Meiner Mutter, fester Hand aus Watte
Wenn sie so eine Weile verharre, würde das, was sie erwartete, umgekehrt geschehen:
Die Buchstaben würden allmählich sie ansehen. Und ihr Geschichten erzählen. Sie alle sähen wie Zeichnungen aus, doch in den Buchstaben steckten Stimmen. Jedes Blatt sei ein Gehäuse für unendlich viele Stimmen.
Mia Couto, Imani
Die leblosen Zeichen des Alphabets werden im Kopf zu lebenden Bedeutungen. Die Lese- und Schreibfähigkeit scheint, wie alle erlernten Tätigkeiten, die Organisation unseres Gehirns zu verändern.
Siri Hustvedt, Leben, Denken, Schauen
Ich liebe die Verfasser meiner tausend Bücher. Mir gefällt die Vorstellung, wie verblüfft der alte Homer – wer immer das war – darüber wäre, seine Epen im Regal eines so unvorstellbaren Wesens wie mir vorzufinden, auf einem noch nicht mal durch Gerüchte bekannten Kontinent.
Marilynne Robinson, When I Was a Child I Read Books
Das Lesen ist immer ein Umzug, eine Reise, ein Fortgehen, um sich zu finden. Das Lesen ist zwar üblicherweise eine sesshafte Handlung, aber es führt uns zurück zu unserem Wesen als Nomaden.
Antonio Basanta, Leer contra la nada
Bücher sind vor allem Gefäße, in denen die Zeit zur Ruhe kommt. Ein wundersamer Trick, durch den die menschliche Intelligenz und Sensibilität die vergänglichen, fließenden Zustände überwunden haben, die die Erfahrung des Lebens ins Nichts des Vergessens sinken ließen.
Emilio Lledó, Los libros y la libertad
Seltsame Gruppen berittener Männer durchstreifen die Straßen Griechenlands. Die Bauern beobachten sie misstrauisch von den Feldern aus oder von den Hüttentüren. Aus Erfahrung wissen sie, dass nur gefährliche Leute reisen: Soldaten, Söldner, Sklavenhändler. Sie runzeln die Stirn und knurren, bis die Männer wieder am Horizont versinken. Sie mögen keine bewaffneten Fremden.
Die Reiter nehmen von den Dorfbewohnern keine Notiz. Monatelang haben sie Berge bestiegen, Schluchten genommen, Täler durchquert, Flüsse durchwatet und sind von Insel zu Insel gesegelt. Ihre Widerstandskräfte und Muskeln sind stärker geworden seit dem Antritt ihrer sonderbaren Mission. Um diesen Auftrag zu erfüllen, müssen sie sich in die rauen Territorien einer sich ständig bekriegenden Welt vorwagen. Sie jagen nach einer ganz besonderen Beute. Einer stillen Beute, einer schlauen, die nicht die geringsten Spuren hinterlässt.
Wenn sich diese unheimlichen Gesandten in irgendeine Hafenkneipe setzen, Wein trinken, gebratenen Tintenfisch essen, sich mit Fremden unterhalten und gemeinsam betrinken würden (aus Vorsicht tun sie das nie), könnten sie großartige Reisegeschichten erzählen. Sie hatten sich in Pestgebiete gewagt. Waren durch niedergebrannte Gegenden gereist und hatten die heiße Asche der Zerstörung und die Brutalität der Rebellen und Söldner auf Kriegspfaden gesehen. Landkarten von ausgedehnten Gebieten gab es noch nicht, und so verirrten sie sich und wanderten tagelang ziellos bei sengender Sonne und Stürmen umher. Sie mussten ekelhaftes Wasser trinken, das ihnen heftigen Durchfall bescherte. Wenn es regnete, blieben die Kutschen und Maultiere in Pfützen stecken; mit Rufen und Flüchen zerrten sie dann an ihnen, bis sie selbst auf die Knie gingen und in den Schlamm fielen. Wurden sie fern jeder Bleibe von der Nacht überrascht, schützte sie nur ihr Mantel vor den Skorpionen. Sie kennen die irren Läuseplagen und die ständige Angst vor Räubern, die die Straßen befallen. Oft stockt ihnen das Blut in den Adern, wenn sie durch die Einsamkeit reiten und sich vorstellen, dass sie eine Gruppe von Banditen mit angehaltenem Atem belauert, sich hinter irgendeiner Biegung des Weges versteckt, um über sie herzufallen, sie kaltblütig zu ermorden, auszurauben und ihre noch warmen Leichen im Gebüsch zurückzulassen.
Logisch, dass sie Angst haben. Der König von Ägypten hatte ihnen große Summen anvertraut, bevor er sie zu ihrem Auftrag auf der anderen Seite des Meeres entsandte. Zu jener Zeit, nur wenige Jahrzehnte nach Alexanders Tod, war das Reisen mit großem Vermögen sehr riskant, fast selbstmörderisch. Und obwohl Diebesdolche, ansteckende Krankheiten und Schiffbrüche eine so kostspielige Mission zu zerschlagen drohten, bestand der Pharao darauf, seine Agenten aus dem Land des Nils über Grenzen und große Entfernungen hinweg in alle Richtungen auszusenden. Ungeduldig, voll quälender Habgier brennt er auf jene Beute, die seine heimlichen Jäger allen fremden Gefahren zum Trotz für ihn aufspüren.
Die neugierig vor ihren Hütten lungernden Bauern, die Söldner und die Banditen hätten ungläubig Mund und Augen aufgerissen, wenn sie gewusst hätten, worauf die fremden Reiter aus waren.
Bücher. Sie suchten Bücher.
