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CHRISTINE BRAND geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat etliche Kriminalromane, mehrere Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer.
Er blickt hinab auf das Grau der Stadt. Regentropfen malen feine Striche in den Himmel und sammeln sich in Pfützen auf den Straßen. Er steht hinter dem Fenster, schemenhaft spiegelt das Glas sein Gesicht. Sorgen zeichnen sich in sachten Falten darin ab. Doch er lässt sich nichts anmerken. Seine Stimme klingt kalt.
»Du weißt genau, dass du mich nicht anrufen sollst.«
»Es ist etwas passiert.«
»Ist dein Anschluss sicher?« Er blickt zum zweiten Mal auf das Display seines Handys; die Nummer des Anrufers ist unterdrückt.
»Mach dir um den Anschluss keine Sorgen. Wir haben ein ganz anderes Problem.«
»Was ist los?«
»Jemand war an meinen Dateien.«
»Bitte was?«
»Jemand war in meinem Computer.«
Ein Spatz setzt sich auf das Balkongeländer und plustert seine nassen Federn auf. Einen kurzen Moment lang blicken sich der Vogel im Regen und der Mann hinter dem Fenster in die Augen.
»Woher weißt du das?«
»Ich habe eine Software installiert, die alle Aktionen auf dem Computer überwacht und dokumentiert. Jemand ist in das System eingedrungen, als ich nicht da war.«
»Und dein Passwort? Du wirst doch wohl ein Passwort haben!« Er spricht plötzlich hektisch.
»Natürlich habe ich ein Passwort. Es wurde geknackt.« Der Vogel fliegt davon. Im Nu verwandelt er sich in einen kleinen Punkt und verschwindet schließlich im farblosen Himmel.
»Wer war es?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Sie?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Wer soll es sonst gewesen sein?«
»Ich weiß es nicht.«
Ein paar Sekunden lang schweigen sich die beiden Männer am Telefon an.
»Lass dich nicht verrückt machen. Vielleicht ist es ein Irrtum, ein Fehler des Programms.«
»Kaum. Wir müssen etwas tun.«
»Etwas tun, etwas tun … Gar nichts können wir tun. Du musst verdammt noch mal besser aufpassen!«
»Was machen wir jetzt?«
»Nichts. Bleibt uns ja auch nichts anderes übrig, als abzuwarten, ob etwas passiert.«
»Ich mache mir Sorgen.«
»Jetzt mach dir nicht gleich in die Hosen! Wir sind sicher. Und ruf mich nicht wieder an, verstanden?«
Er drückt das Gespräch weg und bleibt noch eine Weile hinter dem Fenster stehen. Dann schüttelt er sich, wie es zuvor der Vogel getan hat, als könnte er sich dadurch von dem klammen Gefühl befreien. Es ist alles gut, beruhigt er sich. Nichts wird geschehen.
Wenige Tage später sind beide Männer tot.
Milla Nova bindet sich die Schnürsenkel ihrer Joggingschuhe zum vierten Mal innerhalb von sieben Minuten. Zuerst hat es sich zu eng angefühlt, dann zu locker, dann wieder zu eng, jetzt hat sie das Gefühl, eine Falte in der Socke zu spüren. Aufs Klo sollte sie auch schon wieder. Dabei ist sie dort gerade eben gewesen, zweimal, um genau zu sein. Durchfall! Himmel, ist sie nervös. Als sie sich nach langem Anstehen in der Schlange endlich auf der mobilen Plastiktoilette erleichtert hatte, musste sie sich gleich von Neuem anstellen. In einer von über zwanzig Reihen ungeduldiger Läufer. Milla fürchtete schon, den Start zu verpassen. Jetzt aber steht sie bereit, mitten in der nach Sportöl stinkenden Masse; sie fühlt sich wie ein Rennpferd in der zu engen Startbox. Milla fragt sich, wie sie hier bloß hineingeraten konnte. Es ist ihr erstes Mal: ein Wettrennen über zehn Meilen. »Der schönste Lauf der Schweiz« nennt sich der Grand-Prix von Bern. Milla ist da anderer Meinung. Zu viele Leute hier, denkt sie, zu voll. Wie schön wäre es jetzt, allein durch einen Wald zu rennen. Milla bückt sich und bindet sich die Schnürsenkel erneut.
»Zum fünften Mal!« Sandro Bandini steht neben ihr und blickt kopfschüttelnd auf sie herab. Er lacht.
Milla findet das alles andere als lustig. Sandros fast schon arrogante Lockerheit nervt sie. Es ist seine Idee gewesen, sich gemeinsam für diesen Lauf anzumelden. Sie könnte ihn ohrfeigen dafür – und sich mit dazu, weil sie nicht Nein gesagt hat.
»Du hast mir das Ganze hier eingebrockt!« Milla hört sich an wie ein schmollendes Kind.
»Glaub mir, es ist weniger schlimm, als du denkst.«
In dem Moment schallt die Stimme des OK-Präsidenten Martin Ischer über das Meer aus Köpfen.
»Als Nächstes wird es für den Startblock dreizehn ernst!« Ischer klingt übertrieben fröhlich. Wie einer dieser italienischen Animateure in einem Feriendorf voller deutscher Senioren. »In diesem Startblock darf ich unsere Kripochefin begrüßen, die heute mit ihrem Team durch Berns Gassen rennt. Ein kräftiger Applaus für Lisa Kunz und ihre Polizisten!«
Die Menge klatscht und johlt. Milla blickt sich um.
»Sie rennt in unserem Startblock?«
Lisa Kunz, die große Blonde mit dem aerodynamischen Kurzhaarschnitt, ist Sandros Chefin gewesen, als Milla ihn kennenlernte. Als sie sich nahegekommen und schließlich ein Paar geworden sind. Sie, die TV-Reporterin, und er, der Polizist. Die Umstände, unter denen ihre Liaison begonnen hat, waren – nun, man könnte sagen: unüblich. Sandro hat Milla das Leben gerettet, indem er einen zweifachen Mörder niederstreckte, der hinter ihr her gewesen war. Das hört sich vielleicht übertrieben dramatisch an, ist es aber nicht. Sollte Milla je ein Drehbuch zu einer tränentreibenden Liebesschnulze schreiben, sie könnte ihre eigene Geschichte erzählen. Diese hätte zweifellos das Zeug dazu. Blöd nur, dass Milla romantische Filme nicht ausstehen kann, schon gar nicht solche mit Happy End.
»Lisa kannst du allemal schlagen.« Sandro holt Milla aus ihren Gedanken zurück an den Start. »Und mich sowieso.« Das hätte er nicht anzufügen brauchen. Milla weiß, dass sie schneller läuft als Sandro. Er ist zwar gut gebaut, hat den Oberkörper eines Schwimmweltmeisters, einen wohlgeformten, festen Po, die Oberschenkel eines Radrennfahrers, kurz: eine Statur, die ihn auf den ersten Blick als Polizisten entlarvt. Nur: Mit Muskeln bepackt zu sein, heißt nicht, dass man auch schnell ist; eher umgekehrt.
