Tödliches Muster

Über Michael Connelly

MICHAEL CONNELLY, 1956 in Philadelphia geboren, entdeckte während seiner Studienzeit Raymond Chandlers Romane und beschloss, Schriftsteller zu werden. Er arbeitete zunächst für verschiedene Tageszeitungen in Florida, bis er 1986 zusammen mit zwei Kollegen eine Reportage über ein großes Flugzeugunglück in Fort Lauderdale schrieb und für den Pulitzer-Preis nominiert wurde. Danach wechselte er zur Los Angeles Times und arbeitete dort auf dem Gebiet der Kriminalreportage. Für seinen ersten Roman Schwarzes Echo, 1992 erschienen und als Kampa Pocket erhältlich, wurde Connelly mit dem Edgar Award, dem renommiertesten amerikanischen Krimipreis, ausgezeichnet. Heute ist er einer der erfolgreichsten amerikanischen Krimiautoren, auch im deutschsprachigen Raum, wo mehr als 1,5 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft wurden. Seine Romane Das zweite Herz und Der Mandant wurden mit Clint Eastwood und Matthew McConaughey in den Hauptrollen verfilmt. Seit 2014 produziert Amazon außerdem die Serie Bosch, die auf den Fällen seines legendären Ermittlers Hieronymus »Harry« Bosch basiert. 2018 erhielt er den Diamond Dagger, den wichtigsten britischen Krimipreis. Michael Connelly lebt in Florida.

Vielen Dank für deinen Dienst an der Stadt der Engel.

 

David Goldman,

Our Genes, Our Choicesy

Sie fand seinen Wagen klasse. Es war das erste Mal, dass sie in einem Elektroauto saß. Außer dem Fahrtwind war nichts zu hören, als sie durch die Nacht glitten.

»So leise«, sagte sie.

Nur zwei Wörter, aber sie hatte sie gelallt. Der dritte Cosmo hatte etwas mit ihrer Zunge angestellt.

»Er schleicht sich an einen ran«, sagte der Fahrer. »Das auf jeden Fall.«

Er schaute zu ihr hinüber und lächelte. Aber sie glaubte, er wollte nur sichergehen, dass bei ihr alles okay war, weil sie die Worte nicht richtig herausbekommen hatte.

Dann schaute er wieder nach vorn und deutete mit dem Kinn durch die Windschutzscheibe.

»Da wären wir«, sagte er. »Kann man hier irgendwo parken?«

»Stell dich einfach hinter meinen Wagen«, sagte sie. »Ich habe zwei Stellplätze in der Garage, aber sie sind … hintereinander. Totem, nennt man das, glaube ich.«

»Tandem?«

»Ach so, natürlich, klar. Tandem.«

Sie begann über ihren Fehler zu lachen, eine Lachspirale, aus der sie nicht mehr herauskam. Diese blöden Cosmos. Und die Tropfen aus der Naturheilmittelapotheke, die sie genommen hatte, bevor sie am Abend mit dem Uber weggefahren war.

»Erinnerst du dich an die Kombination?«, fragte er.

Um das Schwindelgefühl abzuschütteln und sich besser orientieren zu können, zog Tina sich aus dem Sitz hoch. Sie merkte, dass sie bereits vor dem Garagentor ihrer Wohnanlage waren. Das kam ihr eigenartig vor. Sie konnte sich nicht erinnern, ihm gesagt zu haben, wo sie wohnte.

»Die Kombination?«, fragte er noch einmal.

Das Tastenfeld befand sich in Reichweite vom Fahrerfenster an der Wand. Sie stellte fest, dass sie sich zwar an die Zahlenkombination erinnern konnte, mit der sich das Tor öffnen ließ, aber nicht an den Namen des Mannes, den sie nach Hause mitgenommen hatte.

»4-6-8-2-5

Als er die Kombination eingab, musste sie sich zusammenreißen, um nicht wieder zu lachen. Manche Typen fanden das schrecklich.

Sie fuhren in die Garage, und sie deutete auf die Stelle, wo er hinter ihrem Mini parken konnte. Wenig später standen sie im Lift, wo sie auf den richtigen Knopf drückte und sich dann Halt suchend an ihn lehnte. Er legte den Arm um sie und hielt sie.

»Hast du einen Spitznamen?«, fragte sie.

»Einen Spitznamen?«, fragte er.

»Na ja, wie nennen dich die Leute, die du gut kennst?«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie nennen mich eigentlich nur mit meinem Namen«, sagte er.

Im zweiten Stock ging die Lifttür auf, und sie stiegen aus. Ihre Wohnung befand sich zwei Türen den Gang hinunter.

Der Sex war gut, aber nicht außergewöhnlich. Ungewöhnlich war nur, dass er nichts einzuwenden hatte, als sie auf der Verwendung eines Kondoms bestand. Er hatte sogar selbst eines dabei. Hut ab, dachte sie. Trotzdem würde es ein One-Night-Stand bleiben. Die Suche nach diesem nicht zu beschreibenden Etwas, das die Leere in ihr füllte, würde weitergehen.

Nachdem er das Kondom die Toilette hinuntergespült hatte, kam er zurück ins Bett. Sie hoffte auf eine Ausrede – früh zur Arbeit, eine Frau, die zu Hause wartete, egal was –, aber er wollte wieder zu ihr ins Bett und kuscheln. Er legte sich unsanft hinter sie und drehte sie herum, sodass ihr Rücken gegen seine Brust zu liegen kam. Er hatte sich rasiert, und sie konnte das Piksen der nachwachsenden Stoppeln in ihrem Rücken spüren.

»Weißt du …«

Weiter kam sie nicht mit ihrer Klage. Er veränderte seine Körperhaltung, und plötzlich lag sie auf dem Rücken und er unter ihr. Seine Brust war wie Schmirgelpapier. Sein Arm kam von hinten um sie herum und beugte sich zu einem V. Dann schob er ihren Hals mit der freien Hand in das V. Er spannte die Arme an, und sie spürte, wie ihre Atemwege zugedrückt wurden. Sie

Die Ränder ihres Blickfelds verdunkelten sich. Er hob den Kopf vom Bett und kam mit den Lippen an ihr Ohr.

