Über das Buch

Almas Hoffnung, in der Ehe mit Komponisten Gustav Mahler ihre Leidenschaft für die Musik mit dem Wunsch nach einer Familie zu vereinen, ist gescheitert. Auf Mahlers Wunsch musste sie das Komponieren einstellen. Als sie den jungen Architekten Walter Gropius kennenlernt, ist es Liebe auf den ersten Blick. Bei ihm fühlt Alma sich als Frau und Künstlerin gesehen. Doch Mahler will sie nicht freigeben, und erst lange nach seinem Tod gelingt es den beiden, zueinanderfinden und zu heiraten. Ihre Liebe ist so leidenschaftlich wie inspirierend, und schon bald schätzt Gropius seine Frau als brillante Muse bei seiner Entwicklung zu einem der großen Architekten der Moderne. Aber dann muss er zurück an die Front, und die Jahre der Trennung geraten zur schweren Bürde für ihre Ehe. Denn die Grausamkeiten des Krieges machen einen anderen aus ihm, während Alma immer mehr mit ihrer Einsamkeit ringt … 

Mit Franz Werfel, Oskar Kokoschka, Arnold Schönberg u. v. a. prägenden Künstlern der Moderne

Über Thérèse Lambert

Hinter Thérèse Lambert verbirgt sich die Autorin Ursula Hahnenberg, die in München aufgewachsen ist und mit ihrer Familie in Berlin lebt. Als Schwester von vier Brüdern und spätere Studentin der Forstwissenschaft hat sie früh gelernt, unter Männern ihre Frau zu stehen. Nicht zuletzt deshalb gilt beim Schreiben ihre besondere Leidenschaft starken Frauen wie Alma Mahler oder Lou Andreas-Salomé, über die von ihr der Roman »Die Rebellin« im Aufbau Taschenbuch vorliegt.

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Thérèse Lambert

Alma und Gropius – Die unerhörte Leichtigkeit der Liebe

Roman

Ich bin zwei: Ich weiß es.

Nur das Eine – welche ist die Wahre? Werde ich nicht ihn und mich unglücklich machen, wenn ich lüge? – Und lüge ich? Diese(s) tiefe Gefühl der Seligkeit, wenn er mich beglückt ansieht. Auch Lüge? Nein – nein.

Ich muss die Andre bannen. Die, die bis jetzt geherrscht hat – sie muss hinab. Ich muss alles thun, um Mensch zu werden. Alles – mit mir geschehen lassen.

Alma Spindler, Tagebuch,
16. Januar 1902

Kapitel 1

Tobelbad in der Steiermark, 2. Juni 1910

Da war sie wieder, die Melodie in ihrem Kopf. Alma schloss die Augen und versuchte, alle Geräusche auszublenden, das tiefe Atmen Gustavs neben sich, den das leise Rumpeln der Kutsche hatte einschlafen lassen. Ihr gegenüber saß Betty, die Gouvernante, und erzählte Anna, Almas und Gustavs sechsjähriger Tochter, mit leiser Stimme ein Märchen. Auch das blendete Alma aus, gab sich den Tönen hin, die wie Glühwürmchen an einem lauen Sommerabend das Dunkel in ihrem Inneren erhellten. Da di di da …

Die Viertelnoten wurden von ein paar schnellen Achteln verjagt, die wiederum einen Tanz aufführten, schneller und schneller im Kreis herum, bis sich der Reigen der Noten in einem Jauchzer Bahn brechen wollte. Doch Alma presste die Lippen fest aufeinander. Seit neun Jahren war sie mit dem Wiener Operndirektor a. D. Gustav Mahler verheiratet, seit neun Jahren mussten all die Melodien und aufmüpfigen Noten in ihrem Kopf verwahrt bleiben, die meiste Zeit über zumindest. Gustav hielt nichts davon, dass sie komponierte, und so verschloss sie, seitdem sie geheiratet hatten, die Musik in ihrem Herzen. Und über die Jahre hatte die Melodie in ihr zu verstummen begonnen.

Nur manchmal, wenn Almas Gedanken abschweiften, der immerwährende Schmerz über den Tod ihrer älteren Tochter Maria vor drei Jahren in den Hintergrund trat; wenn sie die Sprachlosigkeit und die Schuldgefühle, die seitdem ihr Verhältnis zu Gustav beherrschten, zurückdrängen konnte; wenn sie nicht damit beschäftigt war, Gustav zu unterstützen, Partituren zu kopieren, die verschiedenen Stimmen aufzuschreiben und seine Musik in ihrem Kopf zu wiegen, zu prüfen, um ihm zu zeigen, wie er vielleicht noch besser ausdrücken könnte, was er mit dem Stück sagen wollte; dann, ja dann, wenn sie nicht aufpasste, brach die Melodie in ihr hervor. Alma war in diesen Momenten erleichtert und besorgt zugleich. Erleichtert, weil dieser Teil ihrer selbst entgegen allen Befürchtungen nicht ganz verschwunden war, obwohl er brachlag wie ein unbestellter Acker. Und besorgt, sehr besorgt, weil sie nicht wusste, wie lange sie das Brodeln in ihrem Innern würde beherrschen können. Sie liebte Gustav, noch immer, auch wenn das Leben an seiner Seite nicht einfach war. Und er liebte sie, wenigstens den Teil von ihr, den sie ihm zeigte.