Milla hingegen ist leicht und flink – und ihrer Meinung nach zu klein geraten. Sie wäre gern mindestens einen Kopf größer und ein wenig kurvenreicher. Aber renntechnisch gesehen ist ihre knabenhafte Figur von Vorteil. Trotzdem: Die durchtrainierte Lisa Kunz mit ihren um mindestens zehn Zentimeter längeren Beinen zu schlagen – das, denkt Milla, das wäre schon was. Zumal Lisa auf ihrer persönlichen Sympathieskala von eins bis zehn nicht auf den ersten neun Rängen zu finden ist.
Auf einmal ist Millas Nervosität verschwunden; sie hat dem Kampfgeist Platz gemacht.
»Ich will Lisa unbedingt schlagen!« Sandro grinst, und Milla schaut sich noch einmal nach der Kripochefin um. Da entdeckt sie sie: Einige Meter vor ihr ragt Lisas unverwechselbarer Blondschopf aus der Menge, und daneben erkennt sie die Rechtsmedizinerin Irena Jundt.
»Siehst du! Das ist der Unterschied zwischen uns. Du und deine Polizisten werden großartig beklatscht, und mich erwähnt kein Schwein.« Irena Jundt wirft theatralisch die Hände in die Höhe. »Dabei habe ich meine Finger meist ebenso im Spiel, wenn du und deine Jungs einen Fall aufklären.«
»Die Finger im Spiel haben; ein treffender Ausdruck!« Lisa lacht. »Das letzte Mal hast du den Täter eigenhändig halb totgeschlagen!«
»Erinnere mich nicht daran!« Irena schaudert noch immer, wenn sie daran denkt, wie sie vor einem Jahr in höchster Not einem psychopathischen Serienmörder siedendes Wasser ins Gesicht geschüttet, ihn niedergeschlagen, überwältigt und damit das Leben einer sehr abenteuerlustigen Journalistin namens Milla gerettet hat.
Die Rechtsmedizinerin Irena Jundt und Lisa Kunz, Chefin des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern, sind fast gleich groß und fast gleich alt, drei- und zweiundvierzig. Ansonsten aber haben sie kaum Ähnlichkeiten. Anders als Lisa trägt Irena ihr Haar lang, und es ist schwarz wie Pech. Sie hat es zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Lisa ist meist braun gebrannt – Irenas Haut wirkt durchsichtig blass, wie jene der Leichen, die bei ihr auf dem Obduktionstisch landen. Lisa hat einen athletischen Körper – Irena die elegante Figur einer Chefsekretärin, die diese Stelle nicht allein aufgrund ihres Könnens erhalten hat.
»Noch eine Minute bis zum Start!«, ruft OK-Präsident Ischer so laut ins Mikrophon, dass er gar keines brauchen würde. Irena hüpft nervös von einem Bein aufs andere und nestelt an ihrem BH-Träger herum. Lisa klaubt ihr iPhone aus der Rückentasche des Laufshirts.
»Du nimmst dein Handy mit?«
»Ich kann es mir nicht erlauben, anderthalb Stunden lang nicht erreichbar zu sein.« Lisa blickt auf das Display.
»Eine Nachricht von Marc. Er fragt, wie viele von uns nach dem Lauf zum Apéro kommen, er bereitet gerade die Häppchen zu. Wie viele sind wir denn?«
»Du scheinst wirklich unabkömmlich zu sein!« Irena lacht. »Ich glaube, sieben. Sechs oder sieben.«
»Noch zwanzig Sekunden!«, ruft Ischer.
Lisa tippt rasch eine Antwort in ihr Handy, drückt auf Senden und verstaut es wieder in ihrer Rückentasche.
»Vier, drei, zwei, eins!«, zählt der OK-Präsident. Ein Schuss knallt. Irena zuckt zusammen. Dann rennen sie los.
»Viel Glück!«, ruft Milla nach dem Startschuss Sandro zum Abschied zu. Sie denkt nicht daran, sich seinem Tempo anzupassen, schließlich will sie schneller sein. Sandro sieht den dunklen Lockenkopf seiner Freundin noch kurz von hinten, dann ist sie im Getümmel der Läufer verschwunden. Sie rennt, als wäre der Teufel hinter ihr her – oder eher: sie hinter ihm.
Ich erinnere mich, wie ich die Augen aufschlug. Nicht zö- gernd und blinzelnd wie nach einem tiefen Schlaf. Sondern wie eine Puppe, die man von der horizontalen in die vertikale Lage kippt. Ich blickte an die Decke über mir. Sie war mir fremd. Gipsplatten mit symmetrisch angeordneten Löchern. Ich begann sie zu zählen. Alles war besser, als mich damit zu beschäftigen, wo ich mich befand. Zweiundzwanzig Löcher auf der einen Seite, zweiundzwanzig auf der anderen. Vierhundertachtundvierzig Löcher pro Gipsplatte. Nur nicht denken müssen. Ich wollte nicht einmal versuchen, mich zu erinnern. Dann zählte ich die Vorhangringe. Sechsundfünfzig. Pastellgrüne Vorhänge. Um mich herum zugezogen. Um mich und mein Bett herum, das nicht meines war. Schließlich drangen Geräusche in mein Gehirn vor. Das Piepen und Schnauben der Apparate, einige direkt neben mir, andere hinter den Vorhängen. Noch heute könnte ich die verschiedenen Tonhöhen nachsingen. Ich erinnere mich an jedes Detail. So, als hätte ich dieses Erwachen nicht einmal, sondern immer und immer wieder erlebt. Der Geruch der Bettwäsche nach Limetten und Javelwasser. Das gebrochene Licht, das sich dumpf in den Raum hineinstahl. Das versteckte Geräusch von Schritten irgendwo weit weg. Ein schleppendes Atmen, näher, als mir lieb war. Ich wusste weder, wo ich mich befand, noch, was mit mir geschehen war. Ich wollte es gar nicht wissen. Doch mein Verstand ließ mich nicht länger leugnen, dass etwas passiert sein musste.
Die Panik kam, als ich mich umdrehen wollte. Sie füllte meinen ganzen Körper aus. Als hätte ihn jemand ausgekratzt und die Panik in ihn hineingegossen. Ich wollte mich auf die andere Seite wälzen, doch meine Beine rührten sich nicht. Ich meinte zu fühlen, dass eines angewinkelt war, versuchte nun, beide durchzustrecken. Nichts passierte. Mein Herz schlug schneller, dehnte sich aus in meinem Brustkorb, der plötzlich zu eng war. Schweiß trat auf meine Stirn. Mit meinen Beinen stimmte etwas nicht. Ruckartig zog ich mich am Haltegriff hoch, der über mir hing wie ein Galgen, und blickte auf sie hinab. Fast erwartete ich, dass sie nicht mehr da waren. Doch da lagen sie, beide ausgestreckt. Sie zeichneten sich unter dem Leintuch ab wie zwei sorgfältig ausgerichtete Holzpfosten. Erneut versuchte ich, sie zu bewegen. Nichts. Je stärker ich mich darauf konzentrierte, je mehr ich mich bemühte und dennoch nichts geschah, desto erstickender wurde das Grauen. Ich warf meinen Oberkörper hin und her. Schmerzen durchfuhren mich wie die Blitze eines Gewittersturms. Trotzdem wollte ich strampeln und zappeln – aber die Beine regten sich nicht. Eine Pflegerin kam angerannt. Sie versuchte, mich zu beruhigen, was ihr nicht gelang. Da setzte sie mir eine Spritze.