Und flüsterte: »Sie nennen mich den Shrike.«

1

Ich hatte der Story den Titel »Der König der Schwindler« gegeben. Jedenfalls war das meine Überschrift. Ich tippte sie oben hin, war aber ziemlich sicher, dass sie geändert würde. Es überstieg nämlich meine Kompetenzen als Reporter, einen Artikel mit einer Überschrift einzureichen. Für die Überschriften und die Kurzzusammenfassungen darunter war der Redakteur zuständig, und ich konnte Myron Levin bereits schimpfen hören: »Schreibt der Redakteur etwa deine Einleitungen um, oder ruft er die im Artikel erwähnten Personen an, um ihnen zusätzliche Fragen zu stellen? Nein, tut er nicht. Er bleibt bei seinen Leisten, und genauso bleibst du bei deinen.«

Da Myron Levin dieser Redakteur war, würde es schwer werden, zu meiner Rechtfertigung etwas vorzubringen. Trotzdem schickte ich den Artikel mit meinem Titelvorschlag ein, weil er einfach perfekt war. Die Meldung befasste sich mit den undurchsichtigen Machenschaften der Inkassobranche – sechshundert Millionen Dollar verschwanden jährlich in dunklen Kanälen –, und die Grundregel bei FairWarning lautete, jeden Schwindel mit einem Gesicht in Verbindung zu bringen, egal, ob

Myron hatte den Artikel bereits bei der Los Angeles Times untergebracht, sodass er breitere öffentliche Beachtung finden und auch vom Los Angeles Police Department zur Kenntnis genommen würde. König Arthurs Herrschaft würde bald ein Ende finden und seine Ritterrunde aus angehenden Betrügern gleich mit aus dem Verkehr gezogen werden.

Ich las den Artikel ein letztes Mal, schickte ihn an Myron und setzte William Marchand in cc, den Anwalt, der pro bono sämtliche FairWarning-Meldungen prüfte. Wir veröffentlichten auf der Website nichts, was juristisch nicht hundertprozentig abgesichert war. FairWarning war ein Fünf-Personen-Unternehmen, wenn man die Reporterin mit einrechnete, die in Washington, D.C. von zu Hause aus für uns arbeitete. Eine einzige »unrichtige Meldung«, die einen Prozess oder einen außergerichtlichen Vergleich nach sich zog, konnte uns das Genick brechen, und dann wäre ich wieder, was ich schon mindestens zweimal in meinem Leben war: ein Reporter, der nicht wusste, wohin.

Ich verließ meinen Schreibtisch, um Myron zu sagen, dass der Artikel endlich fertig war, aber er telefonierte gerade an seinem Platz mit einem potenziellen Sponsor. Myron war Gründer, Herausgeber, Chefredakteur, Reporter und Hauptspendenbeschaffer von FairWarning, einem kostenlosen Nachrichtenportal ohne Paywall. Es gab zwar unter jedem Artikel, und manchmal auch darüber, einen Spendenbutton, aber Myron hielt ständig nach dem großen weißen Wal Ausschau, der uns

»Wir sind wirklich die Einzigen, die so etwas machen – kompetenten investigativen Journalismus für den Verbraucher«, erzählte Myron jedem potenziellen Spender. »Wenn Sie mal auf unsere Seite schauen, werden Sie im Archiv viele Beiträge finden, die mächtige Schlüsselindustrien wie Auto-, Pharma-, Tabak- und Mobilfunkunternehmen aufs Korn nehmen. Und angesichts der aktuellen staatlichen Maßnahmen zu Deregulierung und Aufsichtsbeschränkung gibt es niemand mehr, der für den kleinen Mann die Augen offen hält. Mir ist selbstverständlich klar, dass es Spendenoptionen gibt, bei denen Sie auf den ersten Blick mehr für Ihr Geld bekommen. Mit fünfundzwanzig Dollar im Monat können Sie in den Appalachen ein Kind mit Kleidung und Nahrung versorgen. Keine Frage. Das vermittelt Ihnen ein gutes Gefühl. Spenden Sie allerdings für FairWarning, unterstützen Sie ein Team von Journalisten, die sich der Aufgabe verschrieben …«

Diese Platte bekam ich mehrmals am Tag zu hören, tagaus, tagein. Ich nahm auch an den sonntäglichen Jours fixes teil, bei denen Myron und Vorstandsmitglieder zu wohlmeinenden potenziellen Spendern sprachen, und mischte mich hinterher unter sie, um ihnen von den Artikeln zu erzählen, für die ich recherchierte. Als Autor zweier Bestseller hatte ich bei diesen Zusammenkünften einen Sonderstatus, auch wenn nie erwähnt wurde, dass ich schon über zehn Jahre nichts mehr veröffentlicht hatte. Ich wusste, mit diesen Veranstaltungen stand und fiel mein Gehalt – auch wenn ich damit in Los Angeles

Myron hörte auf, seinem potenziellen Spender zuzuhören, und stellte das Mikrophon stumm, bevor er zu mir aufschaute.

»Bist du fertig?«, fragte er.

»Hab dir gerade alles geschickt«, sagte ich. »Und Bill auch.«

»Okay, ich lese es heute Abend. Und wenn es irgendwas gibt, können wir morgen reden.«

»Es ist druckreif. Mit einer super Schlagzeile. Du musst nur noch den Vorspann schreiben.«

»Pass bloß …«

Er deaktivierte die Stummschaltung des Telefons, um eine Frage zu beantworten. Ich salutierte und ging zum Ausgang, blieb aber vorher noch an Emily Atwaters Schreibtisch stehen, um mich von ihr zu verabschieden. Im Moment war sie die einzige andere Mitarbeiterin im Büro.

»Cheers«, sagte sie mit ihrem klaren britischen Akzent.

