiner beiden Gäste. Wild gestikulierend lief er nun vor den Polizisten im Kreis. »Ein Stand an einer guten Stelle ist sehr lukrativ für die Marktfahrer. Da wird sicherlich das eine oder andere dicke Kuvert den Besitzer wechseln, wenn ihr versteht, was ich meine. Und wer bestimmt, wer welchen Platz erhält? Na? Genau, unser Herr Fritteusenfresse persönlich.«

Ponte warf Goldie einen genervten Blick zu und bat ihn, sich zu mäßigen. Immerhin befand sich die Leiche nur wenige Meter von ihnen entfernt. Auch Bernauer machte ein skeptisches Gesicht: »Ich weiß nicht, Goldie. Ich glaube, Herr Steiner war sich durchaus bewusst, dass er einen verantwortungsvollen Posten innehatte. Wäre er bestechlich gewesen, hätte sich das sicher sehr schnell herumgesprochen. Und Steiner wäre dumm gewesen, seinen attraktiven Posten zu riskieren. Bei uns ist meines Wissens nie eine Beschwerde oder Anzeige wegen Bestechlichkeit gegen ihn eingegangen.«

»Ich bleibe dabei«, meinte Goldie trotzig. »Ihr könnt ja mal die Marktfahrer da drüben befragen. Die werden euch schon erzählen, wer beim Steiner welchen Stein im Brett hatte. Und jetzt muss ich weiterarbeiten. Die Herren …« Mit erhobenem Kinn wandte er sich ab und verschwand im »Henry’s«.

Kapitel 4

Bernauer und Ponte tranken ihre Espressi aus und wussten nicht so recht, was sie mit ihren Tassen tun sollten. Sie entschieden sich dafür, sie auf ihre Stühle zu stellen und sich in Richtung Pavillon davonzumachen. Wenn Goldie ihnen schon keinen Tisch bereitgestellt hatte, dann ging wohl wenigstens der Kaffee aufs Haus.

Bernauer sah sich um und entdeckte eine Frau mittleren Alters, die gerade damit beschäftigt war, ihren Marktstand herzurichten. Sie hatte offenbar Mühe, die Dachverstrebungen in die waagrechte Position zu bringen, und rackerte sich ab, das schwere Rundholz überkopf in die dafür vorgesehene Öse zu schieben. Ponte eilte ihr zu Hilfe und nahm ihr die schwere Arbeit ab, während die Marktfrau erleichtert die Arme sinken ließ.

»Danke! Dieses Jahr scheint nicht alles so gut zu klappen wie sonst. Normalerweise waren die Marktstände bereits zwei Tage im Voraus bereit – inklusive Dach. Herrn Steiner habe ich heute auch noch nicht gesehen. Sonst begrüßt er uns Marktfahrer jeweils herzlich. Dieses Jahr wohl nicht. Ist er nicht mehr zuständig dafür?«

Bernauer quittierte Pontes fragenden Blick mit einem angedeuteten Kopfschütteln und wandte sich nun seinerseits an die Frau. »Herr Steiner ist heute leider unabkömmlich«, erklärte er und wunderte sich selbst über seine Wortwahl.

»Oh«, sagte die Marktfahrerin emotionslos, ohne weiter nachzuhaken. Scheinbar war ihr die persönliche Begrüßung durch den Marktchef doch nicht so wichtig. Stattdessen begab sie sich hinter den Verkaufstresen und begann, in Luftpolsterfolie verpackte Gegenstände aus großen Kartonschachteln hervorzukramen. Ein Stück nach dem anderen legte sie auf das mit einem schwarzen Tischtuch bedeckte Brett. Als sie bemerkte, dass die beiden Männer sich nicht entfernten, blickte sie von ihrer Arbeit auf. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Das können Sie. Wenn wir uns vorstellen dürfen: Bernauer, und das ist mein Kollege Ponte. Wir sind von der Kantonspolizei Bremgarten und hätten ein paar Fragen an Sie.«

Die Frau hielt inne und legte eines ihrer Stücke langsam in die Schachtel zurück. »Von der Polizei, aha. Und was führt Sie zu mir?«

»Wir ermitteln da in einer Sache«, blieb Bernauer vage. »Wie lange sind Sie heute schon hier?«

Sie überlegte kurz und antwortete dann: »Seit etwa 8 Uhr. Also ungefähr eine halbe Stunde.«