Eine halbe Stunde später hatten sie die Kutschfahrt vom Grazer Bahnhof durch den Wald zum Sanatorium in dem Örtchen Tobelbad geschafft und kletterten aus dem Wagen. Das Gepäck wurde gerade abgeladen, da trat ein älterer Herr auf sie zu. Gustav schüttelte dem Leiter des Hauses, der sich als Doktor Lahmann vorstellte, die Hand und inspizierte anschließend die Zimmer, die Alma mit Anna und Betty beziehen würde. Dann nahmen sie zu viert ein frühes Abendessen im Speisesaal ein, bevor Gustav sich auf den Weg zurück nach Wien machte.

»Vergiss nicht, Almschi, mir jeden Tag zu schreiben«, sagte er zum Abschied und küsste Alma auf die Wange, dann drückte er seine Tochter an sich.

»Das werde ich natürlich tun. Und du, denk daran, regelmäßig zu essen und trinken. Beim Komponieren vergisst du doch allzu oft die Zeit.« Alma küsste ihren Mann auf die Wange und winkte mit Anna der Kutsche nach, bis sie um die Ecke in den Wald verschwunden war. Dann erlaubte sie sich einen tiefen Atemzug und ein leichtes Lächeln. Endlich.

Sie beugte sich zu Anna und hob das Mädchen in ihre Arme. Alma drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und roch an der warmen, leicht verschwitzten Kinderhaut. So zart, so frisch, so unschuldig.

»Komm, mein Schatz. Ich bringe dich zu Betty, die liest dir noch eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Es ist schon spät.« Alma drehte sich um, und da stand Betty schon.

Alma übergab ihr das Kind, küsste es und wünschte eine gute Nacht, woraufhin Betty mit der Kleinen verschwand. Und Alma beschloss, einen Spaziergang durch den Kurpark zu machen und dieses kleine bisschen Freiheit zu genießen, das ihr die laue Abendluft verhieß, bevor auch sie sich in ihr Zimmer zurückzog. Die Reise hatte sie erschöpft, ebenso wie die dauernde Anspannung in Gustavs Nähe sie erschöpfte. Immer öfter ergriff sie in letzter Zeit eine bleierne Müdigkeit, die selbst durch viel Schlaf und Ruhe nicht weniger wurde.

Am nächsten Morgen fand Alma sich wie bestellt vor dem Frühstück bei Doktor Lahmann ein. Der Kurarzt untersuchte sie und bestätigte ihr dann, was sie schon wusste, nämlich, dass ihre Nerven angeschlagen seien und sie dringend Erholung brauche. Von was oder wem Alma Erholung brauche, fragte er nicht, und sie sagte nichts dazu. Ihr Alltag mit Gustav, der überaus strikte Vorstellungen hatte, wie seine Tage abzulaufen hatten, ging den Mann nichts an. Gustav bestand nicht nur auf regelmäßigen Essenszeiten, sie mussten tatsächlich ganz exakt eingehalten werden. Er stand jeden Tag zur gleichen Zeit auf, ging jeden Tag zur gleichen Zeit an die Arbeit, und auch seine Planungen für die nächsten Wochen, Monate und Jahre waren so präzise. Acht Monate im Jahr verbrachten sie in New York, wo Gustav die Philharmoniker dirigierte. Zwei Monate bereitete er sich auf die neue Spielzeit vor, und zwei Monate lang komponierte er. Dabei durfte er nicht gestört werden; dafür zu sorgen war Almas Aufgabe. Einmal hatte er sie gerufen, weil sie eine Fliege vertreiben sollte, die ihm um den Kopf schwirrte. Alma wusste, dass dieses Gerüst, mit dem Gustav seine Zeit einteilte, ihm Sicherheit gab und ihn erst zu seiner Leistung befähigte. Für sie jedoch waren die durchstrukturierten Tage ein Korsett, das immer enger geschnürt wurde, ihr die Luft abschnürte. Ein Gefängnis, aus dem sie nicht herauskonnte, das sie lächelnd zu ertragen hatte. Das sie jedoch müde machte, so müde, dass sie manchmal gar nicht aufstehen konnte. Es kam aber nicht in Frage, dass sie ganze Tage im Bett verbrachte, also musste sie wohl oder übel einen Weg finden, ihre Gesundheit so weit wiederherzustellen, dass sie sich ihren Aufgaben stellen konnte. Wenigstens den meisten.

»Meine liebe Frau Operndirektor«, sagte Lahmann.

Er musste eigentlich mitbekommen haben, dass Gustav die Stelle als Direktor der Wiener Hofoper schon vor drei Jahren hatte aufgeben müssen und Chefdirigent der New Yorker Symphoniker treffender gewesen wäre, aber Alma verbot es sich, die Augen zu verdrehen. Natürlich war ihr der Ruhm, den Gustav nicht nur in Wien erlangt hatte, nicht unrecht, sie sonnte sich bisweilen gern darin, immerhin erhellte er auch ihre Tage ein wenig.

»Ich möchte Ihnen gern unser volles Programm empfehlen. Licht- und Dampfbad im Haus, natürlich unsere berühmte Wasserkur und Gymnastik an der frischen Luft. Überhaupt sollten Sie sich so viel wie möglich an der gesunden Waldluft aufhalten, so etwas bekommt man in Wien nicht, versichere ich Ihnen. Ergänzt wird alles, nicht zu vergessen, von unserer ausgezeichneten Küche. Ich lasse Bescheid geben, dass Ihnen unser Nervenheildiätplan übergeben wird. Und …«, kurz zögerte der Arzt, dann fuhr er fort: »Verzeihen Sie meine direkten Worte. Aber ich glaube, dass Ihnen alles guttun wird, was Abwechslung vom Alltag bietet.« Er lächelte sie an. »Wie etwa neue Begegnungen. Natürlich kann ich Ihnen das nicht empfehlen, aber manche unserer Gäste suchen sich einen Kurschatten.«

Hatte sie recht gehört? Einen Kurschatten? Sah man ihr die Einsamkeit so sehr an?

