Die junge Schriftstellerin Nell hat gleich zwei Schicksalsschläge zu verkraften. Nach einer Fehlgeburt ist ihre Ehe zerbrochen, und dann stirbt auch noch ihr Vater. Beim Ausräumen seines Hauses findet sie das Foto eines amerikanischen Soldaten, der 1944 in dem kleinen Küstenort Pencallyn in Cornwall stationiert war und ihrem Vater verblüffend ähnlich sieht. Handelt es sich etwa um ihren Großvater? Kurzerhand macht sie sich auf den Weg nach Cornwall, um mehr über ihre Wurzeln zu erfahren und herauszufinden, warum ihr Vater als Kind zur Adoption freigegeben wurde. Dabei kommt sie einem alten Familiengeheimnis auf die Spur, das ihre Welt für immer verändern könnte ...
Ruth Saberton wurde in London geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Cornwall. Obwohl sie weit gereist ist, gibt es für sie keinen Ort, der sich mit der rauen Schönheit dieser Küstenlandschaft messen kann. Hier findet sie immer wieder neue Inspiration für ihre Romane. In England gilt sie als absolute Bestsellerautorin.
Im Aufbau Taschenbuch ist bereits ihr Roman »Der Liebesbrief« erschienen.
Uta Hege lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Saarbrücken. Mit dem Übersetzen englischer Titel hat sie ihre Reiseleidenschaft und ihre Liebe zu Büchern perfekt miteinander verbunden und ihren Traumberuf gefunden.
Ruth Saberton
Das Versprechen
Roman
Aus dem Englischen von Uta Hege
Für Dad
in Liebe
Prolog
Mai 1944
An jenem Abend drehte sich die Welt langsamer als sonst, als versuche sie die Zeit ein wenig aufzuhalten. Beschwingte Jazzmusik drang durch die offene Tür des Tanzlokals, während ein junges Paar verstohlen in der Dunkelheit verschwand. In ungewissen Zeiten lebt man jeden Augenblick, als wäre es der letzte, und bevor man sichs versieht, gibt man Versprechen, ohne zu wissen, ob man sie halten kann. Als seine Hand sich sanft um ihre Finger legte, wusste sie, dass er so fest mit ihrem Herz verwoben war wie der Efeu und das Geißblatt mit den Bäumen, die es für alle Zeit umschlangen. Dieser Mann war tief in ihre Seele eingedrungen und würde dort für alle Zeit verwurzelt sein, was auch geschähe.
Sie kannten sich erst ein paar Monate, doch Zeit war vollkommen bedeutungslos, wenn man seinem Seelenverwandten begegnete. Sogar der Krieg rückte in den Hintergrund, es zählten einzig ihr Zusammensein und ihre Träume von der Zukunft. Und sie würden eine Zukunft haben, weil allein der Gedanke, dass sie sich je wieder trennen müssten, unerträglich war.
Aus Angst, ihn zu verlieren, verstärkte sie den Griff um seine Hand. Der Gedanke ließ ihr Herz erschaudern. Doch wie könnte sie ihn davor bewahren, dass ihm ein Unglück widerfuhr? Schließlich war in diesen Zeiten niemand sicher.
Er entzog ihr seine Hand, umarmte sie und küsste sanft ihr Haar. Die liebevolle Geste zeigte ihr, dass er verstand, wie es ihr ging, weil Trennungen und Verluste an der Tagesordnung waren. Weil jeder Tag die Nachrichten von neuen Todesfällen brachte, Telegramme auch die Leben der Daheimgebliebenen zerstörten und vielleicht die nächste Bombenexplosion die Glasscheiben des eigenen Hauses und die eigenen Knochen splittern ließ. Selbst im verschlafenen Cornwall war der Tod nie weiter als ein Flüstern von den Einwohnern entfernt. Wenn die Bomber über ihre Köpfe flogen, hielten sie den Atem an und hofften, dass sie noch nicht an der Reihe wären.
Wie konnte es sein, dass das Groteske, Unvorstellbare normal geworden war? Früher als schockierend angesehene Veränderungen hatten sich genauso in den Alltag eingeschlichen wie die Flugabwehrgeschütze, die Bunker und das Dröhnen der Panzer, die die ausgebauten Landstraßen hinunterfuhren, als hätten sie nie etwas anderes getan. Grasbüschel bedeckten die vernarbte Erde, wo die Bulldozer die neuen Straßen in den alten Wald geschnitten hatten, und als wollte die Natur die Schmerzen lindern, waren die neuen Wegesränder schon nach kurzer Zeit mit wilden Blumen übersät. Inmitten der Zerstörung gab es Schönheit, so wie es inmitten des Verderbens Liebe gab. Das war ein kleiner Trost.
Vor allem lebte man viel intensiver als zuvor. Das Leben war ein Drahtseilakt, bei dem die Menschen über einem Abgrund balancierten und in dem der Tod allgegenwärtig war. Es wurde dadurch umso kostbarer, und jung, verliebt und schwindelig vor Glück zu sein, wog mehr als jeder Schatz. In diesem Frühjahr war für sie die Sonne warm, der Himmel blau und die gesamte Welt so schön wie nie zuvor, denn wie Dornröschen hatte sie ein Kuss aus ihrem langen Schlaf erweckt. Sie würde niemals wieder schlafen, denn ihr Leben hatte sich auf wunderbare, grundlegende Art verändert, und sie war von einer unbändigen Lebenslust erfüllt.
