Martin Schnick
Am anderen Ende der Schwerkraft
Roman
Schnick, Martin: Am anderen Ende der Schwerkraft. Frankfurt am Main, Größenwahn Verlag 2022
Originalausgabe
EPUB-ISBN: 978-3-95771-324-7
PDF-ISBN: 978-3-95771-325-4
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Print-ISBN: 978-3-95771-323-0
Lektorat: Annika Friedrichs, Hamburg
Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Größenwahn Verlag
Umschlagmotiv: © vjapratama/pexels.com
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© Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main 2022
Alle Rechte vorbehalten.
www.groessenwahn-verlag.de
Inhalt
„Ende“
„Alpinweiß“
„Deutschland einig Nuttenland“
„Wittgenstein“
„Die beste aller Welten“
„Kennste?“
„Opera suffa“
„... ever ending parties“
„MKULTRA“
„Himmel und Hölle“
„Störtebekers Hexameter“
„Blubb“
„Ostronauten“
„Ohne Worte“
„Friendly Fire“
„Bunte“
„Champagner“
„Hardcore“
„Pharmakon“
„Untherapierbare Zeiten“
„Breakfast in the City“
„Hotel Zukunft“
„Happy hours“
„Schlaflos“
„Berliner Luft“
„Verschwunden“
„Mythos“
„Am anderen Ende der Schwerkraft“
„Filmriss“
„Der Autor“
Ende
Ich sehe mich zum ersten Mal. Im Bett liegend, die Hände auf der blutenden Wunde. Meine dunkelblonden Haare vom Schlaf zerzaust. Ich spüre das warme Blut und spüre es nicht. Du stehst vor mir. Jochen. Du schaust mich an mit deinen hellblauen Augen, blau wie das Meer, der Horizont, eben noch voller Zorn, jetzt voller Schrecken. Bebend hältst du das Messer in der Hand, diese Klinge, die du mir Sekunden zuvor in den Brustkorb gerammt hast. Ich sehe mein Studentenzimmer im Morgengrauen. Den runden Esstisch in der Mitte des Raumes mit dem angeschnittenen Brot, daneben die leeren Gläser, die Wodkaflasche, die Zigarettenschachtel, der überfüllte Aschenbecher. Mein Blick wandert hinüber zum Waschbecken, vorbei am Kleiderschrank zu meinem Schreibtisch. Darauf mein PC und meine schwarze Kladde mit meinen Notizen zu meinem Roman-Projekt »Mythos«. Ich rieche deinen betörenden Schweiß. Ich sehe deine blauen Augen, dein engelhaftes, unbehaartes Gesicht, deine erröteten Wangen. Ich sehe deine geöffnete Hose, deine bunten Shorts, in die ich in der Nacht meine Hand hineinführte. Ich sehe mich zum ersten Mal nicht im Spiegel, sondern auf meinem Bett liegend, immer mehr Blut aus der Wunde sich ergießend. Ich sehe, wie das Messer aus deiner Hand gleitet und langsam zu Boden taumelt. Das Messer, das du mir vor wenigen Augenblicken überraschend in den Brustkorb gehauen hast. Ein kurzer, stechender Schmerz. Ich sehe, wie du deine Hose zuknöpfst, nach deiner Jacke greifst und wie du zur Tür hinaus rennst, die Treppen hinunter zur Straße hinaus. Ich höre die Kirchturmuhr schlagen und höre sie nicht. Es ist Sonntagmorgen um acht. Niemand ist auf der Straße, auf der du alleine entlang rennst und keuchst. Warum rennst du so? Rennst du vor dir selber weg, Jochen? Auf einmal vergeht keine Zeit mehr. Ich sehe mich zum ersten Mal nicht im Spiegel, sondern von oben herab auf dem Bett liegend. Ich sehe, wie mein Nachbar mein Zimmer betritt, wie er an meinem Körper rüttelt, die blutendende Wunde hektisch mit einem dreckigen Geschirrtuch zu stillen versucht. Ich sehe das Blaulicht, den Krankenwagen vor der Haustür, die Sanitäter die Treppe hinaufeilen. Ich spüre nicht mehr, wie der Notarzt mir mit seinen Händen auf meiner Brust die Rippen bricht. Wie eine metallische Säge meinen Brustkorb öffnet, wie eine Hand im weißen Plastikhandschuh mein Herz umfasst. Ich sehe die Schweißperlen auf der Stirn des Arztes, sein unrasiertes Gesicht. Ich spüre die Hand, die mein Herz massiert, und spüre sie nicht.