Alma setzte ihr charmantestes Lächeln auf. »Vielen Dank, Herr Doktor, die Anwendungen werde ich gern in Anspruch nehmen. Und über alles andere … nachdenken. Gibt es auch eine besondere Ernährungsempfehlung für meine Tochter? Sie wird die Mahlzeiten natürlich mit ihrer Gouvernante in unseren Räumen einnehmen.«

»Lassen Sie mich Ihnen versichern, gnädige Frau, dass auch für das Fräulein Tochter gesorgt sein wird.« Er übergab ihr ein Blatt Papier, auf dem die Termine für ihre Anwendungen an den nächsten drei Tagen vermerkt waren. »Ich hoffe, der gnädigen Frau ist es so recht?«

Alma studierte die Termine und nickte.

Offenbar war Doktor Lahmann mit dieser Antwort zufrieden, denn er grinste breit. Bevor er jedoch weitersprechen konnte, klopfte es an der Tür, die noch im gleichen Moment aufgerissen wurde.

Alma, die schon aufgestanden war und gerade ihre Handschuhe überstreifen wollte, drehte sich um, um zu sehen, wer da mit so einer Energie in den Raum gepoltert kam.

Es war ein Mann. Ein sehr gut aussehender Mann. Offenbar ebenfalls ein Kurgast, der nun überrascht stehen blieb und sie anstarrte.

Alma verlagerte das Gewicht auf das andere Bein, knickte ein wenig in der Hüfte ein, was, wie sie wusste, ihre Figur zur Geltung brachte. Das alles geschah ganz automatisch, Alma war sich dessen kaum bewusst; als sie sich selbst dabei ertappte, hätte sie fast gelächelt. Eine Reaktion aus der Zeit, als sie fast täglich die talentiertesten Männer der Wiener Künstlerszene getroffen hatte und frei gewesen war, mit ihnen das Spiel der Verführung zu spielen. Sie richtete sich wieder auf.

»Oh, verzeihen Sie mir mein Eindringen, gnädige Frau, Doktor Lahmann.« Der Mann verbeugte sich zackig, fast wie ein Soldat, obwohl er einen ganz normalen hellen Sommeranzug trug. Einen sehr gut sitzenden, modischen Sommeranzug, wie Alma feststellte.

Doktor Lahmann erhob sich ebenfalls und trat lächelnd einen Schritt auf den Mann zu. »Frau Operndirektor, darf ich Ihnen den Herrn Architekten Walter Gropius vorstellen? Herr Gropius, das ist Alma Mahler.«

Gropius verbeugte sich noch einmal, aber nicht so tief, der Blick aus seinen hellblauen Augen blieb auf Alma ruhen, die sich plötzlich gemustert fühlte. »Bitte entschuldigen Sie meine ungeduldige Art, gnädige Frau.« Er lächelte, was ihn noch attraktiver wirken ließ.

»Ich glaube, wir waren hier fertig.« Alma wandte sich an Doktor Lahmann. »Ich möchte die Herren von nichts abhalten.«

Lahmann beeilte sich zu beteuern: »Aber das tun Sie natürlich nicht, gnädige Frau!« Er sah sie aufmerksam an. »Aber erlauben Sie mir, Ihnen noch einen letzten Rat mit in den heutigen Tag zu geben: Amüsieren Sie sich. Suchen Sie sich nette Gesellschaft und genießen Sie das Leben, Frau Mahler.«

Alma nickte kurz, reichte dem Doktor die Hand, die er nahm, und während sie wartete, dass er seinen Handkuss angedeutet hatte, fragte sie sich, ob dieser Herr Gropius gemeint war mit netter Gesellschaft. Sie merkte, dass der Doktor zwischen ihr und Gropius hin und her blickte. Doch so klein, wie Tobelbad war, mit nicht mehr als fünfhundert Einwohnern und dem zwar brandmodernen, aber nicht eben überfüllten Kurhotel, wäre es unvermeidlich, dem Herrn über den Weg zu laufen.

Alma neigte huldvoll den Kopf, würdigte Gropius jedoch keines Blicks auf ihrem Weg zur Tür. Erst als sie die erreicht hatte, drehte sie sich um und nahm zur Kenntnis, dass er ihr hinterherschaute.

Sie sah ihm in die Augen, von denen sie sich seltsam gefangen fühlte, dann senkte sie leicht den Kopf zum Gruß. »Meine Herren.«

Damit verließ Alma den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sie machte hoch erhobenen Hauptes ein paar Schritte den Gang hinunter, dann blieb sie mit klopfendem Herzen stehen und presste die Wange, die zu glühen schien, an das Fenster. Draußen öffnete sich der Blick in den Park, einige wenige Beete und Bäume und Blumen, dahinter begann der Wald. Tief, dunkel und urtümlich.

Kapitel 2

Tobelbad, 3. Juni 1910

Als Walter in sein Zimmer zurückkehrte, in der Hand den Plan mit den Anwendungen, die für die nächste Woche vorgesehen waren, kam ihm diese Frau in den Sinn, die er bei Doktor Lahmann getroffen hatte. Alma.