»Sie sagten, Sie seien nicht zum ersten Mal hier auf dem Markt.«

Die Frau nickte. »Ich komme schon seit vielen Jahren hierher. Für mich sind die Markttage die schönste Zeit des Jahres.«

»Ist Ihnen heute etwas Spezielles aufgefallen?«

»Bis auf den Pavillon dort drüben ist alles wie sonst. Wahrscheinlich hat Steiner einem neuen Marktfahrer eine Chance geben wollen.«

Ehe sie die Frau nach ihrem Namen fragen konnten, öffnete sich wie auf Kommando eine Seitenwand des weißen Zeltes und Dr. Bernhard trat daraus hervor. Im Inneren konnte man erkennen, wie sich die Kollegen bereits daranmachten, den Pavillon wieder abzubauen. Unter dem Gestänge konnte man den grauen Kunststoffsarg ausmachen, der zum Abtransport bereitstand. Erst jetzt bemerkte Bernauer den etwas weiter oben stehenden Leichenwagen. Der Bestatter regelte anscheinend noch die Details mit einem Polizisten, während sein Compagnon gelangweilt eine Zigarette rauchte.

»Oh«, entfuhr es der Marktfahrerin erneut. Dieses Mal hörte man aber eine deutliche Betroffenheit in ihrer Stimme.

Dr. Bernhard winkte die beiden Polizisten zu sich heran, um sich außer Hörweite der Marktfahrerin mit ihnen unterhalten zu können. Als Bernauer und Ponte sie erreicht hatten, kniff sie die Lippen zusammen und setzte eine ernste Miene auf: »Schlimme Sache, würde ich sagen. Wahrlich kein schöner Tod, sollte das Opfer wirklich in der Fritteuse gestorben sein.«

»Sie meinen, es wäre möglich, dass ihm jemand den Kopf erst nach seinem Tod da hineingezwängt hat?«, fragte Ponte erstaunt.

»Denkbar wäre es. Aber denkbar ist so vieles in meinem Beruf«, entgegnete sie kryptisch, nahm ihren Instrumentenkoffer vom Boden auf und wandte sich zum Gehen. »Ich werde es herausfinden.«

Nach ein paar Schritten wandte sie sich noch einmal um: »Ah ja, der Todeszeitpunkt. Die Totenstarre ist noch nicht vollständig ausgebildet, allerdings sind die Temperaturen heute Morgen auch etwas frisch. Ich würde mal sagen, so vor vier bis fünf Stunden, also etwa zwischen 3 und 4 Uhr.« Sie winkte mit der freien Hand zum Abschied.

Die beiden Polizisten schauten ihr kurz nach und gingen dann wieder zur Marktfrau von eben zurück, die inzwischen damit beschäftigt war, weitere Objekte aus den Kisten auf die Verkaufsfläche zu hieven.

»Was bieten Sie an Ihrem Stand eigentlich an?«

Die Frau, die ihnen den Rücken zugewandt hatte, erschrak, als Ponte sie so unvermittelt ansprach, und ließ vor Schreck eine kleine Holzfigur aus der Hand fallen. Polternd kullerte sie über den Tresen und über dessen Rand hinaus. Mit einer raschen Bewegung konnte Bernauer sie gerade noch auffangen, bevor sie den Boden erreichte. Er betrachtete seinen Fang kurz und gab ihn der erleichterten Marktfrau dann zurück. »Holzenten?«, fragte er.

»Enten, Hunde, Katzen, Füchse, Meerschweinchen – alles, was da so kreucht und fleucht. Handmade im Freiamt. Sie sagen mir, welches Tier Sie wünschen und welches Holz Sie bevorzugen – Nussbaum, Eiche, Kirsche –, und ich fertige es für Sie an. Ich biete auch einen Hauslieferdienst an. Hier meine Karte.« Sie überreichte Bernauer eine Visitenkarte.

Er nahm sie entgegen und las laut vor: »Doris Ginster, Holzskulpturen, Ginswood GmbH.«

»Und damit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?« Pontes überhebliche Bemerkung brachte ihm einen vorwurfsvollen Blick seines Vorgesetzten ein.

Frau Ginster schien sich nicht daran zu stören: »Es reicht ganz gut«, sagte sie knapp.

