Herzstiche

Über Susan Hill

Foto: Ben Graville

 

SUSAN HILL wurde 1942 in Yorkshire geboren. Ihre Geistergeschichten und die Kriminalromane um Simon Serrailler haben sie zu einer der populärsten britischen Schriftstellerinnen gemacht. Ihr Gothic­Roman Die Frau in Schwarz läuft als Theateradaption seit über dreißig Jahren im Londoner West End und wurde 2012 erfolgreich mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle verfilmt. Susan Hill lebt in Norfolk in einem alten Bauernhaus, wo in jedem Winkel Bücher stehen, die im Winter gut isolieren. Bislang erschienen im Kampa Verlag die Serrailler­Krimis Schattenrisse und Phantomschmerzen, die Romane Stummes Echo und Wie tief ist das Wasser sowie die Geistergeschichten Die kleine Hand, Das Gemälde und Die Frau in Schwarz.

Selig sind, die reinen Herzens sind,

denn sie werden Gott schauen.

Matthäusevangelium

Im Frühlicht lag der Nebel weich und rauchig über der Lagune, und es war noch so kühl, dass Simon Serrailler froh um seine gefütterte, wasserabweisende Jacke war. Wartend stand er auf der leeren Fondamenta, den Kragen hochgeschlagen, eingehüllt in die gedämpfte Stille. Bei Tagesanbruch an einem Sonntagmorgen im März tat sich kaum etwas in diesem Teil Venedigs, in den nur wenige Touristen kamen; Sonntag war Ruhetag, und sogar die frühen Kirchgänger waren noch nicht auf den Beinen.

Er mietete hier stets dieselben zwei Zimmer über dem leeren Lagerhaus seines Freundes Ernesto, der jeden Moment anlegen würde, um Simon auf die andere Seite der Lagune zu bringen. Die Zimmer waren gemütlich und schlicht, erfüllt vom wunderbaren Licht des Wassers und des Himmels. Nachts war es ruhig, und von der Fondamenta aus konnte Simon an den abgelegenen Kanälen entlangwandern und nach Motiven für seine Zeichnungen Ausschau halten. In den vergangenen zehn Jahren war er mindestens einmal, wenn nicht zweimal pro Jahr hier gewesen. Es war sowohl Arbeitsplatz wie auch Schlupfloch aus seinem Leben als Detective Chief Inspector, genauso wie es ähnliche Zufluchtsorte in Florenz und Rom gab. In Venedig fühlte er sich am meisten zu Hause, deshalb kehrte er immer wieder hierher zurück.

Das Tuckern eines Motors kündigte das Boot an, das gleich darauf neben ihm aus dem silbrigen Nebel auftauchte.

»Ciao, Ernesto.«

Das Boot war klein und zweckmäßig, ohne die romantischen Verzierungen traditioneller venezianischer Gondeln. Simon verstaute seine Segeltuchtasche unter dem Sitz und stellte sich neben den Bootsführer, der wendete und über das offene Wasser preschte. Der Nebel legte sich wie Spinnweben auf ihre Gesichter und Hände, und Ernesto verlangsamte für eine Weile die Fahrt, bis sie plötzlich eine Schneise durch den Dunstschleier zu schlagen schienen und in ein diesiges, gelbliches Licht gelangten, in dem Simon die vor ihnen liegende Insel erkennen konnte.

Er war schon mehrmals auf San Michele gewesen, war herumgewandert, hatte Eindrücke in sich aufgenommen – eine Kamera benutzte er nie –, und er wusste, dass er die Insel mit etwas Glück um diese Uhrzeit für sich allein haben würde, selbst ohne die schwarz gekleideten, arthritischen Witwen, die hier ihre Familiengräber in Ordnung hielten.

Ernesto sagte nicht viel. Er war kein redseliger Italiener. Er war Bäcker, arbeitete nach wie vor in der höhlenartigen Backstube, wie Generationen seiner Familie zuvor, und lieferte immer noch selbst das frische, warme Brot an den Kanälen aus. Aber er würde der Letzte seiner Familie sein, sagte er jedes Mal, wenn Simon kam; seine Söhne hatten kein Interesse, studierten in Padua und Genua, und seine Tochter war mit dem Geschäftsführer eines Hotels in der Nähe von San Marco verheiratet. Wenn Ernesto mit dem Backen aufhörte, würden die Öfen erkalten.

Die Lagunenstadt veränderte sich, venezianische Traditionen verschwanden, die Jugend blieb nicht, machte sich nichts aus dem harten Alltagsleben auf den Booten. Venedig würde bald sterben. Simon fand das schwer zu glauben, konnte die Prophezeiungen des nahenden Untergangs nicht recht ernst nehmen, wo doch die alte, magische Stadt immer noch da war,

Irgendwie, in irgendeiner Form würde die Stadt überleben, auch das echte Venedig, nicht nur die überfüllten und teuren Touristenviertel. Die Menschen, die an den abgelegeneren Wasserarmen jenseits der Zattere und der Fondamenta und an den Kanälen hinter dem Bahnhof lebten und arbeiteten, würden das auch noch in hundert Jahren tun, einander stützen und ihre Dienste in den Hotels und Touristenvierteln anbieten.

»Venedig stirbt«, wiederholte Ernesto jedoch, deutete auf San Michele, die Insel der Toten, bald würde das alles so sein, ein einziger großer Friedhof.

Sie legten am Landungssteg an, und Simon stieg mit seiner Tasche aus.

»Mittags«, sagte Ernesto. »Gegen zwölf.«

 

Simon winkte und ging zum Friedhof mit den gepflegten Wegen und den reich verzierten Marmorgrabmälern.

Das Motorengeräusch verklang fast sofort, worauf Simon nur noch seine eigenen Schritte, ein wenig Vogelgezwitscher und sonst nichts als die außerordentliche Stille vernahm.

Er hatte recht behalten. Niemand war hier – keine gebückten alten Frauen mit schwarzen Kopftüchern, keine Familien mit kleinen Jungs in langen Hosen und mit bunten Blumensträußen in der Hand, keine Gärtner, die Unkraut aus dem Kies zupften.

Es war immer noch kühl, aber der Nebel hatte sich gehoben, und die Sonne ging auf.