Doch meine Ahnung ließ sich nicht mit einem Beruhigungsmittel wegspritzen; die Ahnung, dass es fortan in meinem Leben ein Davor und ein Danach geben sollte. Und dass im Danach nichts mehr so sein würde wie im Davor.
Später sagte meine Mutter zu mir: »Der elfte August ist für mich dein zweiter Geburtstag. Weil du an diesem Tag nicht gestorben bist.« Heute weiß ich, dass ich an diesem Tag vor fünfzehn Jahren doch gestorben bin. Der Mensch, der ich einmal war, ist nicht mehr da. Heute wünschte ich, der Tod hätte mich damals erlöst. Alles ist besser als dieses Dahinsiechen meiner Seele. Sie stirbt auf Raten.
Irena Jundt blickt zu Lisa Kunz hinüber, die locker neben ihr hertrabt. Bei ihrem Laufstil sieht Joggen überhaupt nicht anstrengend aus. Irena selbst hat, kaum gestartet, bereits das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Das kann ja heiter werden. Links und rechts der beiden Frauen ziehen Läufer vorbei, es geht abwärts Richtung Bärengraben, die meisten rennen in einem Tempo, als gälte es, einen Hundertmeter- und nicht einen Zehnmeilenlauf zu bewältigen. Am Straßenrand steht das Publikum dicht gedrängt, die Zuschauer schwingen Rasseln und jubeln, wohl vom Glück beseelt, dass sie sich diese Tortur nicht antun müssen.
»Bei dieser Geschwindigkeit werde ich nicht lange mithalten können.« Irena keucht.
Lisa atmet nicht mal laut. Es scheint, als wäre sie in Gedanken weit weg.
»Lisa, ich kann nicht so schnell, lauf nur zu!«
»Okay. Ich bin dann mal weg. Wir sehen uns im Ziel.« Lisa erhöht ihr Tempo, und Irena fällt sofort zurück.
Für Lisa Kunz ist das Rennen Routine. Sie läuft den Grand-Prix zum siebzehnten Mal und kennt die Strecke in- und auswendig. Auf der Monbijoubrücke, kurz nach Kilometer zehn, wird sie ihre Krise haben, wie jedes Mal, auf der Höhe des Kocherparks wird sie noch einmal aufdrehen können, wie immer, und am steilen Aargauerstalden, wo die meisten völlig einbrechen, wird sie zu einem Schlussspurt ansetzen, wie üblich. Und trotzdem ist in diesem Jahr alles anders. Bei den früheren Läufen freute sie sich jeweils schon Tage vorher auf den Start, doch heute ist sie überhaupt nicht bei der Sache. Lisa Kunz läuft wie in Trance, ihr Körper hat den Autopiloten eingeschaltet, die Beine funktionieren wie ein gut geschmiertes Motörchen. Den Trubel um sich herum nimmt sie überhaupt nicht wahr. Hundert Gedanken wälzen sich durch ihren Kopf. Sie hat keine guten Zeiten hinter sich, weder beruflich noch privat. Nicht, dass sie sich das hat anmerken lassen. Sie ist kein Mensch, der wegen jedem Problem eine Schulter zum Ausheulen sucht. Auch dieses Mal wird sie das allein wieder hinkriegen. Das weiß sie. So ist es immer gewesen. Sie darf bloß keine Fehler machen. Dann wird alles gut.
Als Lisa ins erste Flachstück einbiegt, überholt Milla gerade Irena Jundt und winkt ihr kurz zu. Sie fliegt jetzt. Zumindest hat sie das Gefühl zu fliegen; die Rathausgasse hinab Richtung Mattequartier rennen ihre Beine wie von selbst. Kaum am Aareufer angekommen, werden sie jedoch plötzlich schwer. Jedes einzelne scheint fünf Kilogramm zugelegt zu haben. Jetzt, denkt Milla, müsste eigentlich Schluss sein. Dabei ist sie gerade an einer gelben Tafel vorbeigerannt, auf der hämisch eine Fünf prangte … Erst fünf Kilometer! Das ist nicht einmal ein Drittel der gesamten Strecke. Doch es kommt noch schlimmer: Wenige Meter vor sich erkennt sie Lisa Kunz, die völlig entspannt joggt und noch kein bisschen müde zu sein scheint. Milla gibt sofort wieder Gas, denn sie weiß: Wenn sie Lisa jetzt aus den Augen verliert, hat sie sie bei diesem Rennen zum letzten Mal gesehen. Im gleichen Moment verspürt sie einen Stich im rechten Knie. Wieso das Knie?, fragt sie sich. Mit dem Knie hat sie doch noch nie Probleme gehabt. Bitte nicht jetzt! Sie versucht, den Schmerz zu ignorieren. Sie will ihn wegdenken, als würde er dadurch von selbst verschwinden.
Das Publikum steht dort am dichtesten, wo die Läufer am meisten leiden. Auch Nationalrat Konrad Sutter sieht sich das Rennen bei der Schlusssteigung am Aargauerstalden an. Er hat sich in der ersten Reihe am Straßenrand platziert. Trotz des herrschenden Gedränges halten die Personen um ihn herum einen Höflichkeitsabstand ein – er wirkt wie ein Schauspieler inmitten seiner Fans. Sutter gehört zu jener Sorte Mann, bei der allein aufgrund der Ausstrahlung klar ist, dass es sich um eine wichtige Person handelt. Als Lisa Kunz an ihm vorbeirennt, streift ihr Blick zufällig seine wasserblauen Augen. Er nickt ihr anerkennend zu, schaut auf ihre Startnummer, auf der ihr Name steht, und ruft: »Hopp, Lisa!« Das reißt sie kurz aus ihren Gedanken. Sie kennt das Gesicht, doch ihr fällt kein Name dazu ein. Dann ist sie schon ein paar Meter weiter, und der Schönling mit dem stahlhellen Blick verschwindet aus ihrem Sinn.
Milla kann nicht mehr. Es gibt nichts in ihrem Körper, das nicht schmerzt. Luft kriegt sie auch kaum mehr, das Geräusch ihrer Lunge erinnert sie an das Pfeifen eines Dampfkochtopfs. Da hört sie, dass vor ihr jemand Lisas Namen ruft. Sie blickt ins Publikum und erkennt den Mann sofort: Nationalrat Sutter. Welch Zufall, denkt sie. Übermorgen hat sie einen Interviewtermin mit ihm. Sie hatte ihn schon einige Male vor der Kamera, als er noch Zürcher Justizdirektor war. Seit den letzten Wahlen sitzt er nun für die Grünliberalen im Nationalrat. Gäbe es im Bundeshaus eine Wahl zum schönsten Parlamentarier, er würde mit Abstand gewinnen – nach ihm kommt lange nichts mehr. Fürs Fernsehen ist Sutter daher perfekt geeignet; egal, was er sagt, er kommt gut rüber. Milla wundert sich, weshalb er im Publikum steht, statt selber zu laufen, wo er doch seine Sportlichkeit stets so gerne hervorhebt.
Sie blickt wieder nach vorn. Lisa hat ihren Vorsprung ausgebaut. Milla flucht innerlich, will sich nicht abhängen lassen, nicht jetzt, wo sie so kurz vor dem Ziel sind. Sie versucht noch einmal, alles zu geben. Einen Moment lang glaubt sie, Lisa einholen zu können. Sie ist in Rufweite. Doch Milla schafft es nicht; Lisa läuft vor ihr über den roten Teppich ins Ziel.