Unser Büro lag in einer typischen zweigeschossigen Plaza in Studio City. In der unteren Etage waren ausschließlich Einzelhandels- und Lebensmittelgeschäfte, in der oberen Dienstleister: Autoversicherer, Maniküre/Pediküre, Joga und Akupunktur. Wir waren die Ausnahme. Wir bedienten keine Laufkundschaft, aber das Büro war günstig, weil es über einer Cannabis-Verkaufsstelle lag, aus der die Lüftungsanlage des Gebäudes sieben Tage die Woche rund um die Uhr

Die L-förmige Plaza hatte eine Tiefgarage mit fünf Stellplätzen für FairWarning-Mitarbeiter und -Besucher. Das war ein großes Plus. Einen Parkplatz zu finden, war in Los Angeles immer ein Problem. Und ein überdachter Parkplatz war für mich ein noch größeres Plus, weil ich mit meinem Jeep im sonnigen Kalifornien so gut wie immer ohne Verdeck unterwegs war.

Ich hatte den Wrangler mit dem Vorschuss für mein letztes Buch neu gekauft, und der Kilometerzähler erinnerte mich beständig daran, wie lange es schon her war, dass ich neue Autos gekauft und Bestsellerlisten angeführt hatte. Ich schaute darauf, als ich den Motor anließ. Ich war 260990 Kilometer von dem Weg abgekommen, auf dem ich einmal gewesen war.

Ich wohnte in der Woodman Avenue am Freeway 101. Es war eine Wohnanlage aus den achtziger Jahren im Cape-Cod-Stil, deren vierundzwanzig Einzelhäuser sich um einen rechteckigen Innenhof mit Gemeinschaftspool und Grillbereich gruppierten. Auch dort gab es eine Tiefgarage.

Die meisten Wohnanlagen in der Woodman hatten Namen wie Capri und Oak Crest und dergleichen. Meine war namenlos. Ich war vor eineinhalb Jahren dort eingezogen, nachdem ich die Eigentumswohnung verkauft hatte, die ich mit demselben Vorschuss für mein Buch gekauft hatte. Die Tantiemen fielen von Jahr zu Jahr spärlicher aus, und ich war gerade dabei, mein Leben so umzugestalten, dass ich mit meinem Gehalt bei FairWarning über die Runden kam. Die Umstellung fiel mir nicht leicht.

Als ich auf der abschüssigen Zufahrt zur Tiefgarage darauf wartete, dass das Tor hochging, sah ich am Fußgängertor der Anlage zwei Männer in Anzügen stehen. Einer war weiß und Mitte fünfzig, der andere zwanzig Jahre jünger und asiatischer Abstammung. Ein Windstoß fuhr in die Jacke des Asiaten und gab kurz den Blick auf die Dienstmarke an seinem Gürtel frei.

Ich schaute immer wieder in den Rückspiegel, als ich in die Garage fuhr. Sie folgten mir die Rampe hinunter.

»Jack McEvoy?«

Der Name stimmte, aber er sprach ihn falsch aus. Wie Mick-a-voy.

»Ja, McEvoy«, sagte ich und korrigierte ihn dabei. Mack-a-voy. »Was gibt’s?«

»Ich bin Detective Mattson, LAPD«, sagte der ältere von beiden. »Und das ist mein Partner, Detective Sakai. Wir hätten ein paar Fragen an Sie.«

Mattson öffnete sein Jackett, um mir zu zeigen, dass auch er eine Dienstmarke hatte – und die dazugehörige Pistole.

»Okay«, sagte ich. »Worüber?«

»Könnten wir in Ihre Wohnung raufgehen?«, fragte Mattson. »Dort sind wir wahrscheinlich etwas ungestörter als in der Tiefgarage.«

Er machte eine ausholende Armbewegung, als stünden überall Menschen herum, die uns zuhörten. Aber die Garage war leer.

»Wenn Sie meinen«, sagte ich. »Kommen Sie. Ich nehme normalerweise die Treppe, aber wenn Sie lieber mit dem Lift fahren, er ist da hinten.«

Ich deutete ans Ende der Garage. Mein Jeep stand in der Mitte, direkt gegenüber der Treppe, die in den Innenhof hinaufführte.

»Die Treppe ist völlig okay«, sagte Mattson.

Ich ging in diese Richtung los, und die Detectives folgten mir. Den ganzen Weg zur Wohnungstür überlegte ich fieberhaft, was ich beruflich getan hatte, um die

Ich begann, mich zu fragen, ob mein Artikel über Arthur Hathaway einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Schwindler in die Quere gekommen war und ob Mattson und Sakai mich bitten wollten, mit seiner Veröffentlichung noch zu warten. Aber kaum war mir diese Möglichkeit in den Sinn gekommen, tat ich sie auch schon wieder ab. Wäre das der Fall, wären sie in mein Büro gekommen, nicht zu mir nach Hause. Und das Ganze hätte mit einem Anruf begonnen, nicht mit einem persönlichen Besuch.

»Von welcher Abteilung sind Sie?«, fragte ich, als wir über den Innenhof zu Apartment 7 auf der anderen Seite des Swimmingpools gingen.

»Wir kommen aus Downtown.« Mattson hielt sich bedeckt, während sein Partner gar nichts sagte.

»Schon klar«, sagte ich. »Aber von welcher Abteilung genau?«

»Robbery-Homicide Division«, sagte Mattson.

Aktuell berichtete ich nicht über das LAPD, doch früher hatte ich es getan. Ich wusste, dass die Eliteeinheiten Downtown im Hauptquartier stationiert waren, und die RHD, wie sie kurz genannt wurde, war die Elitetruppe der Elite.

»Und worüber wollen Sie jetzt mit mir reden?«, fragte ich. »Über Raub oder Mord?«

Ich erreichte meine Wohnungstür. Seine Nichtantwort deutete eher auf Mord hin. Der Schlüssel lag bereits in meiner Hand. Bevor ich die Tür aufschloss, drehte ich mich um und sah die zwei Männer hinter mir an.

»Mein Bruder war Mordermittler«, sagte ich.

»Tatsächlich?«, sagte Mattson.

»Beim LAPD?« Das kam von Sakai. Seine ersten Worte.