Bereits bei ihrem ersten Treffen hatte sie gespürt, dass es für sie jetzt kein Zurück mehr gab. Sie hatte ihr Leben lang auf ihn gewartet, und nachdem sie sich gefunden hatten, war nichts anderes mehr von Bedeutung. Es gab kein Problem, das sich nicht überwinden ließ. Bei hellem Sonnenschein war der Krieg nichts weiter als ein böser Traum. Sie wünschte, der Sommer zöge sich mit glutvollen, dunklen Augen und gemurmelten Versprechen noch endlos hin. Sie wollte diese Zeit genauso festhalten wie ihn.
Also wanderten sie durch den Garten zu der alten Sonnenuhr, die ihr auch früher schon den einen oder anderen Wunsch erfüllt hatte. Hier im Zaubergarten war alles möglich. Vielleicht könnte sie sich ja sogar wünschen, dass es Hitler nicht mehr gäbe. Schließlich waren die Schleier, die die Zeit verhüllten, hier in Cornwall dünner als an anderen Orten, und die alten Mythen, Sitten und Gebräuche waren nur einen Schatten von der Gegenwart entfernt. Magie fand sich im fröhlichen Gesang der Vögel, die dieselben Melodien pfiffen wie seit Anbeginn der Zeit. Magie fand sich im Silbergrau der Flechten, die die Felsen überzogen, und in den unverwandten Schatten, die die Sonne warf. Sie müsste es sich einfach stärker und vor allem öfter wünschen, weiter nichts. Am besten, sie liefe zusätzlich durch das alte Labyrinth zum Mittelpunkt des Gartens und hinterließe an dem versteckten Ort eine geschriebene Nachricht. In ihrer Kindheit hatte das auf alle Fälle funktioniert.
Von diesem Plan getröstet, lehnte sie sich an ihn. Sie nahm kaum wahr, wie sich der raue Stoff seiner Uniform an ihrer Wange rieb. Vielleicht hätten andere das Gesicht verzogen und verächtliche Bemerkungen gemacht, aber sie wusste, dass das Schicksal sie füreinander bestimmt hatte. Sie wusste, dass es schwierig würde, außerhalb des Gartens dauerhaft mit ihm zu leben, doch sie würden eine Lösung finden.
Die Abenddämmerung brach an und tauchte die Umgebung in ein violettes Licht. Nach den Stürmen der vergangenen Tage hing der durchdringende Geruch von nasser Erde in der Luft, und am inzwischen wieder wolkenlosen Himmel tauchten die ersten Sterne auf. Doch klare Nächte waren gefährlich, denn das trügerische Licht des Monds war von Vorteil für ihre Feinde. In Nächten wie diesen sollte man das Haus besser nicht verlassen. Sie hatten bereits einmal jede Vorsicht über Bord geworfen, aber heute Abend roch es richtiggehend nach Gefahr.
Arm in Arm betraten sie das Dickicht. In einer anderen, genauso warmen Sommernacht hatte ihr Liebster einmal festgestellt, sie könnten statt in Cornwall auch in Georgia, Virginia, South Carolina sein. Die Namen waren nicht weniger aufregend als dieser Garten oder ihre Liebe, und in seinen Worten hatte sie das Versprechen eines abenteuerlichen Lebens voll wunderbarer Möglichkeiten gehört. Inmitten dieser Bäume kam der Krieg ihr wie der halb vergessene Alptraum eines Kindes vor.
Hier könnte ihnen nichts geschehen, denn sie waren jung und verliebt. Sie träumten von der Zukunft, und die Pläne, die sie machten, waren helle Hoffnungsschimmer, um das Grauen eines Krieges einzudämmen, der niemals mehr zu enden schien.
»Es wird dir einen Riesenspaß machen, in meinem kleinen Segelboot über den See zu jagen«, hatte er gesagt. »Und meine Familie wird dich sofort ins Herz schließen.«
Sie hatte sich gefragt, ob das wohl stimmte, denn bei diesen Worten hatten seine Augen unsicher geflackert. So, wie er nicht der Mann war, den ihr Vater mit offenen Armen willkommen heißen würde, war auch sie ganz sicher nicht das Mädchen, das seine Eltern sich für ihn wünschten. Sie wusste, wie wichtig ihm seine Familie war und wie sehr sie ihm fehlte. Er hatte ihr schon oft von seiner freundlichen und klugen Mutter, einer Grundschullehrerin, und seinem gut aussehenden Vater, der die Felder der Familie bestellte und am Sonntag in der kleinen Kirche ihres Ortes predigte, erzählt. Genau wie von dem See, der sich vom Rande ihres Grundstücks bis zum Horizont erstreckte, von der Schaukel mit der abblätternden Farbe, die auf der Veranda stand, und von dem kleinen Holzboot, das sein ganzer Stolz war. Die Welt, die er zurückgelassen hatte, war ein ganzes Universum von den Bomben und von der allnächtlichen Verdunkelung entfernt und kam ihr fast wie eins der Märchen ihrer Kindheit vor. »Erzähl mir noch mal von Amerika«, bat sie ihn ein ums andere Mal.