Vor zwei Jahren war ihm das Grabmal zum ersten Mal aufgefallen, und er hatte es im Hinterkopf behalten, doch in diesem Jahr war er hauptsächlich an den Marktständen gewesen, hatte die Berge von Obst, Fisch und Gemüse gezeichnet, die Menschen beim Einkaufen, die Standbesitzer, und er hatte

Er erreichte das Grabmal und blieb stehen. Es war von einem Engel mit gefalteten Schwingen gekrönt, an die drei Meter hoch, umgeben von drei Kerubim, alle mit gebeugten Köpfen und trauerndem Ausdruck, alle ernst, unbewegt schön. Obwohl in der Darstellung idealisiert, war sich Simon sicher, dass die Figuren nach lebenden Vorbildern gestaltet worden waren. Auf dem Grabstein stand die Jahreszahl 1822, die Gesichter der Engel waren typisch venezianisch, Gesichter, wie man sie noch heute sah, bei älteren Männern auf dem Vaporetto ebenso wie bei den jungen Männern und Frauen, die in ihrer Designerkleidung am Wochenende abends auf der Riva degli Schiavoni promenierten. Man sah solche Gesichter auf den großartigen Gemälden in den Kirchen, als Kerubim und Heilige und Jungfrauen und Prälaten und bei den einfachen Bürgern, die zu ihnen hinaufblickten. Simon war davon fasziniert.

Er fand einen Sitzplatz auf dem Rand eines benachbarten Grabmals und holte Zeichenblock und Bleistifte heraus. Er hatte auch eine Thermoskanne mit Kaffee und etwas Obst dabei. Es war immer noch diesig und nicht warm. Aber in den nächsten drei Stunden würde er ganz von seiner Arbeit in Anspruch genommen sein, sie nur gelegentlich unterbrechen, um sich auf den Friedhofswegen die Beine zu vertreten. Um zwölf würde Ernesto ihn wieder abholen. Simon würde seine Sachen in die Wohnung bringen, dann auf einen Campari und etwas zu essen in seine Stammtrattoria gehen. Später würde er ein wenig schlafen, bevor er einen Spaziergang in den geschäftigeren Teilen der Stadt machte, vielleicht mit dem Vaporetto den Canal Grande hinauf- und hinunterfahren, nur um es zu genießen, zwischen den alten, zerfallenden, vergoldeten Häusern auf dem Wasser zu sein und zu sehen, wie die Lichter angingen.

Doch diesmal …

Er wusste, warum es ihn nach San Michele und zu den Statuen der trauernden Engel zog, aus demselben Grund, aus dem er die dunklen, weihrauchgeschwängerten kleinen Kirchen in abgelegenen Ecken der Stadt aufgesucht hatte, herumgegangen war und dieselben alten Witwen in Schwarz mit ihren Rosenkränzen hatte knien oder Kerzen anzünden sehen.

Der Tod von Freya Graffham, die unter seiner Leitung als Detective Sergeant nur so kurze Zeit im Polizeirevier von Lafferton gearbeitet hatte, war ihm viel nähergegangen, als er erwartet hatte. Seit ihrer Ermordung war ein Jahr vergangen, und die entsetzliche Tat verfolgte ihn immer noch ebenso wie die Tatsache, dass sie seine Gefühle auf eine Art angesprochen hatte, die er sich vor ihrem Tod nicht hatte eingestehen wollen.

Simons Schwester Cat Deerborn hatte gesagt, er erlaube sich nur, tiefer für Freya zu empfinden, weil sie tot sei und deshalb unfähig zu reagieren und daher keine Bedrohung mehr darstellte.

Hatte er sich bedroht gefühlt? Er wusste, was seine Schwester meinte, aber vielleicht war das bei Freya anders gewesen.

Simon verlagerte das Gewicht und verschob den Skizzenblock auf den Knien. Er zeichnete nicht die ganze Statue, sondern einzeln die Gesichter des Engels und der Kerubim; er wollte noch einmal wiederkommen, um das Grabmal als Ganzes zu zeichnen und dann an jeder Zeichnung zu arbeiten, bis er zufrieden war. Seine nächste Ausstellung würde die erste in London sein. Alles musste stimmen.

 

Eine halbe Stunde später stand er auf, um sich die Beine zu vertreten. Der Friedhof lag immer noch verlassen, und die Sonne stand jetzt höher am Himmel, wärmte sein

Er war fünfunddreißig. Nicht mehr lange, und er würde zum Superintendent befördert werden. Was er auch wollte. Was er nicht wollte.

Er kehrte zu den trauernden Engeln zurück. Doch der Pfad war nicht mehr leer. Ernesto kam auf ihn zu und hob den Arm, als er Simon sah.

»Ciao – ist was passiert?«

»Ich komme dich abholen. Da war ein Anruf.«

»Aus dem Revier?«

»Nein, von der Familie. Dein Vater. Er will, dass du ihn sofort zurückrufst.«

Simon verstaute Block und Bleistifte wieder in der Segeltuchtasche und folgte Ernesto rasch zum Landungssteg.

Ma, dachte er, ihr ist etwas passiert. Seine Mutter hatte vor zwei Monaten einen leichten Schlaganfall gehabt, die Folge von zu hohem Blutdruck und zu viel Stress, aber sie hatte sich gut erholt, und es waren anscheinend keine Nachwirkungen zurückgeblieben. Cat hatte ihm gesagt, es gebe keinen Grund, seine Reise abzublasen. »Ihr geht’s gut, es war kein schwerer Anfall, Si. Es gibt keinen Grund, warum sie noch einen haben sollte. Außerdem, wenn was wäre, könntest du schnell genug zurück sein.« Und genau das musste er tun, dachte er, als er neben Ernesto über das inzwischen sonnengesprenkelte Wasser zurückfuhr.

»Klang er besorgt?«

Ernesto zuckte die Schultern.

»Hat er meine Mutter erwähnt?«

»Nein. Nur, dass du anrufen sollst.«

Das Motorboot schoss auf die Fondamenta zu, wendete geschickt und hielt an.

Simon legte Ernesto die Hand auf den Arm. »Du bist ein guter Freund. Danke, dass du mich abgeholt hast.«

Ernesto nickte nur.

 

Simon rannte die Treppe vom leeren Lagerhaus in seine Räume hinauf und warf Tasche und Jacke auf den Boden. Die Telefonverbindung hatte sich seit Einführung des digitalen Telefonnetzes verbessert, und er hörte das Tuten in Hallam House.