Bernauer wollte noch die anderen Marktfahrer befragen und beschloss, das Gespräch zu beenden: »Vielen Dank, Frau Ginster. Wie Sie bemerkt haben, ermitteln wir in einem Todesfall.« Der Sarg war in der Zwischenzeit in den Leichenwagen gehievt worden. Die Bestatter waren in einen Wortwechsel verwickelt. Bernauer konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, mit wem. Der Wagen verdeckte ihm die Sicht. An Frau Ginster gewandt sagte er: »Danke für Ihre Auskünfte. Bitte halten Sie sich für weitere Fragen zu unserer Verfügung. Und melden Sie sich bei mir, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte.« Nun war es an ihm, ihr eine Visitenkarte zu überreichen. Sie steckte sie ein, ohne einen Blick darauf zu werfen.

Kapitel 5

Der Leichenwagen fuhr langsam in Richtung Spittelturm davon. Er gab den Blick auf eine breitschultrige Gestalt im dunklen Anzug frei, die sich strammen Schrittes auf Bernauer und Ponte zubewegte. Staatsanwalt Huber war ein Mann der klaren Ansagen und Strukturen. Als Bernauers fachlicher Vorgesetzter ließ er ihn dies regelmäßig spüren. Trotzdem hatte sich in den letzten Jahren eine Art freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Männern entwickelt, wenngleich dies ausschließlich auf beruflicher Ebene seinen Niederschlag fand. Im Privaten hatten sie bisher kaum miteinander zu tun gehabt. Zu unterschiedlich waren die sozialen Welten, in denen sie sich bewegten. Umso erstaunter war Bernauer, als Huber Ponte freundlich zunickte und ihn fragte, wie es seiner Giulia ginge. Offenbar teilten die beiden eine Vorliebe für Oldtimer.

»Danke, buonissima! Und wie steht’s um Schneewittchen?«

»Tack. Mycket bra!«

Die beiden tauschten ein höfliches, aber durchaus herzliches Lachen aus. Bernauer wurde die Sache unangenehm. Einerseits, weil er zwar auch über einen fahrbaren Untersatz verfügte, den man durchaus als Oldtimer bezeichnen konnte – der aber ein Fahrrad und kein Auto war –, und andererseits, weil er nicht gern aus einer Konversation ausgeschlossen wurde, und insbesondere dann nicht, wenn das Gespräch zwischen seinem Vorgesetzten und seinem Mitarbeiter stattfand und er auch noch zugegen war. Er beschloss dazwischenzugehen und sagte etwas zu laut: »Guten Morgen, Herr Dr. Huber.«

Dieser nahm den Faden sogleich auf und wechselte von freundlich auf freundlich, aber bestimmt: »Morgen, die Herren. Als gut würde ich ihn allerdings nicht bezeichnen. Gut ist anders, Bernauer.«

Pflichtbewusst senkten sowohl Bernauer als auch Ponte den Blick. Huber fuhr fort: »Das ist ganz schlechte Werbung für die Stadt und die Region. Das steht morgen ganz sicher in der Presse. Wir müssen dafür sorgen, dass die Sache nicht medial eskaliert.« Bernauer wollte sofort etwas erwidern, kam aber nicht dazu. »Um die Presse kümmere ich mich. Ich habe da noch ein paar Beziehungen aus der Studienzeit. Sie werden dafür sorgen, dass Sie den Fall schnell und lückenlos aufklären, Bernauer. Haben wir uns verstanden?«

Bernauer, aber auch Ponte nickten eifrig. Ihnen war bewusst, dass es keinen Zweck hatte, Huber zu widersprechen. Sie wussten aber ebenso, dass er sie ihre Arbeit machen ließ, wenn sie sich keine Eskapaden leisteten und Huber am Schluss vor seinen Kollegen gut dastehen würde. Beim aktuellen Fall war sich Bernauer allerdings nicht so sicher, ob Huber sich vollständig aus den Ermittlungen raushalten würde. Zu spektakulär waren die Umstände dieses Todesfalls und, falls es sich bei der Leiche tatsächlich um Marktchef Steiner handelte, zu wichtig und einflussreich war er als Marktchef gewesen.

Als ob Huber seine Gedanken gelesen hätte, herrschte der Staatsanwalt ihn an: »Herrgott noch mal, Bernauer! Was stehen Sie noch hier herum? Ermitteln Sie! Tun Sie gefälligst Ihre Arbeit! Los jetzt. Husch, husch!« Dabei machte er eine Handbewegung, als wolle er Hühner verscheuchen.

Bernauer konnte diese Geste zwar nicht recht ernst nehmen, tat aber dennoch, wie ihm geheißen, nickte Huber zum Abschied zu und ging rasch zum nächsten Marktstand, dicht gefolgt von Ponte. Ein Blick zurück über die Schulter bestätigte den beiden, dass Huber sich bereits Richtung Bogen aufgemacht hatte.