»Nein«, sagte ich. »Oben in Denver.«

»Nicht schlecht«, sagte Mattson. »Im Ruhestand?«

»So würde ich es nicht nennen«, sagte ich. »Er wurde im Dienst getötet.«

»Das tut mir leid«, sagte Mattson.

Ich nickte und drehte mich wieder um, um die Tür aufzuschließen. Ich verstand selbst nicht, warum ich meinen Bruder erwähnt hatte. Damit rückte ich sonst nicht so schnell heraus. Leute, die meine Bücher gelesen hatten, wussten es, aber ich ließ es nicht eben mal nebenbei in ein Gespräch einfließen. Es war vor langer Zeit in einem, wie es schien, anderen Leben passiert.

Ich öffnete die Tür, und wir gingen nach drinnen. Ich machte Licht. Meine Wohnung war eine der kleinsten in der Anlage. Das Erdgeschoss war nicht durch Wände unterteilt. Das Wohnzimmer ging in einen kleinen Essbereich über, der nur durch eine Theke mit einer Spüle von der Küche getrennt war. An der rechten Seitenwand führte eine Treppe ins Dachgeschoss hinauf, das mein Schlafzimmer war. Dort oben war auch das eigentliche Bad. Ein kleineres befand sich unter der Treppe im Erdgeschoss. Insgesamt weniger als neunzig Quadratmeter.

»Schöne Wohnung«, sagte Mattson. »Wohnen Sie schon lange hier?«

»Etwa eineinhalb Jahre«, sagte ich. »Aber dürfte ich vielleicht mal erfahren, worum es …«

»Setzen Sie sich doch erst mal auf die Couch da.«

Mattson deutete auf das Sofa, das so ausgerichtet war, dass man auf den Flachbildschirm an der Wand über dem Gaskamin sehen konnte, den ich nie anmachte.

Auf der anderen Seite des Couchtischs standen zwei Sessel, die mich wie die Couch schon jahrzehntelang in meinen alten Wohnungen begleitet hatten und entsprechend durchgesessen und abgenutzt waren. Meine schrumpfenden Finanzen spiegelten sich in meiner Unterkunft und meinem fahrbaren Untersatz wider.

Mattson inspizierte die zwei Sessel, entschied sich für den, der am saubersten aussah, und setzte sich. Sakai, der Stoiker, blieb stehen.

»Also, Jack«, begann Mattson. »Wir ermitteln in einem Mordfall, in dem Ihr Name aufgetaucht ist. Deshalb sind wir hier. Wir haben …«

»Wer wurde umgebracht?«, fragte ich.

»Eine gewisse Christina Portrero. Sagt Ihnen der Name was?«

Ich ließ ihn in Höchstgeschwindigkeit durch alle Schaltkreise laufen. Ohne Erfolg.

»Sie war hauptsächlich als Tina bekannt. Hilft Ihnen das weiter?«

Ein weiterer Schnelldurchlauf. Diesmal mit mehr Erfolg. Den vollständigen Namen von zwei Mordermittlern gesagt zu bekommen, hatte mich so durcheinander gebracht, dass es nicht sofort klick gemacht hatte.

»Jetzt, warten Sie, klar. Ich kannte eine Tina … Tina Portrero.«

»Eben meinten Sie aber noch, dass der Name Ihnen nichts sagt.«

»Ich weiß. So aus heiterem Himmel hab ich nicht sofort geschaltet. Jedenfalls, wir sind uns ein Mal begegnet, aber dabei ist es geblieben.«

Mattson antwortete nicht. Er nickte seinem Partner zu. Sakai beugte sich vor und hielt mir sein Handy hin. Auf dem Display war ein Foto, ein sehr gestelltes Foto einer Frau mit dunklen Haaren und noch dunkleren Augen. Sie hatte eine intensive Bräune und sah aus wie Mitte dreißig. Aber ich wusste, dass sie eher Mitte vierzig war. Ich nickte.

»Das ist sie«, sagte ich.

»Gut«, sagte Mattson. »Woher kennen Sie sie?«

»Aus dem Mistral, einem Restaurant ein Stück die Straße runter. Ich war gerade von Hollywood hierher gezogen und dabei, mich einzuleben. Weil ich nicht das Auto nehmen musste, ging ich gelegentlich auf einen Drink ins Mistral. Dort habe ich sie kennengelernt.«

»Wann war das?«

»So genau kann ich Ihnen das nicht sagen, aber es dürfte etwa ein halbes Jahr nach meinem Einzug

»Hatten Sie Sex mit ihr?«

Mit dieser Frage hätte ich rechnen sollen, aber ich war nicht auf sie vorbereitet.

»Das geht Sie nichts an«, sagte ich. »Es war vor einem Jahr.«

»Ich fasse das als ein Ja auf«, sagte Mattson. »Haben Sie sie hierher mitgenommen?«

Mir war klar, dass Mattson und Sakai offensichtlich mehr über die Umstände von Tina Portreros Tod wussten als ich. Aber die Frage, was vor einem Jahr zwischen uns gelaufen war, schien enorm wichtig für sie zu sein.

»Was soll das alles?«, fragte ich. »Ich habe sie ein Mal getroffen, und danach haben wir uns nie mehr gesehen. Warum fragen Sie mich das alles?«

»Weil wir den Mord an ihr aufzuklären versuchen«, sagte Mattson. »Wir müssen möglichst alles über sie und ihre Aktivitäten in Erfahrung bringen. Wie weit etwas zurückliegt, spielt keine Rolle. Deshalb frage ich Sie noch einmal: War Tina Portrero jemals in dieser Wohnung?«

Ich warf in einer Geste der Kapitulation die Hände hoch.

»Ja, vor einem Jahr.«

»Ist sie über Nacht geblieben?«, fragte Mattson.

»Nein, nur ein paar Stunden. Dann hat sie ein Uber genommen.«

Mattson ging nicht sofort zur nächsten Frage über. Er musterte mich eine Weile, als überlegte er, wie er weitermachen sollte.

»Nein«, erwiderte ich ärgerlich. »Was sollte das sein?«

Er ignorierte meine Frage und stellte mir selbst eine.