»Serrailler.«

»Ich bin’s, Simon.«

»Ja.«

»Geht es Mutter gut?«

»Ja. Ich habe wegen deiner Schwester angerufen.«

»Cat? Was ist passiert?«

»Martha. Sie hat eine Lungenentzündung. Man hat sie ins Kreiskrankenhaus von Bevham gebracht. Wenn du sie noch lebend sehen möchtest, solltest du nach Hause kommen.«

»Selbstverständlich, ich …«

Aber das Telefon war tot. Richard Serrailler verschwendete keine Worte, schon gar nicht an seinen Polizistensohn.

 

Es gab einen Abendflug nach London, aber Simon musste erst eine halbe Stunde telefonieren und dann noch einen

Er saß über der Tragfläche, hatte daher wenig Möglichkeit, beim Start auf die Lagune hinunterzuschauen, was ihm ganz recht war, da er Venedig, seinen Zufluchtsort, seine Arbeit und seine ruhigen, abgeschiedenen Räume diesmal noch weniger gern als sonst verlassen hatte. Durch die Stadt zu gehen, über die Brücken und die Plätze, unter den schmalen kleinen Durchgängen zwischen den hohen alten Häusern zu sitzen, zu schauen und zu zeichnen, sich mit Ernesto und seinen Freunden abends bei einem Glas Wein zu unterhalten – das war ein ganz anderer Simon Serrailler als der DCI in Lafferton, mit einem anderen Lebensstil, anderen Interessen und vollkommen veränderten Prioritäten. Während der Reise bewegte er sich von dem einen zum anderen, aber heute wurde er ohne den üblichen entspannten Übergang in sein Alltagsleben zurückgeschleudert.

Die Anschnallzeichen waren erloschen, und der Getränkewagen wurde durch den Gang geschoben. Simon bat um einen Gin Tonic und eine Flasche Mineralwasser.

Simon Serrailler war ein Drilling. Seine Schwester Cat, eine praktische Ärztin, war die Zweite, ihr Bruder Ivo, Arzt in Australien, der Dritte. Martha war zehn Jahre später zur Welt gekommen, als Richard und Meriel Serrailler Mitte vierzig waren; sie war geistig und körperlich schwerstbehindert und hatte den größten Teil ihres Lebens in einem Pflegeheim

Der Anblick seiner Schwester bewegte ihn immer zutiefst. Mal lag sie im Bett, mal saß sie im Rollstuhl, ihr Körper aufgerichtet und angeschnallt, ihr Kopf abgestützt. Bei gutem Wetter schob er sie in den Garten und auf den Wegen zwischen den Büschen und Blumenbeeten hindurch. Sonst saßen sie in ihrem Zimmer oder in einem der Aufenthaltsräume. Es gab nichts, was er ihr mitbringen konnte. Er redete mit ihr, hielt ihre Hand und küsste sie, wenn er kam und wieder ging.

Über die Jahre hatte er sich weniger Gedanken darüber gemacht, ob sie ihn erkannte oder etwas von seiner Gesellschaft hatte, und auch falls seine Besuche für sie keine Bedeutung hatten, wurden sie für ihn wichtig, in ähnlicher Weise wie seine Besuche in Italien. Bei Martha war er jemand anderer. Die Zeit, die er neben ihr verbrachte, ihre Hand hielt, nachdachte, leise redete, ihr half, durch den Strohhalm zu trinken oder vom Löffel zu essen, erfüllte und beruhigte ihn und führte ihn von allem anderen in seinem Leben fort.

Sie war mitleiderregend, hässlich, sabbernd, kommunikationsunfähig, kaum ansprechbar, und als Junge hatte er sie peinlich gefunden und sich unbehaglich gefühlt. Martha hatte sich nicht verändert. Er hatte sich verändert.

Seine Eltern erwähnten sie gelegentlich, aber über ihre Situation wurde weder ausführlich noch im Detail gesprochen, und die Gespräche blieben stets gefühllos. Was empfand seine Mutter für sie, und wie dachte sie über Martha? Sein Vater besuchte Martha regelmäßig, sprach jedoch nie darüber.

Wenn es ihr schlecht ging, wurde ihr Zustand immer sehr rasch akut, und doch hatte sie fünfundzwanzig Jahre lang überlebt. Erkältungen führten zu Bronchitis und dann zu Lungenentzündung. »Wenn du deine Schwester noch lebend sehen willst …« Aber all das war schon öfter passiert. Würde sie diesmal sterben? War er deswegen traurig? Wie konnte

Er trank noch einen Schluck Gin. Im Gepäckfach über seinem Kopf lagen zwei Skizzenblöcke voll neuer Zeichnungen, aus denen er die besten aussuchen würde, um sie für die Ausstellung fertigzustellen. Vielleicht hatte er doch genug zusammen und hätte in den zusätzlichen fünf Tagen in Venedig nur noch herumgelungert.

Als sein Drink leer war, zog er einen kleinen Skizzenblock heraus, den er immer bei sich trug, und zeichnete die kunstvoll geflochtenen, mit Perlen verzierten Zöpfe der jungen Afrikanerin im Sitz vor ihm.

Das Flugzeug flog dröhnend über die Alpen.

»Ich bin’s.«

»Hallo!« Erfreut wie immer, die Stimme ihres Bruders zu hören, machte sich Cat Deerborn für einen gemütlichen Plausch bereit. »Warte mal, Si, ich muss mich bloß noch richtig hinsetzen.«

»Geht’s dir gut?«

»Alles prima, ich weiß nur nicht mehr, wie ich es mir bequem machen soll.«

Cats Baby, ihr drittes Kind, sollte in wenigen Wochen zur Welt kommen.

»Okay, besser krieg ich es nicht mehr hin … Aber hör zu, es kostet doch ein Vermögen, per Handy aus Italien anzurufen, soll ich dich zurückrufen?«

»Ich bin in Heathrow.«

»Was …?«

»Dad hat angerufen. Er hat gesagt, ich solle lieber nach Hause kommen, wenn ich meine Schwester noch lebend sehen will.«

»Oh, sehr taktvoll ausgedrückt.«

»Wie immer.«

»Ma und ich hatten beschlossen, es dir nicht zu sagen.«

»Warum?«

»Weil du den Urlaub dringend nötig hattest und es nichts gibt, was du tun kannst. Martha erkennt dich sowieso nicht …«

Cat verstummte.