Alpinweiß
Es ist Nachmittag im Frühjahr 1995, als ich aus dem Bus steige, irgendwo im alpinen Nirwana. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, studiere Germanistik und Philosophie in Bonn und stehe kurz vor dem Abschluss. Warum ich mich an jenem Apriltag im Hochgebirge in der Schweiz befinde, ist eine längere Geschichte. Die Sonne scheint und eine für diese Jahreszeit ungewöhnlich milde, beinahe frühlingshafte Brise weht die Gipfel herab. Mein kleiner Rucksack hängt über meiner rechten Schulter, in der Hand halte ich einen Blumenstrauß. Weiße, in Cellophan eingeschweißte Blumen aus einem Automaten vom Bahnhof. Ich schiebe meine Sonnenbrille hinauf in die ungekämmten Haare und blicke mich um. Auf der anderen Straßenseite liegt sie, die Eugen-Bleuler-Fachklinik. Ein moderner, dreistöckiger Bau aus Beton und Glas, eingerahmt von einem imposanten Alpenpanorama mit schneebedeckten Bergen. Meine Schritte knirschen unter dem Kiesweg. Links neben dem nüchternen Gebäude liegt inmitten einer Parklandschaft ein kleiner See. Quasi postmoderner Zauberberg.
Mit einem Schreiben in der Hand betrete ich die Klinik und melde mich am Empfang. Eine kleine, freundliche Person greift zum Telefonhörer, spricht mit der Stationsleitung. Dann schickt sie mich in den ersten Stock. Zimmer 105. Hier ist es also. Ich atme tief durch und klopfe an die Tür. Stille. Kein »Herein!« oder so. Ich klopfe abermals. Ohne eine Antwort erhalten zu haben, drücke ich die Klinke herunter und betrete das Zimmer. Die Jalousien sind halb geschlossen, und im Schatten erkenne ich die Silhouette von Julian, regungslos auf einem weißen Plastikstuhl sitzend. Seine kalten, matten Augen starren glanzlos ins Leere. Ich gehe einige Schritte auf ihn zu.
»Hi Julian.« Ich versuche, lässig zu klingen wie immer, als sei nichts geschehen. Als wüsste ich nicht, wieso er in der Psychiatrie gelandet ist, als wäre ich nicht Zeuge gewesen jener unseligen Ereignisse. Als hätten wir es nicht erahnen können, dass diese Exzesse einmal ihren Tribut einfordern könnten.
Unentschlossen verharre ich auf der Stelle. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, genauso wie ich nicht weiß, wohin mit den Blumen. Mein Blick schweift durch das karg ausgestattete Klinikzimmer. Diverse bunte Pillen und Psychopharmaka liegen geordnet in weißen Plastikschälchen auf dem Nachttisch. An der Seite befindet sich ein rollbarer Metallständer, an dem ein gefüllter Infusionsbeutel inklusive Zufuhrschlauch baumelt. Auf dem Tisch mit den zwei Stühlen stehen eine Kanne Kaffee, eine Wasserflasche sowie Plastikbecher. Sachte lege ich die Blumen aufs Bett, daneben meine schwarze Lederjacke und den Rucksack. Anschließend begebe ich mich ins angrenzende Badezimmer. Eine fensterlose, weiß gekachelte Nasszelle mit grellem Neonlicht. Nachdem ich gepinkelt habe, betrachte ich mich skeptisch im Spiegel über dem Waschbecken. Mit Leitungswasser versuche ich mein wuscheliges Haar, das sich nie entscheiden kann, in welche Richtung es wachsen will, zu bändigen. Wahrscheinlich wird Julians Mutter bald auftauchen, und da will ich einen guten Eindruck machen. Mit geglätteten Haaren kehre ich zurück ins Zimmer und setzte ich mich an den Tisch.
»Ich nehme mir mal von dem Kaffee, okay?«
Umgehend greife ich nach der Kanne und den Bechern.
