Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Playlist
Teil 1
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Teil 2
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Teil 3
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Laura Kneidl bei LYX
Impressum
Herz aus Schatten
Roman
Kaylas Leben ist vorbestimmt: In eine Familie von Bändigern hineingeboren, liegt es in ihrer Verantwortung, Praha gegen die grausamen Monster zu verteidigen, die in den Wäldern jenseits der Stadtmauer lauern. Allerdings hadert Kayla schon lange mit ihrem Schicksal. Obwohl sie seit ihrer Kindheit an einer Akademie für ihre Aufgaben ausgebildet wird, fühlt sie sich mit jedem Tag weniger bereit, diese anzutreten. Was, wenn sie es nicht schafft, ein Monster zu zähmen? Was, wenn sie die Kontrolle verliert und die Bewohner der Stadt in noch größere Gefahr bringt? Doch sie überwindet ihre Angst, und mit ihren Fähigkeiten gelingt es ihr, einen Schattenwolf an sich zu binden! Eigentlich soll dieser ihr nur beim Kampf gegen andere dunkle Kreaturen helfen – stattdessen stellt er ihr Weltbild völlig auf den Kopf: Denn über Nacht verwandelt sich das Monster plötzlich in einen Mann! Einen sehr attraktiven und eindeutig menschlichen jungen Mann, der sich nicht an seine Vergangenheit erinnern kann – und der immer wieder mit der Dunkelheit kämpfen muss, die ihn einzunehmen droht und die auch Kayla zum Verhängnis werden könnte …
Liebe Leser:innen,
bitte beachtet, dass Herz aus Schatten Elemente enthält, die triggern können. Diese sind:
Häusliche Gewalt, Selbstverletzung und Suizid
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Laura und euer LYX-Verlag
In Gedenken an Chester Bennington, der sich wenige Tage bevor ich dieses Buch beendet habe, das Leben genommen hat. Und der mich und viele andere mit seiner Stimme und seinen Songs durch die Dunkelheit geleitet hat.
Linkin Park – Crawling
Royal Blood – Blood Hands
The Silent Comedy – Bartholomew
Hozier – Arsonist’s Lullabye
Dorothy – Gun In My Hand
Johnny Cash – God’s Gonna Cut You Down
Woodkid – Run Boy Run
Royal Blood – Little Monster
Black Mountain – Don’t Run Our Hearts Around
Ruelle – Game Of Survival
Shinedown – Cry For Help
Florence + The Machine – Delilah
The Pretty Reckless – Heaven Knows
Highly Suspect – My Name Is Human
Goodbye June – Oh No
Hozier – In the Woods Somewhere
Casper – Lang Lebe Der Tod
All them Witches – When God Comes Back
Jack White – Lazaretto
IZII feat. The Powder Room – Birds
Blues Saraceno – Evil Ways (Justice Mix)
Bryce Fox – Horns
Molly Kate Kestner – Good Die Young
Welshly Arms – Need You Tonight
Linkin Park – One More Light
Ich schmeckte Blut. Mit einem stummen Fluch nahm ich die Hand von meinem Mund und betrachtete den Nagel, den ich bis zum Fleisch abgekaut hatte. Eine Blutperle bildete sich auf meiner Haut, ehe sie als Rinnsal meinen Daumen hinablief.
»Verdammt«, murmelte ich und sah mich hinter der Ladentheke nach etwas um, mit dem ich die Blutung stoppen konnte. In einer Schublade unter der Kasse fand ich einen ausgefransten Stofffetzen. Ich wickelte ihn um die Wunde und ballte meine Hand zur Faust, den Daumen eingeklemmt. Eigentlich kaute ich nicht an den Nägeln, aber in letzter Zeit wusste ich mir nicht anders zu helfen. Ich musste etwas tun. Irgendetwas, um mit dieser Unruhe in mir klarzukommen. Außerdem hatte der pochende Schmerz in meinem Finger auch etwas Gutes. Er erinnerte mich daran, dass ich am Leben war.
Mal sehen, wie lange noch, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf und mein Blick zuckte nervös zu der Wanduhr, die über dem Eingang des Kráms hing, seit Frída den Laden vor gut zehn Jahren eröffnet hatte. Die Sonne würde in einer Stunde untergehen und ebenso wie das Tageslicht schwand allmählich auch meine Hoffnung. Doch was hatte ich erwartet? Hatte ich ernsthaft geglaubt, jemand würde mich von der Pflicht befreien, die mir in die Wiege gelegt worden war? Ich war als Bändigerin geboren worden und würde als Bändigerin sterben. Wenn ich nicht aufpasste, vielleicht schon heute oder morgen, wenn ich Glück hatte, erst in dreißig oder vierzig Jahren. Aber eines war auf jeden Fall gewiss: dass die wenigsten Bändiger ein langes und erfülltes Leben führten. Dafür sorgten die Monster, die jenseits der Stadtmauer von Praha lauerten.
Ich atmete tief ein, bis meine Brust spannte, verdrängte all meine Sorgen und Ängste, die mit der heutigen Nacht zusammenhingen, und beschloss mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich konnte ohnehin nichts mehr an meiner Situation ändern.
