Lyndal Roper

»Im Leben war ich Eure Plage«

Luthers Welt und sein Vermächtnis

Aus dem Englischen übersetzt von Karin Wördemann

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»›Living I Was Your Plague.‹ Martin Luther ’s World and Legacy«

© 2021 by Princeton University Press, Princeton, NJ, Woodstock, Oxfordshire

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,
gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von Martin Luther von
Lucas Cranach der Jüngere, 1543, (Ian Dagnall). Zweite Abb.: AF Archive.
Dritte Abb.: Panther Media GmbH, Abb. 1–3: ©Alamy Stock Photo.
Vierte Abb.: Plastikfigur von Martin Luther. © Ottmar Hörl.

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98482-8

E-Book ISBN 978-3-608-11848-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Ruth und für Martin

Vorwort

Im Frühjahr 2017 wurde ich gebeten, von Luthers Kanzel herab zu sprechen. Ich ahnte, dass es eine emotionale Erfahrung werden würde, hatte ich doch die letzten zwölf Jahre meines Lebens damit verbracht, eine Biographie des Reformators zu schreiben. Wenige Biographen kommen dem Ort, an dem ihr Protagonist gelebt und gewirkt hat, so nahe, und andere, die von der Wittenberger Kanzel herab sprechen durften, hatten mir von dem Einfluss dieser Erfahrung auf ihr Leben berichtet. Ich wusste auch, dass dieses Ereignis starke Erinnerungen an meinen Vater wecken würde, der erst zehn Monate zuvor verstorben war und der in meiner Kindheit in Melbourne, Australien, Pfarrer gewesen war.[1]

Aber ich hatte nicht erwartet, was dann geschah. Ich dachte an meinen Vater und daran, was es für ihn bedeutet hatte, Geistlicher zu sein, und als ich die Stufen zur Kanzel hinaufstieg, konnte ich den Druck, der mit dem Predigen auf ihm gelastet hatte, auf neue Weise nachempfinden. Zu meiner Überraschung konnte ich aber auch nicht aufhören, über etwas anderes nachzudenken, nämlich über das an der Außenseite der Kirche angebrachte Figurenrelief der »Judensau«. Diese Skulptur aus dem 14. Jahrhundert ist oben am Kirchturm angebracht worden und blickt in eine Richtung, in der sich einmal das jüdische Viertel befunden haben muss. Zu Luthers Zeit hatten die Juden Wittenberg bereits verlassen, und für eine jüdische Gemeinschaft nach 1422 gibt es keine Zeugnisse.[2] Das Relief zeigt eine riesige Sau, an der Juden Milch saugen, während ein Rabbi dem Schwein unter den Schwanz schaut. Beschriftet ist es mit Schem Hamphoras, einem späteren Schriftzug in kunstvollen gotischen Lettern. Schem Hamphoras bezeichnet den unaussprechlichen Namen Gottes, Worte, die nach jüdischem Glauben nicht niedergeschrieben werden sollten. Es ist eine abscheuliche Beleidigung für Juden (die kein Schweinefleisch verzehren), und es ist blasphemisch.

Abb. 0.1 Relief der »Judensau« an der Stadtkirche.Anonym, 13. Jahrhundert. Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg.

Der Gottesdienst wurde zweisprachig in Englisch und Deutsch abgehalten, wobei auch Mitglieder einer afrikanischen Kirche anwesend waren. Der deutsche Priester in seinem langen schwarzen Mantel, mit gestärktem weißen Kragen und Halskrause schien ein Wiedergänger aus dem 16. Jahrhundert zu sein. Als der Gottesdienst zu Ende war, gingen wir ins Sonnenlicht hinaus und er ließ mich wissen, wir würden uns nun zum Gemeindehaus begeben: »Dort werden Sie dann eine dreiviertel Stunde lang die Fragen der Gemeinde beantworten.« Das war in der Einladung nicht erwähnt worden; und tatsächlich lautete seine erste Frage: »Warum haben Sie behauptet, dass Luther antisemitisch war? Er war doch sicherlich antijudaistisch?«

Ich antwortete stockend in meinem unzulänglichen Deutsch, als ein anderes Mitglied der Gemeinde aufstand: »Natürlich war er antisemitisch! Wir haben uns alle Textstellen angesehen [hier nannte er die wichtigsten Passagen], wir haben Jahre damit verbracht, sie zu analysieren, und wir müssen es uns nur eingestehen und überlegen, was es bedeutet. Dies gehört zur Geschichte unserer Kirche.« Sein überaus verständiger, äußerst sachkundiger Einwurf war gewandt, kühn und inspirierend. Wer war dieser Mann?