»Gut.«
Er hat etwas gesagt? Irritiert halte ich inne. Oder hat er nicht? Julian sitzt nach wie vor apathisch auf seinem Stuhl. Wahrscheinlich habe ich es mir nur eingebildet. Der blaue Bademantel bedeckt seinen Körper nur unzureichend. Er hat stark an Gewicht verloren, sodass man jede einzelne Rippe sehen kann. Sein blasser, kaum behaarter Oberkörper ist mit mikroskopischen Schweißperlen übersät. Schnell und gleichmäßig hebt und senkt sich die Brust im Atemtempo. Mit einem weißen Plastiklöffel verrühre ich die Dosenmilch in meinem Kaffee. Eine Regung. Julian kratzt sich am Unterarm, eben an jener Stelle, an der sich eine Kanüle, ein intravenöser Zugang befindet. Dann wieder Stillstand wie zuvor.
Während ich einen Schluck vom heißen Kaffee nehme, verspüre ich die Lust auf eine Zigarette. Zu einem Kaffee gehört automatisch eine Zigarette, alte Studentenangewohnheit. Sachte stelle ich den Becher ab, krame in meiner Jackentasche nach Kippen und Feuerzeug und verlasse das Zimmer.
Auf dem Flur kommt mir eilig eine Schwester entgegengelaufen. Es riecht nach Chlor und antiseptischen Putzmitteln. Sie schaut mich entsetzt an und wedelt mit ihrem Zeigefinger in der Luft.
»Hier wird aber nöd geraucht, jungä Maa!«
Deutschland einig Nuttenland
Es ist der 2. Oktober 1990, kurz vor Mitternacht. Gleich deutsche Einheit, historischer Moment. Bonn steht kopf. Überall sind Menschen. Auf den Straßen, in den Kneipen, an den Bierständen. Von überall ertönt Lärm, Lärm und laute Musik. Da Drogen meinen Organismus destabilisieren, mein Gleichgewicht angreifen, muss ich mich an der Theke der Frittenbude festhalten, damit ich nicht umkippe. Um Mitternacht läuten von überall her Kirchenglocken. Über meinem Kopf explodiert ein buntes Feuerwerk. Zisch, Bang, Bumm. Christbäume stürzen vom Himmel. Endlich – nach zwanzig Minuten des Wartens bekomme ich von der orientalischen Bedienung im verschmutzten weißen Kittel meine Portion Pommes und meine grüne Dose Becks. Es dauert eine Weile, bis ich das Kleingeld zum Bezahlen aus meiner Hosentasche hervorgekramt habe. Julian nimmt sich derweil eine heiße Fritte und stippt sie in die Mayonnaise.
»Komm Tristan, wir gehen Billard spielen. Jetzt muss ein Tisch frei sein.«
Beim Öffnen der Bierdose spritzt eine Fontäne heraus, sodass ich sofort einen großen Schluck nehmen muss.
»Shit.«
Meine Hose ist bespritzt. Egal.
»Okay, lass gehn.«
Wir laufen eine schmale Gasse entlang hinter dem 20-stöckigen Stadthaus in Richtung Bermudadreieck. So heißt eine Ecke in der Bonner Südstadt mit ihren vielen Punk- und Anarcho-Bars wie dem Bla und dem Namenlos. Während meine Schritte immer etwas Dumpfes, Erdverbundenes an sich haben, vermittelt Julians federnder Gang stets eine Leichtigkeit, so als scheine er eher über den Dingen zu schweben als zu gehen.
Insgeheim bewundere ich seine Eleganz, seine Mühelosigkeit im Umgang mit den Dingen und den Menschen. Julian vermittelt auf Anhieb den Eindruck, das Leben ohne Anstrengung zu bewältigen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir Freundschaft geschlossen haben, so unterschiedlich wie wir sind. In einer überfüllten Veranstaltung vor Semesterbeginn saß er plötzlich neben mir. Nach Ende fragte er mich spontan:
»Lust auf’n Bier? Ich lad dich ein.«
Ich habe nichts geantwortet. Weil Nichtssagen das Nonplusultra der negativen Kommunikation. Julian blickte mich schräg von der Seite an.
»Leicht sozial behindert, kann das sein?«
Dann lachte er mich an und zupfte mich am Ärmel.