Auf der Suche nach Ablenkung sah ich mich im Krám um. Der Laden meiner Stiefmutter war mit den Jahren ein zweites Zuhause für mich geworden. Die niedrige Decke und die steinernen Wände waren mir ebenso vertraut wie die unzähligen Regale, die mit den Überresten von Monstern bestückt waren. Flaschen gefüllt mit schwarzem Blut reihten sich auf den Brettern aneinander, daneben standen Körbe mit Krallen von Knochenträgern und Stacheln von Blutgängern. Traumfänger, die aus den Federn von Dunkelwebern geflochten waren und als Talismane verkauft wurden, baumelten von der Decke und wiegten sich sanft im Wind, der sich durch die Ritzen im Mauerwerk drückte. Und nirgendwo lag auch nur ein einziges Staubkorn, dafür hatte ich in den vergangenen Stunden gesorgt. Alles stand in Reih und Glied am richtigen Platz. Ich hatte sogar die verblassten Etiketten der Hovno-Dosen nachgezeichnet, die seit jeher im hintersten Teil des Ladens lagerten. Angeblich besaßen sie eine heilende Wirkung und verlangsamten den Alterungsprozess, aber ehrlich gesagt sah ich mit vierzig lieber aus wie siebzig, bevor ich mir Schattenläufer-Exkremente ins Gesicht schmierte.
Das verträumte Klimpern des Windspiels neben der Eingangstür erklang und ein Windstoß wehte mir das blonde Haar ins Gesicht. »Ahoj, Kayla«, begrüßte mich Marek und kam durch den Laden auf mich zugeschlendert. Seine Wangen waren gerötet von der Arbeit in der Waffenschmiede, die zum Laden gehörte und von meiner Mutter geführt wurde. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und liefen ihm vereinzelt das Gesicht hinab, über den Hals, bis in den Kragen seines Hemdes, das mit Ruß und Asche verschmiert war.
»Harter Tag?«
Ich löste den Stofffetzen, den ich noch immer um meinen Daumen gewickelt hatte, von meinem Finger und warf ihn Marek zu. Die aufgekaute Stelle an meinem Nagel hatte inzwischen aufgehört zu bluten.
Geschickt fing Marek das Tuch. Dabei blitzten die silbernen Ringe an seinen Fingern im Schein der Lampe auf. Er betrachtete den roten Fleck auf dem Stoff skeptisch, bevor er seine Finger daran abwischte. »Du bist unverbesserlich«, erklärte er, ohne auf meine Frage zu antworten.
»Ich bin nervös.«
»Dafür gibt es keinen Grund.«
Ich wedelte mit der Hand vielsagend in Richtung des Regals mit den Zähnen und Klauen. »Du machst dir also keine Sorgen darüber, dass mir irgendein Monster heute Nacht das Fleisch von den Knochen nagen könnte?«, fragte ich nur halb im Scherz, denn der Gedanke an die Kreaturen ließ mich erschaudern. Mir wurde einmal mehr bewusst, dass ich schon bald das erste Mal in meinem Leben die Sicherheit der Stadt verlassen würde, um eines dieser Monster für mich zu beanspruchen. Ginge es nach mir, würde ich mich ihnen auf hundert Fuß nicht nähern, doch dank der Gene, die mir mein Vater vererbt hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Bändigerin zu werden, die ich nicht sein wollte.
»Nein«, versicherte mir Marek mit fester Stimme und einem Lächeln. Noch vor zwei Jahren war dieses schüchtern und unbeholfen gewesen, aber mittlerweile wirkte es selbstsicher und entschlossen. Es war nichts mehr von dem dürren Jungen mit den zotteligen Haaren aus dem Waisenhaus zu erkennen, den meine Mutter und Frída vor sechs Jahren aufgenommen hatten. Heute überragte mich Marek um einen halben Kopf, hatte Muskeln von der harten Arbeit in der Waffenschmiede, und das Braun seiner Haare war nur noch zu erkennen, wenn er sich den Schädel nicht gerade frisch rasiert hatte. »Jakub und Benedict werden nicht zulassen, dass dir etwas zustößt.«
Bei Miloš haben sie es zugelassen.
Ich sprach den Gedanken nicht aus. Wir hatten diese Diskussion schon in Hunderten von Varianten geführt und kamen immer nur zu der Einigung, uns nicht einig zu sein.
Marek war mutig.
Ich nicht.
Er wollte etwas in dieser Stadt verändern.
Ich nicht.
Er hatte Vertrauen in meine Fähigkeiten.
Ich nicht.
Egal, wie oft er mir das sagte, ich schaffte es nicht, das Selbstbewusstsein heraufzubeschwören, das anscheinend all die anderen Bändiger verspürten. Sie freuten sich auf heute Nacht und machten sich keine Sorgen darum, was passieren könnte, würden sie die Kontrolle über ihr zukünftiges Monster verlieren. Ich hingegen konnte an nichts anderes denken. Und noch mehr als meinen eigenen Tod fürchtete ich, Unschuldige zu verletzen, wenn ich nicht stark genug war, um das Ungeheuer in Schach zu halten, das ich in die Stadt bringen würde.
»Was machst du eigentlich hier? Brauchst du was?«, fragte ich Marek, um das Thema zu wechseln.
»Darf ich meine beste Freundin etwa nicht einfach so besuchen?«
»Nein«, antwortete ich schlicht, aber mein Tonfall war neckisch.
»Pah! Ich hoffe, ein Blutgänger frisst dich auf.«
»Dir ist schon klar, dass du dann hier aushelfen musst?« Er hasste es, im Krám zu arbeiten. Man konnte nichts tun, als auf Kundschaft zu warten oder zu putzen.