»Wir haben einen kleinen Hof in einem Tal, in dem die Sonne scheint und sich der Weizen im Wind wiegt. Wenn wir nach Hause kommen, nehmen wir den Weg zwischen den Feldern, setzen uns auf unsere Schaukelstühle, die auf der Veranda stehen, und beobachten, wie die Sonne langsam hinter den Hügeln untergeht. Meine Mutter wird dir beibringen, wie man Apfelkuchen backt, du wirst in meinem Truck zum Einkaufen in den Ort fahren, wir werden jede Menge Kinder kriegen, zusammen alt werden und mit unseren Enkelkindern spielen. Versprochen«, fügte er am Ende immer voller Leidenschaft hinzu. »Du bist mein Mädchen, und ich liebe dich. Für mich gibt es nur dich. Heute, morgen und für alle Zeit.«
Heute, morgen und für alle Zeit. Dies war der Schwur, der sie für immer aneinander band. Es war ein genauso bindendes Versprechen wie die Worte, die man in der Kirche sprach, und als sie es neben der alten Sonnenuhr geflüstert hatten, hatte sicher jemand zugehört und seinen feierlichen Ernst erkannt. Die Vögel waren verstummt, und ein besonderer Zauber hatte in der Luft gelegen. Sie waren eins.
Je weiter sie sich auf dem Pfad vom Dorf entfernten, umso leiser wurde die Musik. Die Dunkelheit um sie herum vertiefte sich. Selbst hier in Cornwall holte sie der Krieg allmählich ein. Das zeigten ihr das pausenlose Dröhnen der Motoren, die betonierten Rampen unten am Strand und die unzähligen Kriegsschiffe, die dort versammelt waren.
Und ihnen lief die Zeit davon.
Sie waren auf dem Weg zu dem Gehöft, das ganz am Grundstücksende lag. Es stellte einen wunderbaren Treffpunkt dar, und wenn der Garten unter einem dichten Regenschleier lag, zogen sie einfach eine Decke über sich und horchten auf die Melodie der Regentropfen auf dem Dach. Hier waren sie vor neugierigen Blicken sicher, weil sonst niemand in die Nähe dieses halb verfallenen Hauses kam. Es war ihr Zufluchtsort in einer Welt, die völlig aus dem Gleichgewicht geraten war.
Er umfasste ihre Hände.
»Werde meine Frau.«
Sie brachte keinen Ton heraus. Ihr wurde schwindelig, denn sie wusste, alles, was in ihrem Leben je passiert war, hatte sie an diesen Punkt geführt. Natürlich würde sie ihn heiraten und dann mit ihm zusammen in die Staaten gehen. Sie würden alle Hindernisse überwinden, die die Welt versuchte, ihnen in den Weg zu stellen.
Er aber fürchtete, dass er sie überrumpelt hätte.
»Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich verspreche dir, dass es für mich nie eine andere geben wird. Ich habe dir nicht viel zu bieten, aber ich liebe dich und werde dich bis an mein Lebensende lieben.«
»Heute, morgen und für alle Zeit«, wisperte sie.
»Ist das ein Ja?«
»Natürlich! Ja, natürlich werde ich dich heiraten!«
Freudestrahlend zog er sie an seine Brust und gab ihr einen Kuss, der gleichzeitig von Hoffnung und Verlangen und der Furcht vor der bevorstehenden Trennung sprach. Es war ein Kuss, an den sie sich ihr Leben lang erinnern würde, weil er ihr lebenslange Liebe schwor.
»Ich habe allerdings keinen Verlobungsring für dich«, gestand er ihr.
»Den brauche ich auch nicht.«
»Was für ein Mann bittet ein Mädchen, seine Frau zu werden, und hat nicht mal einen Ring für sie?«
»Ein Mann, der Tausende von Meilen fern der Heimat kämpft!«
»Das ist keine Entschuldigung. Vor allem kann ich euch Briten keinen zusätzlichen Vorwand liefern, auf uns Yanks herabzuschauen.«
Sie hätte sagen wollen, dass die Briten nicht auf die Amerikaner heruntersahen, aber ihnen beiden wäre klar gewesen, dass das eine Lüge war. Auch wenn die jungen Frauen in Calmouth und Pencallyn von dem Zustrom attraktiver junger Männer und die Kinder von den Kaugummis, die sie bekamen, ganz begeistert waren, war der Unmut bei den Älteren über die beschlagnahmten Gehöfte oder Häuser und die abgesperrten Strände groß.
Vor allem machte ihr der Hass, den erschreckend viele Menschen plötzlich offen zeigten, Angst.
Die bösen Blicke, abfälligen Worte und die unverhohlene Ablehnung eines Menschen, der Millionen Mal mehr wert war als die, die ihn verachteten, hätte sie weder ihrer eigenen Familie noch einem ihrer Gäste jemals zugetraut. So etwas tat kein anständiger Mensch. Wenn sie nicht gegen diese Dinge kämpften, worum ging es dann in diesem Krieg? Auf welcher Seite standen Menschen, die so dachten, überhaupt?
»Ich habe etwas als Ersatz, bis du dir einen Ring aussuchen kannst«, stellte er leise fest und zog ein kleines Silberkreuz an einer zarten Kette aus der Tasche seiner Uniform.