Es war Friedrich Schorlemmer(1), ein berühmter ostdeutscher Akademiker und Pastor, ein Gegner des SED-Regimes, ein Vorkämpfer für Bürgerrechte und Friedensaktivist, der von der Stasi ausspioniert worden war und viele wichtige Bücher über Luthers Theologie geschrieben hatte. Und bald wurde mir klar, dass mir die Frau, die im Gottesdienst so viele Lesungen vorgetragen hatte, ebenfalls bekannt vorkam. Ich hatte ihr Gesicht auf einer großformatigen Fotografie von 1989 im Cranach(1)-Ateliermuseum gesehen, die aufgenommen worden war, als eine Gruppe von Wittenberger Bürgern das Schloss an der Tür aufbrach und schließlich in das Gebäude eindrang, um es zu retten, gerade zwei Wochen, bevor das SED-Regime zusammenbrach. Sie stehen alle inmitten der baufälligen Ruine, tragen Schutzhelme und schauen sich lächelnd um. Der Künstler Lucas Cranach(2) war der Hofmaler von Friedrich dem Weisen(1), dem Landesherrn Luthers, er lebte in Wittenberg und war ein enger Freund von Luther. Die Gruppe auf der Fotografie hatte über Jahre hinweg versucht, Erhaltungsmaßnahmen für das verfallende Gebäude zu erwirken. Die Frau, die ich in der Kirche traf, ist mittlerweile Direktorin der Cranach(3)-Höfe, ein schönes, restauriertes Gebäudeensemble und nach wie vor das Projekt einer Bürgerinitiative, die Menschen mit wenig oder gar keiner künstlerischen Erfahrung aus der ganzen Welt zu einem Aufenthalt und künstlerischer Betätigung einlädt. Später saß ich noch mit ihr und dem Pastor auf dem Wittenberger Marktplatz und aß ein kräftiges Bauernfrühstück, ein Gericht aus Eiern und Bratkartoffeln, das mich immer an das alte Ostdeutschland erinnert. Der Pastor erzählte mir von den wöchentlichen Protesten, die eine Beseitigung des Judensau-Reliefs verlangen, und sprach von seiner Scham, in einer Kirche predigen zu müssen, die, wie er sagte, eine andere Religion beleidigt.

Die Frage des Pastors, die ich nun ganz anders verstand, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte das Gefühl, noch einmal über Luthers Antisemitismus nachdenken zu müssen, obwohl ich darüber schon geschrieben hatte. War es ein religiöser und rassistischer Hass, und falls ja, wie weit hatte er Luthers Theologie und sein Konzept der Kirche durchdrungen? Das Ereignis erinnerte mich daran, warum ich von Luther so gefesselt war und warum ich von Deutschland fasziniert war – die Vorstellungskraft und der schöpferische Idealismus, die nötig waren, um die Cranach(4)-Höfe zu gründen, die Offenheit der deutschen Gesellschaft für Außenstehende wie mich, die Selbstverständlichkeit, mit der die gebildete akademische Debatte als Teil einer Diskussion in der Gemeinde nach einem Gottesdienst geradezu erwartet wurde. Niemand, nicht einmal ein Pastor mit weißem Kragen und Halskrause ist davor gefeit, dass seine Predigt kritisch geprüft und debattiert wird; und das Luthertum bleibt eine von Grund auf hierarchiefreie Konfession ohne Rangordnung, so wie ihr Begründer Luther keine formale Position in der Kirche innehatte und immer nur Gelehrter für die Heilige Schrift blieb. Am Ende werden auch meine Auffassungen beurteilt werden, und ich hoffe, dass meine Sicht auf Luthers Männlichkeit und seinen komplizierten Charakter die Diskussion darüber, wie wir großer Männer gedenken, ohne ihre Schwächen und Gewaltaffinität aus den Augen zu verlieren, weiter öffnen wird.

Einleitung

Das Luther-Gedenkjahr 2017 war nicht bloß ein Ereignis der Lokalgeschichte Wittenbergs und nicht einmal vornehmlich der Lutherischen Kirche. Luther war so lange mit dem Deutschsein schlechthin verknüpft, dass dieses Ereignis auch ein säkulares Gedenken war, ein Anlass, danach zu fragen, was Deutschsein heute bedeutet. Obwohl das Land 1990 formal wiedervereinigt wurde, ist der Unterschied zwischen dem ehemaligen Osten und dem ehemaligen Westen immer noch unverkennbar. Der Osten blieb merklich ärmer und heute, dreißig Jahre später, ist sein Idealismus ebenfalls noch verschieden, mit einem fortwährenden Bekenntnis zu Gleichheit und gemeinschaftlichen Werten und einem eingefleischten Argwohn gegenüber der Macht des Staates. Wenn das Jubiläumsjahr politisch irgendetwas bewirken sollte, dann bezweckte es, den Osten und den Westen einander näher zu bringen. Doch diejenigen, die von dem Bildungssystem im Osten geprägt waren, näherten sich Luther ganz anders. Sie wollten mehr über die wirtschaftliche Seite des Ablasshandels wissen und über den Reichtum und den Rang derer, die ihn befürworteten – Themen, die während der 500-Jahrfeiern nicht wirklich berücksichtigt wurden. Zudem stellten sie auch andere Fragen; Forscher aus dem ehemaligen Osten, die in der Denkmalpflege tätig waren, untersuchten zum Beispiel die Archäologie von Luthers Haus und veränderten unsere Sicht des Wohlstands der Familie. Doch weit davon entfernt, Osten und Westen zusammen zu bringen, drängte sich eher der Eindruck auf, die Fragen und Zugangsweisen Ostdeutschlands würden während des Gedenkjahrs oft untergehen, zugunsten einer neutraleren Annäherung, die an den Reformator als den Übersetzer der Bibel und den Erfinder der deutschen Sprache erinnerte.