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Okay, dann vielleicht doch nicht.«
»Das dachte ich mir.« Ich grinste ihn an. »Aber jetzt sag schon, brauchst du etwas?«
Marek schüttelte den Kopf, wobei die zahlreichen Ringe in seinen Ohren gegeneinanderstießen und leise klirrten. »Ich wollte dir für heute Nacht nur viel Erfolg wünschen«, erklärte er und trat noch etwas näher an die Theke heran. Er roch nach Rauch und Metall. »Mach dir nicht so viele Gedanken, bleib locker und vertrau deinem Instinkt.«
Ein Geräusch, das irgendwo zwischen einem Lachen und Schnauben lag, entfuhr meinen Lippen. Mich von meinen Instinkten führen zu lassen war das Letzte, was ich wollte. Die Monster ließen sich von ihrer animalischen Seite treiben, da wollte zumindest ich bei Verstand bleiben. »Ich verzichte.«
»Wenn du meinst. Aber wenn du nicht aufhörst, dir ständig über alles den Kopf zu zerbrechen, wirst du noch frühzeitig runzelig werden.« Er streckte mir seinen Zeigefinger entgegen und berührte die Falte zwischen meinen Augenbrauen, die es sich dort in den letzten Monaten gemütlich gemacht hatte.
»Lass das.« Ich schlug seine Hand weg.
Marek seufzte. »Ich will damit nur sagen: Was auch immer heute passiert, du schaffst das. Du bist dazu geboren worden, eine Bändigerin zu sein. Es liegt dir im Blut. Denk an all das, was du in Zukunft leisten kannst! Es wird Zeit, dass jemand wie du das System aufmischt, damit die Dinge in dieser Stadt endlich wieder anders laufen.«
Die Hoffnung, die in Mareks Worten mitschwang, sollte mich ermutigen. Stattdessen fühlte ich mich wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln – unfähig zu tun, wofür ich geboren war, sosehr ich es auch versuchte. Der Bruch war da. Unheilbar. Meine Knochen von der Erinnerung an Miloš zertrümmert.
Das erneute Klimpern des Windspiels rettete mich davor, etwas erwidern zu müssen. Ich erwartete meine Mutter, da sie die Schmiede für heute geschlossen hatte. Stattdessen entdeckte ich Alexandr, einen Bändiger aus meinem Jahrgang und meinen einzigen Freund an der Akademie. »Ahoj!«, rief Alexandr heiter und lauter, als es in unserem kleinen Krám nötig gewesen wäre.
»Hey.« Ich lächelte ihn an. »Du bist aber früh dran.«
»Ich habe es zu Hause nicht länger ausgehalten. Du kennst meine Eltern, sie hassen alles, was mit den Bändigern zu tun hat. Tage wie heute führen ihnen nur vor Augen, dass meine Mutter damals Scheiße gebaut hat«, sagte Alexandr betont gleichgültig und blieb neben dem Regal mit den Blutflaschen stehen. »Und wie läuft’s bei dir?«
»Dasselbe wie immer. Rumstehen. Auf Kundschaft warten. Regale putzen.«
»Also ein ruhiger Tag.«
»Das kannst du laut sagen. Heute Morgen waren ein paar Leute da, um Traumfänger zu kaufen, aber das war’s auch schon.« Meistens genoss ich es, allein im Krám zu sein. Ich konnte meinen Gedanken nachhängen und Ideen für die Waffen meine Mutter austüfteln, aber heute wäre ich ausnahmsweise dankbar für etwas Ablenkung gewesen.
»Und wie läuft es in der Schmiede?«, fragte Alexandr an Marek gewandt. Er lief von den Blutflaschen weiter zu den Dosen mit den zermahlenen Knochen und schüttelte eine. Das weiße Pulver hätte man genauso gut für normales Mehl halten können.
»Ich kann mich nicht beklagen.«
»Woran arbeitest du gerade?«, fragte Alexandr leichthin und stellte die Dose zurück, als hätte er sich nur nach dem Wetter erkundigt – dabei wusste er genau, dass es Marek und mir nicht erlaubt war, über unfertige Erfindungen zu reden. Unsere Mutter lebte immer in der Angst, jemand könnte ihre Ideen klauen oder die Entwicklung neuer Waffen vereiteln.
»Darüber darf ich nicht reden«, sagte Marek.
»Ach, komm schon. Nur ein Tipp«, flehte er und trat neben Marek an die Theke. Im Vergleich zu ihm wirkte Alexandr noch schmächtiger. Sein Körper erinnerte an einen kahlen, getrockneten Ast – lang und dürr. Sein braunes Haar trug er schulterlang, aber die meiste Zeit zu einem Knoten gebunden, und die vollen Lippen gepaart mit seinen sanften Gesichtszügen ließen ihn jünger als siebzehn erscheinen. »Bitte.«
Mareks Blick wanderte zu mir. Jedes Mal, wenn die beiden sich trafen, stellte Alexandr ihm diese Frage. Ob aus reiner Neugierde oder nur, um ihn zu nerven, war inzwischen schwer zu sagen; vermutlich eine Mischung aus beidem. Marek stieß ein Seufzen aus. »Okay, einen Hinweis geb ich dir. Aber du darfst mit niemandem darüber sprechen«, sagte er und klang ernst.
Alexandrs Gesicht hellte sich auf. »Versprochen.«
Marek beugte sich ganz dicht an Alexandrs Ohr. »Wir arbeiten an Waffen.« Er legte eine Kunstpause ein. »Um Monster zu töten.«
Erwartungsvoll sah Alexandr ihn an und wartete darauf, dass Marek weitersprach. Für einige Sekunden behielt dieser eine völlig ausdruckslose Miene bei, bis schließlich ein Lächeln in seinen Mundwinkeln zu zucken begann. Da dämmerte es Alexandr, dass Marek ihn an der Nase herumführte und ihm nicht wirklich etwas verraten würde. Er wich zurück und verpasste Marek einen Stoß gegen die Schulter. »Du bist so ein Idiot.«
Er lachte. »Komm schon, hast du wirklich gedacht, ich würde dir etwas erzählen? Zuzane würde mich umbringen, wenn ich euch Bändigern irgendetwas stecke.«
Alexandr stieß ein Schnauben aus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kayla ist eine Bändigerin und sie weiß es.« Er sah mich an und etwas wie Verunsicherung blitzte in seinen Augen auf. »Oder?«
Ja. Ich schüttelte den Kopf, denn ich wollte nicht über das reden, was in der Waffenschmiede vor sich ging. Mein schlechtes Gewissen war schon groß genug.