»Das kann ich unmöglich annehmen. Du hast gesagt, es gehört deiner Mum. Es ist seit Jahren im Besitz eurer Familie. Sie hat es dir mitgegeben, weil es dich beschützen soll.«
»Ich weiß, Schatz, aber wenn ich kämpfe, muss ich wissen, dass dir nichts passiert. Wie könnte ich mein Mädchen einfach hier zurücklassen, ohne zu wissen, dass es sicher ist?«
Bei diesen Worten wogte ein Gefühl des Unbehagens in ihr auf. »Aber du brauchst es selbst! Du bist schließlich in größerer Gefahr als ich.«
»Ich habe keine Angst vor diesen Krauts. Du kannst mir glauben, wenn sie Onkel Sam an ihren Küsten landen sehen, nehmen sie die Beine in die Hand.«
Sie sprach nicht von den Deutschen, doch sie wusste nicht, wie sie ihm sagen sollte, was der wahre Grund für ihre Ängste war.
Er legte ihr die Kette um den Hals und machte einen Schritt zurück.
»So. Jetzt bist du sicher«, stellte er zufrieden fest.
»Ich liebe dich«, erklärte sie, und wieder presste er ihr sanft die Lippen auf den Mund.
»Und ich dich. Jetzt bist du meine reizende Verlobte, und ich werde bis zum Ende meines Lebens für dich da sein und dich glücklich machen. Das verspreche ich.«
So glücklich sie in diesem Moment auch war, sie wusste, dass die Wolkenwand sich über dem Meer immer mehr zusammenzog. In den Flussmündungen und an den Stränden lagen Hunderte von Schiffen, nachts flogen die Bomber dicht über die Häuser, und der Himmel über Calmouth ging in Flammen auf. Täglich kamen mehr Soldaten an. Sie hatten außerhalb des Dorfs ein großes Camp errichtet, eins der Herrenhäuser beschlagnahmt und selbst in Pencallyn House zwei Offiziere einquartiert. Sie wünschte sich, die beiden Männer wären niemals aufgetaucht. Vor allem nicht der mit den Augen, die so kalt wie Gletscher waren, und dem besonderen Talent, sich anzuschleichen und dann plötzlich völlig unvermutet direkt vor einem zu stehen.
Bei dem Gedanken rann ein kalter Schauder über ihren Rücken, und ihr Liebster fragte: »Ist dir kalt?«
Sie schüttelte den Kopf, konnte ihm aber nicht erklären, was ihr durch den Kopf gegangen war. Wie hätte sie ihr ungutes Gefühl auch in Worte fassen und beschreiben sollen, welche Furcht ein Fremder in ihr hervorrief, der ihr doch im Grunde nichts zuleide tat?
»Es geht mir gut.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust, und die gleichmäßigen Schläge seines Herzens vertrieben ihre Angst. Wenn sie mit ihm zusammen war, fühlte sie sich stark und mutig. Alles würde gut.
Im Dunkeln fühlte sich der Garten von Pencallyn wie ein Urwald an, als brächen jeden Augenblick vor Tausenden von Jahren ausgestorbene Kreaturen daraus hervor. Sie hatte das Gefühl, als würde irgendwas im Schatten der uralten Bäume lauern, und erschauerte ein zweites Mal.
»Mein kleines Frostbeulchen«, murmelte er, zog seine Jacke aus und hängte sie ihr um. »Es ist schon spät. Du solltest langsam reingehen und dich aufwärmen.«
Hand in Hand durchquerten sie den Garten, und als sie dem Haus so nahe waren, wie sie ihm nahezukommen wagten, legte er noch einmal das Versprechen ihrer Zukunft in den sanften Abschiedskuss, den er ihr gab.
»Werde ich dich morgen sehen?«
Er lächelte sein wunderbares Lächeln, und ihr Herzschlag setzte aus. Wie schön er war. Wie mutig, klug und freundlich – und er würde sie zur Frau nehmen. Womit in aller Welt hatte sie dieses grenzenlose Glück verdient?
»Ich zähle schon die Stunden«, antwortete er und zog mit seinem Daumen die Konturen ihrer Wange nach.
Am liebsten hätte sie die Uhr zurückgedreht, sich abermals auf dem verlassenen Hof versteckt und ihm die Arme um den Hals geschlungen. Sie liebte ihn, ja, sie betete ihn an. Und sie fühlte sich lebendiger als je zuvor.
Sie wusste, dass sie nie für einen anderen so empfinden würde wie für ihn.
»Was auch geschieht, ich werde zu dir zurückkommen, und dann werden wir die Segel hier in Cornwall streichen und für alle Zeit zusammen sein«, murmelte er.
»Heute, morgen und für alle Zeit«, wisperte sie.
Am liebsten hätte sie ihn angefleht, noch einen Augenblick zu bleiben, sich an ihm festgeklammert wie der Efeu an den Mauern ihres Hauses und das Moos an den uralten Bäumen. Doch er musste seine Pflicht in diesem Krieg erfüllen.
Nach einem letzten Kuss verschwand er wie so häufig in der Dunkelheit des Gartens, und sie nahm den Weg zurück zum Haus.