»Los, gehen wir!«
Im üblicherweise voll gerammelten Billardkeller ist kaum etwas los. Die Billardtische stehen trostlos nebeneinander wie abgestellte Limousinen in einer Tiefgarage. Genauer gesagt ist dort überhaupt nichts los. Allein Philipp sitzt an seinem angestammten Platz hinter seiner Theke und blättert lustlos in einer Illustrierten. Als wir zur Tür hineinkommen, setzt er seine Lesebrille ab und strahlt mit seinem Pfannkuchengesicht.
Julian grüßt mit zwei Fingern an der Stirn.
»Hallo Philipp, ich nehme an, wir können uns einen Tisch aussuchen.«
Während ich die letzten fettigen Fritten in mich hineinstopfe, baut Julian in lässiger Manier die bunten Kugeln auf. Philipp, ein fünfzigjähriger Tscheche, der seit Jahren im Billardkeller arbeitet, bringt uns zwei Bier.
»Hallo Julian, wie gehts? Wo hast du die Mädchen gelassen?«
Philipp stellt das Bier ab und knufft Julian mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Dir fehlt es an allem Philipp, an Mädchen, an Geld und vor allem an neuen Sprüchen.«
Mit einem gezielten Stoß versenkt er die erste Kugel im Loch. Zufrieden blickt er auf, greift nach der Kreide und fügt an:
»Wenn man Erfolg haben will, muss man aus seinem Herz eine Wüste machen.«
»Und du machst aus meinem Verstand eine Wüste mit deinen schlauen Sprüchen«, so Philipp lachend und kehrt zurück zu seinem angestammten Platz hinter der Theke.
Als sich der Tscheche kürzlich aufgrund dubioser Transaktionen in Geldnot befand, hat ihm Julian ohne zu zögern sechstausend Mark geliehen. Für mich eine vollkommen unverständliche Sache. Wie kann man jemandem, den man kaum kennt und der zudem in undurchsichtigen Geschäften verwickelt ist, soviel Geld leihen?
Damals kannte ich Julian noch nicht lange. Wir hatten beide gerade mit dem Philosophiestudium angefangen und besuchten gemeinsam die üblichen Einführungsveranstaltungen für Erstsemester.
Nachts nach drei. Deutschland scheint wiedervereinigt. Schön. Oder auch nicht. Egal. Tief im Westen der Bundesrepublik waren der Mauerfall und die Wiedervereinigung nur ein mediales Ereignis, eine tägliche TV Show mit den immer selben Akteuren, ohne konkrete Auswirkungen auf unser junges Leben in der Provinz. Im Alltag hat sich für uns nichts Wesentliches geändert. Nach wie vor dieselbe Währung, dieselbe Musik, dieselbe Monotonie. Ich trotte Julian hinterher durch die Fußgängerzone der Bundesstadt Bonn. Fremde Körper ziehen wie Fischschwärme dicht an mir vorüber. Von allen Ecken her riecht es nach Bratwürsten und Zuckerwatte, nach Bier und Kotze. Julian betritt einen Hauseingang. Über der Eingangstür leuchtet in pinken Neonfarben der Schriftzug »Chez-Nous«. Ohne zu zögern betätigt er einen goldenen Klingelknopf. Hinter einer Glasvitrine sind diverse Fotos von Nackttänzerinnen ausgestellt, wie sie sich um Metallstangen winden. Komischer Club. Ich glaube, ich habe Julian noch nicht gesagt, dass ich schwul bin.
Ein hagerer Typ älteren Datums in schäbigem Anzug, mit schmierig zurückgekämmten Haaren und einem dünnen Schnurrbart öffnet die Tür. Er mustert uns kurz und signalisiert mit einer Kopfbewegung, dass wir rein dürfen. Julian erzählt lautstark irgendetwas. Der kleine Club, kaum größer als ein Wohnzimmer, macht einen heruntergekommenen, nuttigen Eindruck. Die Bar ist in schummrig rotes Licht getaucht, aus den Boxen erklingt leise, belanglose Instrumentalmusik, wie man sie von Pornos her kennt. Kaum haben wir uns auf einer roten Plüschgarnitur niedergelassen, setzen sich umgehend zwei leicht bekleidete Osteuropäerinnen zu uns. Das bisschen Stoff, das sie bekleidet, ist durchsichtig, der Rest ist weibliche Materie. Ich starre konsterniert auf mein restlos überteuertes Pils und nippe kurz dran. Die Nutten schauen lasziv und hauchen Julian ins Ohr, dass sie gerne Piccolo trinken. Kein Problem, so Julian, auch nicht, dass ein Piccolo hundertzwanzig Mark kostet.