Unruhig sah ich zur Wanduhr. »Glaubst du, Frída wird böse, wenn wir heute früher schließen?«, fragte ich Marek. Eigentlich sollte der Krám noch eine halbe Stunde geöffnet sein, aber nun war Alexandr schon da. Und ich vermutete, dass ohnehin keine Kundschaft mehr kommen würde. Die meisten Einwohner Prahas verbarrikadierten sich kurz vor Sonnenuntergang bereits in ihren Häusern und die Bändiger waren dabei, sich auf die Nacht vorzubereiten.
»Bestimmt nicht. Aber wenn du willst, kann ich die Stellung halten.«
Überrascht schossen meine Augenbrauen in die Höhe. »Das würdest du für mich tun?«
Er lächelte. »Ausnahmsweise.«
»Danke.« Ich wollte ihn schon umarmen, doch der Anblick seines verschwitzten Hemdes ließ mich innehalten. »Gebt mir fünf Minuten, um mich umzuziehen«, sagte ich zu Alexandr, drehte mich um und verschwand hinter dem Vorhang, der hinter der Ladentheke gespannt war. Auf der anderen Seite lag versteckt eine Treppe, die in den ersten Stock und die Wohnung von Frída und meiner Mutter führte. Sie war gemütlich eingerichtet, mit vielen Kerzen und Fellen, aber es lagen natürlich auch einige Skurrilitäten aus dem Krám und der Waffenschmiede herum.
Ich lief in das Zimmer, das Frída und meine Mutter für mich hergerichtet hatten. Obwohl ich seit Jahren in der Akademie lebte, genoss ich es hin und wieder, in die familiäre Umgebung zurückzukehren. Am Morgen hatte ich mir meine Livrej auf dem Bett bereitgelegt. Ich zog meine Kleidung aus und schlüpfte in die schwarze Uniform der Bändiger. Sie war einfach geschnitten, mit einem hohen Kragen und einer Reihe silberner Knöpfe, die schräg über die Brust verliefen. An der Hose war ein silberner Gürtel mit Schlaufen befestigt, um Waffen daran anzubringen.
Ich strich den Stoff glatt und betrachtete mich im Spiegel, der im Kleiderschrank eingelassen war. Obwohl ich die Livrej schon zu einigen offiziellen Anlässen getragen hatte, kam ich mir darin verkleidet vor. Ich fragte mich, ob man mir dieses Gefühl anmerkte. Vermutlich nicht, denn Benedict konnte ich mir ohne seine Livrej kaum mehr vorstellen, und ich war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten mit meinem spitzen Kinn, der schmalen Nase und den rabenschwarzen Augen, die mich und alle anderen Bändiger kennzeichneten.
Mehrere Minuten starrte ich mein Spiegelbild an, ohne wirklich etwas zu sehen, unfähig, mich zu bewegen. Meine Füße waren wie angewurzelt. Sobald ich die Treppe hinunterlief und mit Alexandr den Krám verließ, gab es für mich kein Zurück mehr. Wir würden die Stadt bis zu der Mauer durchqueren, hinein in die Dunkelheit und zu den Monstern, die meinen Bruder getötet hatten.
Praha war eine Geisterstadt – die Straßen durch die Bedrohung der hereinbrechenden Nacht leer gefegt. Seit ich denken konnte, war es den Nicht-Bändigern untersagt, nach Sonnenuntergang im Freien zu sein, da die Nacht den Monstern gehörte. Zwar wurde die Stadt von der Mauer geschützt, die ringsherum errichtet worden war, aber sie bot keinen vollständigen Schutz, vor allem nicht vor den Dunkelwebern. Diese waren kleiner als die anderen Monster, aber von ihrer Größe durfte man sich nicht täuschen lassen. Sie waren alles andere als harmlos mit ihren spitzen Schnäbeln, den scharfen Krallen und den knochigen Flügeln, mit denen sie die Mauer mühelos überwinden konnten.
Immer wieder war Praha in den vergangenen Jahren von ganzen Schwärmen aus Dunkelwebern angegriffen worden und es war vor allem der Ausgangssperre zu verdanken, dass es dabei nur wenige Tote in der Zivilbevölkerung gegeben hatte – bei Bändigern sah das anders aus.
Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel, der sich im Schein der untergehenden Sonne langsam verfärbte. Keine Dunkelweber waren am Horizont zu sehen, nur Krähen, die auf der Suche nach einem Versteck für die Nacht träge über der Stadt kreisten. Die Tiere waren nicht dumm. Im Gegensatz zu uns.
Mir wurde bewusst, dass ich hinter Alexandr zurückgefallen war, und ich beschleunigte meine Schritte. Der Kies knirschte unter meinen Stiefeln und ich wünschte, ich könnte einfach in einer der schmalen Gassen untertauchen, bis die Nacht vorüber war.
»Welches Monster hättest du am liebsten?«, fragte Alexandr. Er zog das Gummi aus seinen Haaren, um seinen Zopf neu zu binden, da sich einige Strähnen im pfeifenden Wind gelöst hatten.
