Dietmar Füssel

Der Strohmann

Kriminalroman

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Rückblende

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Kapitel 12 A

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

Prolog



KRIMINALROMAN



Der Präsident war, höflich ausgedrückt, ein ganz klein wenig unterbelichtet.

Selbst seine ergebensten Speichellecker bescheinigten ihm bestenfalls durchschnittliche Intelligenz.

Zwar hatte er bei der Vergabe des Verstandes in der pränatalen Sub-Astral-Sphäre laut und deutlich „Hier!“ gerufen, doch leider hatten die Amerikaner just in diesem Augenblick auf dem Bikini-Atoll einen Atombombenversuch durchgeführt, sodass der für die Zuteilung der menschlichen Begabungen zuständige Große Geist wegen des enormen Explosionslärms seinen Ruf nicht hatte hören können.

Er stand mit zusammengekniffenen Augen am Rednerpult des Kongresses, um die jährliche Rede des Präsidenten zur Lage der Nation zu halten.

Das Zusammenkneifen der Augen hatte er sich in der Zeit angewöhnt, in der er seine Reden noch von einem sogenannten Teleprompter hatte ablesen müssen, was ihm wegen einer angeborenen Lese- und Rechtschreibschwäche ausgesprochen schwer gefallen war.

Aus diesem Grund war es immer wieder zu peinlichen Versprechern gekommen, sodass man ihm einen kleinen Empfänger ins Ohr implantiert hatte, mit dessen Hilfe seine Berater jederzeit mit ihm in Verbindung treten konnten.

„Mr. Speaker, Herr Vizepräsident, Mitglieder des Kongresses, liebe Mitbürger!“, begann er und wartete darauf, dass sein Ghostwriter Mike mit der Durchsage der Rede anfing, doch der Empfänger in seinem Ohr blieb stumm.

Hilfesuchend blickte er hinüber zu seinem Betreuerstab, der ihm signalisierte, dass offenbar irgendein technischer Defekt aufgetreten war, der sich nicht so schnell beheben ließ.

Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als diese wichtige Rede ohne jede fremde Hilfe aus dem Stegreif zu halten.

Glücklicherweise mangelte es ihm nicht an Selbstbewusstsein, sodass seiner Stimme keine Spur von Unsicherheit anzumerken war, als er seine Rede fortsetzte.

„Als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werde ich heute zu Ihnen über die Lage der Nation sprechen“, verkündete er. „Die Lage der Nation ist gut, weil gute Menschen Gutes tun. Ich bin ein guter Präsident. Der Herr Vizepräsident ist ein guter Vizepräsident. Die Regierung ist eine gute Regierung. Der Kongress ist ein guter Kongress. Und das amerikanische Volk ist ein gutes Volk, und Gott ist mit uns.

Unser Volk muss zusammen kommen, um sich zu vereinigen.

Wenn wir nämlich nicht gewinnen, könnten wir verlieren.

Ich meine damit zum Beispiel unsere Wirtschaft, wo der überwiegende Teil unserer Importe heutzutage aus dem Ausland kommt.

Und das ist natürlich gar nicht gut für unseren Arbeitsmarkt.

Ich denke, wir stimmen alle darin überein, dass die Vergangenheit vorbei ist.

Glauben Sie mir, ich weiß, wie schwer es für Sie ist, Essen auf Ihre Familie zu setzen.

Der Herr Vizepräsident und ich, wir wollen aber nicht, dass sich diese Nation in einer Rezession befindet. Wir wollen, dass jeder, der Arbeit finden kann, Arbeit finden kann.

Und es ist ganz wichtig für uns, dass wir unserem Land erklären, dass das Leben wichtig ist. Mein Standpunkt für das Leben ist, dass ich glaube: Es gibt Leben. Und es ist nicht nur das Leben von Babys, sondern das Leben von Kindern, die, wissen Sie, in den dunklen Höhlen des Internets hausen.

Deshalb ist uns eine gute Bildungspolitik ganz besonders wichtig. Zum Beispiel gute Lehrer, man unterrichtet ein Kind das Lesen, und er oder es werden dann einen Sprachentest schaffen.

Frei heraus gesagt, Lehrer sind die einzige Berufsgruppe, die unsere Kinder ausbildet.

Schon als Gouverneur habe ich einen hohen Standard für die öffentlichen Schulen erwirkt, und ich habe diesen erfüllt.

Das tue ich auch als Präsident. Und deshalb werden wir schon bald die am besten ausgebildeten Amerikaner auf der Welt haben.