Es war das bestgehütete Geheimnis des ägyptischen Hofs. Der Herrscher zweier Kulturen, einer der mächtigsten Männer der damaligen Zeit, gäbe das Leben dafür (das der anderen natürlich, so ist das immer bei Königen), um alle Bücher der Welt in seiner großen Bibliothek von Alexandria zu versammeln. Er träumte von der vollkommenen Bibliothek, einer Sammlung aller Werke aller Autoren seit Anbeginn der Zeit.
Ich scheue mich immer vorm Schreiben der ersten Zeilen, vorm Überschreiten der Schwelle zu einem neuen Buch. Wenn alle Bibliotheken durchforstet sind und meine Hefte strotzen vor fieberhaften Notizen, wenn mir weder vernünftige noch dumme Ausreden einfallen wollen, die das Warten erklärten, zögere ich es noch ein paar Tage hinaus, in denen mir klar wird, worin die Feigheit besteht. Ich fühle mich einfach unfähig. Alles sollte da sein: der Ton, der Humor, die Poesie, der Rhythmus, die Versprechen. Die noch ungeschriebenen, ums Geborenwerden ringenden Kapitel sollten sich im Keimbett der gewählten Anfangsworte schon erahnen lassen. Aber wie macht man das? Was ich derzeit habe, sind Zweifel. Mit jedem Buch kehre ich zum Ausgangspunkt zurück, zum schlagenden Herzen aller ersten Male. Schreiben ist der Versuch herauszufinden, was man schreiben würde, wenn man schriebe, so formulierte es Marguerite Duras und geht vom Infinitiv zur Bedingungsform und dann zum Irrealis über, als spürte sie den Boden unter ihren Füßen bröckeln.
Das unterscheidet sich im Grunde kaum von anderen Dingen, die wir ahnungslos beginnen: eine andere Sprache sprechen, Auto fahren, Mutter sein. Leben.
Eines heißen Julinachmittags, nach all den quälenden Zweifeln, den aufgebrauchten Vorwänden und Alibis, stelle ich mich der Einsamkeit des leeren Blattes. Ich werde meinen Text mit dem Bild von ein paar rätselhaften Jägern auf der Suche nach Beute eröffnen. Ich identifiziere mich mit ihnen, ich mag ihre Geduld, ihren Gleichmut, die verlorene Zeit, die Langsamkeit und das Adrenalin bei der Suche. Jahrelang habe ich recherchiert, Quellen konsultiert, alles dokumentiert und mich mit der Aneignung des historischen Materials befasst. Doch zur Stunde der Wahrheit scheint die wirkliche, dokumentierte Geschichte, die ich entdecke, so erstaunlich, dass sie in meine Träume eindringt und, ohne mein Zutun, die Form einer Erzählung annimmt. Ich bin versucht, in die Haut dieser Büchersucher auf den Straßen eines antiken, gewalttätigen, zuckenden Europas zu schlüpfen. Und wenn ich zu Beginn ihre Reise beschreibe? Könnte funktionieren, aber wie gelingt es, das darunterliegende Faktenskelett von den Muskeln und dem Blut der Fantasie abzugrenzen?
Ich glaube, der Ausgangspunkt ist so fantastisch wie die Suche nach den Minen König Salomos oder nach dem verlorenen Schatz, aber die Dokumente belegen, dass die Büchergier im Größenwahndenken der ägyptischen Könige wirklich existierte. Vielleicht war es damals, im dritten Jahrhundert v. Chr., zum ersten und letzten Mal möglich, den Traum vom Versammeln ausnahmslos aller Bücher der Welt in einer Universalbibliothek zu verwirklichen. Heute erscheint uns das wie die Handlung einer Fiktion von Borges oder vielleicht seine große erotische Fantasie.
So etwas wie einen internationalen Handel mit Büchern gab es zur Zeit des großen alexandrinischen Projekts nicht. Man konnte sie in kulturhistorisch bedeutenden Städten kaufen, aber nicht im jungen Alexandria. Die Quellen berichten, dass die Könige ihre absolutistische Macht nutzten, um ihre Sammlung zu bereichern. Was sie nicht kaufen konnten, konfiszierten sie. Und wenn es nötig war, Kehlen durchzuschneiden oder Ernten zu zerstören, um an ein begehrtes Buch zu gelangen, gaben sie den Befehl dazu; der Ruhm des Landes, sagten sie sich, sei wichtiger als die kleinen Skrupel.
Natürlich gehörte auch der Betrug zum Repertoire ihrer Zielstrebigkeit. Ptolemaios III. verlangte es nach dem Staatsexemplar der Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides, die seit ihrer Uraufführung bei den Theaterspielen im Athener Archiv aufbewahrt wurden. Die Botschafter des Pharaos liehen sich die wertvollen Schriftrollen aus, um von ihren akribischen Abschreibern Kopien fertigen zu lassen. Athens Behörden verlangten ein Wucherpfand von fünfzehn Talenten Silber, nach heutigem Maß einige Millionen Dollar. Die Ägypter zahlten, bedankten sich devot, schworen den feierlichen Eid, die Leihgabe vor Ablauf von – sagen wir – zwölf Monden zurückzugeben, drohten sich selbst mit schaurigen Flüchen, wenn die Bücher nicht in einwandfreiem Zustand zurückkämen, um sie sich schließlich anzueignen; das Pfand ließen sie verfallen. Athens Stadtoberhäupter mussten die Unverschämtheit ertragen. Die stolze Hauptstadt der Perikles-Zeiten war zur Provinzstadt eines Königreichs geworden, machtlos gegen ein Ägypten, das den Handel mit Getreide dominierte, dem Öl der damaligen Zeit. Alexandria war der bedeutendste Hafen des Landes und neuer Lebensmittelpunkt. Wirtschaftsmächte dieser Größenordnung können Grenzen locker überschreiten. Alle in diese Hauptstadt einlaufenden Schiffe, gleich welcher Herkunft, wurden sofort registriert. Die Zöllner beschlagnahmten jedes Schriftstück an Bord, ließen es auf neue Papyri kopieren, gaben die Kopien zurück und behielten die Originale. Diese gekaperten Bücher wurden mit einer Notiz zur Herkunft (»aus den Schiffen«) in die Bibliotheksregale gestellt.