Keines. Ich biss mir auf die Unterlippe. Mit Marek über meine Zweifel zu reden war eine Sache, er war kein Bändiger. Alexandr wollte ich meine Sorgen aber lieber nicht anvertrauen. Auch wenn ich vermutete, dass er meine Einstellung aufgrund meiner schlechten Leistungen in der Akademie bereits erahnte.
Auf mein Schweigen hin zog Alexandr erwartungsvoll die Augenbrauen hoch. Die wenigsten Bändiger zögerten bei einer Frage wie dieser. Seit Jahren lernten wir alles über die Monster und ihre Eigenarten, da war es nur natürlich, eine Vorliebe zu entwickeln. Aber wir konnten nicht einfach zwischen Schattenläufern, Knochenträgern, Blutgängern und Dunkelwebern wählen wie zwischen den Hemden in unserem Kleiderschrank. Denn entgegen dem Glauben vieler Bändiger waren Monster keine gefühllosen Wesen – sie hatten Persönlichkeit und Charakter, und nicht jedes Monster passte zu jedem Bändiger.
Es war wie mit den Menschen, denen wir in unserem Leben begegneten. Manche waren dazu bestimmt, für immer zu bleiben, andere sollten nur flüchtige Bekanntschaften sein. Bei ihnen sprang der Funke einfach nicht über und niemand konnte mit Gewissheit sagen, warum das so war. Meine letzte Hoffnung, heute ohne ein Monster davonzukommen, bestand darin, dass sie für mich alle nur flüchtige Bekanntschaften waren, die nicht zu mir passten. Aber so viel Glück würde ich vermutlich nicht haben. Außerdem würde es die Sache nur aufschieben, nicht verhindern.
»Ich glaube, mir wäre ein Dunkelweber am liebsten«, log ich schließlich, zumal die Wahrscheinlichkeit, einen solchen zu bekommen, ziemlich groß war, denn Dunkelweber waren die verbreitetsten Monster. Einige besaßen die Fähigkeit, Illusionen zu erschaffen und Menschen Dinge sehen zu lassen, die nicht wirklich da waren. Selbst ich musste zugeben, dass dies ein außergewöhnlich spannende Gabe war.
»Und was wäre dir am liebsten?«, fragte ich Alexandr, bevor er auf meine Antwort reagieren konnte. Wir liefen über eine der zahlreichen Brücken, welche die beiden Stadtteile miteinander verbanden. Das Wasser rauschte unter unseren Füßen hinweg und brachte seinen ganz eigenen Duft mit sich. Den Geruch nach Bäumen, Wäldern und der Freiheit jenseits der Stadtmauern.
Ein feines Grinsen erschien auf seinen Lippen. »Ein Irrlicht.«
Ich stieß ein Schnauben aus.
»Was denn? Es ist nicht unmöglich.«
»Behauptest du.«
»Es gibt sie«, sagte Alexandr eindringlich und schlug den Weg in die Hauptstraße ein, die das Tor im Westen der Stadt mit dem Stützpunkt im Osten verband. »Sie sind vielleicht selten, aber es gibt sie. Erst gestern hat einer der Holzfäller erzählt, dass er eines zwischen den Bäumen gesehen hat.«
»Diese Männer erzählen viel, wenn der Tag lang ist.«
»Du glaubst, er lügt?«
»Ich sage nur, dass es im Wald dunkel ist und man nicht immer alles klar erkennen kann.«
»Aber du würdest nicht an ihm zweifeln, wenn er behaupten würde, einen Schattenläufer gesehen zu haben, oder?«
»Nein, aber anders als bei einem Irrlicht wissen wir zumindest, wie ein Schattenläufer aussieht.« Denn Tatsache war, dass es keine handfesten Beweise für die Existenz der Irrlichter gab. Noch nie hatte sich ein Bändiger an eine dieser Kreaturen gebunden. Einige von uns behaupteten sogar, die Irrlichter wären nur ein Mythos. Für sie waren sie Illusionen, die von Dunkelwebern erzeugt wurden. Alexandr glaubte jedoch fest an sie. Ich hingegen wusste nicht, was ich denken sollte, aber ich hoffte, dass die Irrlichter wirklich nur Illusionen waren. Denn noch beängstigender als der Gedanke an die Monster selbst war die Vorstellung, dass es dort draußen eine weitere Kreatur gab, über die wir nichts wussten und deren Schwachstellen wir nicht kannten.
»Es gibt für alles ein erstes Mal«, beharrte Alexandr.
»Trotzdem denke ich nicht, dass ein Irrlicht dein Monster wird.«
Ein herausforderndes Funkeln trat in Alexandrs Augen. »Wollen wir wetten?«
»Du scheinst dir deiner Sache ja ziemlich sicher zu sein.«
»Wenn schon niemand an mich glaubt, dann muss ich zumindest selbst an mich glauben.« Alexandrs Aussage klang souverän, allerdings konnte er den Schmerz nicht gänzlich aus seiner Stimme heraushalten. Denn während man von mir Großes erwartete wie von meinem Vater und meinem Bruder Jakub, trauten die meisten Alexandr wenig zu. Schließlich war er nicht nur ein Bastard, sondern auch zierlicher als die meisten männlichen Bändiger.
»Worum wollen wir wetten?«, fragte ich.
Er dachte einen Augenblick nach. »Drei Gutscheine fürs Käfigausmisten. Einzulösen jederzeit und ohne Beschwerde.«
»Einverstanden. Wenn du ein Irrlicht bekommst, putze ich dreimal deinen Käfig, aber solltest du ein anderes Monster bekommen, musst du dreimal das Gehege für mich sauber machen.«
Alexandr schürzte die Lippen und zögerte.
»Bist du dir deiner Sache etwa doch nicht so sicher?«, stichelte ich.