Jubiläumsfeiern für Luther waren oft politisch aufgeladen und mit Fragen zur deutschen Identität verknüpft gewesen. Die erste Jahrhundertfeier zu den 95 Thesen wurde kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges begangen, dem katastrophalen Konflikt, der eine religiös und politisch aufgeladene militärische Auseinandersetzung entfesselte, die eine Generation lang währen sollte und weite Landstriche Deutschlands verwüstete. Im Jahr 1917 gedachte man mitten im Krieg, am Rande der Niederlage und vor der sich ankündigenden Revolution des Anschlags der 95 Thesen. Nun, in einem nach dem Zweiten Weltkrieg wiedervereinigten Land und mit einer Durchführung der Feierlichkeiten auf einem Territorium, das zuvor zum ostdeutschen Staat gehört hatte, war das Luther-Gedenken auch ein Versuch, Deutschlands Geschichte nicht mehr allein unter dem Aspekt des Nationalsozialismus und des Holocausts zu definieren – das heißt ein Versuch, eine »brauchbare Vergangenheit« zu finden.

Wie man Luther gedachte, war deshalb eine Frage von nationaler Bedeutung.[1] Dieser schwierige Held mit seiner zähen Entschlossenheit, seiner Liebe zu Bier und Schweinefleisch, seinem unnachsichtigen Hass, seinem Hang zu frauenfeindlichen Bonmots und seiner männlichkeitsbetonten Haltung, war schon immer eine Figur, an der sich die Geister schieden. Ihn anzunehmen, war daher nicht so einfach. Es konnte eigentlich nur mit Selbstironie geschehen und nur dann gelingen, wenn sich religiöse Spaltungen als entfernt genug für die konfessionelle Identität erwiesen, um mit einer nachsichtigeren Einstellung zu den bunten Charakteren des 16. Jahrhunderts überwunden werden zu können. Die Tatsache aber, dass Thomas Kaufmann(1), Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, ein Buch über Luther und die Juden veröffentlichte, in dem Luthers Antisemitismus ein für alle Mal bestätigt und dieser Antisemitismus nicht als ein Produkt seiner Zeit entschuldigt wurde, sorgte dafür, dass gerade dieses Problem zum Gegenstand einer nationalen Debatte wurde und zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg frontal angegangen wurde.[2]

Luther, so hatte es den Anschein, wirft immer Fragen nach der kulturellen und nationalen Identität auf, die weit über sein theologisches Vermächtnis hinausreichen. Von der Statur her ein Koloss wie Bismarck(1) scheint ihn sich jedes Zeitalter auf eigene Weise anzueignen – als historische Figur aber auszulöschen. Er wird entweder geliebt oder gehasst, und er löst selbst heute noch starke emotionale Reaktionen aus. Wie sich dieses Gedenkjahr entwickelte und welche Rituale des Erinnerns vollzogen wurden, offenbarte eine Menge über die deutsche Kultur und Politik: Hierzu hätte die Kulturgeschichte sicherlich viel zu sagen. Sie könnte uns dabei helfen, Luthers sturen Charakter zu untersuchen, seine grobschlächtige Männlichkeit, die Intensität seiner Anziehungskraft, und sie könnte die überall vorhandenen Spuren erklären, die er in der deutschen Kultur, musikalisch, sprachlich, materiell und visuell hinterlassen hat.

Im Laufe des Gedenkjahres dachte ich darüber nach, in welcher Weise die Biografie Luthers, die ich selbst verfasst hatte, zu einem Teil des Erinnerungskults wurde, und mir war dabei oft unbehaglich. Mir wurde klar, dass ich nicht genug getan hatte, um Luthers Antisemitismus zu hinterfragen oder herauszufinden, wie weit dieser sich in seine Theologie hinein erstreckte, wobei unter anderem meine Erfahrung, selbst von der Kanzel herab in Luthers Kirche zu sprechen, einen Anteil an diesem kritischen Impuls hatte. Ich spürte, dass ich auf die weniger angenehmen Seiten seines Erbes eingehen musste. Vor allem musste ich einen der Aspekte kritischer unter die Lupe nehmen, den ich an Luther am meisten liebte: sein lautstarkes maskulines Auftreten. Forschungen zur Männlichkeit schienen mir hierfür nicht die richtigen Werkzeuge zu liefern. Jahre zuvor war ich nicht erbaut gewesen von Historikern, die Männlichkeit in die »gute«, verantwortungsvolle Männlichkeit des Hausvaters einerseits und in grobes, zerstörerisches männliches Verhalten andererseits einteilten. Fraglos konnte man das eine nicht ohne das andere haben: Die aufrechten Patriarchen von heute waren die Rabauken von gestern. Da die Staatsmacht in der frühen Neuzeit letzten Endes auf Zwangsgewalt angewiesen war, brauchten die Obrigkeiten ihre jungen Männer, um den Gebrauch von Waffen zu erlernen (die Städte wurden von Bürgerwehren verteidigt). Und die Gesetzgeber mochten sich zwar gegen Trinkexzesse empören, aber Rituale männlicher Bündnisbildung beinhalteten – damals wie heute – den kollektiven Alkoholkonsum.[3] Ich fühlte mich irritiert von historischen Darstellungen, die den moralisierenden Ton der Obrigkeiten gegenüber den jungen Rowdys der Vergangenheit übernahmen, und war ungehalten bei denen, die behaupteten, von Luthers Derbheit schockiert zu sein, oder bei denen, die seine aggressive Polemik gegen Andersdenkende vom Tisch wischten. Für mich war das ein Teil von Luthers anarchischer Attraktivität, seine Weigerung, eine Heiligenfigur aus Gips zu sein. Das Gedenkjahr veranlasste mich jedoch, meine Neigung, die renitenten Eigenschaften Luthers in eine relativ positive Einschätzung seiner Persönlichkeit zu integrieren, skeptischer zu sehen und stattdessen mehr die Gefahren seiner habituellen Aggression herauszuarbeiten.