Wer an der Weltspitze steht, tut keine großen Gefallen. Es hieß, dass Ptolemaios II. Boten zu den Fürsten und Herrschern aller Länder entsandte und in einem versiegelten Brief darum bat, sie mögen ihm doch für seine Sammlung einfach alles schicken: die Werke der Dichter und Prosaschriftsteller, der Redner und Philosophen, der Ärzte und Wahrsager, der Historiker und aller anderen.
Ägypten schickte außerdem – und das war mein Aufmacher für diese Geschichte – Agenten durch die rauen Gefilde und Meere der bekannten Welt, die die Taschen voll und den Auftrag hatten, so viele Bücher wie möglich zu kaufen und jeweils die ältesten Exemplare zu finden. Diese Gier nach Büchern und die dafür gezahlten Preise zogen Schurken und Kopisten an. Sie boten Papyri mit Fälschungen wichtiger Texte an, bürsteten die Rollen auf alt, machten mehrere Werke zu einem, um sie zu verlängern, und erfanden viele weitere clevere Tricks. Irgendein Weiser mit Sinn für Humor hatte Spaß daran, geschickt gefälschte Werke zu schreiben, regelrechte Attrappen, um die Ptolemäer zu locken. Die Titel waren amüsant und wären heute gut zu vermarkten, etwa: »Was Thukydides verschwieg«. Man ersetze Thukydides durch Kafka oder Joyce und stelle sich vor, welches Interesse ein Fälscher mit Fake-Memoiren und Geheimnissen des Autors unterm Arm beim Erscheinen in der Bibliothek wecken würde.
Trotz des leisen Verdachts auf Betrug hatten die Bibliotheksankäufer Angst, ein womöglich wertvolles Buch zu verpassen und die Wut des Pharaos zu riskieren. Von Zeit zu Zeit besichtigte der König die Schriftrollen der Sammlung mit demselben Stolz wie eine Truppenparade. Dabei fragte er Demetrios von Pharos, den Bibliothekar, wie viele Schriften sie schon hätten. Und Demetrios brachte ihn auf den neuesten Stand; es seien bereits mehr als zwanzigmal zehntausend, und er bemühe sich, die fünfhunderttausend in Kürze voll zu machen. Die in Alexandria entfesselte Büchergier entwickelte sich langsam zu leidenschaftlichem Wahn.
Ich wurde in einem Land und zu einer Zeit geboren, wo Bücher leicht zu haben sind. Bei mir zu Hause sind sie überall. In arbeitsintensiven Phasen, wenn ich Dutzende davon aus Bibliotheken leihe, die mich bei diesen Recherchen unterstützen, liegen sie auf Stühlen aufgetürmt oder sogar auf dem Boden. Oder bäuchlings aufgeschlagen, wie Satteldächer auf der Suche nach einem zu schützenden Haus. Derzeit staple ich die Bücher auf der Kopfstütze der Couch, damit mein zweijähriger Sohn keine Seiten zerknittert, und wenn ich mich dann zum Ausruhen hinsetze, spüre ich die Kanten in meinem Nacken. Rechnete man den Preis dieser Bücher zur Miete dazu, nähmen sich die Bücher als ziemlich teure Mitbewohner aus. Doch sie alle machen das Zuhause gemütlicher, von den großen Fotobänden bis hin zu den alten Taschenbüchern mit Klebebindung, die immer zusammenklappen wie Muscheln.
Die Geschichte von den unternommenen Anstrengungen, Reisen und Sanktionen, um die Regale der Bibliothek von Alexandria zu füllen, mag verlockend exotisch erscheinen. Es sind seltsame Begebenheiten, Abenteuer, vergleichbar mit den fabelhaften Seereisen in die Neue Welt, auf der Suche nach Gewürzen. Hier und heute sind Bücher so alltäglich, so althergebracht, dass man ihnen schon den Untergang prophezeit. Zuweilen lese ich in den Zeitungen sogar vom Aussterben der Bücher, die durch elektronische Geräte ersetzt würden und den vielfältigen Unterhaltungsangeboten unterlegen seien. Die größten Unheilsverkünder behaupten, wir stünden kurz vor dem Ende einer Ära, vor einer wahren Apokalypse schließender Buchhandlungen und menschenleerer Bibliotheken. Glaubte man ihnen, stünden Bücher bald in den Vitrinen der ethnologischen Museen, gleich neben den prähistorischen Speerspitzen. Mit diesen Bildern im Kopf wandert mein Blick über die endlosen Reihen von Büchern und Vinyl-Schallplatten daheim, und ich frage mich, ob die liebenswerte alte Welt im Begriff ist zu verschwinden.
Sind wir uns dessen sicher?
Das Buch hat sich im Laufe der Zeit bewährt, es hat sich als Langstreckenläufer erwiesen. Wann immer wir aus dem Traum der Revolutionen oder dem Albtraum der Katastrophen erwachten, war das Buch noch da. Es ist, so sagte Umberto Eco, »ein technisch vollendetes Meisterwerk (wie der Hammer, das Fahrrad oder die Schere), das sich, soviel man auch erfinden mag, nicht mehr verbessern läßt«.