Ein entschlossener Ausdruck trat auf sein Gesicht, kurz bevor er mitten auf der Straße stehen blieb. »Abgemacht.« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Ich kann es kaum erwarten, mit anzusehen, wie du den Mist meines Irrlichts vom Boden schrubbst.«
»Als ob. Kauf dir besser schon einmal gute Stiefel für später, wenn du im Dreck versinkst.«
Wir schlugen ein und machten uns wieder auf den Weg.
Die Häuser am Rande der Stadt waren herunterkommen und standen meist leer. Bei Angriffen der Monster waren sie stets das erste Ziel und wurden zerstört. Ziegel waren von Dunkelwebern vom Dach geworfen worden. Knochenträger hatten Löcher ins Mauerwerk gerammt und Blutträger Türen aufgestemmt. Niemand, der sich etwas Besseres leisten konnte, würde hier freiwillig wohnen. Wir ließen die Gebäude hinter uns und erreichten den Vorplatz des Westtores: eine hundert Meter breite, aus Stein gepflasterte Fläche, die sich rings um die Stadt zog und von zahlreichen Lampen und Scheinwerfern ausgeleuchtet war. Dahinter lagen die Mauer und mehrere Quadratmeter abgeholzter Bäume, ehe der Wald begann.
Vor dem Tor, das von zwei Wachtürmen flankiert wurde, hatten sich bereits zahlreiche Bändiger versammelt. Die Erfahrenen unter ihnen, die uns zu unserem Schutz in den Wald begleiten würden, erkannte ich auf den ersten Blick. Nicht nur wegen der Monster, die ihnen zur Seite standen, sondern vor allem, weil sie ruhig und in sich gekehrt waren. Sie sammelten Kraft und Konzentration für eine möglicherweise tödliche Mission – meine Kommilitonen hingegen waren laute Trottel.
In Gruppen aus drei bis fünf Leuten hatten sie sich zusammengefunden. Ich konnte im Stimmengewirr nicht ausmachen, worüber sie redeten, aber das war nicht schwer zu erahnen, denn natürlich ging es darum, was uns nun bevorstand. Gewohnheitsgemäß blieben Alexandr und ich etwas abseits stehen, aber dennoch nah genug an den anderen, damit deutlich wurde, dass wir dazugehörten; als wären unsere Livrejs nicht Hinweis genug.
Ich betrachtete die anderen Bändiger in der Hoffnung, nur ein einziges Gesicht zu entdecken, auf dem sich meine eigene Panik widerspiegelte – erfolglos. Konnte es wirklich sein, dass ich die Einzige war, die sich vor der heutigen Nacht fürchtete? Wir alle hatten bereits Familienmitglieder, Freunde und Bekannte an die Monster verloren. Hier ging es nicht nur um Geld, Ruhm und Ansehen. Die Bedrohung aus den Wäldern war real. Erkannten die anderen das nicht oder war ich nur der größte Feigling, der je auf dieser Erde gelebt hatte?
Ich wollte mich gerade abwenden, als mein Bruder meinen Blick einfing. Jakub nickte mir über die Distanz hinweg zu und schenkte mir ein Lächeln, das ich nur schwach erwidern konnte. Er war sechzehn Jahre älter als ich und würde die heutige Mission gemeinsam mit unserem Vater anführen. Ihn konnte ich nirgendwo ausmachen, was aber nicht bedeutete, dass Jakub allein war. An seiner Seite stand sein Monster, ein Knochenträger.
Diese Kreaturen erinnerten an einen Hirsch. Ihr Geweih war aus Gebein geformt und schwarze Augen blickten hinter einem skelettartigen Schädel hervor. Sie waren hochgewachsen und ausgesprochen dürr. Es wirkte, als stünden diese Bestien stets am Rande des Verhungerns, aber dem war nicht so, auch wenn jeder einzelne Knochen zu erkennen war. Zudem lagen ihre Rippenbögen frei und dort, wo eigentlich ihre Organe – Lunge, Herz, Leber – sitzen sollten, formte nur ein schwarzer Knoten ihr Inneres. Etwas darin regte sich langsam, wie Würmer in einem Apfel, die sich ihren Weg nach außen zu fressen versuchten.
Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ich verabscheute diesen Anblick und wandte mich von Jakub ab. Unruhig trat ich dabei von einem Fuß auf den anderen und hoffte inständig, dass sich kein Knochenträger an mich binden würde.
»Bestimmt geht es bald los«, sagte Alexandr, als wäre das etwas Gutes. Anscheinend verwechselte er meine Nervosität mit Vorfreude.
Ich nickte dennoch und sah gen Himmel. Es würde tatsächlich nicht mehr lange dauern. Von der Sonne war nur noch ein Schimmer am Horizont zu sehen und die hereinbrechende Dunkelheit war bereits von Sternen gefleckt. Die Wolken hatten sich verzogen und der Vollmond wartete darauf, die ganze Stadt in seinem silbernen Licht erstrahlen zu lassen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf und ich fragte mich, ob ich mich von nun an immer so fühlen würde, als stünde ich an einem Abgrund.
»Ich will meinen Abschluss innerhalb eines Jahres machen«, hörte ich auf einmal Ambrož hinter mir sagen. Seine Stimme war voller Überzeugung und ohne jeden Zweifel. Unbewusst suchte mein Blick nach ihm und wie nicht anders erwartet, stand er in einer Gruppe mit seinen Anhängern – Danica, Bruno und Ruža – beisammen.