Wenn wir über Männlichkeit nachdenken – thematisch eines der am stärksten wachsenden Felder der historischen Genderforschung der letzten dreißig Jahre – kann uns das dabei helfen, Luther anders einzuschätzen. Man könnte zum Beispiel eine Geschichte der Reformation anhand der Gesichtsbehaarung von Luther schreiben: Der glattrasierte Mönch mit Tonsur machte dem struppigen, unrasierten, schnurrbärtigen Luther Platz, als dieser sich als Edelmann verkleidet auf der Wartburg versteckte. Der reife Luther sieht wieder rasiert aus, doch die Stoppeln auf seinem vorspringenden Kiefer sind normalerweise sichtbar. Die Werkstatt Cranachs(5) gab sich alle Mühe, Luther als einen virilen, potenten Mann zu zeigen, als eine Figur, die sich von einem zurückhaltenden Mönch deutlich unterschied. Man könnte sogar argumentieren, dass die Reformation in der Geschichte der Männlichkeit einen echten Moment des Wandels markierte, insofern sie das Ideal des Zölibats ablehnte, den Papst(1) als effeminiert verspottete sowie Mönche und Priester als alternative Modelle für Männlichkeit abschaffte. Die protestantischen Pastoren sollten nun wie die Stadtväter und würdevollen Bürokraten, in deren Diensten sie standen, Patriarchen sein. Anstelle einer Vielzahl von Formen der Männlichkeit schätzten die Lutheraner nur eine.

Abb. 0.2 Der Lutherschrein, Triptychon von Veit Thiem(1), 1572. Sammlung St. Peter und Paul (Herderkirche) in Weimar.

Eine Kulturgeschichte dieser Art hat zweifellos ihre verführerischen Seiten, doch unsere Darstellung muss komplexer ausfallen, weil Männlichkeit niemals einheitlich ist und die Individuen ihre sexuellen Identitäten selbst gestalten, auch wenn dies im Dialog mit sozialen Formen geschieht. Schließlich wurde Luther auch schon sehr früh in Doppelporträts mit dem sehr viel weniger viril wirkenden Melanchthon(1) abgebildet. Anders als Luther trug der jüngere Mann einen schütteren Bart, und da Melanchthon selbst nie Mönch gewesen war, musste er auch keine zölibatäre Männlichkeit zurückweisen; aber beide Männer wussten, dass Melanchthon der bessere Gelehrte war. Das maskuline Imponiergehabe des Reformators und sein tyrannischer Antagonismus gegenüber den Juden waren aus ein und demselben Stoff. In seinen letzten Lebensjahren forderte er die deutschen Regenten, darunter seinen eigenen Kurfürsten, auf, Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und geißelte die Kurfürsten Brandenburgs dafür, allzu tolerant zu sein. Dafür setzte er dieselbe polemische, prophetische Methode ein, die er schon frühzeitig entwickelt hatte, um in der Lage zu sein, der Macht gegenüber die Wahrheit auszusprechen (so wie er sie sah).

Luther sah sich gern als Held der Reformation und gefiel sich in seiner Männlichkeit. Sie gehörte zu der Art und Weise, wie er die Dominanz über seine jüngeren Anhänger herstellte. Sie hatte spielerische Aspekte – eine von Luthers größten Gaben war sein Sinn für Humor –, aber auch deutlich weniger angenehme Seiten. Im Jahr 1530, als Melanchthon(2) die Verhandlungen über die Anerkennung der Confessio Augustana – dem Augsburger Bekenntnis – zu führen hatte, verspottete ihn Luther wegen seines Mangels an männlichem Mut und seiner Weinerlichkeit. Es waren bissige Bemerkungen, die wohl weniger über die Männlichkeit im 16. Jahrhundert verraten als vielmehr über Luthers Hang, andere zu schikanieren.[4] Wenn Luther seine Frau Katharina(1) von Bora verspottete, weil sie nicht verstand, was »Rhetorik« war, oder wenn er erklärte, Klugheit sei das Gewand, das Frauen am schlechtesten stünde, wie uns die Tischgespräche (Aufzeichnungen, die Luthers Studenten von Gesprächen bei den Mahlzeiten machten) offenbaren, war Luthers Heiterkeit auch ein Mittel, um Frauen zum Schweigen zu bringen.[5] Luthers männlichkeitsbetonte polemische Art mag sogar ein Teil der Methode gewesen sein, wie er seine eigene Position zementierte und es anderen erschwerte, sich zu äußern. Sie trug auch dazu bei, Kompromisse – mit den Katholiken oder den Sakramentariern – unmöglich zu machen. So gesehen hat die Geschichte der Männlichkeit viel zu bieten, weil diese Art ungehobelter, rabaukenhafter Männlichkeit sogar diejenigen in ihren Bann zu schlagen vermag, die sie einschüchtert. Warum waren Luthers Anhänger, Frauen eingeschlossen, bereit, sich – zumindest über lange Zeit – widerspruchslos anzupassen? Und was konnte Luther mit einem solchen männlichen Imponiergehabe erreichen, wenn er die Grenzen dessen übertrat, was akzeptabel war, mit seinem ungehörigen Benehmen davonkam und die Aggression gegen seinen größten Feind, den Papst(2), richtete? Luthers Männlichkeit, so scheint es, hatte durchaus einen üblen Zug.