Dann sagte sie: »Natürlich. Entschuldige.«

»Lass nur. Hör zu, ich werde erst spät ankommen und fahre dann direkt ins Krankenhaus.«

»Gut. Chris ist bei einem Hausbesuch, aber es kann gut sein, dass er auch noch vorbeischaut, wenn er in der Gegend ist. Kommst du morgen zu uns raus? Ich kriege meinen dicken Bauch nicht mehr hinters Steuer.«

»Was ist mit Ma?«

»Ich weiß einfach nicht, was sie empfindet, Si, du kennst das ja. Sie geht ins Krankenhaus. Sie geht nach Hause. Manchmal kommt sie zu uns, aber sie spricht nicht darüber.«

»Was ist denn genau passiert?«

»Das Übliche – Erkältung, dann Bronchitis, dann Lungenentzündung … Wie oft haben wir das jetzt schon durchgemacht? Ich glaube allerdings nicht, dass ihr Körper noch dagegen ankämpfen kann. Sie hat kaum auf die Behandlung reagiert, und Chris sagt, sie überlegen jetzt, wie aggressiv sie vorgehen sollen.«

»Arme kleine Martha.«

Die Stimme ihres Bruders, besorgt und zärtlich, hallte in Cats Ohr wider, als sie auflegte. Tränen traten ihr in die Augen, wie so häufig während der Schwangerschaft … Selbst der Anblick eines der Plüschtiere ihrer Tochter, das aufgeweicht im regennassen Gras lag, hatte Cat an diesem Nachmittag zum Weinen gebracht. Unbeholfen stemmte sie sich vom Sofa hoch. Sie hatte es vergessen. Hatte fast alles darüber vergessen, wie es einem in der Schwangerschaft ging. Sam war jetzt achteinhalb und Hannah sieben. Das dritte Kind war nicht geplant gewesen. Chris und sie führten zu zweit eine Hausarztpraxis und waren bis an die Grenzen ihrer Zeit und Energie ausgelastet. Aber obwohl sie so rasch wie möglich wieder Sprechstunden abhalten wollte, wusste Cat, dass sie,

Sie lag auf dem Sofa und versuchte zu schlafen, konnte aber ihre Gedanken nicht abstellen. Wie seltsam und doch typisch von ihrem Vater, in Venedig anzurufen, mit solchen Worten. »Wenn du deine Schwester noch lebend sehen willst, solltest du besser nach Hause kommen.«

Und wie oft besuchte er Martha? Cat hatte ihn nur selten den Namen ihrer Schwester aussprechen hören, und er hatte sie einst wütend gemacht, als er Martha in Gegenwart von Sam und Hannah »den Krüppel« genannt hatte. Schämte er sich dafür, ein gehirngeschädigtes Kind zu haben? Oder war er wütend? Warf er es sich selbst oder Meriel vor?

Und aus welchem Grund hatte er Simon angerufen, das andere Kind, für das er nichts übrighatte?

Simon, Cats Drillingsbruder, der Mensch, den sie, neben ihrem Mann und ihren Kindern, am meisten liebte.

Der Kater Mephisto tauchte aus dem Nichts auf, sprang auf das Sofa neben sie und rollte sich zusammen.

Und dann schliefen sie alle drei ein.

Die Straßen waren dunkel und fast leer, obwohl es noch vor zehn war. Nur das Kreiskrankenhaus Bevham war hell erleuchtet, und als Simon Serrailler in die Einfahrt bog, wurde er von einem Krankenwagen mit heulenden Sirenen überholt, der auf die Notaufnahme zuraste.

Simon hatte immer gerne nachts gearbeitet, schon vom ersten Tag als uniformierter Constable an, und er mochte es auch jetzt noch, wenn er gelegentlich nächtliche Einsätze leitete. Ihn befeuerte das Gefühl der Dringlichkeit, die Art, wie sich alles verschärfte, jede Bewegung und jedes Wort bedeutsam zu sein schienen, aber auch die merkwürdige Nähe, erzeugt durch das Wissen, dass sie eine wichtige und manchmal gefährliche Arbeit leisteten, während der Rest der Welt schlief.

Auf dem halb leeren Parkplatz stieg er aus und schaute zu dem großen Klotz des Krankenhauses, neun Stockwerke hoch und mit mehreren niedrigeren Gebäuden im rechten Winkel dazu. Venedig war Lichtjahre entfernt, doch für einen kurzen Augenblick schoss ihm ein Bild des Friedhofs auf San Michele im kühlen Licht des Sonntagmorgens durch den Kopf, die Bänder der Kieswege und die bleichen, stillen, trauernden Statuen. Wie hier im Krankenhaus hatten sich so viele Gefühle angestaut, steckten in jeder Ritze, dass man sie einatmete und spürte und roch.

Er ging durch die Glastüren. Tagsüber glich die

»Chief Inspector?«

Er lächelte. Einer der wenigen Menschen, die ihn hier beruflich kannten, war zufällig die diensthabende Schwester.

Die Station machte sich für die Nacht bereit. Vorhänge wurden um ein oder um zwei Betten gezogen, in einer Seitenstation ging Licht an. Im Hintergrund das schwache Piepsen und Summen der Monitore. Der Tod schien nahe zu sein, als lauerte er im Schatten oder hinter einem Vorhang, die Hand an der Tür.

»Sie liegt in einem Nebenzimmer.« Schwester Blake führte ihn durch die Station.

Ein Arzt mit aufgekrempelten Ärmeln, das Stethoskop um den Hals, kam aus einem der Zimmer und ging, nach einem Blick auf seinen Piepser, eilends davon.

»Die werden auch immer jünger.«

Schwester Blake sah über ihre Schulter. »Bald haben wir Sechzehnjährige.« Sie blieb stehen. »Ihre Schwester ist hier drin … Alles ist ruhig. Dr. Serrailler war fast den ganzen Tag bei ihr.«

»Wie sind die Aussichten?«

»Menschen in der Verfassung Ihrer Schwester sind anfällig für Thoraxinfektionen … Na ja, das wissen Sie bereits, sie

Martha hatte nie laufen gelernt. Sie hatte das Gehirn eines Babys und verfügte über so gut wie keine motorischen Funktionen. Sie hatte nie gesprochen, nur stammelnde und gurrende Laute von sich gegeben, hatte nie Kontrolle über ihren Körper erlangt. Sie hatte im Bett gelegen, auf Stühlen und Rollstühlen gesessen, der Kopf ihr Leben lang von einem Gestell gehalten. Als sie noch klein war, hatte die Familie sie abwechselnd herumgetragen, aber sie war immer bleischwer gewesen, und keiner hatte sie mehr hochheben können, nachdem sie drei Jahre alt war.