Der Begeisterung nach, die Lahmann bei dem Abgang der Dame gezeigt hatte, lag zumindest der Doktor dieser Schönheit zu Füßen. Der Frau Operndirektor Mahler. Walter hatte das Gefühl, dass er diesen Namen schon gehört haben müsste. Opern waren nicht sein Metier. Doch diese Frau … ihr Blick, ihr Lächeln hatten ihm das Gefühl gegeben, als könnte sie in sein Inneres schauen.

Unsinn. Walter schüttelte den Gedanken ab. Er war nicht ins Sanatorium gefahren, um sich mit einer Frau Operndirektor zu beschäftigen, am Ende auch noch mit dem Herrn Operndirektor. Vor seinem geistigen Auge erschien ein beleibter kleiner Mann mit riesigem Schnauzer, der im Frack und mit Taktstock vor einer kleinen Ansammlung Geiger stand und wild hin und her fuchtelte. Dann schob sich das Bild einer geheimnisvoll lächelnden Dame davor, die ihm zuzwinkerte.

Walter schnaubte leise und schüttelte den Kopf, um das Bild in seinem Kopf loszuwerden. Erholung, er suchte Erholung, damit er nach der Kur wieder volle Leistung bringen konnte, und nichts anderes. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Erst dieser unsägliche Streit mit Behrens. Zwei Jahre hatte er in dessen Architekturbüro gearbeitet, zwei Jahre, in denen er viel gelernt, doch auch viel geleistet hatte. Einerseits hatte er endlich die architektonische Praxis kennengelernt, die ihm beim Studieren so weit weg erschienen war, weil es oft nur darum gegangen war, die Ideen des jeweiligen Professors möglichst exakt nachzuahmen. Was für Erfahrungen konnte man schon sammeln, wenn man Baupläne wie Vokabeln auswendig lernte? Das elendige Zeichnen nicht zu vergessen. Und er hatte bei Behrens gesehen, wie man Gebäude entwarf – wie man über das Alltägliche hinausdachte, gestaltete und Ideen umsetzte. Das war es, was er wollte. Konzepte entwickeln, Visionen umsetzen. Etwas Großes bewirken. Walter war kein Mann für Kleinigkeiten oder Nebensächlichkeiten.

Er war Behrens dankbar für die Zeit, die er bei ihm hatte verbringen dürfen. Dennoch regte sich noch immer der Unmut in ihm, wenn er an den Streit dachte, der schließlich dazu geführt hatte, dass Walter nun früher als geplant sein eigenes Architekturbüro gegründet hatte. Ausgerechnet bei einem Auftrag für Walters Freund und Gönner Karl Ernst Osthaus waren Bauschäden aufgetreten, Abplatzungen wegen Feuchtigkeit. Walter hatte den Verdacht, dass es möglicherweise an der Konstruktion lag; die Mauerrücksprünge, die Behrens geplant hatte, begünstigten den Eintritt von Wasser. Doch der hatte davon nichts wissen wollen, hatte vielmehr behauptet, Walter hätte seine Aufgabe als Bauleiter nicht ordentlich ausgeführt. Lächerlich. Aber Behrens war nicht davon abzubringen, so dass Walter sich Anfang März schließlich genötigt sah, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden. In der Konsequenz hatte Walter sich selbstständig gemacht mit seinem Atelier für Architektur und Design in Berlin, zwar früher, als er es eigentlich vorgehabt hatte, aber andererseits entsprach es durchaus seinem Plan, eigene Wege zu gehen. Er war Walter Gropius, er hatte nicht vor, in irgendeinem Büro irgendeines anderen Architekten zu versauern. Ihm war mehr bestimmt, das fühlte er. Die Büroräume, die er im Villenviertel Neubabelsberg angemietet hatte, waren seinen Ambitionen angemessen. Ein stolzes Lächeln schlich sich auf Walters Gesicht, als er daran dachte, denn er hatte schon bald die Aufträge einiger pommerscher Gutsbesitzer annehmen können. Zugegeben, die waren über verwandtschaftliche Beziehungen zustande gekommen, aber wer würde in ein paar Jahren noch danach fragen? Walter hatte noch im März Adolf Meyer engagiert, den er im Büro Behrens kennen- und schätzen gelernt hatte. Der Mann war Praktiker durch und durch, konnte zeichnen und hatte Erfahrung, unschätzbar für ein neu gegründetes Architekturatelier. Nachdem die ersten Aufträge nun beendet waren, stand natürlich die Frage an, wie Walter sich und sein Atelier weiterentwickeln wollte. Stillstand kam nicht in Frage, noch heute würde er einen Brief an Adolf Meyer aufsetzen und einige Ideen für ihr nächstes Projekt notieren. Er spürte den allgegenwärtigen Eifer in sich, der ihm nur zu oft Magenkrämpfe bescherte. Die ihn hierhergebracht hatten und zum Innehalten zwangen.Nun also Erholung, Urlaub, gesundes Essen, gesunde Luft und diese Anwendungen, die da auf dem Zettel standen. Walter warf einen Blick darauf und bemerkte, dass erst am nächsten Tag eine Massage anstand. Er hatte also den ganzen Tag zur freien Verfügung. Walter stand auf und durchmaß das Zimmer mit energischen Schritten. Hin zum Fenster und wieder zurück. Drei Schritte. Hier würde er sicher nicht den ganzen Tag verbringen. Er ging ans Fenster, draußen lachte die Sonne von einem stahlblauen Himmel. Er würde zunächst das Gelände des Sanatoriums erkunden, den kleinen Park und danach einen langen Spaziergang im Wald machen.