Natürlich wusste sie, dass das Gefühl der drohenden Gefahr nur ihrer Phantasie entsprang, aber sie wäre trotzdem froh, läge der dunkle Garten hinter ihr. Da wegen der Verdunkelung kein Licht durch irgendwelche Fenster auf den Kiesweg fiel, musste sie sich darauf konzentrieren, dass sie den Weg zur Haustür fand.
Wenn der Mond noch einmal durch die Wolkenwand geschienen hätte, hätte sie womöglich die Gestalt bemerkt, die hinter der Hausecke verschwand, so aber lag die Welt in samtig schwarzer Dunkelheit.
Und als sie, den Kopf voller Träume und das Herz voller Hoffnung, durch die Haustür trat, drehte das Rad des Schicksals sich ein letztes Mal.
1
heute
Ich weiß nicht, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin.
Um mich herum stapeln sich Kisten, auf dem Boden liegen alte Aufzeichnungen und Dokumente verstreut. Bücherregale und Fensterbretter dienen als Ablage für ungelesene Bücher, leere Umschläge, vergilbte Zeitungen. Auf der Couch türmen sich Kataloge und Prospekte, die für irgendwelche Waren werben, die man garantiert nicht braucht. Die Kleiderschränke sind zum Bersten mit Hemden, Anzügen und Schuhen gefüllt, die nur zu besonderen Anlässen getragen worden sind, und dann ist da auch noch der Schuppen, der vor Einzelteilen sorgfältig zerlegter Rasenmäher, wirren Drahtknäueln und den geliebten Schrauben, die mein Vater vielleicht eines Tages hätte brauchen können, überquillt.
Mein Magen zieht sich zusammen. Keiner dieser Schätze wird jetzt noch Verwendung finden. Sie haben ihren Sinn verloren. Brauchte er wirklich drei kaputte Radios? Oder Staubsaugerbeutel, ohne dass er auch nur einen Staubsauger besaß? Wie so oft in letzter Zeit drohe ich in Tränen auszubrechen, weil ich ihn jetzt nicht mehr danach fragen kann. Ich werde nie erfahren, warum er niemals irgendetwas weggeworfen hat. Jetzt gibt es niemanden mehr, der mich tröstend in den Arm nimmt, wenn ich traurig bin. Keine weise, ruhige Stimme, keinen Menschen, der mich so gut kennt, mich trotz meiner Fehler und der Schwächen liebt und sich am Telefon über den Klang meiner Stimme freut.
Jetzt bin ich ganz allein.
Ich kämpfe gegen die in meinem Innern aufsteigende Panik an. Ich bin inzwischen über dreißig. Ich bin erwachsen. Und ich hatte schon seit Längerem damit rechnen müssen, dass mein Vater stirbt, denn schließlich habe ich ihn wochenlang gepflegt. Sein Tod kam alles andere als überraschend, doch ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt die Überreste seines Lebens durchgehen und entscheiden soll, welche dieser unzähligen Dinge ich entsorgen und welche ich aufbewahren soll. Mein Vater war beim Horten offensichtlich überhaupt nicht wählerisch. Ich nehme an, dass ihm entweder alles oder gar nichts wirklich wichtig war.
Bevor mich die Panik überwältigt, gehe ich hinaus auf die Terrasse. Die Augustsonne wirft leuchtend gelbe Flecken auf den alten Schaukelstuhl, in dem mein Dad so gerne saß. Als Kind saß ich dort oft auf seinem Schoß, während er mir Geschichten vorgelesen oder mir die Tränen getrocknet hat. Jetzt steht er leer und reglos da, und das Bewusstsein, dass mein Vater niemals wieder darin schaukeln wird, bricht mir das Herz.
Soll ich den Schaukelstuhl behalten? Ihn verkaufen? Auf den Sperrmüll werfen? Was würde mein Vater wollen? Und was will ich selbst?
Inzwischen ist er seit acht Wochen tot, und immer noch habe ich keinen blassen Schimmer, was ich mit den ganzen Sachen machen soll. Ich habe fast automatisch seinen Tod gemeldet, unzählige Formulare ausgefüllt und die Beerdigung organisiert, ohne dass ich mich daran erinnern kann. Früher hätte ich noch Andy fragen können, ob er mir beim Ausräumen des Hauses hilft. Das könnte ich wahrscheinlich immer noch, da ich inzwischen aber seine Ex‑Frau bin, erscheint es mir nicht fair, ihn für diesen Knochenjob zu rekrutieren. Natürlich haben wir gesagt, dass wir weiterhin Freunde sind, aber er hat mit seiner Arbeit und seiner neuen Freundin sicherlich genug zu tun, auch ohne dass jetzt noch ein Hilferuf von seiner Ex‑Frau kommt.
Entschlossen kehre ich zurück ins Haus und wende mich dem nächsten Berg Papiere zu. Versicherungen, Zulassungen und Werkstattrechnungen zu allen Autos, die mein Dad seit 1975 je besessen hat. Ich schätze, dass ich dieses Zeug entsorgen kann. Aber ich habe kein Auto und dementsprechend keine Ahnung, ob davon noch irgendetwas wichtig ist. Ich bin das genaue Gegenteil von Dad, denn ich bewahre nur die Dinge auf, die ich wirklich brauche. Auch wenn ich es noch nicht mit Marie Kondo aufnehmen kann, bin ich sehr ordentlich, was Andy regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Vielleicht habe ich mit meinem übertriebenen Ordnungssinn gegen Dads Chaos rebelliert? Ist es womöglich an der Zeit für eine Therapie? Die hätte ich wahrscheinlich nach den letzten Jahren schon gebraucht, und jetzt noch mehr, wenn ich über dem Aussortieren der Sachen meines Dads nicht vollends den Verstand verlieren will.