Was nun die Außenpolitik angeht, so möchte ich sagen, dass die Welt unter meiner Führung freier und friedvoller geworden ist und Amerika sicherer.

Wissen Sie, als ich aufwuchs, da war die Welt gefährlich. Man wusste genau, wer sie waren: Es waren wir gegen sie, und es war klar, wer sie waren. Heute wissen wir nicht so genau, wer sie sind, aber wir wissen, dass sie da sind.

Unsere Gegner zeigen Initiative und sind einfallsreich, und das sind wir auch. Sie hören nie damit auf, sich neue Wege zu überlegen, wie sie unserem Land und unserem Volk schaden können, und wir auch nicht.

Ein Land, das angegriffen wird, kann antworten, indem es seinen Nachbarn liebt, wie es selbst geliebt werden möchte.

Aber das ist nicht unser Weg. Und auch nicht mein Weg.

Ich bin nämlich ein Kriegspräsident, wenn ich Entscheidungen treffe, dann denke ich immer an den Krieg.

Und, glauben Sie mir: Wir sind bereit für jedes unvorhergesehene Ereignis, das auftritt oder auch nicht.

Und deshalb lassen Sie mich eines noch abschließend sagen, weil es meine zutiefste Überzeugung ist:

Ich habe in der Vergangenheit gute Entscheidungen getroffen, und ich habe in der Zukunft gute Entscheidungen getroffen.

Weil ich nämlich nicht Teil des Problems bin, sondern Republikaner.

Und deshalb wird die Zukunft morgen besser sein.

Gott schütze Amerika.“

„Um Gottes willen. Um Gottes willen!“, stöhnte Mike, der während der kurzen Rede um Jahre gealtert war. „Das war furchtbar! Furchtbar! Einfach furchtbar! Eine Katastrophe!“

„Stimmt, Mike. Das war es“, bestätigte Karl, der persönliche Berater des Präsidenten. „Ich fürchte, jetzt kann uns nur noch einer helfen.“

„Zumindest hätten wir dann noch eine gewisse Chance“, sagte Mike. „Aber was ist, wenn er nicht will?“

„Dann wäre jetzt schon alles verloren. Aber daran will ich nicht einmal denken. Er muss uns einfach helfen, verstehst du? Er muss! Unbedingt! Er muss! Weil wenn er uns nicht hilft, dann hat das alles keinen Sinn mehr. Dann können wir uns genauso gut gleich morgen einen anderen Job suchen.“

***



1. Kapitel


Durch die Straßen Chikagos schlich ein Mann. Der Mann hatte einen Auftrag. Einen Geheimauftrag. Einen streng geheimen Geheimauftrag der Geheimhaltungsstufe AAA, die nur dann vergeben wird, wenn es sich um Angelegenheiten von höchstem nationalen Interesse handelt.

Er schwitzte wie ein alter Ziegenbock, denn trotz hochsommerlicher Temperaturen trug er in strikter Befolgung der CIA-internen Verkleidungsvorschrift 42 B einen bodenlangen beigen Mantel und eine regengraue Wollhaube auf dem Kopf.

Wie nicht anders zu erwarten, bewirkte seine um diese Jahreszeit höchst ungewöhnliche Kleidung das Gegenteil von dem, was sie eigentlich hätte bewirken sollen.

Alle Leute drehten sich nach ihm um.

‚Derartige Kleidung bei dieser Hitze? Das kann nur ein Psychopath oder ein Geheimagent sein. Mal sehen, was er macht.'

So dachte sich so mancher und folgte dem Agenten in angemessener Entfernung.

Der Geheimagent selbst merkte freilich nichts von alledem, weil er sich eine Zeitung vor sein Gesicht hielt.

Im Zuge seiner Ausbildung hatte er selbstverständlich gelernt, sich trotz dieser erheblichen Einschränkung seines Gesichtsfeldes zügig und sicher fortzubewegen.

Unglücklicherweise hatte er aber ausgerechnet den Sportteil aufgeschlagen.

BRAVO, CHICAGO BEARS! ‘ stand dort in riesigen Lettern.

Der Agent war ein großer Fan der Chicago Bears. Daher wollte er gerne mehr über den glorreichen Sieg erfahren, den seine Idole am Vorabend gegen die inferioren Denver Broncos gefeiert hatten.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, begann er zu lesen, und das hätte er lieber nicht tun sollen, denn nur wenige Sekunden später spürte er einen heftigen Stoß und stellte fest, dass er eine alte, gehbehinderte Frau umgerempelt hatte, die sich nun, böse Verwünschungen murmelnd, mit Hilfe ihres Stockes darum bemühte, wieder auf die Beine zu kommen.