Nachdem die Nutten mit uns angestoßen haben, kippen sie diskret den Rest des 120-DM-Schampus hinter das Sofa. Dort befindet sich eine Abflussvorrichtung, ähnlich wie für Regenwasser bei Garageneinfahrten. Ist das die Pissrinne des Kapitalismus? Sind das Nutten bei der Arbeit?
»Dein Frrreund ist aberrr nicht sehrrr gesprrrächig«, sagt die Nutte, die sich Liane nennt.
Julian antwortet irgendetwas. Ich glaube, sie reden über mich. Aber nur kurz. Dann fummelt Julian an den Titten von Liane herum. Ich rauche stumm eine Zigarette. Das Mädel zu meiner Linken lächelt immerzu. Ich lächle zurück. Dämlich. Mir ist schlecht von dem vielen Alkohol.
Draußen. Vor einem Bankautomaten am Friedensplatz. Julian schiebt seine EC-Karte in den Schlitz und gibt seine Geheimnummer ein.
»Nicht ganz helle, die Mädels im Chez-Nous, was? Aber wir fahren jetzt zur Immenburg, da kannste dir eine aussuchen. Die haben echt geile Nutten dort, für jeden Geschmack etwas dabei. Geld spielt keine Rolle, verstanden? Ich hab’n Dispo bis hinterm Saturn.«
Ich fasele meinerseits irgendetwas von klarstellen, dass mir die Immenburg im Prinzip egal sei, dass ich nicht auf Frauen stünde.
Julian meint, er habe sich so etwas schon gedacht. Das sei für ihn kein Problem, aber er stehe absolut unter Strom und müsse unbedingt ficken. Er nimmt mich in den Arm, küsst mich auf die Wange und besteigt ein Taxi.
Ich gehe zum Busbahnhof. N 3 - Nachtlinie nach Tannenbusch. Im Bus hinten. Mir ist ziemlich übel und ich muss mich übergeben. Der Bus hält, obwohl draußen gar keine Halte ist. Merkwürdig. Verschwommen sehe ich zwei Busfahrer auf mich zuschreiten. Sie packen mich ruppig an den Schultern und setzen mich kurzerhand vor die Tür. Dann fahren die zwei Busse davon. Ich bleibe allein zurück im nächtlichen Abgasdunst. Über mir leuchten die Sterne. Ziemlich viele Sterne heute.
Wittgenstein
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« ist auf dem Hinweisschild neben dem Gemälde zu lesen. Ein großformatiges Ölbild in Erdtönen mit verlorenen, schattenwerfenden Gestalten. Ich rätsle einen Moment, was das Zitat von Wittgenstein mit dem Kunstwerk zu tun haben könnte. Neben dem Bild klebt ein roter Punkt.
Julians Vater, heute Professor an einer Fachklinik, füllt im Nebenzimmer der Galerie einen blauen EC-Scheck aus. Bislang kannte ich seinen Vater nur von einigen vergilbten Buntfotos her, die mir Julian einmal stolz gezeigt hatte. Wilder Bart, Lederweste, Schlaghosen. Die Aufnahmen waren während irgendwelcher 1968er Demonstrationen in Berlin entstanden. Also Dekaden her, noch vor unserer Zeit. Mitte der Siebzigerjahre hatte der Professor dann Pflastersteine nicht mehr geworfen, sondern gekauft. Handsignierte Steine von Joseph Beuys. Ein ziemlich lukratives Geschäft mit utopischer Rendite, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte. Die luftigen Ideale der 1968er haben sich für den Professor ziemlich schnell materialisiert.
Von dem Fotorebellen von einst ist nicht viel geblieben. Heute erinnert nix mehr an Hippie, sondern alles an Professor. Schütteres Haar, Lesebrille, edler Anzug, halt Establishment. Aber das SPD-Parteibuch von damals hat er behalten.