»Wo waren Sie letzten Mittwochabend?«

»Das soll wohl ein Witz sein, oder?«

»Nein, ist es nicht.«

»Wann am Mittwochabend?«

»Sagen wir, zwischen zehn und zwölf.«

Ich wusste, dass ich bis zehn Uhr in Arthur Hathaways Seminar für angehende Betrüger gewesen war. Ich wusste aber auch, dass es ein Seminar für Schwindler war und deshalb gar nicht existierte. Sollten die Detectives versuchen, diesen Teil meines Alibis zu überprüfen, würde es ihnen weder gelingen, den Nachweis zu erbringen, dass es dieses Seminar überhaupt gab, noch würden sie jemanden finden, der ihnen bestätigte, dass ich daran teilgenommen hatte, denn damit hätte der Betreffende zugegeben, dass auch er daran teilgenommen hatte. Daran konnte niemand ein Interesse haben. Vor allem nicht, wenn der von mir gerade eingereichte Artikel einmal veröffentlicht war.

»Ähm, von zehn bis zwanzig nach zehn war ich in meinem Auto unterwegs, und dann war ich hier.«

»Allein?«

»Ja. Aber das ist doch vollkommen verrückt. Ich habe vor einem Jahr eine Nacht mit ihr verbracht, und danach hatten wir keinerlei Kontakt mehr miteinander. Das stand für uns beide nicht zur Diskussion. Verstehen Sie?«

»Sind Sie da sicher? Für Sie beide?«

»Und ob ich da sicher bin. Ich habe sie nie angerufen,

»Wie war das für Sie?«

Ich lachte unbehaglich.

»Wie war was für mich?«

»Dass sie sich nicht mehr bei Ihnen gemeldet hat.«

»Haben Sie mir eigentlich zugehört? Ich habe sie nicht angerufen, und sie hat mich nicht angerufen. Es war gegenseitig. Es ist nicht weitergegangen.«

»War sie an diesem Abend betrunken?«

»Betrunken, nein. Wir hatten ein paar Drinks im Mistral. Ich habe für uns beide bezahlt.«

»Und hier? Noch ein paar Drinks oder gleich ab nach oben, ins Schlafzimmer?«

Mattson deutete die Treppe hinauf.

»Nein, hier keine Drinks mehr«, sagte ich.

»Und alles einvernehmlich?«, fragte Mattson.

Ich stand auf. Das reichte.

»Hören Sie, ich habe Ihre Fragen beantwortet«, sagte ich. »Sie verschwenden nur Ihre Zeit.«

»Ob wir unsere Zeit verschwenden, entscheiden wir«, sagte Mattson. »Wir sind hier fast fertig, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich wieder setzen würden, Mr. McEvoy.«

Er sprach meinen Namen wieder falsch aus, wahrscheinlich absichtlich.

Ich setzte mich wieder.

»Ich bin Journalist, ja?«, sagte ich. »Ich habe über Verbrechen berichtet – ich habe Bücher über Mörder geschrieben. Ich weiß, was Sie machen. Sie wollen mich aus der Fassung bringen, mich verunsichern, damit ich

»Wir wissen, wer Sie sind«, sagte Mattson. »Glauben Sie, wir würden hierherkommen, ohne uns vorher zu informieren, mit wem wir es zu tun haben? Sie sind der Velvet-Coffin-Typ, und nur damit Sie’s wissen, ich habe mit Rodney Fletcher zusammengearbeitet. Er war ein Freund, und was mit ihm passiert ist, war die reinste Verarschung.«

Da war er, der Grund der Feindseligkeit, die Mattson schon die ganze Zeit ausdünstete.

»Velvet Coffin gibt es schon seit vier Jahren nicht mehr«, sagte ich. »Hauptsächlich wegen der Fletcher-Geschichte – die hundert Prozent gestimmt hat. Es war unvorhersehbar, dass er tun würde, was er getan hat. Abgesehen davon arbeite ich inzwischen woanders und schreibe über Verbraucherschutzthemen. Nicht über die Polizei.«

»Schön für Sie. Können wir wieder zu Tina Portrero zurückkommen?«

»Ich weiß nicht, worauf wir da zurückkommen könnten.«

»Wie alt sind Sie?«

»Das wissen Sie doch sicher längst. Und was soll das hier zur Sache tun?«

»Sie kommen mir ein bisschen alt für sie vor. Für Tina.«

»Sie war eine attraktive Frau und älter, als sie aussah und zu sein behauptete. An dem Abend, als wir uns kennengelernt haben, hat sie mir erzählt, sie wäre neununddreißig.«

Ich spürte, wie ich vor Scham und Ärger rot wurde.

»Nur damit das klar ist: Ich habe mich nicht ›an sie rangemacht‹«, sagte ich. »Sie hat sich mit ihrem Cosmo zu mir an die Bar gestellt. So hat es angefangen.«

»Gut für Sie«, bemerkte Mattson sarkastisch. »Muss Ihrem Selbstwertgefühl einen gewaltigen Kick verschafft haben. Aber zurück zu Mittwoch. Von wo sind Sie in den zwanzig Minuten gekommen, in denen Sie an diesem Abend Ihren eigenen Aussagen zufolge nach Hause gefahren sind?«

»Von einer Arbeitsbesprechung.«

»Mit Leuten, die uns das nötigenfalls bestätigen könnten?«

»Wenn es sein muss. Aber sie sind …«

»Gut. Dann erzählen Sie uns von Ihnen und Tina.«

Ich wusste genau, was er damit bezweckte. Er sprang mit seinen Fragen ständig hin und her, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich hatte fast zwanzig Jahre lang für zwei verschiedene Zeitungen und den Blog von Velvet Coffin über Polizisten berichtet. Ich wusste, wie das lief. Die kleinste Abweichung beim Wiedererzählen der Geschichte, und schon hatten sie, was sie brauchten.

»Nein, ich habe Ihnen schon alles erzählt. Wenn Sie mehr Informationen von mir haben wollen, müssen erst mal Sie welche rausrücken.«

Darauf schwiegen die Detectives eine Weile. Offensichtlich überlegten sie, ob sie sich auf einen solchen

»Wie ist sie ums Leben gekommen?«

»Genickbruch«, sagte Mattson.