Um nicht durch übertriebene Hilfsbereitschaft aufzufallen, verzichtete der Agent darauf, der Alten zu helfen, sondern ging seelenruhig weiter, als hätte er mit dieser Sache nicht das Geringste zu tun.

Plötzlich verstellten zwei gorillaähnliche Männer ihm den Weg, die so aussahen, als hätten sie im Moment nicht einmal ein Neutrino von einer Sonne im Herzen.

„Stehen bleiben, Freundchen“, knurrte der eine böse. „Das sollst du uns büßen, unsere arme Mutter niederzutrampeln! Dir werden wir schon noch Manieren beibringen, du dreckiger Agent!“

Der Geheimagent erfasste blitzschnell die Situation:

Woher wussten die beiden, dass er bei der CIA war, obwohl er sich strikt an die Verkleidungsvorschriften seiner Behörde gehalten hatte?

Sie konnten es nicht wissen. Nicht, wenn sie wirklich nichts weiter als harmlose Passanten gewesen wären. Und das bedeutete, dass die beiden Mitglieder der Al Kaida waren, die – wahrscheinlich sogar von Osama bin Laden persönlich - den Auftrag erhalten hatten, ihn kaltzumachen, um ihn an der Durchführung seiner Mission zu hindern.

Blitzschnell zog er seinen als Feuerzeug getarnten Taschen-Flammenwerfer und betätigte ihn, worauf seine Gegner sich innerhalb weniger Sekunden in zwei Häufchen Asche verwandelten.

Es bereitete ihm keine Skrupel, dass er soeben zwei Menschen getötet hatte, denn erstens waren die beiden gefährliche Terroristen gewesen, zweitens fing seine Ausweisnummer mit zwei Nullen an, was ihn dazu berechtigte, jeden zu töten, den er für tötenswert hielt, und drittens hatte er es ja nicht zu seinem Privatvergnügen getan, sondern fürs Vaterland.

Soeben wollte er seinen Weg fortsetzen, als ihn ein Schlag traf. Er drehte sich um.

Hinter ihm stand mit erhobenem Stock die alte Frau, die ihm vorhin den Weg verstellt hatte, um ihren Komplizen einen Vorwand zu verschaffen, gegen ihn vorzugehen.

„Du hast meine Söhne getötet! Das sollst du mir büßen, du gemeiner Agent!“, zeterte sie.

‚In ihrem Alter, noch dazu nur mit einem Stock bewaffnet, einen CIA-Agenten anzugreifen, ist glatter Selbstmord. Also habe ich es hier mit einer gefährlichen Selbstmord-Attentäterin zu tun’ überlegte der Agent und beförderte auch sie mit seinem Flammenwerfer ins Jenseits, wo sie wenigstens wieder mit ihren geliebten Söhnen vereint war.

Aus sicherer Entfernung hatte ein Polizist den Tötungen mit wachsender Befremdung zugesehen, und als der Agent seinen Weg fortsetzen wollte, trat er an diesen heran und hielt ihn auf:

„Entschuldigen Sie, aber darf ich fragen, ob Sie zufällig eine Lizenz zum Töten haben?“, erkundigte er sich.

„Selbstverständlich habe ich eine“, erwiderte der Agent. „Oder glauben Sie etwa, ich töte hier zu meinem Privatvergnügen?“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich fürchte, es gibt da ein kleines Problem...“

„Ach so? Was für Problem denn?“

„Auch wenn Sie eine Lizenz zum Töten haben, so gibt Ihnen das noch lange nicht das Recht, hier den Gehsteig zu verunreinigen“, erklärte der Beamte. „Ja, wo kämen wir da hin, wenn das jeder täte? Dann würde es hier bald sauber aussehen! Oder besser gesagt: Nicht sauber, sondern dreckig.

Verstehen Sie, das ist genauso wie mit dem Rauchen: So wie es bestimmte Zonen gibt, in denen geraucht werden darf, gibt es auch bestimmte Zonen, in denen getötet werden darf. Zumindest von dazu befugten Personen. Öffentliche Gehwege gehören da mit Sicherheit nicht dazu.