»Hier ist das Stationstelefon, leider nicht besetzt … zu wenig Personal, wie gewöhnlich. Ich komme, wenn Sie mich brauchen.«

»Danke, Schwester.«

Simon öffnete die Tür von Zimmer C.

Als Erstes traf ihn der Geruch – der Geruch von Krankheit, den er immer verabscheut hatte; doch der Anblick seiner Schwester in dem hohen, schmalen und unbequem wirkenden Bett schnitt ihm ins Herz. Die Monitore, an die sie mit verschiedenen Kabeln angeschlossen war, blinkten, im durchsichtigen Infusionsbeutel am Ständer stiegen hin und wieder Blasen auf, während der Inhalt Tropfen für Tropfen in ihre Armvene lief. Aber als er näher ans Bett trat und auf Martha hinunterblickte, wurden die Apparate unsichtbar, bedeutungslos. Simon sah die Schwester, die er immer gesehen hatte. Martha. Hirngeschädigt, reglos, bleich, schwer, ein wenig Speichel im leicht geöffneten Mundwinkel. Martha. Wer wusste, was sie je von ihrem Leben, der Welt, ihrer Umgebung, den Menschen, die sie pflegten, der Familie, die sie liebte, wahrgenommen hatte? Niemand hatte je richtig mit ihr kommunizieren können. Ihr Bewusstsein und Verständnis waren geringer als das eines Haustiers.

Ihr Haar war gebürstet worden und lag auf dem hohen Kissen locker um ihren Kopf. Ihr Gesicht zeigte weder Charakter noch Ausprägung; die Zeit schien ohne Auswirkung darüber hinweggeglitten zu sein. Aber Marthas Haar, das man aus Rücksicht auf das Pflegepersonal immer kurz geschnitten hatte, war in letzter Zeit länger geworden und schimmerte im Licht der Deckenlampe, dasselbe Weißblond wie sein eigenes. Simon zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und griff nach ihrer Hand.

»Hallo, Liebling, hier bin ich.«

Er sah in ihr Gesicht, wartete auf diese leichte Veränderung ihres Atems, das Zittern ihrer Lider, was darauf hindeutete, dass sie Bescheid wusste, ihn hörte, ihn spürte, und er sich getröstet, beruhigt fühlen konnte.

Die grünen und weißen fluoreszierenden Linien auf dem Monitor liefen in kleinen, regelmäßigen Wellen weiter über den Bildschirm.

»Ich war in Italien, habe gezeichnet … viele Gesichter. Menschen in Cafés, Menschen auf dem Vaporetto. Venezianische Gesichter. Dieselben Gesichter, wie man sie auf den berühmten Gemälden von vor fünfhundert Jahren sehen kann, ein Gesicht, das sich nicht verändert, nur die Kleidung ist modern. Ich sitze in den Cafés, trinke Kaffee oder Campari und schaue mir einfach die Gesichter an. Niemand stört sich daran.«

Er sprach weiter, aber ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, ihre Augen öffneten sich nicht. Sie war weiter weg, tiefer unten und unerreichbarer denn je.

Er blieb eine Stunde lang, seine Hände über ihren, redete leise mit ihr, als besänftige er ein verängstigtes Kind.

Draußen wurde ein Medikamentenwagen durch den Flur geschoben. Jemand rief etwas. Simon überkam eine gewaltige Müdigkeit, und für einen Moment hätte er am liebsten seinen Kopf neben Martha auf das Bett gelegt, um zu schlafen.

Das Zuschwingen der Tür ließ ihn hochschrecken.

»Si.«

Sein Schwager, Cats Ehemann Chris Deerborn, kam ins Zimmer. »Ich dachte mir, du könntest das brauchen.« Er hielt ihm einen Styroporbecher mit Tee hin. »Cat hat mir erzählt, dass du hergekommen bist.«

»Martha sieht nicht gut aus.«

»Nein.«

Simon stand auf und streckte seinen Rücken, der immer schmerzte, wenn er zu lange saß. Er war einen Meter zweiundneunzig groß.

Chris legte die Hand auf Marthas Stirn und sah auf die Monitore.

»Was meinst du?«

Chris zuckte die Schultern. »Schwer zu sagen. Sie hat all

»Alles.«

»Viel hat sie sowieso nicht vom Leben.«

»Können wir uns da sicher sein?«

»Ich glaube schon«, erwiderte Chris sanft.

Sie blickten auf Martha hinunter, bis Simon seinen Tee ausgetrunken hatte und den Becher in den Abfalleimer warf.

»Jetzt schaffe ich es nach Hause. Danke, Chris. Ich bin fix und fertig.«

Sie gingen zusammen. An der Tür blickte Simon sich um. Seit seiner Ankunft hatte sich nichts geändert, kein Zucken, kein Anzeichen dafür – abgesehen vom rasselnden Atmen und dem stetigen Klicken des Monitors –, dass der Körper im Bett einer lebendigen jungen Frau gehörte. Er ging zurück, beugte sich über Martha und küsste ihr Gesicht. Die Haut war feucht und leicht flaumig, wie die Haut eines neugeborenen Babys. Simon glaubte, sie nicht lebend wiederzusehen.

»Gunton?«

Natürlich musste es was zu meckern geben, sogar heute, bloß um ihn wissen zu lassen, dass sich nichts geändert hatte, nicht bis um acht am nächsten Morgen.

Er drehte sich um.

Hickley hielt eine Harke hoch. »Nennst du das sauber?«

Andy Gunton ging zurück in den langen Schuppen, wo alle Gartengeräte untergebracht waren. Er hatte den Schlamm so sorgfältig wie immer von der Harke gekratzt. Falls Hickley, der einzige Schließer, mit dem er nie zurechtgekommen war, einen Dreckfleck zwischen den Zinken gefunden hatte, dann hatte er den selbst dahin gemacht.

»Keine dreckigen Geräte, du weißt, wie das läuft.« Hickley schob Andy die Harke vors Gesicht.

Nur zu, bedeutete die Geste, mach nur, wehr dich, werd frech, geh mit der Harke auf mich los … Tu es, und ich lass dich für einen weiteren Monat einbuchten, worauf du dich verlassen kannst.