Kapitel 3

Tobelbad, 4. Juni 1910

Am nächsten Morgen wurde Alma davon geweckt, dass Anna in ihr Bett kletterte und sich an sie schmiegte. Sie hätte gern noch länger geschlafen, aber sie genoss das Glücksgefühl, den geliebten kleinen Kinderkörper so nah bei sich zu spüren. Sie stellte sich schlafend. Dann spürte sie, wie Anna mit ihren kleinen Fingern ihre Lippen nachzog.

»Du bist so schön, Mama«, flüsterte sie, und wie immer in diesen Momenten der Innigkeit mit ihrem Kind, meinte Alma, ihr quelle das Herz fast über vor Glück. Sie öffnete die Augen und sah Anna an. Das pausbäckige Gesicht, die grünen Kulleraugen. Wie konnte ein Mensch nur so große Augen haben. Alma strich ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist schön, kleine Anna. Du bist das schönste, süßeste Kind der Welt.« Alma gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann drückte sie das kleine Mädchen an sich und vergrub das Gesicht in ihren Haaren. Der beste Duft der Welt. Nach Geborgenheit und Glück. Eine Weile lagen sie so da, und Alma wäre vor Wohlbehagen fast wieder eingeschlafen. Dann begann Anna, sich zu bewegen, erst nur ein Bein, dann das andere, sie entwand sich Almas Umarmung.

»Erzählst du mir eine Geschichte, Mama?«

Alma seufzte und rückte ein wenig zur Seite, damit Anna sich neben sie legen konnte. »Eine Geschichte? Ich bin noch so müde. Erzähl du mir eine.«

Anna verzog den kleinen Mund zu einer Schnute. »Nein, du. Ich kann das nicht.«

»Natürlich kannst du das. Wenn du dich anstrengst, kannst du alles, was du willst. Das hat mein Papa immer zu mir gesagt, also stimmt es.« Sie zwinkerte Anna zu.

Im Gesicht ihrer Tochter zeichnete sich ein leiser Zweifel ab. Aber es stimmte. Alma hatte viel Zeit bei ihrem Vater im Atelier verbracht, er hatte Landschaftsbilder gemalt, für den Kaiser. Dort hatte sie ihm zusehen dürfen, ihm nahe sein. Und wenn er zu tun hatte, dann hatte sie mit einem Buch im Sessel gesessen und gelesen. Wenn sie aber eine Frage hatte zu dem, was sie gerade las, durfte sie ihn immer stören. Und wenn sie sich etwas nicht zugetraut hatte, hatte er ihr stets gesagt: »Natürlich kannst du es. Du bist meine Tochter.«

Er war gestorben, als sie gerade dreizehn Jahre alt war. Bis heute vermisste Alma ihn jeden Tag.

»Na gut«, sagte sie nun. »Leg dich auf den Rücken, mein Schatz, und schließe deine Augen.«

Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, auch wenn es ihr schwerzufallen schien, die Augen zu schließen. Alma legte die Hand auf den Bauch ihrer Tochter, dann hob sie sie wieder hoch und tippte mit zwei Fingern darauf. Mit tiefer Stimme sagte sie dazu: »Ich tapse, ich tapse, ich tanze hin und her. Wer bin ich?« Sie tippte weiter, bis Anna kicherte und die Augen öffnete. »Der Bär!«, rief sie.

Alma lächelte und zog ihre Hand weg. »Richtig.«

»Noch eins«, bettelte Anna. Eigentlich war sie schon zu groß für Fingerspiele, dennoch konnte sie nicht genug davon bekommen. Also ließ Alma dem Bären eine Katze, eine Schlange und einen Frosch folgen, und sie hätte einen ganzen Zoo über den Bauch ihrer Tochter krabbeln lassen, wenn Betty nicht hereingekommen wäre, um Anna zu waschen und anzuziehen.

Nachmittags spazierte Alma durch den Park des Kurhotels und versuchte, die anderen Spaziergänger nicht allzu auffällig zu mustern. Die Aussicht auf eine neue interessante Bekanntschaft, vor allem eine, die nur ihr gehörte und kein bisschen Gustav, weckte offenbar mehr Lebensgeister in ihr, als es Wechselbäder vermocht hätten. Den Vormittag hatte sie mit Anna und Betty verbracht, hatte die Koffer ausgepackt und die Räume richtig bezogen, je ein Schlafzimmer für sie, Anna und Betty sowie ein Salon, in dem neben einigen Sitzmöbeln und einem Tisch auch noch ein Klavier Platz fand. Sie hatte sich für ein paar Töne ans Instrument gesetzt und zur Freude ihrer Tochter Kinderlieder gespielt und dazu gesungen. Alma genoss die Zeit mit ihr so sehr, nur zu bald würde sie das Kind wieder in Bettys Obhut bei ihrer Mutter zurücklassen müssen, um mit Gustav nach New York zu reisen, wo er eine weitere Saison arbeiten würde. Später hatten sie zusammen eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen, Alma hatte den ersten Brief an Gustav verfasst, und nun kümmerte sich Betty um die Kleine.