Also machen Sie das gefälligst weg, aber ein bisschen dalli. Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie mit auf die Wache nehme?“

„Schlaue Verkleidung. Aber ich falle leider nicht drauf rein“, erwiderte der Agent, und schon hatte die Polizei wieder einen Beamten weniger, was aber bei den Verlusten, die die Leute des Gangsterbosses Chinchilla der Polizei tagtäglich aus Jux und Tollerei zuzufügen pflegten, nicht besonders ins Gewicht fiel.

(Aus diesem Grund wird in der schönen Stadt Chikago jedem zehnten männlichen Neugeborenen ohne Wissen seiner Eltern etwa die Hälfte des Gehirns entfernt, weil andernfalls keiner mehr blöd genug wäre, um ausgerechnet Polizist zu werden. Diese illegalen Operationen gehören zu den am sorgfältigsten gehüteten Geheimnissen der Stadtverwaltung, und das mit Recht, denn würde die Bevölkerung davon erfahren, so wäre ihre Empörung darüber zweifellos ebenso groß wie jene Charlton Hestons in dem Film ‚2022 – die überleben wollen’, als er entdeckt, dass Soylent Green aus Menschenfleisch gemacht ist. Oder vielleicht sogar noch ein bisschen größer. )

Um nicht womöglich auch noch mit einem echten Polizisten in Konflikt zu geraten, drückte der Agent einem besoffenen alten Penner einen Zehndollarschein in die Hand und befahl ihm, als Gegenleistung dafür den Gehsteig zu putzen, was dieser auch versprach.

„Aber erst mal besorg ich mir n’Schnaps, Brüderchen“, sagte er.

„Ist schon recht. Aber vergiss nicht, was du zu tun hast“, erwiderte der Agent gutmütig und setzte seinen Weg fort.

Er beschleunigte seinen Schritt, sodass seine – mittlerweile schon recht zahlreichen – Beobachter Mühe hatten, ihm zu folgen, und betrat kurz darauf eine kleine, unscheinbare Tierhandlung.

Auf dem Ladenschild stand:

JAMES WINSTON

FISCHE ALLER ARTEN UND NATIONALITÄTEN


Die beobachtende Menschenmenge versammelte sich schiebend und drängelnd vor dem Schaufenster, weil jeder einen Blick ins Innere des Ladens erhaschen wollte.

„James Winston, der berühmte Detektiv“, murmelte einer andächtig.

„Was kann dieser Agent von ihm wollen?“, fragte sich ein anderer. „Seit er seine Detektei aufgegeben hat, interessiert er sich doch nur noch für seine Fische.“

„Und er versteht wirklich was von seinen Fach“, bemerkte ein dritter, offensichtlich ein Fischliebhaber. „Er gilt als größter Fischexperte der Welt. Und das zu Recht. Ich habe nämlich ein Aquarium zu Haus, und einmal, da war was mit den Fischen nicht ganz in Ordnung, sie waren irgendwie total schlapp, fast so wie die Spieler der Denver Broncos.

Ich geh also hin zu Winston mit den Fischen, zeige sie ihm, er gibt aus einer Flasche ein paar Tropfen ins Wasser, und schon fühlten sich die Fische wieder so wohl wie ... nun ja, eben wie Fische im Wasser. Er hat außerdem entdeckt, dass Krankheiten für Fische besonders ungesund sind. Auch...“

„Halts Maul, Schwätzer“, brummte ein anderer. „Das interessiert uns einen Dreck. Uns interessiert viel mehr, was dieser Agent von Winston will.“

Nun meldete sich der erste wieder zu Wort: „Wahrscheinlich sitzen die von der CIA wieder mal tüchtig in der Scheiße und James Winston soll ihnen da raushelfen.“

„Das macht der nie“, behauptete der Fischliebhaber. „Glaubt mir, ich kenne James Winston wie meine Westentasche. Der ist doch ganz vernarrt in seine Fische, alles andere interessiert ihn nicht mehr. Und schon gar nicht das Detektivspielen.“

„Wir werden ja sehen“, meinte ein anderer.

***

2. Kapitel


Als der Agent den Laden betrat, war James Winston gerade damit beschäftigt, ein Prachtguppymännchen zum Geschlechtsverkehr mit einem Blackmollyweibchen zu animieren.

Er sammelte nämlich gerade Material für eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel ‚Über die abartige Entartung der Arten’.

Der Prachtguppy zeigte allerdings keinerlei Ambitionen, durch eine Erwähnung in Winstons Buch weltberühmt zu werden.