Als Milla nach der Ziellinie anhält, glaubt sie, sich übergeben zu müssen. Sie wäre sogar froh darüber, nichts kann übler sein als diese Übelkeit. Doch es geht nicht. Kraftlos setzt sie sich mitten im Getümmel auf den Boden. Ihre Enttäuschung ist riesig, so hat sie sich das nicht vorgestellt. Was für ein Krampf! Und alles vergebens.
Ein Schatten senkt sich über sie. Milla blickt hoch. Die Sonne blendet. Schützend hält sie sich die Hand über die Augen. Vor ihr steht Sandro. Zufrieden sieht er aus. Sein Kopf ist nicht mal rot.
»Na, habe ich recht gehabt? Ist es nicht ein großartiges Gefühl, hier ins Ziel zu laufen?«
Milla gibt ein Geräusch von sich, das wie ein Grunzen klingt.
Ich weiß, dass ich es lassen sollte. Aber es geht nicht.
Vor der Tür schlägt mir eine Hitze entgegen, als hätten wir schon Sommer. Mir ist eigentlich alles lieber als Regen. Schirme sind nichts für mich; keine Hand frei. Also werde ich, wenn’s regnet, immer nass. Doch jetzt bin ich viel zu warm angezogen, und ich habe nicht den Nerv, noch einmal umzukehren. Bei meiner Langsamkeit würde ich zu viel Zeit verlieren. Dieses Mal entscheide ich mich für den Starbucks beim Waisenhausplatz, dahin ist es nicht weit.
In der Stadt erwartet mich das Chaos. Da muss etwas Besonderes los sein. Beim Anblick der vielen nackten Beine, die in knalligen Turnschuhen stecken, fällt mir ein, dass heute dieser Lauf stattfindet. Was für ein schlechtes Timing. In dem Gedränge gibt es kaum ein Durchkommen für mich. Ich rette mich in den Starbucks wie auf eine Insel im stürmischen Ozean. Nur ist diese Insel bereits voll besetzt. Aber das macht nichts; so fällt niemandem auf, dass ich nichts bestelle. Ich will hier schließlich nur ins Internet, und einen Stuhl habe ich ja immer dabei … Ich angle meinen Laptop aus dem Rucksack, der an der Lehne meines Rollstuhls hängt, klicke das WLAN an und logge mich ein.
Die kleinen Gemeinheiten sind längst mehr als ein Ritual, sie sind meine Therapie. Ich öffne eines der E-Mail-Konten, von denen niemand weiß, dass sie mir gehören. Mir fällt immer etwas ein, das ich ihm schreiben kann. Kurze Nachrichten. Zweideutige Botschaften. Und Angst machen müssen sie ihm. Ich stelle mir dann immer sein Gesicht vor, wenn er sie liest. Manchmal fürchte ich, dass er mich nicht ernst nehmen könnte. Oder dass er die Nachrichten ungelesen löscht. Hoffentlich nicht. Er hat zu viel Schuld auf sich geladen, um gelassen zu bleiben. Er hat meinem früheren Leben ein Ende gesetzt.
Ich weiß noch, dass es Wochen dauerte, bis ich damals wirklich erfassen konnte, was mit mir geschehen war. Und was »das Unglück«, wie es meine Mutter fortan nannte, für meine Zukunft bedeutete. Ich musste die Wahrheit erst zulassen. Als ich so weit war, reagierte ich anders, als ich es von mir erwartet hätte. Wahrscheinlich ist das so mit unvorstellbaren Situationen – dass man im Voraus nicht mal erahnen kann, wie man damit umgeht, sollte es tatsächlich einen selbst betreffen. Man geht ja sein Leben lang davon aus, dass es immer nur die anderen trifft. Natürlich ist man sich bewusst, dass das Schicksal anklopfen kann, und zwar jeden Tag an jede Tür. Trotzdem glaubt man, dass es, wenn überhaupt, die Tür des Nachbarn sein wird. So funktioniert Selbstschutz: Wir verdrängen die allgegenwärtige Gefahr, damit wir unser Dasein besser ertragen. Damit die durchaus berechtigte Angst, die einem das Leben machen kann, uns ebendieses Leben nicht kaputtmacht.
Nun, ich wurde eines Besseren belehrt. Es klopfte an, das Unheil, und zwar bei mir. Ich war einundzwanzig Jahre, sieben Monate und elf Tage alt. Als ich – gemäß Definition meiner Mutter – meinen zweiten Geburtstag hatte. Als ich – wie ich es nenne – in meinen persönlichen Abgrund blickte, in dem ein Gefühl lauerte, das ich bis dahin nicht gekannt hatte: der Hass. Am Anfang habe ich ihn nicht bemerkt. Er war noch winzig klein, doch er sollte wachsen. Ich habe das nicht gewollt. Hätte ich es zu verhindern gewusst, ich hätte es getan. Ich würde einen hohen Preis zahlen, um es ungeschehen zu machen. Doch leider ist eine Seele nicht käuflich. Wenn ich etwas gelernt habe in den letzten Jahren, dann ist es, dass sich Gefühle nicht mit dem Verstand steuern lassen. Das ist ernüchternd. Und das macht mir Angst. Ich fürchte, dass ich die Kontrolle über mich irgendwann noch ganz verliere.
Ich öffne eine neue Nachricht. Der Cursor blinkt in der weißen Leere, die darauf wartet, mit Worten gefüllt zu werden. Meine Finger finden die richtigen Tasten. Sie schreiben sich meinen Hass von der Seele und machen mich ein bisschen freier. Ich drücke auf Senden. Mit freundlichem Gruß an den widerlichen Empfänger.
Lisa Kunz sitzt am Steuer des Polizeitransporters. Sie teilt sich die Führerkabine mit Irena Jundt, ihre Mannschaft hat sich auf die zwei Sitzbänke links und rechts an den Seitenwänden des Kastenwagens fallen lassen. Ein Metallgitter trennt die beiden Frauen vom Team. Normalerweise sitzen die Polizisten in Vollmontur in diesem Wagen. Jetzt tragen die Männer und Frauen der Abteilung Leib und Leben nass geschwitzte Trägershirts und Jogginghosen. Über ihnen hängt ein Duftgemisch aus Schweiß und Eukalyptus, und sie plaudern munter durcheinander.
»Ich habe meine Wette gewonnen! Winter, du schuldest mir sechs Flaschen Wein!«, ruft Bettina Flückiger übermütig. Sie stupst ihren Kollegen in die Rippe. »Das kommt davon, wenn man Frauen unterschätzt!«
Felix Winter liegt ein Spruch auf der Zunge, doch er schluckt seine Bemerkung hinunter. Gerne würde er Bettina sagen, dass er sich unter dem Begriff »Frau« etwas anderes vorstellt als diesen Kerl von einem Weibsbild, das da vor ihm sitzt. Aber das ist ein wunder Punkt, er weiß das, und wunde Punkte sind bei Frauen zu meiden, sonst werden sie gefährlich. Bettinas Gesichtszüge sind burschikos, ihre Augenbrauen sehen aus wie kleine Türvorleger, die Wangen sind voll und stets etwas rötlich gefärbt, ihre Augen kugelig. Die knapp Dreißigjährige erinnert Winter an eine Schweizer Abfahrtsskirennfahrerin, die in den achtziger Jahren erfolgreich war und einen Tessiner Namen trug, der ihm partout nicht einfällt. Ihre Kollegen nennen Bettina mitunter scherzhaft »das Hirn« oder »unsere Festplatte«, weil sie das wandelnde Lexikon des Teams ist. Auch taff ist sie, kräftig wie ein Mann. Und: Die zehn Meilen rennt sie sieben Minuten schneller als er. Die verlorene Wette ärgert Felix Winter maßlos.