Andy nahm die Harke und trug sie zu der Werkbank unter dem Fenster. Sorgfältig wischte er jede Zinke ab, fuhr mit dem Tuch durch die Zwischenräume und rieb dann immer wieder über den Stiel. Hickley beobachtete ihn mit verschränkten Armen.

Hinter dem Fenster lag der verlassene Gemüsegarten, die Arbeit für diesen Tag war beendet. Einen einzigen,

Ich habe Samen ausgesät, deren Früchte ich nicht ernten werde, ich habe Pflanzen eingesetzt, um deren Wachstum ich mich nicht mehr kümmern kann.

Er erwischte sich bei diesen Gedanken und hätte beinahe gelacht.

Andy drehte sich um und reichte dem Wärter die erneut gesäuberte Harke zur Prüfung. Er nahm es Hickley nicht übel. Es gab immer so einen. Hickley war nicht wie die anderen Schließer, die sie mehr wie Lehrer ihre Schüler behandelten und damit das Beste aus ihnen herausholten. Für Hickley waren sie nach wie vor Knastbrüder, der Feind. Abschaum. War Andy Abschaum? In den ersten paar Wochen hinter Gittern hatte er sich so gefühlt. Er war von dem Ganzen völlig niedergeschmettert, vor allem aber von der Realität, die er nicht in seinen Kopf bekam, nämlich dass er hier saß, weil er während eines verpfuschten Raubüberfalls aus Panik einen unschuldigen Mann geschubst hatte und der Mann auf dem Beton aufgeschlagen war, sich den Schädel gebrochen hatte und gestorben war. Das Wort Mörder war in seinem Kopf herumgerollt wie eine Murmel in einer Schüssel, Mörder, Mörder, Mörder. Was war ein Mörder anderes als Abschaum?

Er wartete, während der Wärter die Harke überprüfte. Mach schon, leg sie unters Mikroskop, na los, du wirst nicht den kleinsten Fleck finden.

Aber Hickley würde ihm nicht alles Gute wünschen, würde eher ersticken, als ihm zu seiner endgültigen Entlassung zu gratulieren. »Lass dich von dem Drecksack nicht fertigmachen«, hatte ihm jemand vor achtzehn Monaten, an seinem ersten Tag hier draußen, geraten. Daran dachte Andy wieder, als er ohne ein Wort oder einen Blick zurück auf Hickley aus dem Schuppen trat und durch den Gemüsegarten zum Ostflügel der offenen Strafvollzugsanstalt Birley ging.

Einmal, während seiner ersten Woche im Stackton-Gefängnis, hatte ein Schließer ihn sagen hören: »Es gibt immer ein erstes Mal«, und hatte zurückgefaucht: »Nein, Gunton, es gibt nicht immer ein erstes Mal, aber so sicher wie das Höllenfeuer immer ein letztes.«

In seinem damaligen verstörten und niedergeschlagenen Zustand, vor über vier Jahren, hatten sich die Worte in sein Gedächtnis gebohrt wie ein Pfeil in die Zielscheibe und waren dort hängen geblieben.

Es gibt immer ein letztes Mal. Er blieb an der Tür zu seinem Wohntrakt stehen und schaute sich um. Der letzte Arbeitstag. Zum letzten Mal eine Harke gereinigt. Die letzte Konfrontation mit Hickley. Die letzten gekochten Eier mit Rote-Bete-Salat und Kartoffeln. Das letzte Billardspiel. Die letzte Nacht in dem Bett. Letzte. Letzte. Letzte.

Sein Magen rumpelte kurz, als die schwindelerregenden Gedanken an die Außenwelt wieder einsetzten. Er war schon draußen gewesen, zuerst bei Einkäufen mit einem Schließer, dann beim Ausliefern des Gemüses, aber es war nicht dasselbe, das wusste er. Der offene Strafvollzug lockerte die Fesseln Stück für Stück, aber man trug sie nach wie vor, man gehörte immer noch nach drinnen und nicht nach draußen, war immer noch dadurch bestimmt, wo man aß und schlief, welche Gesellschaft man hatte, welche Vergangenheit, warum man hier war.

Dem Körper wurde erlaubt, nach draußen zu gehen, aber der Geist blieb hinter Gittern, konnte nicht, wagte nicht, das in sich aufzunehmen.

Er schloss die Tür auf. Die Spätnachmittagssonne berührte die pilzfarbene Wand und ließ sie noch schmuddeliger

Das letzte Mal, das letzte Mal, das letzte Mal. Raus hier. Raus …

Andy öffnete das Fenster. Ihm fielen die ersten Tage ein, als er sich nicht an diese kleinen Dinge hatte gewöhnen können, wie das Fenster öffnen zu dürfen, wenn er es wollte. Er hatte es immer wieder gemacht, das Fenster geöffnet und geschlossen, geöffnet und geschlossen.

Er lehnte sich hinaus. Morgen würde dieser Raum jemand anderem gehören. Ein anderer Mann würde vom geschlossenen in den offenen Strafvollzug kommen und alles erneut machen. Das Fenster öffnen. Es schließen. Öffnen. Schließen, immer wieder. Morgen.

Es klopfte an der Tür, und Spike Jones trat ein, bevor Andy »Herein« sagen konnte. Spike war in Ordnung.

»Die Jungs wollen Fußball spielen.«

»Nee.«

»Warum nicht?«

»Hab meine Stollenschuhe schon abgegeben.«

»Ach so. Nimmst du Kylie Minogue mit?«

»Kannst du haben.«

Spike lachte, nahm das aufgerollte Poster, das am Schrank lehnte. Er hatte noch zehn Monate in Birley abzusitzen und schon seit Langem ein Auge auf das Poster geworfen.

»Du hängst doch hier nicht rum und grübelst, oder?«

»Verpiss dich.«

Grübeln. Andy drehte sich wieder zum offenen Fenster um. Grübeln. Nein. Das war am Anfang gewesen, in den ersten

Der Abend verging, wie alle zuvor, und darüber war er froh. Er hätte es nicht anders gewollt. Er aß in der Kantine, stand mit ein paar anderen draußen und sah beim von Flutlicht erleuchteten Fußballspiel zu, rauchte eine Selbstgedrehte, ging wieder hinein und spielte eine Stunde Billard. Um zehn war er in seinem Zimmer, schaute sich im Fernsehen The West Wing an.