Natürlich ist die Technik potent genug, um die alten Monarchien zu stürzen. Dennoch sehnen wir uns nach verloren gegangenen Dingen – nach Fotos, Datenträgern, vormaligen Jobs, Erinnerungen –, weil alles so schnelllebig ist und so schnell veraltet. Zuerst waren da die Lieder auf den Kassetten, dann die auf VHS aufgenommenen Filme. Erfolglos versuchen wir zu sammeln, was die Technik aus der Mode kommen lässt. Als die DVD herauskam, hieß es, wir hätten das Problem der Archivierung endlich endgültig gelöst, aber schon locken neue, kleiner formatierte Speichermedien, die stets auch die Anschaffung neuer Geräte erfordern. Das Kuriose ist, dass wir ein vor mehr als eintausend Jahren geduldig kopiertes Manuskript noch immer lesen können, ein Video oder eine Diskette von vor wenigen Jahren aber nicht mehr, es sei denn, wir verwahrten all die Generationen von Rechnern und Wiedergabegeräten in den Lagerräumen unserer Häuser wie in einem Museum für Verfall.
Eines sollten wir nicht vergessen: Das Buch ist seit vielen Jahrhunderten unser Verbündeter in einem Krieg, der in keinem Geschichtsbuch steht. Es ist der Kampf um die Bewahrung unserer wertvollen Schöpfung: der Worte, die kaum mehr als nur ein Lufthauch sind; der Fiktionen, die wir erfinden, um dem Chaos einen Sinn zu geben und in ihm zu überleben; die wahren, falschen und immer vorläufigen Erkenntnisse, die wir in den harten Fels unserer Unwissenheit ritzen.
Deshalb habe ich beschlossen, in diese Nachforschungen einzutauchen. Am Anfang waren die Fragen, Unmengen von Fragen: Wann entstanden die ersten Bücher? Welches Geheimnis verbirgt sich hinter den Bemühungen, sie zu vervielfältigen oder zu vernichten? Was ging unterwegs verloren, was wurde gerettet? Warum wurden einige zu Klassikern? Wie viele fielen dem Zahn der Zeit, den Klauen des Feuers, dem Gift des Wassers zum Opfer? Welche Bücher wurden im Zorn verbrannt, welche mit größter Leidenschaft kopiert? Waren es dieselben?
Diese Geschichte ist der Versuch, das Abenteuer jener frühen Bücherjäger fortzuschreiben. Ich möchte sie begleiten auf ihren Reisen, auf ihrer Suche nach verlorenen Manuskripten, nach unbekannten Geschichten und fast verstummten Stimmen. Vielleicht waren diese Kundschafter nur Schergen im Dienste größenwahnsinniger Könige. Vielleicht begriffen sie die Tragweite ihrer Aufgabe gar nicht, fanden sie absurd und murmelten nachts, wenn sie die Glut des Feuers löschten, dass sie es leid seien, ihr Leben für den Traum eines Irren zu riskieren. Sicher wären sie lieber auf eine Mission mit besseren Aufstiegschancen geschickt worden, zur Niederschlagung einer Revolte in der Nubischen Wüste etwa oder zur Inspektion der Beladung von Lastkähnen auf dem Nil. Stattdessen aber suchten sie nach der Spur von Büchern wie nach einem verstreuten Schatz und legten damit, nichtsahnend, das Fundament unserer Welt.
Die Kaufmannsfrau ist jung und langweilt sich, und sie schläft allein. Zehn Monate ist es nun her, dass ihr Mann von der Mittelmeerinsel Kos in See gestochen ist, mit Kurs auf Ägypten, und seitdem ist nicht ein Brief von ihm gekommen. Sie ist siebzehn, hat noch keine Kinder und kann es kaum ertragen, allein im Frauentrakt herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas passiert. Das Haus zu verlassen steht außer Frage, es soll ja kein Gerede entstehen. Und so bleibt nicht viel zu tun. Am Anfang fand sie es noch unterhaltsam, die Sklavinnen zu schikanieren, aber ihre Tage füllt das bei Weitem nicht aus. Umso mehr freut sie sich, wenn andere Frauen zu Besuch kommen. Es spielt keine große Rolle, wer an die Haustür klopft, sie sehnt sich einfach verzweifelt nach Ablenkung, nach Leichtigkeit in den bleiernen Stunden.
Eine Sklavin kündigt die alte Gyllis an. Die Kaufmannsfrau strahlt, das verspricht ein wenig Kurzweil: Ihre alte Amme Gyllis nimmt kein Blatt vor den Mund und ist auf lustige Weise vulgär.
»Mütterchen Gyllis, du warst seit Monaten nicht bei mir.«
»Ach, du weißt ja, Tochter, ich hab’s weit und kaum noch so viel Kraft wie eine Fliege.«
»Also bitte«, sagt die Kaufmannsfrau, »du hast noch Kraft genug, um mehr als einen so zu umarmen, dass er’s spürt.«
»Mach du dich nur lustig«, erwidert Gyllis, »aber das bleibt euch jungen Hühnern vorbehalten.«
Nach ein paar klugen Einleitungsworten lächelt die alte Frau verschmitzt und gibt endlich preis, was sie zu ihrem Besuch veranlasst. Ein kräftiger, gutaussehender junger Mann, zweimaliger Olympiasieger im Ringkampf, hat ein Auge auf die Kaufmannsfrau geworfen, er kommt fast um vor Begierde und möchte ihr Liebhaber werden.