Luther dachte in binären Gegensätzen und teilte Menschen immer wieder in Freunde und Feinde ein. Seine Fähigkeit, die Welt in einen epischen moralischen Kampf zu verwandeln – überall den Teufel am Werk zu sehen, zu vereinfachen und die Dinge klar zu benennen –, war eine seiner größten Stärken, aber auch die Ursache seiner größten Schwächen. Dieses Muster zeigt sich ebenso in seinen theologischen Werken: Seine Fähigkeit, etwas mit einem »Namen« zu belegen, war ausschlaggebend für seine vernichtende Polemik, aber sie war auch eine seiner größten Begabungen als Theologe. Auf allen Gebieten von Luthers Wirken nach wiederkehrendem Verhalten zu suchen hilft uns, seine Theologie anders zu verstehen: Derselbe Luther, der treffende Spitznamen für seine Freunde prägte, indem er den Wittenberger Pastor Johannes Bugenhagen(1) »Dr. Pommer« nannte (er stammte aus Pommern, sprach Plattdeutsch und seine Predigten waren langatmig), und seinen Gegner Johannes Cochlaeus(1) als »die Schnecke« bezeichnete (Luther war ihm stets mehrere Schritte voraus), besaß außerdem das Talent, komplexe theologische Sachverhalte mit einem Wort zusammenzufassen.[6] Die Namengebung betrifft nicht zuletzt das Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit, eine für Luther in sowohl philosophischer als auch theologischer Hinsicht grundlegende Frage. Die vorliegenden Aufsätze sind ein Versuch, theologische Geschichte anders aufzuzäumen. Anstatt Ideen als unabhängige Kräfte mit ihrer eigenen Herkunftsgeschichte zu behandeln, versucht dieses Buch, sie im Zusammenhang mit der Person zu verstehen, die sie hervorgebracht hat, und sie nicht von ihren unbewussten und halbbewussten Verwendungsweisen zu unterscheiden. Es sucht ebenso sehr nach Denkmustern und -gewohnheiten wie nach ausdrücklichen Erklärungen.

Binäre Gegensätze strukturierten nicht nur Luthers Rhetorik in erheblichem Umfang, sondern auch einen beträchtlichen Teil der Reformationspropaganda. Von zentraler Bedeutung dafür war die Gegenüberstellung von Papst(3) und Christus. Die reformatorische Bewegung entwickelte einen unerbittlichen Antipapismus mit Luther als dem Helden, der das Papsttum als das entlarvte, was es aus ihrer Sicht wirklich war: der Antichrist. Selbst als Luther starb, wiederholte er die antipapistische Prophezeiung, die zugleich ein Fluch ist: »Lebend war ich dir die Pest, oh Papst(4), gestorben werde ich dein Tod sein.« Dieser bittere Aphorismus war in der lutherischen Gedenkkultur vom 16. Jahrhundert an erstaunlich weit verbreitet. Heutzutage sind diese angriffslustigen Worte vielfach getilgt worden, doch selbst wenn das nicht geschah, kann ihr Vorhandensein in einigen der vertrautesten Bildern der Reformation leicht übersehen werden. Luthers binäres Denken spiegelte sich beispielsweise in der Bildgestaltung, die Cranachs(6) Werkstatt für die neue Bewegung entwarf, mit klaren vertikalen Einteilungen in Gut und Böse und antipapistischen Karikaturen, die bisweilen an Hassbilder grenzten. Die damalige Papst(5)-Obsession zeigt sich nicht minder in den Beleidigungen, mit denen Luthers Gegner, sowohl Radikale als auch Katholiken, ihn überzogen. Müntzer(1) taufte ihn den Wittenberger Papst(6) und beschuldigte ihn, »den Scheinheiligen zu spielen mit den Fürsten« und »sich an die Stelle des Papstes(7) zu setzen«.[7] Er ist »der Elbpapst«, beklagte sich ein anderer ehemaliger Unterstützer.[8]

Gleichwohl leistete die Werkstatt Cranachs(7) weitaus mehr als die Herstellung von Hassbildern. Sie schuf neuartige Ikonographien für die Reformation – insbesondere von Gesetz und Evangelium –, die über die bloße Kontrastierung von Gegensätzen hinausgehen, obwohl sie binäre Formen verwenden. Beides, Gesetz wie Evangelium, wird benötigt, denn Christen brauchen das Gesetz, um ihre Sünden zu erkennen. Die Werkstatt entwarf eine Bildform, die dem Betrachter abverlangte, über verschiedene Abschnitte des Bildes zu meditieren, es in die eigene Andacht einzubeziehen, Worten und Zeichen zu folgen, um die wesentlichen theologischen Ideen zu erfassen.