»Ich fürchte, ich habe nicht dich unterschätzt, sondern mein Alter. Warten wir’s ab, wie schnell du in zwanzig Jahren bist.«
»Ach, komm schon, altersmäßig liegen doch bloß zwei Pünktchen zwischen uns«, kontert Bettina.
Winter zuckt mit den Schultern, er kann nicht folgen.
»Du bist Kategorie Ü50, ich bin U50.«
Jetzt muss Felix Winter lachen. Trotz der Niederlage, die mehr schmerzt, als er zugeben würde. Noch bis vor einer Stunde war er überzeugt, der Sportlichste seiner Abteilung zu sein. Jetzt ist er teamintern nur gerade auf dem dritten Platz gelandet, geschlagen von seiner Chefin und von Bettina. Ausgerechnet von zwei Frauen. Die Zeiten ändern sich. Winter ist der Dienstälteste im Team, ein unauffälliger, aber solider Fahnder, der auch als Servicemonteur, Lehrer oder Steuerberater durchgehen würde. Das einzige Außergewöhnliche an ihm ist seine Nase, deren Volumen jede Norm sprengt.
Gegenüber von Bettina Flückiger und Felix Winter sitzt Meret Knabenhans. Sie ist noch nicht lange dabei, knapp ein Jahr wird es nun wohl her sein, seit sie die Nachfolge von Sandro Bandini angetreten hat, der nach einem Streit mit Lisa Kunz von einem Tag auf den andern zur Bundespolizei wechselte. Meret hat zuvor bei der Drogenfahndung gearbeitet. Dort hielt sie es nicht länger aus, weil sie zu viele ihrer »Klienten« wegsterben sah; sie hatte immer mit denselben Junkies zu tun, man kannte sich mit der Zeit – bis sie jeweils gerufen wurde, weil wieder einer von ihnen nach einer Überdosis tot aufgefunden worden war.
Meret ist gerade dabei, aus ihrem rechten Schuh zu schlüpfen.
»Mein Fuß braucht Luft«, sagt sie zu Ramon Fink, der neben ihr sitzt und sich demonstrativ die Nase zuhält.
Sie zieht auch gleich die Socke aus. Zum Vorschein kommt eine blutunterlaufene Blase von der Größe einer Fünffrankenmünze.
»Hoppla«, lautet Ramons Kommentar.
Er ist kein Freund der vielen Worte. Aber er sieht verboten gut aus. So gut, dass sich auf der Hauptwache hartnäckig das Gerücht hält, er sei schwul. Was natürlich keiner laut ausspricht. Schwul und Polizist zu sein, ist noch immer ein Tabu. Meret, die selbst noch nicht so recht entschieden hat, welches Geschlecht sie attraktiver findet, ist das egal. Sie weiß, dass sie im Notfall auf Ramon zählen kann, immer und überall, und das ist das Wichtigste in diesem Job.
Während im hinteren Teil des Wagens die Kollegen darum wetteifern, wer wo auf der Laufstrecke am meisten gelitten hat, steuert Lisa Kunz den Transporter auf den Kiesplatz vor ihrem Haus in Krauchthal. Als sie vor sechs Jahren die Leitung des Dezernats Leib und Leben übernommen hatte, zog sie mit ihrem Mann Marc in das ehemalige Bauernhaus am Dorfrand, ein alter Riegelbau, den sie umgebaut haben. Erst, als damals der letzte Lieferwagen weggefahren war, realisierte Lisa, dass sie von hier eine hervorragende Aussicht auf den Thorberg hat. Dort oben, wo einst ein Kloster stand, liegt heute das bestgesicherte Gefängnis des Kantons Bern. Auf dem Thorberg sitzen die schweren Jungs, die übelste Verbrechen begangen haben – nicht wenige von ihnen hat Lisa selbst hinter Gitter gebracht. Nur gut, dass keiner von ihnen weiß, dass dies hier ihr Zuhause ist.
»Da wären wir!«, ruft Lisa laut. »Wer will, kann unsere Dusche benutzen. Aber bitte nicht drängeln.«
Lisa steigt aus und geht voran. Vor der Haustür hält sie inne. Vier Einmachgläser stehen auf dem Fußabtreter; sie sehen aus, als würden sie auf Lisa warten.
»Von unserer Nachbarin Schenk«, erklärt sie, während sie sich bückt und Irena zwei Gläser reicht, bevor sie die anderen zwei in die Hände nimmt und mit dem Ellenbogen die Klinke hinunterdrückt. »Sie ist Überselbstversorgerin und versorgt darum auch noch uns grad mit.«
»Ist doch praktisch«, meint Irena. »Und sie hat einen passenden Namen: Schenk schenkt.«
Als Irena hinter Lisa die Wohnung betritt, schaudert sie leicht. Es ist ein Gefühl, das sie bestens kennt und überhaupt nicht hierher passt. Sie verbindet es mit Orten, an denen Schlimmes geschehen ist. Mit Tatorten. Es ist ihr Instinkt, der ihr jeweils ins Ohr flüstert, dass etwas falsch ist; wie wenn man ein Bild anschaut und weiß, dass etwas fehlt, aber man kommt nicht drauf, was es ist. Manchmal löst auch ein Geruch diese Empfindung aus. Oder eine Tür, die offen steht, obwohl sie geschlossen sein müsste. Und manchmal hat sie keine Ahnung, weshalb sie dieses Gefühl befällt. So wie jetzt. Irena schüttelt es ab. Innerlich schimpft sie mit sich selbst, weil sie so sehr von ihrem Beruf vereinnahmt ist, dass sie niemals abschalten kann, nicht einmal wenn sie bei einer Freundin auf Besuch ist. Eine Dreiviertelstunde und einige Duschgänge später hat sich die schweißdurchtränkte Läufergruppe in eine wohlriechende Apérogemeinschaft verwandelt. Lisa hat im Garten Tisch und Festbank aufgestellt. Es ist zwar erst Mitte Mai, aber wie so oft in letzter Zeit scheint sich die Jahreszeit um einige Monate vertan zu haben: Es fühlt sich an wie Sommer. Gemeinsam mit Irena trägt Lisa die letzten belegten Brötchen hinaus, schenkt Eistee und Prosecco ein.
»Die Brötchen sind von Marc«, sagt Lisa.
Auch wenn mit den Jahren in einer Beziehung vieles, oft zu vieles, ganz anders wird – manche Dinge ändern sich nie: Die Küche war vom ersten Moment an Marcs Refugium, und sie ist es bis heute geblieben. Lisa hingegen hält sich von diesem Teil der Wohnung möglichst fern; sie fühlt sich darin wie ein Fremdkörper.
»Genau, wo steckt Marc eigentlich?« Winter schiebt sich ein Lachsbrötchen in den Mund und grummelt anerkennend.