»Jetzt werd nicht gleich sauer, hör dir erst mal seinen Vorschlag an. Dem steckt die Leidenschaft wie ein Stachel im Fleisch. Gönn dir doch ein paar schöne Stunden mit ihm. Oder hast du vor, hier immer nur Däumchen zu drehen?«, sucht Gyllis sie zu locken. »Ehe du dich’s versiehst, bist du alt, und deine Jugendfrische ist nur noch Staub und Asche.«
»Ach, sei still …«
»Was glaubst du, was dein Mann in Ägypten treibt? Er schreibt dir keine Briefe, hat keinen Gedanken für dich übrig, bestimmt kühlt er die Lippen schon an einem anderen Pokal.«
Um den letzten Widerstand der jungen Frau zu brechen, malt Gyllis ihr in beredten Worten aus, was Ägypten und ganz besonders Alexandria dem fernen, undankbaren Gemahl zu bieten haben: Reichtum, ein durchgehend warmes, sinnenfrohes Klima, Sporthallen, Schauspiel, massenhaft Philosophen, Bücher, Gold und Wein, dazu hübsche Knaben und so viele bezaubernde Frauen, wie Sterne am Himmel glühen.
Ich übersetze hier frei den Anfang eines kurzen griechischen Theaterstücks, das im 3. Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde und einen intensiven Eindruck vom Alltagsleben vermittelt.
Kleine Werke wie dieses kamen vermutlich nicht zur Aufführung, es sei denn als dramatisierte Lektüre. Humoristisch, zuweilen schelmisch, öffnen sie Fenster zu einer Welt jenseits der gesellschaftlichen Regeln, in der sich verprügelte Sklaven und grausame Herren tummeln, Gelegenheitsmacher, Mütter, deren heranwachsende Sprösslinge sie an den Rand der Verzweiflung treiben, und sexuell unbefriedigte Frauen. Gyllis ist eine der ersten Kupplerinnen der Literaturgeschichte, eine professionelle Gelegenheitsmacherin, die alle Kniffe ihres Metiers kennt und geradewegs auf die größte Schwachstelle ihrer Opfer zielt: die universelle Angst vor dem Alter. Doch trotz ihres grausamen Talents wird Gyllis dieses Mal scheitern. Der Dialog endet mit der liebevollen Schelte der jungen Frau, die ihrem abwesenden Mann treu bleibt oder, wer weiß, vor den erheblichen Risiken eines Ehebruchs zurückschreckt. »Ist dir das Hirn weich geworden?«, fragt die Kaufmannsfrau, tröstet Gyllis aber auch, indem sie ihr einen Schluck Wein anbietet.
Neben seinem Humor und der Frische des Tons ist der Text insofern interessant, als er uns einen Blick auf die gewöhnlichen Leute erlaubt, die zur damaligen Zeit in Alexandria lebten, der Stadt der Freuden und Bücher, der Metropole der Erotik und des Wortes.
Die Legende von Alexandria hörte nicht auf zu wachsen. Zwei Jahrhunderte nach dem Dialog zwischen Gyllis und der jungen Frau, die sie in Versuchung führen will, wird Alexandria zum Schauplatz eines der größten erotischen Mythen überhaupt: der Liebesgeschichte von Kleopatra und Marcus Antonius.
Als Marcus Antonius zum ersten Mal nach Alexandria kam, war Rom zwar das Zentrum des größten Reichs im Mittelmeerraum, aber doch nur ein Labyrinth aus dunklen, verschlammten Straßen. Auf einmal fand er sich in einer berauschenden Stadt wieder, deren Größe von Palästen, Tempeln, Boulevards und Denkmälern unterstrichen wurde. Die Römer, die sich ihrer Militärmacht sicher waren, fühlten sich als die Herren der Zukunft, aber mit der Anziehungskraft einer goldenen Vergangenheit und des dekadenten Luxus, der sie dort umgab, konnten sie nicht mithalten. In einer Mischung von Erregung, Stolz und taktischem Kalkül gingen der mächtige General und die letzte Königin Ägyptens eine politische und sexuelle Allianz ein, die für die traditionsbewussten Römer ein Skandal war. Eine noch größere Provokation waren die Gerüchte, Marcus Antonius plane, die Hauptstadt des Imperiums nach Alexandria zu verlegen. Hätte das Paar tatsächlich die Macht im Römischen Reich errungen, so würden wir heute vielleicht in Massen nach Ägypten reisen und uns in der dortigen Ewigen Stadt fotografieren lassen, vor ihrem Colosseum mitsamt den Marktplätzen im Hintergrund.
Genau wie ihre Stadt verkörpert Kleopatra die ganz besondere Verbindung alexandrinischer Kultur und Sinnlichkeit. Plutarch zufolge war Kleopatra keine große Schönheit, nach der sich die Leute auf der Straße umgedreht hätten. Dafür besaß sie Charme, Intelligenz und Wortgewandtheit im Überfluss. Das Timbre ihrer Stimme war so süß, dass keiner, der ihr lauschte, davon loskam. Und ihre Zunge, fährt der Geschichtsschreiber fort, fügte sich an jede Sprache, die sie sich erschließen wollte, wie ein Musikinstrument mit vielen Saiten. Sie war in der Lage, ohne Dolmetscher mit Äthiopiern zu kommunizieren, mit Juden, Arabern, Syrern, Medern und Parthern. Listig und gut informiert, konnte sie im Kampf um die Macht mehrere Teilsiege erzielen, auch wenn sie die entscheidende Schlacht verlor. Leider haben vor allem ihre Feinde über sie berichtet.
Auch in dieser stürmischen Geschichte spielen Bücher eine wichtige Rolle. Als Marcus Antonius sich kurz vor der Weltherrschaft wähnte, überkam ihn der Wunsch, Kleopatra mit einem großen Geschenk zu beeindrucken. Er wusste: Gold, Geschmeide oder ein Festmahl würden in den Augen seiner Geliebten, die es gewohnt war, das alles täglich uneingeschränkt zu genießen, kein Licht des Erstaunens entzünden. So hatte die Königin an einem trunkenen Morgen aus provokanter Prahlerei eine riesige Perle in Essig aufgelöst und wie einen Drink heruntergestürzt. Marcus Antonius entschied sich daher für ein Geschenk, das Kleopatra nicht mit gelangweilter Miene zur Kenntnis nehmen könnte: Er ließ ihr 200000 Bände für die Große Bibliothek zu Füßen legen. In Alexandria waren Bücher Treibstoff für Leidenschaften.