»Atlantookzipitale Dislokation«, sagte Sakai.

»Was soll das denn sein?«, fragte ich.

»Innere Enthauptung«, sagte Mattson. »Jemand hat ihr den Hals umgedreht. Kein schöner Tod.«

Meine Brust schnürte sich immer enger zusammen. Ich hatte Tina Portrero über diesen einen gemeinsamen Abend hinaus nicht gekannt, aber ich bekam das – durch das Foto auf Sakais Handy aufgefrischte – Bild von ihr, und dass sie auf derart brutale Weise getötet worden war, nicht aus dem Kopf.

»Wie in dem Film Der Exorzist«, sagte Mattson. »Erinnern Sie sich noch? Wo sich der Kopf des besessenen Mädchens einmal ganz herumdreht.«

Das machte es nicht besser.

»Wo ist es passiert?«, fragte ich, um von den Bildern loszukommen.

»Der Hausmeister hat sie in der Dusche gefunden«, fuhr Mattson fort. »Weil ihre Leiche den Abfluss blockiert hat, ist die Wanne übergelaufen. Deshalb ist er nachsehen gekommen. Das Wasser lief noch, als er sie fand. Wahrscheinlich sollte es so aussehen, als wäre sie in der Dusche ausgerutscht und hätte sich bei dem Sturz das Genick gebrochen. Aber so leicht lassen wir uns nichts vormachen. Man rutscht in der Dusche nicht aus und bricht sich den Hals. Nicht so.«

Ich nickte, als wäre das eine nützliche Information.

»Okay«, sagte ich. »Damit hatte ich nichts zu tun und

»Wir haben aber noch weitere Fragen, Jack«, sagte Mattson streng. »Wir stehen mit unseren Ermittlungen erst ganz am Anfang.«

»Okay. Und was wollen Sie jetzt noch von mir wissen?«

»Sie sind Reporter. Da wissen Sie doch sicher, was Cyberstalking ist?«

»Meinen Sie, wenn man jemand über die sozialen Medien belästigt?«

»Die Fragen stelle ich. Sie sollen sie nur beantworten.«

»Dann müssen Sie sich genauer ausdrücken.«

»Tina hat einer guten Freundin erzählt, dass jemand sie im Internet gestalkt hat. Als die Freundin wissen wollte, wie sie das genau meint, sagte Tina, sie hätte in einer Bar einen Mann kennengelernt, der Dinge über sie wusste, die er nicht hätte wissen sollen. Es war, als hätte er bereits alles über sie gewusst, bevor er sie überhaupt ansprach.«

»Ich habe sie vor einem Jahr in einer Bar kennengelernt. Die ganze Geschichte ist … Moment, wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?«

»Ihr Namen war in ihrer Kontaktliste. Und sie hatte Ihre Bücher auf dem Nachttisch.«

Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich mit Tina an besagtem Abend über meine Bücher gesprochen hatte. Da wir allerdings in meiner Wohnung gelandet waren, hielt ich es für wahrscheinlich.

»Und deswegen kommen Sie an, als wäre ich ein Verdächtiger?«

»Nein, das war nicht ich.«

»Gut zu wissen. Dann zu unserer vorerst letzten Frage: Wären Sie bereit, uns für eine DNA-Analyse freiwillig eine Speichelprobe zu geben?«

Die Frage erschreckte mich. Ich zögerte. Meine Gedanken drehten sich plötzlich nur noch um das Gesetz und meine Rechte, und ich ließ völlig außer Acht, dass ich keine Straftat begangen hatte und dass meine DNA, ob nun in Gestalt von Sperma oder Hautschuppen, am vergangenen Mittwoch an keinem Tatort aufgetaucht sein konnte.

»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte ich. »Wollen Sie mich jetzt auch noch einer Vergewaltigung beschuldigen?«

»Immer mit der Ruhe, Jack«, sagte Mattson. »Nichts deutet auf eine Vergewaltigung hin, aber sagen wir einfach mal, wir haben DNA-Spuren des Verdächtigen.«

Mir wurde klar, dass mich meine DNA am schnellsten aus ihrem Schussfeld bringen würde.

»Ich war es jedenfalls nicht. Wann wollen Sie die Speichelprobe nehmen?«

»Warum nicht gleich jetzt?«

Mattson sah seinen Partner an. Sakai fasste in eine Innentasche seines Jacketts und holte zwei fünfzehn Zentimeter lange Reagenzgläser mit roten Gummiverschlüssen heraus, von denen jedes einen langen Wattetupfer enthielt. An diesem Punkt wurde mir klar, dass sie mich

Das sollte mir nur recht sein. Das Ergebnis würde sie enttäuschen.

»Dann wollen wir mal«, sagte ich.

»Gut«, sagte Mattson. »Da wäre allerdings noch etwas, was wir tun könnten, wo wir gerade dabei sind.«

Ich hätte es wissen müssen. Gib ihnen den kleinen Finger, und schon wollen sie die ganze Hand.

»Und was wäre das?«, fragte ich ungehalten.

»Würde es Ihnen was ausmachen, das Hemd auszuziehen?«, sagte Mattson. »Damit wir uns Ihre Arme und Ihren Oberkörper ansehen können.«

»Wozu das …«

Ich pfiff mich selbst zurück. Mir war völlig klar, was er wollte. Er wollte sich vergewissern, dass ich keine Kratzwunden oder sonstige Verletzungen von einem Kampf hatte. Die DNA, die sie zu Vergleichszwecken heranziehen wollten, stammte vermutlich von Tina Portreros Fingernägeln. Sie hatte sich gegen ihren Mörder gewehrt, weshalb sich Teile seines Körpers an ihrem befanden.

Ich machte mich daran, mein Hemd aufzuknöpfen.