Wie dem auch sei, zurück zu der Versicherungspolice von 1998. Weg oder aufheben? O Gott, ich weiß es nicht. Was hat mein Dad sich nur dabei gedacht, dass er nie irgendetwas weggeworfen hat? Ich wünschte, dass ich ihn fragen könnte. Doch ich werde ihn nie wieder irgendetwas fragen können, und das tut so weh, dass ich nicht weiß, wie ich mit meiner Trauer weiterleben soll. Egal, was ich tue, der Schmerz lässt sich nicht vertreiben. Ich kann und darf jetzt nicht zusammenklappen, ich habe noch viel zu viel zu tun.
Um mich von meinem Elend abzulenken, rufe ich bei meiner besten Freundin an. Im Gegensatz zu mir weiß Lou bestimmt, wie ich mir meine Arbeit hier erleichtern kann. Sie weiß immer, was als Nächstes zu tun ist, egal in welcher Lebenslage. Vielleicht ist das der Grund, warum sie Juniorpartnerin in einer angesehenen Kanzlei in London ist, während ich selbst als Romanautorin kaum genügend Geld verdiene, um die Miete meiner Wohnung zu bezahlen.
»Besorg dir eine Firma, die das Haus entrümpelt, Nell«, schlägt sie mir dann auch vor. »Das Haus deines Vaters war schon voller Zeug, als wir noch Kinder waren. Da stelle ich mir lieber gar nicht erst vor, wie es dort jetzt aussieht.«
»Zehnmal so schlimm?« Tatsächlich hat mein Vater, ohne dass es mir besonders aufgefallen wäre, das gesamte Haus vom Keller bis zum Speicher mit Gerümpel gefüllt. Ein Psychologe würde sicher sagen, dass er seine eigene Identität in all dem Zeug gefunden hat und sein Bedürfnis, sich an den Dingen festzuklammern, daher rührte, dass er adoptiert war und niemals erfahren hat, wer seine Eltern waren. Das mag natürlich stimmen, aber bei der Durchsicht all der Sachen bringen die Erklärungen mich leider nicht voran.
»Im Ernst?«
Erschöpft lehne ich mich an die Wand. »Ja, im Ernst.«
»Aber ist dir nicht aufgefallen, wie schlimm es war, bevor er krank geworden ist?«
Auch wenn ich mich dafür jetzt furchtbar schäme, war ich bis vor einem Vierteljahr, als mir mein Dad endlich von seinem Leberkrebs erzählt hat, eher selten bei ihm zu Besuch. Zu Zeiten meiner Ehe kam mein Vater häufiger zu uns nach London, aber dann zog ich in eine Wohngemeinschaft, und obwohl mein Dad es niemals sagte, wusste ich, dass meine Scheidung eine furchtbare Enttäuschung für ihn war. Deshalb fuhr ich nur selten nach Hause, weshalb wir uns – was ich inzwischen fürchterlich bereue – oft längere Zeit nicht sahen.
Und als ich dann zurück nach Bristol kam, um ihn zu pflegen, merkte ich, dass sich die Haustür wegen all der Werbepost und Kisten, die dahinter aufgestapelt waren, kaum noch öffnen ließ und ich mich nur noch seitwärts durch den Flur bewegen konnte, weil der noch verbliebene Durchgang nicht mehr breit genug für einen Menschen war. Als das Krankenbett fürs Wohnzimmer geliefert wurde, räumte ich einfach alles aus dem Weg und schob es unter das Fenster.
Einzig mein altes Kinderzimmer war noch leer. Auch wenn es ein bisschen seltsam war, in meinem schmalen Jugendbett die Augen aufzuschlagen und auf das Take That-Poster an meiner Wand zu starren, lief ich zumindest nicht Gefahr, dass eine umstürzende Kiste mich erschlug.
Am Ende blieb mein Vater nur noch ein paar Wochen in dem Haus, und während seiner letzten Tage im Hospiz kampierte ich auf einer Isomatte neben seinem Bett und hatte völlig andere Probleme als ein zugemülltes Haus.
»Ich nehme an, ich habe es durchaus bemerkt«, erkläre ich. »Aber ich hatte einfach anderes im Kopf.«
»Das kann ich verstehen, Nell. Schließlich hast du ein paar wirklich schlimme Jahre hinter dir. Mach es dir bitte nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist. Du hast alles getan, was du konntest.«
Ich hoffe, sie hat recht. Natürlich habe ich mein Möglichstes getan, aber da ich allein war, war das alles andere als leicht. Mitunter war ich ungeduldig und am Ende meiner Nerven, wenn er nach mir rief, und in den letzten Wochen, als ich selbst vor Erschöpfung krank war, habe ich ihn mehrmals angeschrien. Diese Momente gehen mir nicht aus dem Kopf, und ich hoffe, dass mein Vater, ganz egal, wo er jetzt ist, versteht, dass ich ihn niemals kränken wollte. Ich war einfach hundemüde und habe bereits um ihn getrauert, ehe er mich endgültig verlassen hatte.