Im 20. Jahrhundert wurden zwei Schriftsteller zu Führern durch die geheimen Winkel der Stadt und fügten dem Mythos von Alexandria ein paar weitere Schichten hinzu. Der griechischstämmige Konstantinos Kavafis war ein unbedeutender Beamter im Ministerium für Öffentliche Bauten der britischen Verwaltung in Ägypten, der in der Abteilung für Wasserwirtschaft arbeitete, ohne jemals aufzusteigen. Nachts jedoch tauchte er in eine Welt der Lüste ein und mischte sich unter die Kosmopoliten und Angehörigen der Halbwelt aus aller Herren Länder. Das Labyrinth der Bordelle von Alexandria, die einzige Zuflucht für seine »streng verbotene und verachtete« Homosexualität, kannte er wie seine Westentasche. Kavafis war ein leidenschaftlicher Leser der Klassiker, Dichter fast nur im Geheimen.
In seinen heute bekanntesten Werken lässt er reale und erfundene Figuren aus Ithaka, Troja, Athen oder Byzanz wiederaufleben. Andere, augenscheinlich persönlichere Gedichte erkunden sein eigenes Reifen zwischen Ironie und innerer Zerrissenheit: die Sehnsucht nach seiner Jugend, das Erlernen der Lust oder das beklemmende Verrinnen der Zeit. Diese thematische Differenzierung ist allerdings eine künstliche. Gelesene und vorgestellte Vergangenheit ging Kavafis ebenso nahe wie seine Erinnerungen. Wenn er durch Alexandria streifte, sah er unter der realen Stadt die abwesende Stadt pulsieren. Obwohl die Große Bibliothek verschwunden war, hingen ihr Echo, ihr Flüstern und Wispern weiter in der Luft. Für Kavafis machte diese große Gemeinschaft von Gespenstern die kalten Straßen, durch die einsam und gequält die Lebenden wandeln, überhaupt bewohnbar.
Die Protagonisten des Alexandria-Quartetts, Justine, Darley und vor allem Balthazar, der behauptet, Kavafis gekannt zu haben, denken immer wieder an ihn zurück, »den alten Dichter der Stadt«. Gleichzeitig erweitern die vier Romane von Lawrence Durrell – eines der englischen Autoren, denen im eigenen Land der Puritanismus und das Klima die Luft abschnürten – den erotischen und literarischen Resonanzraum des Mythos von Alexandria. Durrell lernte die Stadt in den turbulenten Jahren des Zweiten Weltkriegs kennen, als das von britischen Truppen besetzte Ägypten ein Nest von Spionen und Verschwörern war und wie immer im Zeichen der Lüste stand. Niemand hat die Farben Alexandrias und die körperlichen Eindrücke, die der Ort in ihm auslöste, präziser beschrieben als er. Die erdrückende Stille und den hohen Sommerhimmel. Die Tage in sengender Hitze. Das strahlende Blau des Meeres, die Wellenbrecher, die gelben Ufer. Im Landesinneren der Mariout, zuweilen so konturenlos wie eine Fata Morgana. Zwischen den Wassern des Hafens und des Sees unzählige Straßen voller Staub, Bettler und Fliegen. Palmen, Luxushotels, Haschisch, Trunkenheit. Die trockene, vor Elektrizität knisternde Luft. Abende in Zitronengelb und Lila. Fünf große Ethnien, fünf Sprachen, ein Dutzend Religionen, das Spiegelbild von fünf Flotten im öligen Wasser. In Alexandria, schreibt Durrell, erwacht das Fleisch zum Leben und rüttelt an den Gitterstäben seines Gefängnisses.
Im Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt schwere Zerstörungen. Im letzten Roman des Quartetts beschreibt Clea eine melancholische Landschaft. Gestrandete Panzer am Meeresufer, die Dinosaurierskeletten gleichen, die großen Kanonen wie umgestürzte Bäume in einem versteinerten Wald, die Beduinen, die sich in Minenfelder verirren. Die Stadt, schon immer ein Ort der Perversionen, schließt er, ähnelt jetzt einem riesigen öffentlichen Pissoir. Nachdem Lawrence Durrell Alexandria 1952 verlassen hatte, kehrte er nie wieder dorthin zurück. Die jahrtausendealten Gemeinschaften von Juden und Griechen flohen nach der Suezkrise, im Nahen Osten endete eine Epoche. Reisende, die heute aus der Stadt zurückkommen, erzählen mir, die kosmopolitische, sinnliche Stadt sei ausgewandert ins Gedächtnis der Bücher.
Alexandria gibt es mehr als nur einmal. Eine ganze Reihe von Städten dieses Namens markiert den Vormarsch Alexanders des Großen von der Türkei bis zum Indus. Die verschiedenen lokalen Sprachen haben den ursprünglichen Klang des Namens verändert, doch manchmal hört man die ferne Melodie noch durch. Alexandretta, Iskenderun auf Türkisch. Alexandria von Karmanien, heute Kerman im Iran. Alexandria in Margiana, jetzt Merw in Turkmenistan. Alexandria Eschatê, was so viel heißt wie Alexandria am Ende der Welt, heute Chudschand in Tadschikistan. Alexandria Bukephalos, gegründet im Gedenken an das Pferd, das Alexander von Kindheit an begleitet hatte, später dann Jhelam in Pakistan. Der Krieg in Afghanistan hat uns noch andere antike Alexandrias in Erinnerung gebracht: Bagram, Herat, Kandahar.