„Na los, mach“, drängte Winston ungeduldig. „Ich seh es dir doch an, dass du scharf auf sie bist. Also nur keine falsche Scham. Na, jetzt komm schon. Du kriegst dafür auch die doppelte Futterration, und zwar von deinem Lieblingsfutter.

Das ist doch wirklich ein großzügiges Angebot, oder nicht?“

‚Oh mein Gott, der Kerl redet tatsächlich mit Fischen. Gut, dass der Chef mir gesagt hat, dass er ein Genie ist. Sonst würde ich ihn jetzt bestimmt für total meschugge halten’ überlegte der Agent und räusperte sich geräuschvoll.

„Wir reden später weiter“, sagte Winston zu dem Fisch und wandte sich seinem Besucher zu.

„Ich habe Sie gar nicht kommen hören“, bemerkte er. „So leise sind erfahrungsgemäß nur Einschleichdiebe und Agenten. Und nachdem ein Dieb sich wohl kaum geräuspert hätte, um sich bemerkbar zu machen, sind Sie zweifellos ein Agent.“

„Das ist richtig“, bestätigte der Agent. „Ich bin 003. Ich wollte...“

„Den Rabatt für Agenten“, unterbrach Winston. „Selbstverständlich. Alles klar. Agenten werden von mir prinzipiell bevorzugt behandelt. Sehen Sie, zum Beispiel habe ich hier ein trächtiges Guppyweibchen. In drei Tagen, sieben Stunden und zwölf Minuten wird es sieben Junge gebären, drei männliche und vier weibliche, wobei sich das vierte Kind

später durch eine besonders auffällige Färbung auszeichnen wird. Und weil Sie Agent sind, verrechne ich Ihnen nur das Weibchen.“

„Das ist sehr großzügig von Ihnen, aber deswegen bin ich nicht hier. Es geht um etwas anderes. Nämlich um einen wichtigen Fall.“

„Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ? Welchen dieser wichtigen Fälle meinen Sie?“, fragte Winston und jagte sich einen doppelten Whisky durch die Gurgel.

„Äh ... keinen von diesen“, erwiderte der Agent, leicht irritiert. „Es geht um das Vaterland. Es ist in Gefahr. Und Sie sollen es retten.“

„Wenn ich in meiner Eigenschaft als Fischzüchter dazu in der Lage bin, herzlich gerne“, erwiderte Winston.

„Wir brauchen nicht den Fischzüchter, sondern den genialen Detektiv James Winston.“

„Der ist tot. Ich habe ein für alle Mal genug von diesem schmutzigen Job.“

„Aber...“

„Kein Aber. Den Rest meines Lebens habe ich dem Wohl und Wehe der Fische geweiht. Fische sind das Gelbe vom Ei meines Lebens.

Im Anfang war nicht das Wort, sondern der Fisch. Der Mensch ist genau genommen nichts weiter als ein degenerierter Fisch. Nenne einen Fisch deinen Bruder, so wird er dir antworten: ‚Du bist nicht mein Bruder, du Qualzüchtung, geh mir aus der Sonne!’

Wenn Sie also gekommen sind, um mich zu überreden, für Sie wieder Detektiv zu spielen, hätten Sie sich den Weg sparen können. Meine Antwort lautet nein.“

„Aber das Vaterland...“

„Ist in Gefahr, ich weiß“, vollendete Winston und fuhr spöttisch fort. „Ich kenne euch ja: Bei jeder Kleinigkeit schreit ihr gleich, dass das Vaterland in Gefahr ist, und bis jetzt hat sich noch jedes Mal herausgestellt, dass alles halb so wild war.

Oder wollen Sie etwa bestreiten, dass die CIA fünf Millionen Dollar ausgegeben hat, um herauszufinden, wer dem Außenminister einen Zettel mit der Aufschrift ‚Ich bin doof’ auf den Rücken geklebt hat?

Das ganze war natürlich nur ein dummer Lausbubenstreich. Aber ihr habt darin einen Versuch subversiver Elemente gesehen, das Ansehen der USA in der Welt zu untergraben.“

„Was wollen Sie?“, entgegnete der Agent gekränkt. „Immerhin ist es uns im Zuge unserer Ermittlungen gelungen, im Haus des Außenministers eine Maus aufzuspüren, deren Fell total verwanzt war.