Alma spazierte in der strahlenden Sonne die Wege entlang, spannte ihren Sonnenschirm auf und sah sich um. Die meisten Kurgäste erinnerten sie an die Menschen, die sie aus ihrem Umfeld kannte: Sie machten den Eindruck, gesund, wohlgenährt, vielleicht ein wenig ausgelaugt von ihrem Wohlstand und dem guten Leben zu sein. Manche ein bisschen blass, weil sie zu Hause in Wien, München oder Berlin selten bei Tageslicht das Haus verließen, so beschäftigt waren sie mit Schreiben, Malen, Komponieren oder Geldverdienen. Und dann genossen diese Leute, zu denen sie sich selbst ja auch zählen musste, die Natur in den wenigen abgezählten Wochen der Sommerfrische auf dem Land oder eben in einem Kurhotel. War es nicht unglaublich, wie gut die moderne Medizin Menschen helfen konnte, die augenscheinlich ziemlich gesund waren? Maria, Almas und Gustavs älterer Tochter, dagegen hatte sie nicht helfen können, als sie an Diphtherie gelitten hatte und schließlich vor drei Jahren daran gestorben war. Almas Herz zog sich beim Gedanken daran schmerzhaft zusammen. Und sie war auch nicht in der Lage, Frauen dazu zu verhelfen, selbst zu bestimmen, ob sie ein Kind empfangen wollten oder nicht. Nach Marias Tod war Alma noch einmal schwanger geworden, aber sie hatte es nicht über sich bringen können, Gustav ein drittes Kind zu gebären. Es wäre ihr vorgekommen, als sollte dieses Kind ein Ersatz für Maria sein, was nicht richtig gewesen wäre. Sondern falsch, ganz und gar falsch. Sie hatte dieses Kind nicht bekommen können. Nichts und niemand konnte Marias Verlust wettmachen. Niemals. So war ihr nur der Gang zur Engelmacherin geblieben. Alma wusste, dass sie von Glück reden konnte, eine Frau zu kennen, die ihr Metier verstand. Sie hatte schon von zu vielen Mädchen gehört, die ein bisschen Leichtsinn, eine kleine Verliebtheit, ein Turteln mit dem Leben bezahlt hatten. Apropos Leichtsinn … Wo war nur der Mann, der dafür gesorgt hatte, dass sie mehr oder weniger ziellos durch den Park schlenderte und gelangweilt den Sonnenschirm in den Händen drehte?

Die Sonne würde auf ihrem Weg über den Himmel bald die Wipfel der Tannen erreichen und dahinter verschwinden, und Alma überlegte, ob sie ins Sanatorium zurückkehren solle, als sie vom Waldweg eine Gestalt heraufkommen sah, die ihr Interesse erregte. Sie nahm auf einer der Bänke vor dem Speisesaal Platz, von der sie einen guten Überblick über den Park hatte. Lange musste sie nicht warten, um zu erkennen, dass sie sich nicht geirrt hatte. Gropius, hieß er nicht so? Er schien sie ebenfalls entdeckt zu haben, denn er kam mit langen kraftvollen Schritten auf sie zu. Er hielt sich sehr aufrecht, wieder bewunderte sie seine fast militärische Haltung. Im Gegensatz zu ihren Bekannten, die samt und sonders Künstler, Musiker, Maler oder Bildhauer und oft in ihre feinsinnigen inneren Konflikte verstrickt waren, strahlte dieser Mann eine geradezu animalische Lebenskraft aus. Sie war fasziniert. Der Sommeranzug, den er trug, saß wie angegossen, und er sah nicht aus, als hätte ihn der Weg, den er genommen haben musste, auch nur im Geringsten angestrengt. Dieser Blick, dieses schön geschnittene Gesicht.

Gropius hatte sie fast erreicht, und sie lächelte ihn an. Es war ein leichtes Lächeln, sie freute sich, ihn zu sehen, ja. Aber das musste er erstens nicht mitbekommen, und zweitens wusste Alma, was sich gehörte, was sich für eine Frau Operndirektor, genauer eine Frau Chefdirigentin, schickte.

Gropius blieb ein paar Schritte von ihr entfernt stehen.

»Ich grüße Sie, Frau Mahler«, sagte er, und seine Stimme klang so tief und männlich, dass sie Alma trotz des warmen Wetters einen kleinen Schauer über den Rücken jagte.

»Herr Gropius, nicht wahr?«, sagte Alma und neigte den Kopf zum Gruß. »Haben Sie die wilden Wälder der Steiermark im Sturm erobert?«

Gropius hob, offenbar amüsiert, eine Augenbraue. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht immer so stürmisch bin wie gestern, als ich Ihre Unterredung mit dem Doktor unterbrochen habe.«

»Das ist aber schade«, fiel Alma ein, es war über ihre Lippen gerutscht, bevor sie es verhindern konnte. Ihr Mundwerk hatte sie schon öfter in Schwierigkeiten gebracht. Sie lächelte verlegen.

Gropius schien ihre Antwort zu amüsieren, sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Es war eine Freude, diesen Mann anzusehen. Alma überlegte, wann sie zum letzten Mal die Bekanntschaft von jemandem gemacht hatte, der nicht in irgendeiner Weise mit Gustav zu tun hatte. Das musste vor ihrer Heirat gewesen sein, in einem anderen Leben. Damals, als praktisch jeder Mann in Wien ihr zu Füßen lag und sie die freie Wahl hatte, ob sie sich mit ihm unterhalten oder lieber am Klavier sitzen und ein neues Lied komponieren wollte.