Ich hoffe, er weiß, dass niemand mir in meinem Leben je so wichtig war wie er.
Ob er wohl jetzt nach meinem Kind sieht? Dem kleinen Wesen, dem ich nie begegnet bin? Der letzte mir verbliebene Trost ist der Gedanke, dass mein Vater mein und Andys Kind jetzt vielleicht gefunden hat.
Ich habe einen dicken Kloß im Hals und bin nur froh, dass Lou jetzt wieder spricht, denn sicher hätte ich in diesem Augenblick kein Wort herausgebracht.
»Du musst allmählich wieder rausgehen und dich amüsieren, Nell. Am besten, du fährst erst mal in den Urlaub und entspannst dich.«
Wenn Lou mein Konto sehen könnte, hätte sie mir diesen Vorschlag nie gemacht. Ich habe in den letzten Monaten fast nichts geschrieben, kaum noch eine Zeitung fragt mich nach Artikeln, und meine Agentin meint, ich sollte mich erst wieder melden, wenn ich irgendetwas vorzuweisen hätte – womit sie wohl kaum den leeren Bildschirm meines Laptops meint. Davon darf meine Freundin jedoch nichts erfahren, denn in der ihr eigenen großzügigen Art würde sie sonst wahrscheinlich eine Kreuzfahrt für mich buchen oder irgendetwas anderes Verrücktes tun. Genau wie Dad lege ich größten Wert auf meine Unabhängigkeit. Ich kann genau wie er nicht wirklich gut mit Geld umgehen.
»Dann fahren wir zumindest übers Wochenende weg. Ich lade dich zu einem Kurztrip ein, okay?«
»Danke, Lou, aber das geht jetzt gerade nicht.«
»Liegt es am Geld? Zahl es mir einfach zurück, wenn du die nächste J. K. Rowling bist.«
Da J. K. Rowling tonnenweise Bücher schreibt, während ich selbst kaum noch eine Einkaufsliste hinbekomme, kann ich mir nicht vorstellen, dass aus mir tatsächlich je noch etwas werden wird.
»Ich kann nicht, Lou.«
»Dann lass mich wenigstens den Nachlass und die anderen Sachen für dich regeln, ja? Wenn du darauf bestehst, mich dafür zu bezahlen, stell einfach meinen Ex in deinem nächsten Bestseller als Serienkiller dar. Und zwar als möglichst hässlichen, der keinen hochbekommt!«
»Aber ich schreibe doch historische Romanzen!«
»Schade, denn was nützt es einem, wenn man Bücher schreibt und darin nicht einmal die größten Arschlöcher, die man im Leben trifft, vorführen kann? Aber im Ernst, du brauchst jetzt erst mal etwas Zeit für dich.«
»Die werde ich mir nehmen – versprochen –, wenn das Haus entrümpelt ist.«
»Hol dir auf alle Fälle eine Firma, die das übernimmt. Such einfach aus, was du behalten willst, und überlass den Profis dann den Rest.«
Ich sehe wieder in den Garten, wo ein Rotkehlchen im ersten abendlichen Schatten sitzt und mich mit einem bösen Blick aus seinen schwarzen Knopfaugen bedenkt. Manche Menschen glauben, dass die Geister unserer Lieben in Gestalt von Rotkehlchen zurückkehren, um Hallo zu sagen. Falls das Wesen in dem Busch mein Dad ist, wünschte ich, er hätte sich für seine Rückkehr eine hilfreichere Gestalt als die von einem kleinen Vogel ausgesucht. Am besten die von einem muskulösen Kerl, der sich mit Umzügen sein Geld verdient.
»Es kann noch eine ganze Weile dauern, alles durchzusehen. Mein Vater hat hier schließlich Zeug aus über siebzig Jahren angehäuft.«
»Es fällt mir schwer, mir Sam als Rentner vorzustellen. Als Teenie habe ich total für ihn geschwärmt, und wie es aussieht, lag ich damit durchaus richtig, denn nicht mal die Mitglieder von Boyzone sind so gut gealtert wie dein Dad! Aber vor allem war er nett. Ein wirklich netter Mann.«
Ich lächele. Obwohl mein Vater wirklich attraktiv war und die Frauen sich immer zweimal nach ihm umdrehten, um sich zu vergewissern, dass sie sich so einen schönen Mann nicht eingebildet hatten, zog er die Menschen nicht nur durch sein gutes Aussehen, sondern auch durch sein nettes Lächeln und seine großzügige Art in den Bann.
»Er fehlt mir«, stoße ich mit rauer Stimme hervor.
»Ich weiß. Er war ein wirklich toller Mensch. Hör zu, du musst dich nicht allein mit diesem Haus herumschlagen. Am besten komme ich nach Bristol und gehe das Zeug mit dir zusammen durch.«
»Das musst du nicht.«
»Ich weiß, aber ich möchte es. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass du das ganz alleine machst. Ich weiß, du hast jetzt gerade eine schlimme Zeit, aber wir könnten trotzdem unseren Spaß haben. Sam würde es hassen, wenn er wüsste, dass du ganz allein dort hockst und Trübsal bläst.«
»Ich weiß, Lou. Danke.«
»Nichts zu danken. Ich helfe dir gern. Und was hast du geplant, wenn du mit dieser Arbeit fertig bist?«
»Nachdem ich bisher keinen Prinzen finden konnte, der bereit ist, mich zur Frau zu nehmen, werde ich mich wohl oder übel aufraffen müssen, um endlich einen Bestseller zu schreiben.«
»Ich bitte dich. Dich würde jeder Prinz mit Handkuss nehmen, weil du schließlich Finchleys Antwort auf die Herzogin von Sussex bist«, erklärt die stets loyale Lou.