Aber auch Luther war mehr als nur der tyrannische Patriarch. Normalerweise sind Träume kein Untersuchungsgebiet für Kirchenhistoriker. Doch wenn man Luthers Bericht von einem Traum in einem Brief an seinen Beichtvater Staupitz(1) liest, von dem er sich verlassen fühlt, wird man von seiner Schilderung, er fühle sich wie ein Kind, das »von seiner Mutter entwöhnt wird«, unweigerlich ergriffen. Die Entwöhnung ist für die Mutter wie für das Kind eine menschlich elementare physische Erfahrung, und dennoch sprechen wir selten darüber.[9] Wird ein Kind entwöhnt, findet eine allmähliche Trennung von der Mutter statt, und die beiderseitige Abhängigkeit ihrer Stoffwechselsysteme, die mit der Empfängnis beginnt, geht schließlich zu Ende. Für Mutter und Kind bedeutet es, eine tiefe Quelle ihrer physischen Verbindung und gemeinsamen Vergnügens zu verlieren. Beide müssen ohne diese orale Verbindung Trost finden und das Kind muss lernen, sich selbst zu beruhigen.

Es handelt sich dabei um eine universelle menschliche Erfahrung, doch wie Luther sich auf sie berief und was uns dies über eine bestimmte historische Zeit zu sagen vermag, ist höchst aufschlussreich. Die Worte wurden, wie Luther in einem Brief schrieb, dem Psalm 131 entnommen, einem Psalm, den Luther später übersetzte, indem er Worte wählte, die eher die passive Erfahrung des Kindes, entwöhnt zu werden vermittelten, und die aktive Seite des Kindes in dem Vorgang unklar ließen. In den Übersetzungen anderer hingegen ist das Kind zufrieden, seine Trennung von der Mutter erreicht zu haben. Fehler und Ungenauigkeiten sind normalerweise vielsagend, und zwar häufig mehr als wir dies unmittelbar wahrnehmen, wie Freud(1) vor langem deutlich machte: Luther »erinnert« den Psalm so, als vermittele er ein Gefühl der Verlassenheit, und nicht so, als habe das Kind zu einem Zustand der Zufriedenheit gefunden. Diese stark ausgeprägte Zweideutigkeit der Art und Weise, wie Luther eine Bibelstelle erinnerte, die für ihn sehr wichtig war, hilft uns zu verstehen, wie eng seine Bindung an Staupitz(2) war. Sie deutet auch an, dass er sich seinen Weg in die Unabhängigkeit erst ertastete, als er seinen eigenen theologischen Weg einschlug, und enthüllt etwas von dem Schmerz und der Verlassenheit, welche die Loslösung von der katholischen Kirche mit sich brachte.

Eine konventionelle psychoanalytische Interpretation könnte es darauf anlegen, mit diesem Traum Luthers Beziehung zu seiner Mutter(1) zu deuten, was allerdings ein Kurzschluss sein könnte, der einen vielschichtigen Charakter auf Entwöhnungs- und Entwicklungsprobleme verengt, über die wir in Luthers Fall nichts wissen. Auch eine psychoanalytische Beschreibung, die Luthers Theologie aus seiner Beziehung zu den Eltern ableiten wollte, wäre nicht zufriedenstellend – obwohl ihm die komplizierte Beziehung zu seinem Vater,(1) gegen den er rebellierte, indem er Augustinermönch wurde, ungewöhnliche Einsichten in den vaterbezogenen Aspekt im Verhältnis eines Christen zu Gott verschaffte und ihm verdeutlichte, wie dieser Vaterbezug zu einem Ringen mit Gott führen kann. Psychoanalytische Ideen nutzen Historikern nicht sehr viel, wenn sie dazu führen, ein Individuum zu pathologisieren. Sie dienen dann lediglich dazu, die Vielschichtigkeit eines Seelenlebens zu verringern, und sie helfen uns nicht dabei, das Denken der Individuen über die Zeit hinweg zu verstehen, das sich in allen ihren Gewohnheiten, Denkmustern, bewussten und unbewussten Neigungen und in ihren tatsächlichen Beziehungen zu anderen naturgemäß manifestiert. Sobald wir anfangen, diese herauszuarbeiten, können wir sehen, wie Träume – die gegenüber dem Wortlaut der Heiligen Schrift Fragen zum Wesen von göttlicher Eingebung und Prophetie aufwerfen – mit den zentralen Dilemmata von Luthers Reformation verbunden waren. Indem wir Fragen aus einem dezentralen Blickwinkel angehen und Themen betrachten, die an der Peripherie unseres wissenschaftlichen Blicks liegen, tauchen oft neue und unerwartete Verbindungen auf. So war zum Beispiel eine der zentralen theologischen Meinungsverschiedenheiten der Reformation mit dem Stellenwert von Träumen verbunden. Der revolutionäre Unruhestifter Thomas Müntzer(2) zog ätzend über Luthers Stellungnahme für die Reichen und Mächtigen her und leitete seine eigene Autorität zum Teil aus Träumen und Visionen ab. Luther seinerseits war im Hinblick auf Träume immer skeptisch und zog es vor, sich allein auf die Schrift zu verlassen – aber in der Heiligen Schrift kommen selbstverständlich auch prophetische Träume und Visionen vor. Luther konnte Träume nie ganz abtun, und seine scheinbare Skepsis verdeckte eine Faszination durch sie.