»Darf ich mich setzen?« Gropius war einen Schritt auf sie zugekommen. Alma zögerte. Natürlich würde sie ja sagen, alles andere hätte einer Absage an ihn entsprochen, und er hätte sich während seines restlichen Aufenthalts von ihr ferngehalten. Vielleicht stellte er sich als unterhaltsamer Gesprächspartner heraus.

Sie nickte, erhob sich ein wenig und setzte sich an das eine Ende der Parkbank. Wenn Gropius sich nun ans andere Ende setzte, hatten sie gebührenden Abstand. Er tat es.

»Sind Sie schon lange hier?« Alma wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

»Gerade angekommen. Gestern, um genau zu sein. Und Sie?« Gropius schaffte es irgendwie, so zu klingen, als hätte er gerade gefragt, wovon sie heute Nacht geträumt habe.

»Ebenfalls gestern, aus Wien. Herr Gropius, Sie machen mich neugierig, erzählen Sie mir, was Sie tun?« In der nächsten halben Stunde erfuhr Alma, dass Gropius Architekt aus Berlin war, sich gerade selbstständig gemacht und große Pläne hatte. Tatsächlich kam er, als er von Design, von Struktur und neuartiger Bauweise sprach, regelrecht ins Schwärmen. Alma, die zwar auf vielen Gebieten bewandert war, sich aber ausgerechnet über Architektur bisher nicht im mindesten den Kopf zerbrochen hatte, hörte ihm aufmerksam zu. Und sie hatte vielleicht nicht viel Ahnung von Gropius’ Fachgebiet, aber sie spürte, dass da eine Verbindung war zu dem, was sie kannte und bewegte. Eine Ähnlichkeit in der Konzeption, der grundlegenden Struktur des Denkens, die die Architektur genauso zu betreffen schien wie die Malerei, die Bildhauerei oder eben die Komposition. Und sie spürte, dass in diesem Gropius ein Feuer brannte, das sie von Künstlern kannte, die es weit gebracht hatten, und dieses Potenzial, sich weiterzuentwickeln und Großes zu bewirken, war schon immer etwas gewesen, das sie anzog. Schließlich fragte Gropius nach ihrem Mann, und Alma erzählte ihm, dass dieser weiter nach Südtirol gefahren sei, um in der Abgeschiedenheit der Dolomiten in Ruhe an seiner zehnten Sinfonie zu arbeiten. Gropius fragte interessiert nach, ließ sich auch über New York berichten, eine Stadt, die ihn faszinierte, auch wenn er sie noch nicht hatte besuchen können. Und er sparte nicht an Bewunderung für Gustavs bisherige Erfolge, die ihm Alma aufzählte.

Nach einiger Zeit fragte er: »Wollen wir noch ein wenig durch den Park spazieren?«

Alma war sich zwar bewusst darüber, dass einigen der anderen Kurgäste ihre angeregte Unterhaltung aufgefallen sein musste, dennoch stimmte sie zu. Zu intensiv war dieses Gespräch gewesen, als dass sie es schon hätte beenden mögen. Gropius stand auf, bot ihr seinen Arm, den sie nahm. Und auch wenn sich in der letzten halben Stunde der Abstand zwischen ihr und diesem Mann auf der Parkbank verringert haben mochte, ließ es ihr Herz doch höherschlagen, ihm nun so nahe zu sein.

Sie flanierten durch den Garten, ein Stück darüber hinaus, liefen immer weiter, hierhin und dahin, plauderten, bis die Glocke aus dem Speisesaal sie zum Abendessen rief. Alma wunderte sich, dass die Zeit so schnell vergangen war, gerade eben hatte sie doch erst nach dem Mittagessen auf der Bank Platz genommen.

»Frau Mahler«, sagte Gropius in einem Tonfall, der ihr einen kleinen Schauer über den Rücken laufen ließ, »ich möchte Sie nicht von anderen Verpflichtungen abhalten. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir während des Essens das Vergnügen Ihrer Gesellschaft machen würden.«

Alma lachte in sich hinein, weil er sich so förmlich ausdrückte. »Ich würde mich freuen, unsere Unterhaltung fortzusetzen. Sie müssen mir unbedingt von Ihrer Reise nach Spanien berichten. Doch leider habe ich meiner kleinen Tochter versprochen, sie zu Bett zu bringen.« Alma sagte es mit Bedauern, und sie sah, dass es auch ihm schwerfiel, den Tag auf diese Weise zu beenden. Dann lächelte er sie an. »Würden Sie mir denn die Ehre erweisen, mich morgen auf einen Spaziergang zu begleiten?«

Alma nickte. »Sehr gern. Guten Abend, Herr Gropius.« Damit wandte sie sich um und ging ins Haus. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie wusste, dass ihre Wangen glühten.