 

Verwirrt und schwitzend wachte er aus einem Albtraum auf. Scheinwerfer entlang der äußeren Umzäunung sorgten dafür, dass es nie ganz dunkel wurde. Es war kurz nach drei.

Der Schock dessen, was passieren würde, traf ihn erneut und jagte ihm solche Angst ein, dass sich sein Magen verkrampfte und seine Kehle eng wurde. Viereinhalb Jahre Gefängnisleben: sich anpassen lernen, eine Fassade errichten, sein eigenes Selbst so weit verbergen, dass er kaum mehr wusste, was dieses Selbst war, Routine, Regeln, Lernen und jedes nur mögliche Gefühl empfinden, viereinhalb Jahre Schwanken zwischen Wut und Verzweiflung, Akzeptanz und Hoffnung und wieder zurück. In fünf Stunden würden die viereinhalb Jahre zu Ende sein. In fünf Stunden würde er draußen sein. In fünf Stunden würde ihm dieses Zimmer, dieser Ort nichts mehr bedeuten und, mehr noch, er würde denen hier nichts mehr bedeuten. Geschichte. Sein Name aus dem Register gestrichen, sein Gesicht vergessen.

Fünf Stunden.

Andy Gunton legte sich auf den Rücken. Wenn es schon nach einer viereinhalbjährigen Strafe so war, wie musste es für diejenigen sein, die nach fünfzehn Jahren und mehr

Er dachte an die erste Woche in Stackton. Da war er zwanzig gewesen. Und hatte keine Ahnung gehabt. Der Gestank und der Krach, die toten Gesichter und misstrauischen Augen, das Bedürfnis, nicht unbedingt auszubrechen oder wegzulaufen, sondern einfach zu verschwinden, sich aufzulösen, das dröhnende Schnarchen von Joey Butler, seinem ersten Zellengenossen, an das er sich nie gewöhnt hatte, nie tief genug schlafen zu können, die roten, juckenden Stellen auf seiner Haut, die nach zwei Nächten auf der Gefängnismatratze zu Ekzemen geworden und erst hier richtig verheilt waren – all das fiel ihm wieder ein, er erlebte alles erneut, lag wach und schaute auf den trüben Schein der Lampen an der Wand. Sie behaupteten, es würde einem entweder das eine oder das andere antun. Es raubte einem die Seele, sodass man sich nie wieder selbst gehörte, sondern für immer dem Gefängnis und alles tat, um wieder hineinzukommen, oder es jagte einem schreckliche Angst ein, man wurde verändert, durchgekaut und ausgespuckt. Geheilt. Er war in dem Moment geheilt worden, als er seine eigene Kleidung abgab und die Gefängnisuniform anzog. Da hätten sie ihn gehen lassen können. Es hatte funktioniert. Er würde nicht zurückkehren.

Wie hätte er ahnen können, dass er sich so fühlen würde, viereinhalb Jahre später, voller Angst rauszukommen, sich an das Vertraute klammerte, sich halbwegs danach sehnte, einen Fehler begangen zu haben, eine weitere Strafe absitzen zu müssen, damit dieser Raum in der kommenden Nacht noch seiner war?

Er starrte weiter auf das Licht an der Wand, bis es sich zu verändern begann und in der Morgendämmerung zu einem weichen Grau wurde.

Simon Serrailler hatte tief geschlafen und wachte um acht Uhr vom Schlagen der Kathedralenuhr auf.

Die Wohnung, die er mit liebevoller Sorgfalt eingerichtet hatte, war kühl und still, erfüllt von dem milden Licht eines Märzmorgens. Er zog seinen Morgenmantel an und tappte in das lang gestreckte Wohnzimmer, vorhanglos und friedvoll mit den glänzenden Ulmenböden, den Büchern, dem Klavier, den Bildern. Das Licht am Anrufbeantworter blinkte nicht. Niemand hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, dass seine Schwester gestorben war.

Er füllte Bohnen in die Kaffeemühle und Wasser in den Filter. In einer halben Stunde würden die ersten Autos auf ihre Parkplätze vor dem Haus biegen, und die Geräusche der früh zur Arbeit Gekommenen würden durch das Treppenhaus hallen. Der Rest des georgianischen Gebäudes war längst in Büros für diverse Diözesanorganisationen und zwei Anwaltskanzleien umgewandelt worden. Simon besaß die einzige Privatwohnung im Haus. Normalerweise war er um acht schon auf dem Revier und kam oft erst nach sieben heim, daher traf er selten jemanden, der hier arbeitete – während des Tages hatte das Gebäude ein eigenes Leben, von dem er wenig wusste. Das passte ihm gut, so zurückhaltend und reserviert, wie er war, zufrieden in seinen stets ordentlichen Räumen. Er übte seinen Beruf mit Begeisterung aus, hatte bislang fast jeden Tag seines Polizeidienstes

Mit dem Kaffeebecher in der Hand trat er zu den drei Zeichnungen, die gerahmt an der Wand neben den hohen Fenstern hingen. Sie stammten von seiner letzten Venedigreise, und er sah sofort, dass sie besser waren als alles, was er in den wenigen Tagen dort zu Papier gebracht hatte. Es klappte schon seit längerer Zeit nicht recht mit dem Zeichnen, so verstört, wie er seit den Ereignissen des vergangenen Jahres war. Der Mord an Freya Graffham hatte ihn schwer getroffen, und nicht nur, weil der Tod eines Polizeikollegen stets ein Schlag war, von dem man sich nur mühsam erholte.

Nein, sagte er, ging mit energischen Schritten zurück in die Küche, um sich mehr Kaffee zu holen. Fang nicht damit an, nicht schon wieder.

Er zog Jeans und ein Sweatshirt an und holte die Segeltuchtasche mit seinen Zeichensachen. In den Büros begann die Arbeit, Stimmen drangen durch halb offene Türen, Wasserkessel pfiffen in Kochnischen. Seltsam, dachte Simon. Das Gebäude wirkte anders, gehörte nicht mehr ihm. Seltsam. Seltsam, an einem Wochentag Jeans zu tragen statt eines Anzugs, seltsam, hier zu sein, statt über einen venezianischen Kanal zu blicken. Seltsam und verwirrend.

In raschem Tempo fuhr er aus Lafferton hinaus.