Ganz so harmlos, wie Sie denken, war diese Angelegenheit also auch wieder nicht. Und diesmal ist die Bedrohung noch tausendmal ernster.“

„Geben Sie es auf“, sagte Winston. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich wieder als Detektiv arbeite, ist ungefähr so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass ... nun, dass zum Beispiel plötzlich auf der Straße vor meinem Laden Milch und Honig fließen.“

„Entschuldigen Sie, ich muss ganz dringend mal telefonieren“, sagte der Agent hastig, zog sich den linken Schuh aus und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass er unterwegs in ein Häufchen Hundekot getreten war.

„Sie haben nicht zufällig ein Stückchen Küchenrolle?“

„Aber gern. Moment. Hier bitte“, erwiderte Winston, und nachdem der Agent den Schuh notdürftig gereinigt hatte, hielt er ihn sich ans Ohr und sprach in den Absatz:

„Zentrale! Hier 003! Zentrale? Zentrale? Komisch, ich höre nichts.“

„Wenn ich Ihnen einen kleinen Tipp geben darf: Das liegt vermutlich daran, dass sich das Telefon in Ihrem rechten Schuh befindet“, bemerkte Winston. „Es gibt zwar Leute, die glauben, man könne links und rechts nicht verwechseln, aber das ist ein Irrtum.“

„Möglich wäre es“, gab der Agent zu und zog sich auch noch den rechten Schuh aus. „Ich hoffe, Sie halten mich jetzt nicht für einen kompletten Idioten, aber wissen Sie, wir bekommen so oft neue Ausrüstungsgegenstände, dass es unmöglich ist, sich alles immer ganz genau zu merken. Entschuldigung. Einen Moment bitte.

Zentrale? Hier 003. Es geht um Folgendes, ich bin gerade bei James Winston, und ich habe ihn fast schon so weit.

Es gibt da nur noch ein kleines Problem, und zwar brauche ich jetzt unbedingt von euch einen Tankwagen, der mit einem Gemisch aus Milch und Honig gefüllt ist. Die Sache ist nämlich die, dass er sich einen Bach aus Milch und Honig wünscht, der...“

„Schluss mit dem Unsinn!“, rief Winston ärgerlich und entriss dem Agenten das Schuh-Telefon. „Hallo, Zentrale? Hier James Winston.

Ihr Agent hat da etwas missverstanden. Ich habe dieses Beispiel nur gewählt, um zu verdeutlichen, dass ich auf gar keinen Fall wieder als Detektiv arbeiten werde. Also sparen Sie sich bitte diese idiotische Aktion.“

Er gab dem Agenten seinen Schuh zurück, der ihn wieder an seinen Fuß steckte.

„Tja, ich schätze, das war’s dann wohl“, sagte Winston. „Aber falls Sie irgendwann einmal einen Fisch kaufen wollen, können Sie mich selbstverständlich herzlich gerne wieder besuchen.“

„Sie wollen ja bloß nicht mehr als Detektiv arbeiten, weil Sie sich bei Ihrem letzten Fall bis auf die Knochen blamiert haben“, behauptete der Agent. „Und was Sie doppelt schmerzte, war, dass ausgerechnet Ihr Erzfeind, der Gangsterboss Chinchilla, Ihnen diese Niederlage zugefügt hat, um Sie vor den Augen der ganzen Welt bloßzustellen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte Winston.

„Da staunen Sie, was? Wir haben natürlich unsere Erkundigungen eingezogen, bevor ich zu Ihnen geschickt wurde.

Die CIA arbeitet gründlich, das sollten Sie eigentlich wissen, Winston.“

„Für Sie immer noch Mister Winston, 003.“

Mister 003, Mr. Winston. Aber zurück zur Sache. Glauben Sie nicht, dass es besser wäre, nach einem glorreichen Sieg abzutreten als nach einer blamablen Niederlage?“

„Im Prinzip schon. Aber mir wurde damals bewusst, dass ich alle Freude an meinem Beruf verloren hatte. Also beschloss ich, mein Detektivbüro dicht zu machen und mich stattdessen ganz meiner großen Leidenschaft zu widmen, nämlich der Fischzucht.

Und Sie dürfen mir glauben, dass ich diesen Entschluss bisher noch keine Sekunde lang bereut habe.“

„Nun, wenn das so ist, dann sind Sie auch bestimmt nicht daran interessiert, Chinchilla diese bittere Niederlage heimzuzahlen“, sagte der Agent listig, während er sich zum Gehen wandte. „Der Fall, mit dem wir Sie beauftragen wollten, wäre dazu die beste Gelegenheit gewesen. Deshalb haben wir uns ja an Sie gewandt, weil kein anderer Chinchilla so gut kennt wie Sie.