Den Menschen in Luthers Kreis vermittelten die Träume Hoffnungen und Ängste, weil sie es ihnen erlaubten, indirekt über diese zu reden, indem sie über mögliche Interpretationen ihrer Träume debattierten. Sie fragten sich zum Beispiel, ob der Adler, der sich in einem von Melanchthons(3) Träumen in eine Katze verwandelte, für den Kaiser(1) stand. Auf den Kaiser richteten sich viele Befürchtungen, während sie darauf warteten, ihm auf dem Reichstag von 1530 zu Augsburg ihr Glaubensbekenntnis präsentieren zu dürfen – das Dokument, das ihre neue Kirche begründete. Sie machten sich deswegen Sorgen, waren aber nicht in der Lage, mit Luther zu reden, der sich nicht weiter als bis zur Veste Coburg nähern konnte. Psychoanalytische Ideen könnten daher nicht nur helfen, die psychologischen Dilemmata von Individuen zu erhellen, sondern könnten auch die ganze Fülle von Beziehungen zwischen Menschengruppen aufdecken – und es war genau diese kollektive Dynamik, die für die Implementation der Reformation entscheidend war. Es waren allerdings nicht bloß harmonisch kooperative Beziehungen, sondern oft auch Beziehungen, in denen um Luthers Aufmerksamkeit rivalisiert wurde, und sie konnten gelegentlich Angriffe auf die Männlichkeit des jeweils anderen einschließen, wie in jeder Bewegung mit einem charismatischen Anführer. Der Blick auf diesen Untergrund der entstehenden Kirche soll keinesfalls schmälern, was die Wittenberger gemeinsam erreichten; er erinnert uns vielmehr daran, wie wichtig dieses Wittenberger Kollektiv für die Selbstwahrnehmung der Bewegung war: Die Abbildung der gemeinsam um einen Tisch versammelten Reformatoren war eine Ikonographie der Reformation, die nicht bloß im Luthertum Bestand hatte, sondern sogar vom ikonophoben Calvin(1)ismus kopiert wurde.

Für das Luthertum waren Bilder von großer Bedeutung, daher spielten Museumsausstellungen bei den Feierlichkeiten von 2017 eine herausragende Rolle. Die wohl inspirierendste dieser Ausstellungen, »Luther und die Avantgarde«, fand in Wittenbergs ehemaligem Gefängnis statt, einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Jedem Künstler wurde darin eine Gefängniszelle zugeteilt, die er oder sie beliebig nutzen konnte, um eine Idee zu Luther zu entwickeln und umzusetzen. In der unsystematischen Abfolge von Installationen, Videos, unterschiedlichen medialen Kunstwerken und Skulpturen war das zerbröckelnde Gemäuer ebenso sehr ein Teil der Schau wie die Ausstellungsobjekte, denn es erzeugte ein Nebeneinander aus dem architektonischen Erbe staatlicher Institutionen und der führenden zeitgenössischen Kunst westlichen Stils (nachdem das Gebäude im Deutschen Reich und in der DDR ein Gefängnis gewesen war, wurde es zuletzt als Depot zur Lagerung amtlicher Dokumente genutzt). Nicht alles war gelungen. Einige Künstler und Künstlerinnen glaubten offenbar, Luther sei ein Ikonoklast gewesen, der danach trachtete, sämtliche religiösen Bildnisse zu zerstören – was er keineswegs war –, während andere meinten, er stünde für die Freiheit des Individuums. Doch einige der Ausstellungsstücke vermittelten Aspekte von Luther, zu denen die Forschung keinen Zugang gefunden hatte. Ich war insbesondere von Erwin Wurms »Boxhandschuh« in Orange beeindruckt, der den Besucher schon bei der Ankunft in der Ausstellung begrüßte und jene maskuline Aggression wiedergab, die so sehr Luthers Stil gewesen war (siehe Abbildung 1.19).[10] Ein weiteres Werk war ein Schwindel erregendes Gefängnis aus durchsichtigen Plastikröhren in einer käfigähnlichen Struktur des chinesischen Künstlers Song Dong(1), das mit Süßigkeiten gefüllt und oben auf einem Spiegel platziert war, der die gesamte Stellfläche ausfüllte. Dieser Installation gelang es irgendwie, die Selbstbezüglichkeit von Luthers Denken nachzubilden, weil sie vermittelte, wie sich eine solche befreiende Theologie in ihrer Endlosschleife unaufhörlich wiederholter Schlüsselbegriffe mit sich selbst begnügen konnte.[11] Vor allem aber zeigte schon die bloße Kreativität und der Einfallsreichtum dieser Ausstellung, dass das Luthertum längst nicht auf Museen beschränkt ist und zu außergewöhnlicher Kunst inspirieren kann.[12]