Sobald die Detectives gegangen waren, holte ich mei- nen Laptop aus dem Rucksack und startete im Internet eine Suche nach Christina Portrero. Sie erzielte zwei Treffer, beide auf der Website der Los Angeles Times. Der erste war nur eine Kurzmeldung im Mordblog der Zeitung, wo jeder Mord im County vermerkt wurde, und stammte aus der Anfangsphase der Ermittlungen. Sie enthielt wenig mehr, als dass Portrero tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden war, nachdem eine Polizeistreife dort vorbeigeschaut hatte, weil sie nicht zur Arbeit erschienen war und nicht auf Anrufe oder Nachrichten in den sozialen Medien reagiert hatte. Außerdem hieß es dort, dass es bei Portreros Tod aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit rechten Dingen zugegangen war, die Todesursache aber noch nicht festgestellt worden war.

Da ich ein treuer Leser des Blogs war, müsste ich die Meldung eigentlich überflogen haben, ohne dabei jedoch den Namen Christina Portrero mit der Tina Portrero in Verbindung zu bringen, mit der ich ein Jahr zuvor eine Nacht verbracht hatte. Ich fragte mich, was ich getan hätte, wenn ich sofort gewusst hätte, dass ich sie kannte. Hätte ich bei der Polizei angerufen und ihnen von meinem Erlebnis erzählt? Dass ich wusste, dass sie zumindest ein Mal allein in eine Bar gegangen war und sich mich für einen One-Night-Stand ausgesucht hatte?

Am Ende des Gutachtens äußerte sie ihre persönliche Meinung über die Eignung der Vorlage und empfahl, die Sache entweder nicht weiterzuverfolgen oder für eine weitere Beurteilung an die nächsthöhere Etage weiterzuleiten. Ich erinnerte mich auch, dass sie mir erzählt hatte, dass sie im Zuge ihrer Tätigkeit häufig Produktionsfirmen auf dem Gelände großer Studios wie Paramount, Warner Brothers oder Universal besuchte und dass das für sie immer mit einem besonderen Reiz verbunden war, weil sie bei diesen Gelegenheiten manchmal bekannte Stars zu sehen bekam, wenn sie zwischen Büros, Aufnahmestudios und Kantine unterwegs waren.

Der Artikel enthielt Äußerungen einer gewissen Lisa Hill, die als Portreros beste Freundin bezeichnet wurde. Sie sagte gegenüber der Zeitung, dass Tina abends

In keinem der beiden Times-Posts wurde die genaue Todesursache erwähnt. In der zweiten, ausführlicheren Meldung hieß es lediglich, dass Portrero einen Genickbruch erlitten hatte. Entweder hatten die Redakteure bewusst darauf verzichtet, im Artikel auf genauere Details einzugehen, oder sie hatten sie gar nicht gekannt. Die Hinweise auf die Informationsquellen beschränkten sich in beiden Artikeln auf ein standardmäßiges »laut Aussagen der Polizei«. Weder Detective Mattson noch Detective Sakai wurden namentlich erwähnt.

Ich schaffte es erst nach mehreren Anläufen, »atlantookzipitale Dislokation« richtig zu schreiben und eine Google-Suche zu starten. Die meisten Treffer erzielte ich auf medizinischen Seiten, wo es hieß, dass diese Verletzung vorwiegend bei Autounfällen auftrat, bei denen zwei Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit kollidierten.

Am besten fasste es der Wikipedia-Eintrag zusammen:

Atlantookzipitale Dislokation (AOD), orthopädische Dekapitation oder innere Enthauptung bezeichnet die ligamentäre Trennung der Wirbelsäule von der Schädelbasis. Ein Mensch kann eine solche Verletzung überleben; allerdings führt sie nur in dreißig Prozent der Fälle nicht zum sofortigen Tod. Die gängige

Das Wort Schleudertrauma weckte in mir Assoziationen an einen Verkehrsunfall und die gewaltigen Kräfte, die dabei freigesetzt wurden. Jemand, der sehr kräftig war, hatte Tina Portrero, möglicherweise unter Verwendung eines Hilfsmittels, den Hals umgedreht. Jetzt war die Frage, ob an ihrem Kopf oder Körper Spuren gefunden worden waren, die darauf hindeuteten, dass dafür ein Gegenstand verwendet worden war.

Bei einer Google-Suche stieß ich auf ein paar Autounfälle, bei denen AOD die Todesursache gewesen war. Einer davon in Atlanta, ein anderer in Dallas. Der jüngste in Seattle. Hinweise auf einen Mordfall, bei dem AOD die Todesursache war, fand ich keine.

Ich musste mich erst eingehender mit dem Thema befassen. Als ich noch für Velvet Coffin arbeitete, hatte ich einmal den Auftrag erhalten, über einen internationalen Rechtsmedizinerkongress zu berichten, der in Los Angeles stattfand. Mein Redakteur spekulierte auf wahre Schauergeschichten und den Galgenhumor von Leuten, die tagaus, tagein mit Tod und Leichen zu tun hatten, und wollte einen Beitrag darüber bringen, was Rechtsmediziner bei so einem Treffen alles zu erzählen hatten. Bei der Arbeit an dieser Story stieß ich auf eine Website für Rechtsmediziner, die vor allem dem Zweck diente, den Rat von Kollegen einzuholen, wenn man es mit ungewöhnlichen Todesumständen zu tun hatte.

Die Seite hieß causesofdeath.net und war

Hallo allerseits. Wir haben hier in L.A. einen Mord mit atlantookzipitaler Dislokation – Opfer weiblich, 44 Jahre alt. Ist jemandem schon einmal eine AOD bei einem Mord untergekommen? Suche nach Ätiologie, Hilfsmittelspuren, Hautabschürfungen usw. Bin dankbar für jeden Hinweis. Hoffe, alle beim nächsten IAME-Kongress zu sehen. War bei keinem mehr, seit er hier in der Stadt der Engel war. Cheers @MELA

Die Verwendung von Fachjargon und Abkürzungen wie AOD für atlantookzipitale Dislokation sollten Fachkenntnis suggerieren. Der Hinweis auf die International Association of Medical Examiners war legitim, weil ich an dem Kongress teilgenommen hatte. Allerdings legte es Lesern meines Posts auch die Annahme nahe, dass ich Rechtsmediziner war. Ich wusste, dass das unter ethischen Gesichtspunkten fragwürdig war, andererseits tat ich es nicht in meiner Funktion als Journalist.