 

Auch das Krankenhaus wirkte wie ein anderer Ort. Er hatte Schwierigkeiten, einen Parkplatz zu finden, die Eingangshalle war voller Menschen auf dem Weg zu ihren Ambulanz-Sprechstunden, Pfleger schoben Rollstühle, Gruppen von Studenten standen herum, Blumen wurden geliefert, zwei Frauen bauten einen Wohlfahrtsstand auf. Hier unten war der Geruch nach Antiseptika kaum wahrnehmbar.

Der Aufzug war voll, auf den Stationen war es laut. Irgendwer ließ einen Eimer fallen und fluchte. Aber in Marthas

Er fragte sich, wie er es bei jedem Wiedersehen tat, wie viel in ihrem Kopf vorging, was sie erkannte und begriff, ob sie denken konnte, und wenn ja, wie tief ihre Gedanken waren. Dass sie etwas fühlte, bezweifelte er nicht. Ihre Gefühle hatten ihn stets bewegt, denn sie äußerte sie wie ein Baby, weinte und lachte oft unvermittelt und aus vollem Herzen, hörte genauso schnell wieder damit auf, wobei es ihm immer schwergefallen war, zu erkennen, was diese Gefühle hervorrief, ob sie damit auf etwas Äußerliches oder Innerliches reagierte.

Ihre Behinderung wirkte sich derart auf ihre Gesichtszüge aus, dass es schwer war, Familienähnlichkeiten zu entdecken, aber für Simon hatte das ihre Einzigartigkeit nur noch verstärkt. Er zog einen Stuhl nahe an ihr Bett.

 

Er war so ins Zeichnen vertieft, dass er das Öffnen der Tür nicht bemerkte. Er wollte den Geist seiner Schwester einfangen, indem er sie auf Papier von den medizinischen Apparaten befreite, die sie umgaben, und als er ihr Haar betrachtete, die Biegung ihrer Nasenlöcher unter der breiten Nase und die Wimpern, wie feine Pinselstriche auf ihrer Wange, erkannte er, dass sie schön war, so wie ein Kind schön ist, weil weder Zeit noch Erfahrung auf ihrem Gesicht in irgendeiner Weise Spuren hinterlassen hatten. Während er mit den feinsten Bleistiftstrichen ihre Lider zeichnete, hielt er fast den Atem an.

»Oh, Liebling …« Auf ihrem Kopf glitzerten Regentropfen.

»Cat hat mir erzählt, dass du zurück bist.«

»Es tut mir so leid.«

»Das muss es nicht.«

»Jedes Mal, wenn ich durch diese Tür trete, fühle ich mich zerrissen«, sagte Meriel Serrailler. »Befürchte, dass sie tot ist. Hoffe, dass sie tot ist. Bete, aber ich weiß nicht, zu wem oder für was.« Sie beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf Marthas Stirn.

Simon zog den Stuhl für sie zurück.

»Du warst dabei, sie zu zeichnen.«

»Das wollte ich schon lange.«

»Armes kleines Mädchen. War die Visite schon da?«

»Bisher nicht. Ich habe gestern Abend mit Schwester Blake gesprochen. Und Chris ist gekommen.«

»Es ist hoffnungslos, so oder so. Aber niemand will das aussprechen.«

Er legte seiner Mutter die Hand auf den Arm, doch sie wandte sich ihm nicht zu. Sie klang – wie immer, wenn sie über Martha sprach – kühl, distanziert, professionell. Die Wärme in ihrer Stimme, den anderen der Familie so vertraut, schien zu fehlen. Simon ließ sich nicht täuschen. Er wusste, dass sie Martha genauso sehr liebte wie ihre anderen Kinder, allerdings mit einer vollkommen anderen Liebe.

Seine Zeichnung lag auf der Bettdecke. Meriel griff danach.

»Merkwürdig«, sagte sie. »Schönheit, aber kein Charakter.« Dann wandte sie sich ihm zu. »Und du?« Sie sah ihn mit irritierender Direktheit an. Ihre Augen glichen denen von Cat und Ivo, sehr rund, sehr dunkel, nicht wie seine eigenen blauen.

Sie wartete, ruhig und gefasst. Simon nahm ihr die Zeichnung ab und bedeckte sie mit einer Schutzfolie.

»Ich wünschte, dein Vater hätte dich nicht angerufen. Du hast den Urlaub nötig.«

Aber seine Mutter schüttelte den Kopf. Von der Tür schaute Simon zurück und sah, dass sie ihrer Tochter sanft das Haar aus dem Gesicht strich.

»Komm zu uns raus … Iss mit mir zu Mittag.«

»Vielleicht morgen.«

»Warum erst dann?«

»Ich fahre zum Hylam Peak … Ist ein guter Tag zum Wandern. Ich besorg mir da was zu essen.«

»Grübelst du?«

»Nicht so richtig.«

»Ich ruf dich später an.«

Simon legte auf. Seine Schwester kannte ihn zu gut. Grübeln? Ja. Wenn er sich so fühlte, war er keine gute Gesellschaft, musste Abstand zwischen sich und zu Hause bringen und, wie Cat es mal ausgedrückt hatte, das Grübeln aus sich herausmarschieren. Es war alles, der abrupte Aufbruch aus Venedig, Martha und immer noch die Nachwirkungen des vergangenen Jahres. Am kommenden Mittwoch musste er wieder arbeiten. Wenn, dann musste er jetzt grübeln.

 

Hylam Peak lag inmitten einer Hügelkette, die sich westlich von Lafferton über dreißig Meilen erstreckte, zu erreichen über eine gewundene Straße durch offenes Moorland. Ein paar feuchte Dörfer schmiegten sich in den Schatten der tiefen Einschnitte zwischen den Gipfeln. Im Sommer waren die Wege voll langsam vorankommender Wandergruppen, Bergsteiger hingen mit ihren Seilen wie Spinnen an den felsigen Vorsprüngen. Die Berge waren die Spielwiese von Bevham.

Während des restlichen Jahres, besonders bei schlechtem Wetter, kam niemand. An solchen Tagen gefiel es Simon am besten, wenn er oben auf dem Hylam Peak saß, umgeben vom Blöken der Schafe und den Schreien der Bussarde mit Blick über drei Grafschaften, und zeichnen, nachdenken, ja sogar auf den trockenen Grasbüscheln schlafen konnte und mit niemandem sprechen musste.

Er fragte sich, wie Menschen tagein, tagaus in Familien und an überfüllten Arbeitsplätzen, in Bussen, Zügen, geschäftigen Straßen überleben konnten, ohne solche einsamen Rückzugsorte in wildem, leerem Land.

CD