Danica stieß ein Schnauben aus. »Fünfhundert Punkte in einem Jahr? Das ist unmöglich.«
»Jakub hat es in dreizehn Monaten geschafft«, erwiderte Ambrož. Er fuhr sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar und sah dabei zu meinem Bruder. Ehrfurcht und Anerkennung spiegelten sich in seinen schwarzen Augen wider, aber auch noch etwas anderes: Ehrgeiz. »Ich muss nur noch etwas schneller sein.«
Ruža schnaubte. »Du glaubst, du bist besser als Jakub Novák?«
Ein selbstsicheres Lächeln trat auf Ambrož’ Lippen. »Ich glaub es nicht. Ich weiß es.«
»Schwachsinn«, murmelte ich, anscheinend eine Spur zu laut, denn plötzlich stand ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und vier erzürnte Blicke waren auf mich gerichtet.
Ambrož funkelte mich wütend an. »Was hast du gesagt?«
Ich betrachtete ihn und es brauchte kein Genie, um zu erkennen, dass er mir körperlich überlegen war. Er überragte meine eins siebenundsechzig um gut zwanzig Zentimeter und trotz der Livrej waren die Muskeln, die er sich in den letzten Jahren im Kampf- und Waffentraining erarbeitet hatte, nicht zu übersehen. Zugegeben, ich war dank des strengen Lehrplans der Akademie alles andere als schwach, aber gegen jemanden wie ihn hatte ich keine Chance.
Vermutlich wäre es klüger gewesen, mich zu entschuldigen und Gras über die Sache wachsen zu lassen, aber ich hatte keine Angst vor Ambrož. Er besaß weder Klauen noch Reißzähne. Er konnte sich nicht durch die Schatten an mich heranschleichen oder sich aus der Höhe auf mich herabstürzen. Was hatte ich also zu befürchten?
»Du hast mich schon verstanden«, erklärte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ambrož trat einen Schritt auf mich zu. »Nein, das habe ich nicht. Wiederhole es.«
»Vielleicht solltest du dein Gehör untersuchen lassen«, kam Alexandr mir zu Hilfe. Er trat neben mich, das Kinn erhoben.
»Halt dich da raus, Bastard.« Er sprach das letzte Wort mit einem Ekel in der Stimme aus, der sonst für die Hovno-Dosen in unserem Krám reserviert war.
Alexandr ballte die Hände zu Fäusten. Es wäre nicht das erste Mal, dass er mit Ambrož aneinandergeriet. Doch er würde diese Schlägerei bereuen, noch mehr als sonst, wenn er deswegen von der heutigen Nacht ausgeschlossen werden würde.
Das durfte ich nicht zulassen. Ich trat zwischen sie. »Du hast deine Bändiger-Zulassung mit fünfzehn Punkten weniger bestanden als Jakub zu seiner Zeit. Warum solltest du jetzt besser sein als er?«
»Weil ich meine Punkte ehrlich verdient habe.«
Ich runzelte die Stirn. »Und Jakub nicht?«
»Natürlich nicht.« Ambrož verdrehte die Augen. »Oder glaubst du, es war Zufall, dass ausgerechnet er die Tabelle angeführt hat? Euer Vater hat ihm die Punkte damals zugesteckt. Genauso wie er sie dir jetzt zusteckt.«
Ich presste die Lippen aufeinander und wusste, ich sollte widersprechen. Ich sollte Benedict verteidigen, aber das konnte ich nicht. Wir alle, die hier standen, wussten, dass er recht hatte. Ich hatte in den letzten drei Jahren alles darangesetzt, möglichst schlecht an der Akademie abzuschneiden. In der Hoffnung, ein paar zusätzliche Jahre ohne Monster zu gewinnen oder gar exmatrikuliert zu werden. Aber Benedict hatte weder das eine noch das andere zugelassen. Egal wie schlecht ich mich angestellt hatte, er hatte immer einen Weg gefunden, mir Punkte zuzuschieben, schließlich war ich eine Novák und Nováks gehörten zur Bändiger-Elite. Sie fielen nicht durch Klausuren.
»Sie streitet es nicht einmal ab.« Ambrož lachte und ich hätte ihm das selbstgefällige Grinsen am liebsten aus dem Gesicht geschlagen. Vielleicht war das meine Chance, der heutigen Nacht zu entkommen. Doch bevor ich mich entscheiden konnte, erklang eine vertraute Stimme neben mir.
»Was ist hier los?«, fragte Jakub. Ich wandte mich meinem Bruder zu. Er stand nur wenige Schritte von Ambrož und mir entfernt, sein Knochenträger war ihm direkt auf den Fersen. Die Kreatur überragte selbst Ambrož um mehrere Zentimeter und das ohne ihr Geweih.
»Nichts ist los«, log ich.
»Von dort drüben sah es aus, als würdet ihr streiten.«
Ambrož schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich nicht.«
Misstrauisch glitt Jakubs Blick von Ambrož und mir zu Danica, Bruno und Ruža und schließlich zu Alexandr. Er glaubte uns kein Wort, dennoch nickte er. »Das freut mich zu hören, denn wir können uns keine Ablenkung erlauben, wenn wir gleich da rausgehen. Denkt immer daran, die Monster sind eure Feinde und niemand sonst.«
»Natürlich«, erwiderte Ambrož gehorsam. Jede Unterstellung des Betrugs war vergessen.
Jakubs Blick wanderte ein letztes Mal über unsere Gruppe, ehe er sich mit seinem Knochenträger wieder auf den Weg nach vorn zum Tor machte. Dort war inzwischen Unruhe ausgebrochen. Das konnte nur eines bedeuten: Es ging los. Die Gespräche um uns herum verstummten. Aufregung und Vorfreude wichen Ungeduld, und diese Ungeduld sprang auf die anwesenden Monster über. Fieberhaft scharrten sie mit ihren Klauen und Hufen, als könnten sie es kaum erwarten, in den dunklen Wald zurückzukehren.