Der nächste Punkt auf meiner Liste war Lisa Hill. Sie wurde in der Times-Meldung als enge Freundin Portreros bezeichnet. Bei ihr sattelte ich um – vom potenziellen Verdächtigen zum Journalisten. Die gängigen Versuche, an ihre Telefonnummer zu kommen, scheiterten, und ihr Facebook-Account – falls es überhaupt ihrer war – erwies sich als inaktiv. Also schickte ich ihr eine private Nachricht über Instagram.

Hi, ich bin Journalist und arbeite an einem Bericht über den Fall Tina Portrero. Ich habe Ihren Namen in der Times-Meldung gesehen. Mein aufrichtiges Beileid. Ich würde gern mit Ihnen reden. Wären Sie bereit, über Ihre Freundin zu sprechen?

Hill konnte mich zwar über die sozialen Medien erreichen, trotzdem fügte ich sicherheitshalber meinen Namen und meine Handynummer an. Wie bei der Nachricht auf dem IAME-Board hieß es jetzt erst einmal warten.

Bevor ich meine Bemühungen einstellte, ging ich noch einmal auf causesofdeath.net, um zu sehen, ob schon jemand auf meine Anfrage reagiert hatte. Das war nicht

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf, machte ich mich daran, so viel wie möglich über Tina Portrero in Erfahrung zu bringen. Mir wurde schnell klar, dass ich dem geheimnisvollen Unbekannten, der ihr offensichtlich einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, möglicherweise bereits etwas voraus hatte. Als ich die gängigen Social-Media-Plattformen durchging, fiel mir ein, dass ich auf Facebook bereits mit ihr befreundet war und ihr auf Instagram folgte. Diese Verbindungen hatten wir an unserem gemeinsamen Abend ausgetauscht. Als es hinterher nicht zu einem zweiten Treffen kam, hatte keiner von uns sich die Mühe gemacht, den anderen zu entfreunden oder zu blockieren. Das war zugegebenermaßen reine Eitelkeit – jeder will seine Zahlen aufstocken statt sie schrumpfen zu lassen.

Auf Facebook war Tina nicht sonderlich aktiv gewesen und hatte es anscheinend hauptsächlich genutzt, um den Kontakt mit Familienangehörigen zu pflegen. Ich erinnerte mich, dass ihre Familie aus Chicago stammte. Über die letzten Jahre verstreut gab es mehrere Posts

Danach ging ich auf Instagram, wo Tina deutlich aktiver gewesen war. Dort hatte sie regelmäßig Fotos hochgeladen, auf denen sie allein oder mit Freunden bei allen möglichen Aktivitäten zu sehen war und in deren Bildunterschriften häufig die Aufnahmeorte und die abgebildeten Personen genannt waren. Ich scrollte mich durch die letzten Monate. Tina war einmal in Maui und zweimal in Las Vegas gewesen. Es gab Schnappschüsse von ihr mit allen möglichen Männern und Frauen, darunter viele Fotos aus Clubs und Bars und von privaten Partys. Aus den Aufnahmen wurde ersichtlich, dass Cosmo ihr Lieblingsgetränk war. Ich erinnerte mich, dass sie einen Cosmo in der Hand gehabt hatte, als sie sich an der Bar des Mistral zu mir gestellt hatte.

Obwohl ich wusste, dass sie tot war, wurde ich zugegebenermaßen neidisch, als ich mir die Fotos ihrer letzten Lebensmonate ansah und merkte, wie ausgefüllt und ereignisreich sie gewesen waren. Mein Leben war nicht annähernd so aufregend, und mich überkam eine gewisse Niedergeschlagenheit bei dem Gedanken an ihr Begräbnis, bei dem ihre Angehörigen und Freunde davon schwärmen würden, dass sie ihr Leben in vollen Zügen genossen hatte. Über mich würde das niemand sagen.

Ich versuchte, dieses Gefühl von Unzulänglichkeit abzuschütteln, und rief mir in Erinnerung, dass die sozialen Medien kein Abbild des wirklichen Lebens boten. Die Realität hinter der schönen Fassade sah oft ganz anders aus. Ich scrollte weiter. Der einzige Post

Aus dem Post ging nicht hervor, ob Taylor eine Halbschwester war, die sie aus den Augen verloren hatte und deshalb hatte ausfindig machen müssen, oder ob Tina bis dahin nicht einmal von ihrer Existenz gewusst hatte. Unübersehbar war allerdings die auffallende Ähnlichkeit der beiden Frauen. Sie hatten die gleiche hohe Stirn und die gleichen hohen Wangenknochen, dunklen Augen und dunklen Haare.

Ich versuchte herauszufinden, ob es auf Facebook oder Instagram eine Taylor Portrero gab, landete aber keinen Treffer. Allem Anschein nach hatten Tina und Taylor, falls sie Halbschwestern waren, unterschiedliche Nachnamen.

Nach meinem Ausflug in die sozialen Medien schaltete ich ganz in den Reportermodus und hielt mithilfe verschiedener Suchmaschinen Ausschau nach anderen Informationen über Christina Portrero. Schon bald stieß ich auf die Seite von ihr, die sie in den sozialen Medien nicht zur Schau stellte. Einmal war sie wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet worden und einmal wegen Drogenbesitzes – und zwar von MDMA, besser bekannt als Ecstasy oder Molly, einer Partydroge mit stimmungsaufhellender Wirkung. Die Festnahmen zogen zwei gerichtlich angeordnete Einweisungen in Entzugsanstalten mit anschließenden Bewährungsauflagen nach sich, die sie, um die Vorstrafen aus ihrem Register getilgt zu

Ich war noch immer mit meiner Suche beschäftigt, als mein Handy summte und das Display Nummer blockiert anzeigte.

Ich ging dran.

»Hier Lisa Hill.«

»Ah, gut. Danke, dass Sie anrufen.«

»Sie haben gesagt, Sie wollen einen Artikel schreiben. Für wen?«

Washington PostL.A. TimesNBC