»Marc? Eigentlich sollte er zu Hause sein.« Lisa sagt es, ohne aufzublicken. »Aber wahrscheinlich musste er noch einmal weg.«
Die Kripochefin hält knapp fünfzig Minuten durch, ohne ein berufliches Thema anzusprechen. Länger geht nicht. Ihre Leute hätten ihr nicht mal das zugetraut. Auf jeden Fall folgt dann doch noch, womit alle längst gerechnet haben: Sie kommt auf die anhängigen Ermittlungen zu sprechen. Auf den Fund eines toten Säuglings in einem Stauwehr; von der Mutter fehlt jede Spur. Auf das Tötungsdelikt vor einem Bordell im Berner Seeland, bei dem sie den mutmaßlichen Täter nur wenige Stunden später erwischt haben. Was aber nicht heißt, dass die Akte schon geschlossen werden kann, denn vor Gericht sind stichhaltige Beweise nötig. Und schließlich thematisiert Lisa die Fahndung nach dem Lebenspartner einer jungen Frau, die nachts um zwei im Berner Nordquartier schwer verletzt und schreiend aus ihrer Wohnung geflüchtet war und an der nächstgelegenen Bushaltestelle starb. Sind Frauen oder, schlimmer noch, Kinder die Opfer von Gewalttaten, kann sie ihre Wut noch immer nicht unterdrücken. Es macht sie jedes Mal rasend. Doch Wut hilft nicht beim Ermitteln, Hass auf die Täter ist ein schlechter Ratgeber. Und trotzdem kann Lisa diese Gefühle kaum bändigen. Stets ist sie darum bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
»Das Tötungsdelikt im Berner Nordquartier …«, wirft Winter ein, »… ist es ausgeschlossen, dass jemand anderes als ihr Freund der Täter ist?«
»Nun, er ist seit der Tatnacht verschwunden«, meint Meret. »Ich finde, das ist ziemlich eindeutig.«
»Aber Augenzeugen gibt es nicht. Keiner konnte den Täter beschreiben«, erwidert Ramon.
»Wir suchen den Richtigen, wenn wir den Lebenspartner suchen«, sagt Lisa Kunz knapp. »Moment, ich muss rasch was holen.«
Sie begibt sich in den ersten Stock, wo Marcs und ihr eigenes Schlafzimmer liegen und wo sie auch ein Büro eingerichtet hat.
Irena ist gerade dabei, noch eine Runde Prosecco auszuschenken, als ein Schrei die friedliche Stimmung zerfetzt. Die Proseccoflasche entgleitet Irena, fällt auf den Tisch, rollt über die Kante und zerbricht mit einem Knall auf dem Boden.
»Lisa!«
Ich klappe meinen Laptop zu und entfliehe dem Tohuwabohu in der Innenstadt, das die Passanten und Läufer verursachen. In meinem Leben davor habe ich die Stimmung geliebt, die rund um einen Wettkampf wie dem Grand-Prix herrscht. Das leichte Vibrieren der Luft, die Aufregung, die vom einen auf den anderen überspringt, das bizarre Gefühl, zusammenzugehören, obwohl die Einsamkeit des Läufers in der Masse unendlich sein kann. Heute hasse ich es, alles, die vielen Menschen, das ganze Brimborium. Weil ich nie mehr dazugehören werde. Nichts grenzt mich mehr aus. Nichts hält mir deutlicher vor Augen, was aus meinem Körper geworden ist.
Zehn Meilen rennen … Für mich ist schon die allmorgendliche Waschprozedur zum Ausdauertraining geworden. Jeder Griff ein Kraftakt, sodass ich bereits müde bin, bevor ich mich auf den Weg ins Büro machen kann. Ich, die ich nie in einem Büro arbeiten wollte. Mein Halbtagsjob im Weiterbildungszentrum des WWF ist geprägt von Routineaufgaben. Kursanmeldungen bearbeiten, Diplome ausstellen, die Buchhaltung prüfen, den Newsletter verschicken, Adressen aktualisieren, Kursräume vermieten, Rechnungen ausstellen. Mein Leben setzt sich zusammen aus Tagen, die dem gestrigen und dem vorgestrigen gleichen wie ein eineiiger Zwilling dem andern. Die Langeweile hat mich fest im Griff und gibt mir dennoch den einzigen Halt. Immerhin mache ich das alles nicht nur für Geld, sondern auch ein bisschen für einen guten Zweck. Das rede ich mir zumindest ein; es ist das letzte Quäntchen Idealismus, das mir geblieben ist. Lieber beim World Wildlife Fund meine Stunden absitzen als in einer Bank oder, schlimmer noch, in einer Behindertenwerkstätte.
Das »Unglück« ist mir zu einem Zeitpunkt widerfahren, als der Plan, wie das Leben auszusehen hat, noch nicht unabänderlich feststand. Natürlich hatte ich Träume. Ich wollte unbedingt eine Familie haben, am liebsten drei Kinder, drei Jungs. Vielleicht sogar ein Haus mit Garten, mit Slackline und Hängematte zwischen den Bäumen. Katzen hätten wir auch gehabt und einen Deutschen Schäferhund. So habe ich mir das in etwa vorgestellt. Davor. Auch wenn das nicht gerade abenteuerlich klingt. Aber wünschen sich das nicht alle irgendwie? Eine eigene Familie? Menschen, bei denen man sich zu Hause fühlt?
Ich habe niemanden mehr. Mein Vater starb, als ich so klein war, dass ich mich nicht an ihn erinnern kann. Meine Mutter ist vor zwei Jahren von uns gegangen. Krebs.
Der Tod hat sich deinen Körper geholt. Aber dich kriegt er nie, habe ich in ihrer Todesanzeige geschrieben. Obwohl ich nicht wirklich daran glaube, nicht mehr. Früher dachte ich, wenn man fest an jemanden denkt, lebt die Person in der Erinnerung weiter. Ich habe nicht bedacht, dass die Erinnerung verblasst. Zwei Jahre sind es erst, seither, und meine Mutter ist schon unendlich weit weg. Ich kann mir nicht mal mehr ihre Stimme vorstellen. Auch den Klang ihres Lachens habe ich vergessen. Ich schäme mich dafür. Der Tod hat sie letztlich doch ganz gekriegt.
Er hat für mich alles verändert. Mit ihrem Tod wurde etwas in mir ausgeschaltet, ein Hebel umgestellt, keine Ahnung. Seither geschieht es mit mir. Ohne dass ich mich dagegen wehren kann.
Dabei hatte ich damals, kurz nach dem »Unglück«, die Hoffnung, dass doch noch alles gut wird. Zwei Wochen lag ich im Spital, danach kam ich in die Rehaklinik. Mein ganzes Ich ein einziges Wrack. Ich hatte weder meinen Körper noch mein Denken unter Kontrolle. Es gab Tage, da funktionierte ich so verlangsamt wie eine Kampftrinkerin, kurz bevor sie ins Koma fällt.
Doch der Chefarzt meinte, dass ich wieder ganz gesund werden könne. Also habe auch ich daran geglaubt. Ich war bereit zu kämpfen. Leider hat er sich geirrt. Es gab keinen Weg zurück.