»Okovy, aufgepasst!«, bellte die tiefe Stimme meines Vaters. Der große Benedict Novák hatte sich auf die Treppenstufen eines Wachturms gestellt und alle Aufmerksamkeit war auf ihn gerichtet. Selbst die Monster schienen ihm zu lauschen. Im grellen Licht der Scheinwerfer wirkte sein blondes Haar beinahe weiß und ließ ihn älter als dreiundfünfzig Jahre erscheinen. Der geisterhafte Effekt wurde von der schwarzen Livrej noch verstärkt, die anders als meine Uniform nicht mit silbernen, sondern mit goldenen Knöpfen ausgestattet war. Ein Zeichen dafür, dass Benedict die Akademie vor Jahren erfolgreich abgeschlossen hatte. Auch sein Gürtel war golden und über seiner Schulter trug er einen Köcher mit Pfeilen und der dazugehörigen Armbrust. Er benutzte diese Waffe nur im Notfall. Eigentlich brauchte er sie nicht, denn er hatte einen Blutgänger, der für ihn kämpfte.
Die hochgewachsene Kreatur stand gekrümmt neben Benedict. Von allen Monstern waren es die Blutgänger, die den Menschen am meisten ähnelten. Sie glichen uns in Größe und Statur und liefen aufrecht auf zwei Beinen. Ihre Haut war blutrot. Sie besaßen keine Geschlechtsteile und hatten keine Haare auf dem Kopf, aber etwas Ähnliches wie ein Gesicht, nur dass ihnen der Mund fehlte und sie anstelle einer Nase, nur eine leichte Erhebung ohne Löcher hatten. Sie rochen und aßen mit ihren Händen und den Stacheln an ihren Fingern, die Blut wittern und aufsaugen konnten. Durch diese konnten sie ihre Opfer auch mit einem Gift infizieren, das Lähmungserscheinungen hervorrief und sie so zu leichter Beute machte.
»Heute ist ein besonderer Tag«, sagte Benedict. »Es ist der Tag, an dem aus zwanzig Novizen Bändiger werden. In den vergangenen drei Jahren haben die Mitglieder der Akademie alles darangesetzt, euch auf diesen Tag vorzubereiten. Wir haben euch viel gelehrt und euch an eure Grenzen getrieben, nicht nur körperlich im Kampf- und Waffentraining, sondern auch im Geiste, damit ihr euch dem stellen könnt, was euch heute Nacht erwartet. Denn die Stärke eurer Muskeln bedeutet nichts, wenn euer Verstand nicht in der Lage ist, der Dunkelheit standzuhalten. Gemeinsam mit uns werdet ihr nun erstmals die Wälder betreten, in denen die Monster hausen. Doch ihr seid Bändiger. Und wir Bändiger lassen uns nicht bedrohen oder von der Finsternis einschüchtern. Wir wehren uns gegen diese Kreaturen und machen sie uns mit unserem Willen zu eigen, bis sie zu Sklaven unseres Verstandes werden.«
Worte des Zuspruches und der Begeisterung erklangen aus den Reihen der Zuhörer. Alexandr hatte sich zwei Finger in den Mund geschoben und stieß einen scharfen Pfiff aus, der mich zusammenzucken ließ und noch sekundenlang in meinen Ohren nachhallte. Ich hingegen stand völlig regungslos inmitten der Gruppe. Dennoch fand mich Benedicts Blick mit einer Zielsicherheit, als hätte ich eine Leuchtrakete abgefeuert. Er zog die Brauen zusammen und trotz der Distanz zwischen uns erkannte ich eine Aufforderung in seinen Augen.
Ich ballte die Hände zu Fäusten und zwang mich dazu, nicht wegzusehen. Er wartete nur darauf, dass ich ebenfalls klatschte. Ich verspürte jedoch keinen Triumph, sondern nur ein nagendes Gefühl, das direkt in meinem Herzen saß.
Der Jubel der Bändiger verklang und Benedict blieb keine andere Wahl, als sich von mir abzuwenden. Mir entfuhr ein erleichtertes Seufzen, ohne dass die Anspannung meinem Körper verließ.
»Wir alle wissen, wie die Sache heute ablaufen wird«, erklärte Benedict weiter und ließ seinen Blick über die Männer und Frauen gleiten, die mit ihren Kreaturen vor ihm standen. »Es geht einzig und allein darum, die Monster für unsere Anwärter zu finden. Bleibt dicht beisammen. Keine Ausflüge. Keine Fehltritte, denn heute wird kein rotes Blut vergossen.«
»Und morgen wird kein rotes Blut vergossen«, riefen die anderen Bändiger. Ihre Freude darüber, uns in ihrem Kreis willkommen heißen zu dürfen, wich einer stählernen Entschlossenheit, die fester stand als die Mauer vor uns.
Meine Knie begannen zu zittern und mit wild schlagendem Herzen beobachtete ich, wie zwei Bändiger nach den Kurbeln griffen, welche den Mechanismus des Tors in Bewegung setzten. Die Zahnräder begannen sich zu drehen. Ich hielt den Atem an. Alexandr spannte sich neben mir an, als Millimeter für Millimeter die Pforte vor uns aufgeschoben wurde. Nur langsam gab sie den Blick auf den Wald frei. Hinter einem Feld abgeholzter Stämme reihten sich dürre Bäume aneinander. Ihr Blattwerk wurde vom Mond und dem Licht der Laternen beschienen, ehe es sich in der Finsternis verlor und ein Teil der Dunkelheit wurde.