»Und was jetzt?«, wollte Ponte von seinem Chef wissen.

»Na was wohl, Michelangelo? Ermitteln!«

Kapitel 6

Der Überfall kam für Ponte und Bernauer völlig überraschend. Hinter einem mit kümmerlichen Koniferen bepflanzten steinernen Blumentrog schnellte ein junger Mann hervor und sprang den beiden vor die Füße. Jeder andere wäre wohl erschrocken zurückgewichen, nicht jedoch die beiden Polizisten. Ehe der Angreifer es sich versah, lag er auf dem Bauch, die Hände im Schraubstockgriff von Ponte, ein Knie im Rücken. Bernauer stand links hinter seinem Kollegen und gab ihm mit gezückter Waffe Feuerschutz. Die Aktion sorgte für erstaunte Gesichter bei den mittlerweile zahlreichen umstehenden Passanten. Bernauer versicherte sich, dass Huber nicht mehr in Sichtweite war.

»Lassen Sie mich los!«, tönte es unter Pontes Knie hervor.

Der Polizist löste den Druck zwischen den Schulterblättern des bedauernswerten Opfers nur ein wenig. »Warum sollte ich das tun?«, entgegnete er mit strenger Stimme. »Was sollte das eben? Weshalb greifen Sie uns an?«

»Angreifen? Ich wollte Sie nicht angreifen.«

Ponte erhöhte den Druck seines Knies wieder leicht, was dem Mann am Boden ein schmerzhaftes Stöhnen entlockte.

»Ich wollte Sie nicht angreifen, wirklich«, wiederholte der Mann. »Ich wollte mit Ihnen reden und fand es lustig, Sie zu erschrecken.« Winselnd fuhr er fort: »Bitte lassen Sie mich los.«

Ponte drehte den Kopf zu seinem Vorgesetzten und dieser bestätigte mit einem leichten Nicken. Er erhob sich langsam vom Jüngling, immer auf eine schnelle Bewegung oder einen erneuten Angriff gefasst. Doch nichts dergleichen geschah. Der junge Mann stand langsam auf und ächzte dabei mehrmals vernehmlich. Er klopfte sich den Straßenstaub von den Hosenbeinen und seinem nun etwas zerknitterten Hemd, das vor der Intervention der Polizisten einmal weiß gewesen sein musste, und streckte Ponte seine Hand entgegen. Dieser erwiderte die Geste nicht, sondern sah sein Gegenüber lediglich erwartungsvoll an. Bernauer machte einen Schritt auf die beiden zu, blieb aber immer noch schräg hinter seinem Kollegen. Irritiert ob der Passivität Pontes begann der junge Mann zu sprechen: »Nun, wie auch immer … äh … danke fürs Freilassen.« Wieder erwartete er eine Reaktion oder zumindest ein Lächeln der Polizisten. Wieder blieb sie aus. Die Leute auf der Gasse lösten sich von der Szene und gingen ihren Besorgungen nach. Dem Jüngling war das Ganze sichtlich unangenehm. Allmählich dämmerte ihm, dass sein Scherz nach hinten losgegangen war. »Könnten wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Nein«, erwiderte Bernauer kalt.

Er druckste noch ein wenig herum, schien sich dann mit der Situation abzufinden, sprach aber trotzdem etwas leiser als normal: »Ich heiße Damian Peterhans. Wahrscheinlich haben Sie schon von mir gehört.«

Ein kurzer Blickwechsel zwischen Bernauer und Ponte schaffte Klarheit.

»Nein«, sagten beide im Chor.

Es waren diese Momente, die beiden Polizisten die Gewissheit gaben, dass sie im Grunde gleich tickten und sie sich stets aufeinander würden verlassen können. Der Gedanke legte ein Lächeln auf Bernauers Lippen. Damian Peterhans missinterpretierte dieses: »Eben doch. Dacht ich’s mir.«

Ponte runzelte die Stirn: »Müssten wir Sie denn kennen?«

»Na, hören Sie mal«, plusterte sich Peterhans auf. »Immerhin bin ich der stellvertretende Marktchef. Und jetzt, da Herr Steiner … nun ja … Auf jeden Fall regle ich hier jetzt das Marktgeschehen bis auf Weiteres. Der Markt muss stattfinden. Trotz des bedauerlichen Vorfalls mit Herrn Steiner. Märkte sind ein Teil der Kultur-DNA unserer Stadt.« Bei diesen Worten drückte er das Kreuz durch und reckte seinen blonden Bürstenschnitt gen Himmel. Die hinter dem Rücken verschränkten Arme sollten den Polizisten wohl weismachen, dass sie eine Respektsperson vor sich hatten. Zusätzlich unterstützte Peterhans diesen Anspruch mit einem gemächlichen Wippen von den Zehenspitzen auf die Fersen. Leider untergruben aber seine schmächtige Gestalt, das billige und nun schmutzige Synthetikhemd sowie seine jungenhaften Gesichtszüge diese Bestrebungen.