Ich ließ mich umschulen. Fand sogar diesen Job beim WWF, der sich offenbar nicht nur bedürftiger Tiere, sondern auch verkrüppelter Menschen annimmt. Ich verdiene damit genug, um meine Parterrewohnung im Breitenrain zu zahlen, mir ein Auto zu leisten und bescheiden leben zu können. Mir stünde zudem ein Beitrag der Invalidenversicherung zu, den ich aber verweigere. Ich kann Mitleid nicht ausstehen. Mitleid ist herablassend. Wer mich bemitleidet, den verachte ich.
Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ich keine Freunde habe. Keine wirklichen jedenfalls. Ich ertrage sie nicht. Immer wollen sie helfen, nie bin ich ihnen ebenbürtig. Nicht im realen Leben. Freunde muss ich mir anderswo suchen. Wenn man niemanden hat, ist das Internet ein Segen. Darum habe ich zu chatten begonnen. In Chatforen, auf Online-Partnervermittlungsseiten. Im Chat bin ich wie alle anderen. Mehr noch: Im Chat bin ich beliebt. Ich konnte es schon immer gut mit Worten. Es gelingt mir, mein wahres Ich hinter wohlformulierten Sätzen zu verstecken. Viele finden mich sogar witzig. Wie sie sich irren! Sie verwechseln meinen Sarkasmus mit Humor.
Milla hat Lust auf Sex. Das hat sie immer nach dem Joggen. Sie blickt zu Sandro, der ihr gegenüber am Tisch an der Sonne sitzt, aber sich keine derartigen Gedanken zu machen scheint. Stattdessen drückt er auf seinem Handy herum. Das ist sowieso eine seiner Hauptbeschäftigungen, denkt Milla mit einem Anflug von Ärger. Doch sie wischt ihn weg; sie weiß, dass sie ungerecht ist.
»Ich hol uns noch was.« Mit einem Ruck steht Milla auf, um drinnen an der Theke des Adrianos ein drittes Bier für Sandro und einen zweiten gespritzten Weißwein für sich zu bestellen. Die Café-Bar Adrianos beim Zytgloggeturm in Berns Altstadt ist das Stammlokal der beiden. Das war schon so, bevor sie zusammen waren, und daran hat sich nichts geändert.
Milla weiß, dass sich Sandros früheres Team in diesem Moment bei Lisa zu Hause zum Apéro trifft, und sie kann sich vorstellen, dass er gerne mit von der Partie gewesen wäre. Manchmal bedauert er immer noch, nicht mehr dazuzugehören. Milla ist es allerdings gerade recht, dass Sandro heute nicht mit seinen Kollegen, sondern mit ihr unterwegs ist. Ihre persönliche Niederlage im Zweikampf gegen Lisa Kunz hat sie weggesteckt. Es ist ihr nun sogar ein wenig feierlich zumute, nach dem Lauf durch die Gassen an diesem sommerlichen Frühlingstag. In der Stadt kehrt zwar bereits wieder Normalität ein, nachdem wegen des Volkslaufs viele Straßen für den Verkehr gesperrt waren, doch die Partylaune ist irgendwie hängen geblieben.
Als Milla mit den Getränken in den Händen wieder hinaus in die Sonne tritt, ahnen weder sie noch Sandro, dass fünfzehn Kilometer nordöstlich von ihnen nicht wie geplant eine gemütliche Gartenparty steigt – sondern dass in Lisas Haus in diesem Augenblick die Welt aus dem Tritt gerät.
Milla stellt Sandro das Bier hin.
»Danke«, sagt er, ohne von seinem Handy aufzublicken.
»Auf unseren Lauf!«, prostet Milla ihm zu.
»Ich fürchte, ich muss noch ins Büro.«
Das ist nicht die Antwort, die sich Milla gewünscht hat.
»Ach!« Zehn Sekunden lang spielt sie die Beleidigte. Tatsache aber ist, dass sie diese Situation nur zu gut von sich selber kennt. Auch sie lässt für ihren Job immer alles stehen und liegen, wenn sich ihr eine gute Story bietet oder sich die Gelegenheit für einen spannenden Dreh ergibt. Sie ist nicht einfach Reporterin von Beruf – Reporterin zu sein, ist ihr Leben. Seit sie beim Schweizer Fernsehen arbeitet, kann sie sich an keinen Tag erinnern, an dem sie nicht an ihren Job gedacht hätte, an dem sie nicht an einer Geschichte herumgedoktert oder eine Idee für eine ebensolche gehabt hätte. Sie ist eine Vierundzwanzigstunden-Journalistin – so, wie Sandro ein Vierundzwanzigstunden-Polizist ist.
»Was ist passiert?«, fragt Milla.
»Sutter.«
»Der Nationalrat?«
»Mmmh.« Sandro hat gerade sein Glas angesetzt und leert es bis zur Hälfte.
Schon wieder Sutter, denkt Milla, zum zweiten Mal an diesem Tag.
»Was ist mit ihm?«
»Er wird offenbar bedroht. Per E-Mail. Der Inhalt der Mails muss krass sein. Auf jeden Fall besorgniserregend.«
»Und so etwas landet bei dir?«
»Erinnerst du dich an diese Twitter-Affäre? Seither wendet er sich immer direkt an meinen Chef Grobholz. Er hat seine Handynummer. Und dann landet die Angelegenheit bei mir.«
»Wie könnte ich die Twitter-Geschichte vergessen!« Milla muss grinsen.
»Seither ist Sutter offensichtlich ein Fall für die Bundespolizei.«
Sutters Twitter-Account ist vor einigen Wochen geknackt worden, und der Täter hat in dessen Namen über den Kurznachrichtendienst beleidigende Tweets gepostet. Opfer sind Sutters politische Kontrahenten. Die Aufregung war groß, die Inhalte aber waren derart überzeichnet, dass man Sutter von Anfang an glaubte, dass er sie nicht selbst verfasst hatte.
»Wie lautete noch mal der Text über Koch?«, fragt Milla.
»›SVP-Nationalrat Koch fesselt Bundesrat Spengler einmal pro Woche an einen Stuhl und zwingt ihn, seine Sendung zu schauen: Tele-Koch‹, oder so ähnlich.«
»Und dann war da doch noch die Behauptung, dass sich Spengler im Debakel um den Kampfjetkauf von den Schweden habe bestechen lassen«, erinnert sich Milla. »Und das Foto eines Rückens mit tätowiertem Hakenkreuz, der Nationalrat Morgenthaler gehören sollte.«
»Das war ziemlich unter der Gürtellinie.« Sandro leert sein Glas nun ganz.
»Habt ihr ihn eigentlich gefasst?«
»Wen?«
»Den anonymen Schreiberling, der den Account gehackt hat.«
»Nein.«
Auf Sandros Oberlippe klebt noch etwas Bierschaum. Milla hätte Lust, ihn wegzulecken. Doch dann macht es Sandro selbst.
»Glaubst du, dass hinter den Drohmails derselbe Täter stecken könnte?«
Milla hat auf Journalistenmodus geschaltet und kann nicht mehr aufhören, Fragen zu stellen. Sandro mag nicht darauf eingehen.
»Wer weiß. Ich muss jetzt.«
»Das wär eigentlich auch mal ein Reportagethema für unsere Sendung: bedrohte Politiker«, fährt Milla unbeeindruckt fort.
»Untersteh dich!« Sandro zeigt mit dem Zeigefinger auf Milla.