So wie es das von Anfang an getan hat. Keine andere protestantische Religionsgemeinschaft hätte eine solche erstaunliche Anzahl von Ausstellungen ausrichten können, weil keine andere ein so umfangreiches materielles und visuelles Erbe pflegte. Die meisten anderen protestantischen Gemeinschaften teilten bilderstürmerische Instinkte, misstrauten üppigen Altarbildern, die möglicherweise die Sinne auf Abwege führen konnten, und bevorzugten weiß getünchte Wände oder einfache Sprüche aus der Heiligen Schrift. Nicht so Luther: Er blieb von Anfang an näher am Katholizismus, den er verlassen hatte, und obwohl die Lutheraner ihre Kirchen umgestalteten, um didaktische Kunst einzubeziehen – mit Gemälden, die zeigen, wie Christus die Kinder segnet, wodurch sie die Bedeutung der Kindertaufe unterstrichen, oder mit Bildern, die Gesetz und Evangelium thematisieren –, schmückten sie die Orte ihres Gottesdienstes mit ansprechenden und der Mode der Zeit entsprechenden manieristischen Gestaltungen. Sie statteten ihre Kirchen auch mit Bildern des Reformators selbst aus. Der Künstler Lucas Cranach(8) zählte zu Luthers ältesten Freunden und frühesten Unterstützern, und wie das Lutherjahr gezeigt hat, tat er mehr als jeder andere Künstler dafür, die bemerkenswerten Kirchen von Sachsen und Thüringen zu gestalten, Luthers Gesicht bekannt zu machen und den Stil frühmoderner lutherischer Drucke zu prägen.[13] Das Luthertum war ebenso sehr eine visuelle und materielle Kultur wie eine musikalische. Und wenn wir glauben, dass wir Luther als Individuum »kennen« können, liegt das größtenteils daran, dass wir mit dem Luther aus Cranachs(9) Werkstatt so vertraut sind – dem Mann mit tiefsitzenden, weitblickenden Augen, der selbstbewusst robusten Haltung und der widerspenstigen Locke, die unter seinem Doktorhut respektlos hervorlugt. Selbst wenn dieses Buch Luther auch gelegentlich kritisieren kann oder auf weniger angenehme Seiten von Luthers Vermächtnis hinweisen wird, so hoffe ich doch, dass dies im Geist des Luthertums aufgenommen werden wird, den ich so bewundere: sein ausgeprägter Anti-Autoritarismus, sein politisches Engagement und sein Insistieren auf Argumentation, Diskussion und kritische Bewertung der eigenen Geschichte.

Abb. 0.3 Porträt von Martin Luther, Cranach(10) der Ältere, 1528.

1. Kapitel

Cranachs(11) Luther

Die Zusammenarbeit zwischen Luther und dem Künstler Lucas Cranach(12) dem Älteren trug vielleicht mehr zum Erfolg der Reformation bei als irgendetwas sonst, wenn wir von Luthers Schriften einmal absehen. Cranach(13) wohnte gleich bei Luther um die Ecke, und seine Werkstatt produzierte eine Reihe von Bildnissen des Reformators, gestaltete aber auch Bücher, illustrierte die deutsche Bibel und entwarf den Stil neuer Kirchen. Cranach(14) war der Hofmaler von Friedrich dem Weisen(2), Luthers Landesherrn. Er schuf höchst originelle, eindrucksvolle Werke, wie seine sinnlichen Szenen des »Jungbrunnens«, seine Darstellungen von Adam oder von Eva und seine verführerischen Akte. Im Vergleich dazu sind die Porträts von Luther aus dieser Werkstatt künstlerisch dürftig. Und dennoch sind sie möglicherweise die erfolgreichsten Werke aus ihrer gesamten Bilderfertigung, weil sie Luther wiedererkennbar machten – eine Wirkung, die bis in unsere Zeit anhält: Es ist Cranachs(15) Luther, der den Umschlag von nahezu jeder Biografie des Reformators ziert, die heute verkauft wird, und es ist sein Luther, der einem sogar auf der Glasur von Marzipan-Souvenirs in Wittenberg ins Auge sticht. Luthers Gesicht wurde darüber hinaus zu einem wichtigen Zeitpunkt in der Geschichte der Porträtkunst berühmt, als die Porträtierung unter den reichen Bürgerschichten des 16. Jahrhunderts in den deutschen Ländern gerade in Mode kam, die Künstler ihr Repertoire über die religiöse Ikonographie hinaus vergrößerten und anfingen, Bildnisse von Individuen für einen weltlichen Markt zu produzieren. Vermutlich war Luther der erste, dessen Gesicht allgemein bekannt wurde, obwohl er nicht zur Riege der Herrscher gehörte.[1]

Cranach(16) war ein ganzes Jahrzehnt älter als Luther. Er wurde 1504 Hofmaler bei Friedrich dem Weisen(3), dem sächsischen Kurfürsten, und siedelte sich in Wittenberg an. Das war sieben Jahre bevor Luther auf Dauer nach Wittenberg zog. Cranach(17) verließ die Stadt erst nach Luthers Tod und starb 1553 in Weimar. Danach wurde die Werkstatt von seinem Sohn, Lucas Cranach dem Jüngeren(1), übernommen. Luther und der Künstler sind offenbar bald feste Freunde geworden; Luther ging gern beim Lagerhaus des Malers im Stadtkern vorbei, um zu schauen, was es Neues von der Leipziger Messe gab, denn Cranach(18)[2](19)(20)[3](21)Tischreden(22)(2)[4](23)(1)(24)[5]