Kapitel 4

Tobelbad, 5. Juni 1910

Als am nächsten Morgen die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen, war Alma längst hellwach. Sie hatte kaum geschlafen, weil sie lange an Walter Gropius hatte denken müssen. Sein kantiges Gesicht, die klaren Augen. Die schönen Hände, mit denen er kraftvoll gestikulierte, wenn er über das sprach, was er liebte – seine Arbeit. Schmetterlinge tobten in Almas Bauch, und sie ahnte, dass sie dabei war, sich auf etwas Neues einzulassen. Auf diesen fremden Mann, mit dem sie eine ungeahnte Verbindung spürte. Durfte das sein? Sollte sie sich nicht besser fernhalten von ihm? Immerhin war sie eine verheiratete Frau und Mutter. Was natürlich nicht hieß, dass sie mit niemandem sprechen durfte. Es hatte ihr gefallen, sich mit Gropius zu unterhalten, festzustellen, was sie gemeinsam hatten. Die Liebe zur Malerei zum Beispiel, zu der bei ihm noch ein Faible für Keramik hinzukam, was sie entzückte. Was für eine außergewöhnliche Leidenschaft. Es fühlte sich gut an, mit ihm zu diskutieren, er hörte so aufmerksam zu, wenn sie sprach, stellte interessante Fragen und beantwortete ihre auf eine Art und Weise, die sie wiederum zum Nachdenken brachte. Und heute würde sie ihn wiedersehen. Und dieses Kribbeln in ihrem Bauch genießen. Doktor Lahmann hatte ihr einen Flirt doch mehr oder weniger verschrieben? Begegnungen, Gespräche, Spaziergänge.

In diesem Moment wurde die Türklinke heruntergedrückt, und Anna kam ins Zimmer.

»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte Alma, lachte und breitete die Arme aus.

Sie verbrachte den Tag mit Anna und schrieb einen Brief an Gustav, der ja gefordert hatte, dass sie jeden Tag schreiben solle, obwohl er selbst nur sporadisch antwortete, dann besuchte sie ihre Massagen und nahm ein Heubad, und schließlich gab sie Anna eine weitere Klavierstunde.

Es war also schon nachmittags, als Alma Zeit fand, in den Park zu gehen. Gropius und sie hatten sich nicht zu einer bestimmten Zeit verabredet, und sie hatte vor, sich mit einem Buch ein schattiges Plätzchen zu suchen. Sie fand eine Bank unter einer riesigen Tanne, ein wenig abseits, aber doch so gelegen, dass sie den Park im Auge behalten konnte. Alma setzte sich, schlug das Buch auf und versuchte zu lesen. Doch immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie nach Gropius Ausschau hielt, bis der Text sie endlich zu fesseln vermochte.

»Ein spannender Roman?« Gropius war unbemerkt neben sie getreten.

Alma klappte das Buch zu und schnappte nach Luft. Warum nur löste dieser Mann stets Herzrasen bei ihr aus? »Herr Gropius. Sie haben mich erschreckt.«

»Das war nicht meine Absicht, meine liebe Frau Mahler. Entschuldigen Sie bitte. Ich scheine Sie immer wieder aus der Fassung zu bringen.« Er sah so betreten aus, dass Alma lachen musste.

»Nein, nein, machen Sie sich keine Gedanken. Mein Fehler. Ich war wohl zu vertieft in meine Lektüre.« Alma sah zu ihm hoch. »Wollen Sie sich nicht ein wenig zu mir setzen?«

»Wenn Sie mir berichten, was für ein Buch Sie da lesen, gern.« Gropius nahm neben ihr Platz.

»Ein Bekannter von mir hat es geschrieben, Gerhart Hauptmann. Es heißt Der Narr in Christo Emanuel Quint.« Immerhin das Lesen war ihr geblieben, dachte Alma. Gustav las genauso gern wie sie, und im Gegensatz zur Musik würden sie in der Literatur niemals in Konkurrenz zueinander treten. Aber sie hätte auf das Lesen auch nicht verzichten können. Auf vieles, aber darauf nicht. Von ihrem Buchhändler bekam sie stets eine Auswahl von Neuerscheinungen empfohlen, so dass sie oft die neuesten Bücher lesen konnte und sie dann an Gustav weitergab.

»Ich glaube«, sagte Gropius, »ich habe einen Auszug davon in der Neuen Rundschau gelesen. Kann das sein? Ging es nicht um eine Art Fortsetzung der Weber

Alma nickte. Wie so viele Romane war auch dieser vorab in einer Literaturzeitschrift erschienen. »Aber verraten Sie mir nicht, wie es ausgeht, ich habe das Buch gerade erst zu lesen begonnen«, sagte sie lachend.

Gropius hob in gespieltem Entsetzen die Hände. »Gott bewahre, halten Sie mich für so einen Rüpel?«

Alma musste noch mehr lachen. Gropius war so elegant und sein Auftreten so weltmännisch, das Gegenteil eines Rüpels. »Nein, ich halte Sie durchaus nicht für einen Rüpel.«

Er lehnte sich vor, berührte leicht ihre Hand, sah ihr in die Augen. »Und wofür halten Sie mich?«

Alma schluckte und zog ihre Hand zurück. »Ich … ich halte Sie für einen sehr interessanten Mann.« Sie errötete und wandte den Blick ab. Schon wieder klopfte dieses verräterische Herz so laut. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Und was, wenn er jetzt nicht in der gleichen Weise antwortete?

»Ich finde, dass Sie eine faszinierende Frau sind.« Seine Stimme war ganz weich und samtig.

Alma sah ihn an. Sein Blick war so intensiv, sie hätte sich darin verlieren können. Etwas an ihm zog sie auf eine Weise an, die sie geradezu erschreckte. Und sie hatte diesem Gefühl kaum etwas entgegenzusetzen, zu gutaussehend war dieser Mann, zu scharf sein Verstand, zu spannend seine Vision von der Zukunft seines Metiers, der Architektur. Sie würde jede Minute, die ihr mit ihm geschenkt war, genießen.

»Sollen wir …«, sie räusperte sich, wieder schien ihr die Stimme nicht so zu gehorchen, wie sie sollte, »sollen wir vielleicht ein wenig spazieren gehen?«