»Warum?«
»Du weißt genau, dass diese Informationen vertraulich sind.«
»Auf dieses Thema könnte ich problemlos auch ohne den Fall Sutter stoßen. Politiker werden doch ständig bedroht.« Milla hält einen Moment inne. »Ich hab ihn heute übrigens gesehen, er stand am Straßenrand im Publikum. Und am Montag habe ich einen Termin mit ihm.«
»Mit Sutter?«
»Es ist mein letzter Drehtag für die Reportage über Kinderpornographie im Internet. Ich bin mit Sutter im Bundeshaus verabredet.«
»Was hat Sutter mit Kinderpornographie zu tun?«
»Er hat eine Motion eingereicht. Schweizer, die im Ausland Kinder missbrauchen, sollen auch in der Schweiz dafür bestraft werden können.«
»Das würde ich sofort unterstützen, aber ich muss jetzt wirklich los.« Scheppernd rückt Sandro seinen Stuhl nach hinten und steht auf.
»Da kann ich Sutter ja auch gleich noch zu den Drohmails befragen«, fügt Milla scherzend an.
»Milla!«
Sie grinst. Jetzt lacht auch Sandro. Obwohl er sich nicht sicher ist, dass Milla so etwas nie machen würde.
»Wenn du die Drohungen auch nur mit einem Wort erwähnst …«
»Dann?«, zündelt Milla.
»Dann, dann … Dann bestrafe ich dich mit Sexentzug.«
»Boah, das geht aber gar nicht!«, ruft Milla, bevor Sandro ihr einen Kuss zum Abschied gibt.
Milla bleibt noch ein wenig in der Sonne sitzen. Und überlegt sich, wie sie es anstellen könnte, Sutter auf die Drohmails anzusprechen, ohne dass Sandro etwas davon erfährt.
Als ich zu Hause ankomme, sitze ich lange in meinem Stuhl mitten im Wohnzimmer, das nicht so aussieht, als wäre hier jemand dauerhaft eingezogen. Die Müdigkeit ist schon wieder da, viel zu früh. Ich habe meine Kräftigungsübungen heut noch nicht gemacht, obwohl ich weiß, wie wichtig sie sind. In meinem Schlafzimmer steht ein Gerät, das aussieht wie eine Foltermaschine. Ich muss mich darin hochstemmen, mich aufrichten, mich anbinden. Damit ich aufrecht stehe und das Blut für eine gewisse Zeit so fließen kann, wie es fließen sollte. Mein Physiotherapeut hat mir ein Programm mit verschiedenen Übungen zusammengestellt, die verhindern sollen, dass mein Körper, der immerzu in die sitzende Haltung gezwängt ist, verkümmert. Ich hasse das Gerät, und ich verabscheue die Übungen. Viel lieber trainiere ich mit den Hanteln. Kräftige Arme sind wichtig für meine Unabhängigkeit. Aber heute mag ich nicht. Ich fühle mich träge und möchte nur noch eines: für immer hier sitzen bleiben und nichts mehr tun müssen.
Bin ich in dieser Stimmung, dauert es nicht lange, und plötzlich ist er da. Die Gedanken an ihn fallen ohne Vorwarnung über mich her und verdrängen alles, was gerade noch in meinem Kopf war. Gedanken an ihn, der die Schuld an all dem trägt. Es ist nicht so, dass er ständig präsent ist, das hätte er nicht verdient. Aber bei dem Leben, das er führt, drängt er sich immer wieder in mein Bewusstsein. Es fühlt sich jedes Mal an, als würde er mir nachträglich ein Messer in den Unterleib rammen. Der Schmerz brennt und bleibt, oft tagelang.
Ob er meine Nachrichten erhalten hat? Ob sie ihm Angst eingejagt haben? Wahrscheinlich hat er sie einfach ignoriert. Es genügt mir nicht mehr. Ich muss sicher sein, dass es ihn berührt. Ich muss mir etwas Neues ausdenken, das ich tun könnte, damit es ihm nicht mehr so gut geht. Denn geht es ihm schlecht, geht es mir ein bisschen besser.
Als sich der Prosecco aus der zerschlagenen Flasche über die Steinplatten ergießt, ist Irena Jundt schon im Haus. Sie rennt die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal. Aus einem Zimmer torkelt ihr Lisa Kunz entgegen, die Hände vor den Mund gepresst.
»Was ist passiert?« Irena schreit Lisa die Frage ins Gesicht.
»Marc.« Mehr bringt ihre Freundin nicht heraus. Irena drängt sich an Lisa vorbei und blickt ins Zimmer. Da sieht sie ihn: erhängt an einem Seil, das über einen der Dachbalken geschwungen ist. Ein Holzschemel liegt umgekippt am Boden. Der Rechtsmedizinerin genügt ein Blick auf Marcs hervorgequollene Zunge und seine blau verfärbten Hände, um zu erkennen, dass er nicht mehr am Leben ist. Trotzdem geht sie zu ihm hin, berührt ihn am Hals. Er ist kalt. Kein Puls. Sie schiebt den Ärmel seines Hemdes nach hinten, umfasst den Ellenbogen, sie versucht, erst seinen Arm zu beugen, dann sein Bein, doch die Muskulatur leistet Widerstand. Die Totenstarre hat schon eingesetzt.
»Wir müssen ihn herunterholen«, sagt Lisa. Ihre Stimme hört sich an, als komme sie von weit weg. Sie eilt zum Schreibtisch, wühlt hektisch in einer Schublade, sucht ein Messer, eine Schere, irgendwas. In der Zwischenzeit sind auch die anderen vier im oberen Stockwerk angekommen. Sie reagieren sofort, reagieren professionell. Winter greift zum Telefon, wählt die Nummer von Staatsanwalt Diego Lopez und begibt sich wieder nach unten, damit Lisa das Gespräch nicht mit anhören muss. Bettina geht zu ihr hin, legt ihr die Hand auf die Schulter und übt sanften Druck aus, um die Kripochefin davon abzuhalten, Marc loszuschneiden.
»Wir müssen ihn noch einen Moment dalassen. Irena muss sich die Situation zuerst ansehen.« Bettina wirft ihren Kollegen einen Blick zu. »Und wir müssen Fotos machen.«
»Brauchen wir die Spurensicherung?«, fragt Ramon.
Irena nickt. Auch wenn hier alles nach einem Suizid aussieht, handelt es sich doch um einen außergewöhnlichen Todesfall. Das heißt: Staatsanwalt informieren, Spuren sichern, die Leiche untersuchen. Um eine mögliche Gewalteinwirkung von Drittpersonen ausschließen zu können. Zumal hier nicht irgendjemand hängt, sondern der Ehemann einer ranghohen Polizistin.
»Ramon, bietest du die Spurensicherung auf? Und Meret, kannst du Peter Lang anrufen? Er soll herkommen und mir mein Material bringen.« Dann, denkt Irena, muss sie nicht extra nach Bern und wieder zurück nach Krauchthal fahren. Und überhaupt wäre sie froh, wenn ihr Assistent hier wäre und sie nicht alles selber machen müsste. Sie steht Lisa zu nahe. Sie sind zwar nicht die Art von Freundinnen, die gemeinsam unter die Bettdecke kriechen, Süßigkeiten essen und sich die neuesten Anekdoten über ihre Männer anvertrauen oder sich beieinander ausheulen, wenn es mit ebendiesen Männern nicht mehr klappt. So waren sie beide nie. Aber sie sind – wenn auch auf distanzierte Art – doch Freundinnen.