Plutarch erzählt, Alexander habe siebzig Städte gegründet. Er wollte ein Zeichen seiner Anwesenheit hinterlassen, so ähnlich wie die Kinder, die ihren Namen an Wände oder Toilettentüren kritzeln (»Ich war hier«, »Ich war hier siegreich«). Für den Eroberer war der Weltatlas die lange Mauer, auf der er ein ums andere Mal seine Signatur hinterließ.
Der Drang, dem Alexander folgte, der Grund für die überbordende Energie, die ihn dazu trieb, einen Eroberungsfeldzug über 25000 Kilometer zu führen, war sein Durst nach Ruhm und Bewunderung. Er glaubte tief und fest an Heldensagen; mehr noch, er lebte und wetteiferte mit den Heroen. Ein obsessives Band verknüpfte ihn mit Achill, dem mächtigsten und gefürchtetsten Krieger der griechischen Mythologie. Schon als Junge hatte Alexander ihn sich ausgesucht, als er von seinem Lehrer Aristoteles in die Homerische Dichtung eingeführt wurde, und träumte seither davon, ihm gleichzukommen. Er brachte ihm dieselbe leidenschaftliche Bewunderung entgegen, die heutige Kinder für ihre Sportidole empfinden. Angeblich schlief Alexander immer mit seinem Exemplar der Ilias und einem Dolch unter dem Kissen. Das Bild lässt uns schmunzeln, wir stellen uns einen Jungen vor, der neben seinem offenen Heft mit Fussballbildern eingeschlafen ist und im Traum unter dem enthusiastischen Jubel des Publikums eine Meisterschaft gewinnt.
Nur dass Alexander seine wildesten Erfolgsfantasien Wirklichkeit werden ließ. Die Liste seiner in nur acht Jahren erzielten Eroberungen – Anatolien, Persien, Ägypten, Zentralasien und Indien – katapultiert ihn auf den Gipfel der kriegerischen Glanztaten. Im Vergleich dazu wirkt Achill, der sein Leben bei der zehn Jahre dauernden Belagerung einer einzigen Stadt verlor, wie ein blutiger Anfänger.
Das ägyptische Alexandria wurde, wie könnte es anders sein, aus einem literarischen Traum geboren, einem homerischen Wispern. Im Schlaf sah Alexander, wie ein grauhaariger alter Mann an seine Seite trat. Der rätselhafte Unbekannte rezitierte einige Verse aus der Odyssee, in denen von einer Insel namens Pharos die Rede ist, die umgeben vom Meeresrauschen vor der ägyptischen Küste liegt. Die Insel gab es wirklich, nahe der Schwemmebene, in der sich das Nildelta mit den Wassern des Mittelmeers vereint. Alexander sah in dieser Vision, wie damals üblich, ein Vorzeichen und gründete dort die vorbestimmte Stadt.
Er fand die Gegend wunderschön. Die Sandwüste traf auf die Wüste aus Wasser, zwei einsame Landschaften, endlos, wechselhaft und vom Wind geformt. Also zeichnete er mit Mehl die Umrisse der Stadt auf den Boden, ein nahezu vollkommenes Rechteck; er markierte die Stelle, die für den Hauptplatz vorgesehen war, und bestimmte, welchen Göttern Tempel erbaut und wie die Stadtmauer angelegt werden sollte. Später wurde die kleine Insel durch einen langen Deich mit dem Delta verbunden und erhielt mit dem Leuchtturm von Pharos eines der sieben Weltwunder.
Während der Bau begann, setzte Alexander seinen Weg fort. Zurück blieb eine kleine Bevölkerung aus Griechen, Juden und einigen Hirten, die zuvor in den umliegenden Dörfern gewohnt hatten. Der kolonialen Logik aller Epochen folgend, wurden die ägyptischen Einheimischen zu Bürgern zweiten Ranges erklärt.
Alexander sollte die Stadt nicht wiedersehen. Weniger als ein Jahrzehnt später wurde sein Leichnam dorthin zurückgebracht. Im Jahr 331 v. Chr. jedoch, als er Alexandria gründete, war er vierundzwanzig Jahre alt und fühlte sich unbesiegbar.
Er war jung und unbezähmbar. Auf seinem Weg nach Ägypten hatte er das Heer des persischen Königs der Könige zweimal hintereinander geschlagen. Nun sicherte er sich die Macht in der Türkei und Syrien und erklärte sie für vom persischen Joch befreit. Er eroberte den Streifen Palästina und Phönizien; alle Städte ergaben sich ihm widerstandslos, bis auf zwei: Tyros und Gaza. Als sie nach sieben Monaten Belagerung fielen, kannte der Befreier keine Gnade. Die letzten Überlebenden wurden der Küste entlang gekreuzigt – zweitausend Leiber nebeneinander im Todeskampf am Meer. Kinder und Frauen wurden in die Sklaverei verkauft. Den Befehlshaber der gequälten Stadt Gaza ließ Alexander an einen Streitwagen binden und zu Tode schleifen, so wie es in der Ilias Achill mit Hektor getan hatte. Bestimmt gefiel Alexander die Vorstellung, sein eigenes episches Gedicht zu leben, und so imitierte er gelegentlich eine Geste, ein Symbol, eine legendäre Grausamkeit.
Bei anderen Gelegenheiten erschien es ihm als eines Helden würdiger, sich gegenüber den Besiegten großzügig zu zeigen. Als er die Familie des persischen Königs Dareios gefangen nahm, behandelte er die Frauen mit Respekt und verzichtete darauf, sie als Geiseln einzusetzen. Stattdessen gab er Befehl, sie in ihren Unterkünften unbehelligt zu lassen und Kleider und Schmuck nicht anzutasten. Auch gestattete er ihnen, ihre in der Schlacht gefallenen Toten zu bestatten.