Da Sie aber lieber Fischzüchter bleiben wollen – was ich verstehen kann, denn das ist eine sehr schöne, friedliche, beschauliche Tätigkeit - bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an einen anderen zu wenden. Schade. Nun denn: Schönen guten Tag noch, Mr. Winston.“

„Warten Sie!“, rief Winston.

„Was gibt’s denn noch?“, fragte der Agent. „Ach ja, ich habe ganz auf das Guppyweibchen vergessen, das Sie mir liebenswürdigerweise zu einem Sonderpreis angeboten haben.“

„Nein, darum geht es nicht. Kommen Sie mit, ins Hinterzimmer. Ich muss zugeben, dass es Ihnen gelungen ist, mich neugierig zu machen. Natürlich denke ich nach wie vor nicht daran, den Fall zu übernehmen, aber möglicherweise könnte ich Ihnen einige wichtige Informationen zukommen lassen.“

***


3. Kapitel


„Also, schießen Sie los“, befahl Winston, nachdem sie im Hinterzimmer Platz genommen hatten, und schenkte sich einen vierfachen Whisky ein.

Seinem Gast bot er vorsichtshalber nichts zu trinken an, weil er befürchtete, dass dieser das Angebot annehmen könnte.

„Haben Sie sich zufällig die Rede unseres Präsidenten zur Lage der Nation angesehen, Mr. Winston?“

„Leider nein. Wissen Sie, ehrlich gesagt interessiere ich mich nicht für Politik. Aber ich habe gehört, dass er keinen besonders guten Tag erwischt haben soll...“

„Ganz recht, Mr. Winston. Diese Rede war eine einzige Katastrophe. Spätestens nach dieser Rede wird kaum noch jemand daran zweifeln, dass unser Präsident tatsächlich an hochgradiger Oligophrenie leidet.“

„Entschuldigung. Oligo...“

„Oligophrenie. Das ist der medizinische Fachausdruck für Schwachsinn.“

„Alles klar. Aber eigentlich habe ich nicht den Eindruck, dass er besonders darunter leidet. Auf mich wirkt er eigentlich immer ziemlich zufrieden und ausgeglichen. Die Leidtragenden dürften doch wohl eher diejenigen sein, die die Folgen seiner schwachsinnigen Entscheidungen ausbaden müssen.

Und das sind glücklicherweise meistens irgendwelche Ausländer.“

„Das stimmt natürlich, Mr. Winston. Aber trotzdem hat diese völlig missglückte Rede seine Chancen auf eine zweite Amtsperiode nicht gerade verbessert. Nach jüngsten Umfragen halten ihn nur noch knapp 30 % für einen guten Präsidenten, und wenn der Kandidat der Demokraten auch nur einigermaßen attraktiv ist...“

„Alles gut und schön, aber was geht mich das an?“, unterbrach Winston. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich habe nichts gegen unseren Präsidenten. Ganz im Gegenteil, ich habe ihn sogar selbst gewählt. Aber ich würde schön langsam gerne wissen, was das alles mit Chinchilla zu tun haben soll.“

„Dazu komme ich gerade, Winston... äh... Mr. Winston.

Für die Vorwahl der Demokraten haben sich bisher drei Kandidaten angemeldet:

Dr. James Black, der Nobelpreisträger für Medizin, dem es gelungen ist, Heilmittel gegen AIDS, Krebs und Altersschwäche zu finden, dann der ehemalige Bodybuilder und nunmehrige Filmschauspieler Charlton Davis und, last not least, Willy, der weltberühmte dressierte Schimpanse.

Dr. James Black ist natürlich von vornherein chancenlos, weil er schwul ist und sich öffentlich zu seinem Lebensgefährten bekannt hat, und Willy sind auch nicht viel mehr als zwanzig Prozent der Stimmen zuzutrauen. Also wird aller Voraussicht nach Charlton Davis das Rennen machen.

Und nun komme ich zu dem Teil, der Sie interessieren wird:

Charlton Davis hat seine Karriere als Bodybuilder beim ‚Chikago Athletic Club’ beschlossen, der, wie Sie vielleicht wissen, Jeff Bucher gehört, der rechten Hand Chinchillas.