Jetzt muss ich einfach lachen, und als ich mein Spiegelbild im länger schon nicht mehr geputzten Fenster sehe, wird mir klar, dass ich durchaus dieselbe Hautfarbe, die Sommersprossen und die oft zu einem wirren Knoten aufgesteckten, dunklen Haare wie der jüngste Neuzugang des Königshauses habe, mit den abgebissenen Fingernägeln, meinen abgewetzten, abgeschnittenen Levi’s und meinem schlabberigen Polohemd aber wohl kaum für königliche Auftritte geeignet bin. Vor allem habe ich die großen blauen Augen meiner Mutter, weshalb Fremde, die versuchen, unauffällig meine Herkunft zu ergründen, meistens aufgeschmissen sind. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich schon gefragt wurde, woher ich komme, und wenn ich dann »Bristol« sage, sind die Menschen hoffnungslos verwirrt. Manche werden sogar unverhohlen gemein.
»Das ist mein Ernst! Ich habe eine ellenlange Liste ausnehmend begehrter Junggesellen, die dich gerne kennenlernen würden.«
»Schmeichel mir, so viel du willst, aber ich bin nicht interessiert«, erkläre ich ihr nachdrücklich. »Das Letzte, was ich brauche, ist, dass du den Amor spielst. Ich habe kein Problem damit, allein zu sein, und du weißt auch, warum.«
Sofort lässt sie das Thema fallen. »Also zurück zum Haus – du hast bestimmt schon nachgesehen, ob unter all dem Müll etwas von Wert verborgen ist. Erbstücke, Münzen, Goldbarren? Gibt es vielleicht irgendwo Verwandte, die du bisher nie gesehen hast und die plötzlich aus den Löchern krabbeln, weil sie dir dein Erbe streitig machen wollen?«
»So, wie ich mich gerade fühle, wäre ich darüber sogar froh. Aber das Haus ist nur gemietet, worauf also hätten sie es abgesehen haben sollen? Auf irgendwelches altes Werkzeug? Das Gerümpel, das sich in der Werkstatt türmt? Den Stapel alter Autozeitschriften, den man zur Seite schieben muss, wenn man die Tür zum Garten öffnen will?«
»Ich habe keine Ahnung, aber Leute können wirklich seltsam sein.«
»Von seiner Adoptivfamilie ist niemand mehr übrig.«
»Und von seiner leiblichen Familie hat er nie jemanden aufgespürt?«
»Ich kann mir vorstellen, dass er das versucht hat – aber meine Nanna Summers, die ihn damals adoptiert hat, ist erst letztes Jahr gestorben, und er meinte immer, dass er damit warten wollte, bis sie nicht mehr lebt.«
»Wow. Da ist sie aber wirklich alt geworden.«
»Hundertsechs.«
Nanna Summers hatte zwei Weltkriege überlebt, doch manchmal frage ich mich, ob ein langes Leben eher ein Fluch oder ein Segen ist.
»Such raus, was du behalten willst, und überlass den Rest dann jemand anderem. Und werde bloß nicht rührselig«, empfiehlt mir Lou.
Eine Träne kullert über meine Wange. Erleichtert, dass Lou sie nicht sehen kann, wische ich sie fort.
»Am besten rufst du noch heute die Entrümpler an«, empfiehlt mir Lou. »Hör zu, ich muss jetzt los, aber falls du mich brauchst, kannst du mich jederzeit erreichen.«
Ich bedanke mich und lege auf. Dann konzentriere ich mich wieder auf das Entrümpeln des Hauses. Woher soll ich wissen, was sich aufzuheben lohnt? Die Bilder, ja, natürlich. Auf den Tischen, dem Kaminsims und den Fensterbrettern sind Kisten voll alter Aufnahmen verteilt. Sie sind vollkommen ungeordnet, und so mache ich eine kurze Reise durch die Zeit von mir als Kindergartenkind mit Zahnlücke zu mir als ungelenkem Teenager bis zu meinem Schulabschluss. Auch Momente aus dem Leben meines Vaters tauchen auf. Er sitzt auf einem Fischerboot und hält voller Stolz die selbst gefangene Makrele in die Kamera. Er hat immer gern geangelt und ist gern gesegelt. Es gibt sogar ein Bild von ihm und meiner Mutter bei einem Segelurlaub, noch vor ihrer Hochzeit, außerdem eins von mir als pausbackigem Kleinkind, das sie lächelnd in den Armen hält. Ich streiche eine weitere Aufnahme mit meinen Fingerspitzen glatt und stelle fest, dass es das Hochzeitsfoto meiner Eltern ist. Das hatte Dad immer in seiner Brieftasche. Er trug meine Mutter über all die Jahre immer dicht an seinem Herzen, und ich nehme an, sie hat ihm bis zum Schluss gefehlt.