Als er das Zelt des Dareios betrat, sah er Gold, Silber und Alabaster, nahm den intensiven Geruch nach Myrrhe und andere Düfte wahr, die schmuckvollen Teppiche, Tische und Schränke, ein Überfluss, wie er ihn am provinziellen Hof seiner Heimat Makedonien nicht kennengelernt hatte. Alexander sagte zu seinen Freunden: »Das ist also wohl das Königsein.« Da brachte man ihm ein Kästchen, den kostbarsten und außergewöhnlichsten Gegenstand in Dareios’ Heerlager, und er fragte seine Männer, welcher Wertgegenstand ihrer Meinung nach am ehesten hineingelegt werden sollte. Jeder trug seine Meinung vor: Gold, Geschmeide, Essenzen, Gewürze, Kriegstrophäen. Alexander schüttelte den Kopf und befahl nach kurzem Schweigen, seine Ilias hineinzulegen, von der er sich niemals trennte.
Nie hat er eine Schlacht verloren. Die Mühen der Feldzüge nahm er als einer unter vielen auf sich, ohne Vorrechte zu beanspruchen. Kaum sechs Jahre nachdem er seinem Vater mit fünfundzwanzig auf den makedonischen Thron gefolgt war, hatte er das größte Heer seiner Zeit besiegt und die Schätze des Persischen Reichs in seinen Besitz gebracht. Aber das genügte ihm nicht. Er zog weiter bis ans Kaspische Meer, durchquerte das heutige Afghanistan, Turkmenistan und Usbekistan, erklomm die verschneiten Pässe des Hindukusch und eine Wüste aus trügerischem Sand, bis er den Fluss Oxus erreichte, der heute Amudarja heißt. Danach stieß er in Gegenden vor, die kein Grieche je betreten hatte (nach Samarkand und in den Punjab). Aber er erntete keine glänzenden Siege mehr, sondern rieb sich in einem zermürbenden Guerrillakrieg auf.
Die griechische Sprache hat ein Wort, das Alexanders Obsession beschreibt: póthos. Es bezeichnet das Verlangen nach etwas Abwesendem oder Unerreichbarem, ein Verlangen, das Leid verursacht, weil es unmöglich zu stillen ist. Die Unrast von Verliebten, deren Gefühle nicht erwidert werden, und auch den Kummer von Trauernden, die unerträgliche Sehnsucht nach einem verstorbenen Menschen empfinden. Alexander konnte in seiner Getriebenheit, immer weiter vorzudringen, um der Langeweile und dem Mittelmaß zu entgehen, keine Ruhe finden. Er war noch keine dreißig Jahre alt und fürchtete schon, dass ihm die Welt nicht groß genug sein würde. Was sollte er tun, wenn eines Tages keine Länder mehr zu erobern blieben?
Aristoteles hatte ihn gelehrt, das Ende der Welt liege auf der anderen Seite des Hindukusch, und Alexander wollte diese letzte Grenze erreichen. Der Gedanke, am Rand der Welt zu stehen, zog ihn magisch an. Würde er auf das große Außenmeer stoßen, von dem sein Lehrer ihm erzählt hatte? Würde der Ozean wie ein Wasserfall in einen bodenlosen Abgrund stürzen? Oder wäre das Ende unsichtbar, ein dichter Nebel und ein langsames Ausblenden ins Weiß?
Doch Alexanders Männer, krank und missgelaunt unter dem Monsunregen, weigerten sich, noch weiter nach Indien einzudringen. Sie hatten Nachricht von einem gewaltigen, unbekannten indischen Reich jenseits des Ganges erhalten. Die Welt schien nicht bald enden zu wollen.
Ein Veteran sprach im Namen aller: Unter dem Befehl ihres jungen Königs hatten sie Tausende von Kilometern zurückgelegt, hatten unterwegs mindestens 750000 feindliche Krieger niedergemetzelt. Sie hatten ihre im Kampf gefallenen Freunde begraben müssen. Sie hatten Hunger und Eiseskälte ertragen, hatten Durst gelitten und unter großen Strapazen Wüsten durchquert. Viele waren an unbekannten Krankheiten gestorben wie Hunde am Straßenrand oder waren schrecklich verstümmelt worden. Den wenigen, die überlebt hatten, fehlte die Kraft ihrer Jugend. Jetzt hinkten die Pferde mit schmerzenden Fesseln, und die Wagen, die den Proviant transportierten, blieben in vom Monsun verschlammten Wegen stecken. Selbst die Gürtelschnallen waren rostig geworden, und die Essensvorräte schimmelten von der Feuchtigkeit. Die Männer trugen seit Jahren durchlöcherte Stiefel. Sie wollten zurück nach Hause, wollten ihre Frauen liebkosen und ihre Kinder umarmen, an die sie sich kaum noch erinnern konnten. Sie hatten Heimweh nach dem Land, in dem sie geboren waren. Wenn Alexander darauf bestand, seine Expedition fortzusetzen, so sollte er mit seinen Makedoniern nicht rechnen.
Alexander war erzürnt und zog sich wie Achill am Anfang der Ilias unter Drohungen in sein Zelt zurück. Ein psychologischer Krieg begann. Zunächst verhielten sich die Soldaten still, später wagten sie es, ihren König dafür zu schmähen, dass er die Beherrschung verloren hatte. Sie waren nicht bereit, sich von ihm demütigen zu lassen, nachdem sie ihm die besten Jahre ihres Lebens geschenkt hatten.
Die Spannung hielt zwei Tage lang an. Dann machte das große Heer kehrt und brach in Richtung Vaterland auf. Am Ende hatte Alexander also doch noch eine Schlacht verloren.