Nur wenige Wochen nach seiner Wahl zum Mister Universum wechselte Davis damals zum Athletic Club...“

„Das allein beweist noch gar nichts. Wahrscheinlich haben die ihm eine Menge Kohle dafür angeboten. Und ehrlich gesagt würde ich als Sportler mich auch nicht dafür interessieren, wem der Verein gehört, für den ich antrete, solange die Kasse stimmt.“

„Ich auch nicht“, erwiderte der Agent. „Aber finden Sie es nicht, vorsichtig ausgedrückt, etwas merkwürdig, dass Davis sich auch während seiner gesamten Filmkarriere im Dunstkreis der Organisation bewegt hat?

Und damit meine ich nicht bloß, dass sein Lieblingsregisseur Player höchstwahrscheinlich zur Organisation gehört, sondern vor allem, dass ausnahmslos alle Filme, an denen Davis bisher mitgewirkt hat, von GMG produziert worden sind.

Und GMG gehört, wie Sie vermutlich wissen, einem gewissen Claudio Verona alias Chinchilla, offiziell zwar nur zu einundfünfzig, de facto aber zu hundert Prozent.

Natürlich ist das immer noch kein Beweis...“

„Natürlich nicht“, sagte Winston nachdenklich. „Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es ein Zufall ist. Jeder, der Chinchilla kennt, weiß, dass dieser Mann nichts dem Zufall überlässt. Und wenn er einem Bodybuilder aus einem seiner Clubs zu einer großartigen Filmkarriere verhilft, dann erwartet er sich von ihm eine entsprechende Gegenleistung.“

„Eben“, sagte der Agent. „Und das bedeutet, dass der nächsten Präsident der Vereinigten Staaten aller Voraussicht nach ein Strohmann Chinchillas sein wird.“

„Sofern dieser Charlton Davis tatsächlich die Wahlen gewinnt.“

„Ganz recht. Und jetzt frage ich Sie, Mr. Winston, auf Ehre und Gewissen: Wollen Sie uns dabei helfen, dieses furchtbare Unheil von unserem Land abzuwenden, oder wollen Sie auch unter diesen Umständen bei Ihrem Nein bleiben?“

„Nein.“

„Wie darf ich das verstehen? Was meinen Sie mit Ihrem Nein? Nein oder Ja?“

„Wenn ich Nein sage, so heißt das immer Nein.“

„Das heißt, Sie wollen uns nicht helfen.“

„Nein.“

„Also schön, dann...“

„Nein, halt, warten Sie! Ich will Ihnen ja helfen! Ich verneinte nur Ihre Frage, ob ich bei Nein bleiben will. Unter diesen Umständen bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, als diesen Fall zu übernehmen. Davis darf nicht Präsident werden und ich bin bereit, alles zu tun, um das zu verhindern.“

„Das freut mich“, erwiderte der Agent. „Großartig. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“

„Ich auch nicht“, sagte Winston und schenkte sich noch einen Whisky ein.

Seinem Gast bot er wieder nichts an, weil er die knapp zwanzig Liter Whisky, die er zurzeit im Haus hatte, nur ungern mit jemandem geteilt hätte.

So wie viele große Männer neigte auch er zu einem gewissen gesunden Egoismus.

***


4. Kapitel


„Zunächst interessiert mich, was die CIA bisher in dieser Angelegenheit unternommen hat“, sagte Winston. „Wenn die CIA auch viel von ihrem einstigen Glanz verloren hat – euer Chef hat offenbar zu viele James-Bond-Filme gesehen – so kann man doch nicht leugnen, dass ihr euch immer sehr viel Mühe gebt.“

„Ihre Kritik an unserer Organisation ist unberechtigt, Ihr Lob hingegen angebracht“, stellte der Agent fest. „Als wir von Davis’ Kandidatur erfuhren, setzten wir vier unserer besten Agenten auf den Fall an. Sie hatten den Auftrag, sich in Chinchillas Organisation einzuschleichen, um Beweise dafür zu beschaffen, dass Davis immer noch in Chinchillas Diensten steht.“

„Und?“

„Sie alle starben bei mysteriösen Unfällen. Den ersten fand man gebacken im Ofen eines Hostienbäckers, den zweiten erfroren in seiner eigenen Tiefkühltruhe, den dritten gegrillt auf seinem eigenen Gartengrill und den vierten...“

„Frittiert in seiner eigenen Friteuse?“

„Mit so etwas macht man keine Scherze, Mr. Winston. Schließlich geht es hier nicht um Äpfel oder Birnen, sondern um Menschen.“

„Natürlich. Ich würde auch nie auf die Idee kommen, Äpfel oder Birnen in einer Friteuse zuzubereiten. Also, was war mit dem vierten?“