»Eine veritable Berühmtheit also.« Ponte warf Bernauer einen belustigten Blick zu.

»Das kann man so sagen«, platzte es aus Peterhans heraus. Auch sein mangelndes Gespür für Ironie verlieh ihm nicht gerade das Flair eines Mannes von Welt.

»Na dann. Regeln Sie doch einmal alles so, wie Sie es für richtig halten. Herr Ponte und ich werden derweil unsere Ermittlungen fortsetzen, wenn das für Sie in Ordnung geht, Herr Peterhans.«

Ponte hatte Mühe, sich zu beherrschen.

Bernauer fuhr derweil fort: »Also wirklich nur, wenn Ihnen das nichts ausmacht, Herr Peterhans.«

Ponte musste sich umdrehen und zwei Schritte entfernen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Langsam zählte er innerlich bis fünf, ehe er sich wieder den beiden zuwandte.

In der Zwischenzeit war Peterhans immer noch nicht mit einem Sinn für Sarkasmus gesegnet worden: »Ja, ja. Tun Sie das. Ich erteile Ihnen die Erlaubnis, auf meinem Markt zu ermitteln. Aber bitte stören Sie dabei niemanden. Die Marktfahrer brauchen diese Zeit, um sich auf den morgigen Tag vorbereiten zu können.«

Bernauer machte große Augen, stieg aber nicht auf die unabsichtliche Provokation ein. »Verbindlichsten Dank, Herr Peterhans, das werden wir tun.« Ponte starrte seinen Chef verblüfft an und hörte, wie er sagte: »Aber vorher hätte ich noch eine höfliche Bitte an Sie, werter Herr Peterhans.«

»Ja gerne, nur zu.«

»Ich möchte verstehen, Herr Peterhans, wie es möglich ist, dass auf Ihrem ach so gut organisierten Markt«, Bernauer wechselte abrupt den Tonfall von säuselnd auf vernichtend, »einem Mann in einer Fritteuse das Gesicht weggebrutzelt wird und das anscheinend niemanden groß beunruhigt außer uns beide und den Staatsanwalt! Und jetzt sage ich Ihnen einmal, was Sie zu tun haben, Herr Peterhans: Sie liefern uns jetzt ein wasserdichtes Alibi und erklären uns glaubhaft, weshalb Sie zu wissen scheinen, dass es sich beim Opfer in der Fritteuse um Daniel Steiner handelt, oder Sie sind die längste Zeit stellvertretender Marktchef gewesen!«

Ponte lächelte, Peterhans zitterte. Der junge Mann musste sich auf den Blumentrog setzen. So schnell fällt die Maske, dachte Bernauer und hatte fast ein bisschen Mitleid mit dem Kerl.

Peterhans begann zu stammeln. »Ich bin erst um halb neun hier eingetroffen. Vorher war ich zu Hause.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Meine Mutter.«

»Ihre Mutter?« Bernauer hob die Augenbrauen.

»Ja, sie weckte mich, als sie einen Anruf von einer Arbeitskollegin erhielt, die zufällig hier vorbeikam und den Pavillon gesehen hat. Sie hat gesagt, es gehe um Steiner. Ich habe mich dann sofort auf den Weg gemacht und …« Er ließ den Kopf hängen.

»Schon gut, Herr Peterhans«, erlöste ihn Bernauer, »Sie können gehen. Schauen Sie zu, dass Sie den Markt so normal wie möglich abhalten können. Wir kümmern uns um den Todesfall.«

Der junge Mann war offenbar gleichermaßen erleichtert wie dankbar und machte sich wortlos davon.

Ponte schaute zu Bernauer und zollte ihm mit zustimmender Miene Respekt. Dann ergänzte er nachdenklich: »Schon interessant, wie schnell ein Gerücht die Runde macht. Wir haben das Opfer noch nicht mal zweifelsfrei identifiziert, schon weiß die halbe Stadt, wer der Tote ist.«

Kapitel 7