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CHRISTINE BRAND geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat etliche Kriminalromane, mehrere Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer.
»In einer Stunde bist du tot.« Der Fremde zischt ihm nur diesen einen Satz ins Ohr. Er glaubt dem Mann aufs Wort. Starr vor Angst sitzt er da. Ein Schweißtropfen presst sich aus einer Pore an seiner Stirn, sucht sich einen Weg nach unten und bleibt am Stofftuch hängen, das sie ihm um die Augen gebunden haben. Die Orientierung hat er längst verloren. Ebenso das Gefühl für die Zeit. Sekunden dauern Minuten; zwischen dem, was er sein normales Leben nennt, und der Situation, in die er hier hineingeraten ist, liegt eine Ewigkeit. Die Fessel frisst sich in seine Handgelenke. Das Leder des Rücksitzes fühlt sich kalt an. Zigarettenrauch hat sich im Wageninnern festgesetzt. Das Radio schweigt. Nur der Motor ist zu hören, ein regelmäßiges Brummen. Einen irritierenden Moment lang glaubt er, rückwärts zu fahren. Links vor ihm sitzt der Fahrer, daneben der Beifahrer, an seiner Seite der dritte Mann. Sie sagen kein Wort. In seinem Kopf explodieren tausend Fragen, die er nicht stellen kann, weil sein Mund zugeklebt ist. Er spürt ihre Anspannung und riecht seine Angst. Sie stinkt.
Dann hört er den Fahrer zwei Gänge runterschalten. Es geht aufwärts, die Straße wird holpriger. Seine Halsschlagader pulsiert, viel zu schnell. Der Schweiß rinnt ihm jetzt in Strömen hinunter, obwohl er friert. Gänsehaut. Er kriegt zu wenig Luft, versucht den Mund trotz Knebelung zu öffnen. Es geht nicht.
Plötzlich stoppt der Wagen, der Motor stirbt. Eine Tür öffnet sich, wird zugeschlagen, die Tür rechts von ihm wird aufgerissen.
»Aussteigen!«
Jemand packt seinen Arm, zerrt ihn aus dem Auto, er stolpert, wird aufgefangen, vorwärtsgetrieben, schnell, schnell, schnell muss es gehen. Blind und hilflos bemüht er sich, nicht zu stürzen. Sie treiben ihn weiter. Da sind Wurzeln unter seinen Füßen. Hastige Schritte im Laub.
»Halt. Hier ist es.«
»Alles vorbereitet?«
Keine Antwort. Er vermutet, dass einer der Männer nickt. Er hört das Rascheln von Papier, das Zischen eines Streichholzes. Der vertraute Geruch nach Schwefel erinnert ihn an Kerzen. An die Teelichter mit den bunten Gläsern auf Margrets Esstisch. Ihr Bild drängt sich in seinen Kopf. Ein Glanz liegt auf ihrem Gesicht. Sie lacht. Streicht mit der Hand über ihren leicht gewölbten Bauch. Sein ungeborenes Kind.
Seine Tränen verfangen sich in der Augenbinde. Ein Wimmern entweicht ihm. Dass er diese beiden Menschen verlieren wird, schmerzt ihn mehr als der Verlust seines eigenen Lebens. Ausgerechnet jetzt. Wo er dabei war, alles zu ändern. Wo alles hätte besser werden sollen. Warum? Warum hier und jetzt und auf diese schreckliche Weise? In seinem Kopf hallen grelle Schreie. Es sind die seinen, die er nicht rauslässt. Seine Furcht vermengt sich mit dem Schmerz des Verlustes, er krümmt sich, schluchzt, ringt nach Atem. Einer der Männer sagt etwas. Er kennt weder diese Leute noch ihre Gründe. Er erkennt einzig und mit einer erschütternden Gewissheit, dass er das hier nicht überleben wird.
Der erste Schlag kommt unerwartet und trifft ihn in der Magengrube. Ein gurgelndes Geräusch arbeitet sich seine Kehle hoch. Es hat nichts Menschliches an sich. Nur mit Mühe gelingt es ihm, sich auf den Beinen zu halten. Als er versucht, sich wieder aufzurichten, trifft etwas Hartes seinen Kopf. Ihm ist, als fliege sein Schädel davon. Der Schmerz überschwemmt ihn, drängt ihn an den Rand der Ohnmacht. Blitze zucken unter seinen Augenlidern. Er liegt am Boden, schmeckt Blut in der Kehle. Der Geschmack erinnert ihn an Metall. Es ist noch nicht vorbei. Jemand schlägt ihm mit einem Gegenstand auf den Oberschenkel, tritt ihn in den Bauch. Die unterste Rippe bricht. Er wälzt sich, schluchzt. Möchte um Gnade flehen, um sein Leben betteln, doch er ist geknebelt, nichts als ein kläglicher Laut kommt hervor. Da verrutscht plötzlich die Augenbinde. Viel sieht er nicht. Eine schemenhafte Gestalt, eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze. Als ihn ein Schlag zwischen die Beine trifft, wird ihm übel. Er würgt und krallt sich verzweifelt an seinem Bewusstsein fest, das ihm entgleiten will. Ein Tritt an den Kopf. Nur noch Schwärze. Er ertrinkt darin.
Verbrannte Leiche
Der unbekannte Tote, der am letzten Mittwoch in einem abgelegenen Waldstück in der Nähe von Bern-Belp in stark verbranntem Zustand gefunden wurde, ist männlichen Geschlechts. Dies haben die Untersuchungen des Rechtsmedizinischen Instituts in Bern ergeben. Gestützt auf weitere Untersuchungen des Instituts wird davon ausgegangen, dass das Opfer etwa fünfunddreißig bis fünfundfünfzig Jahre alt und von sehr kräftiger, muskulöser Statur war. Es gibt zudem Anhaltspunkte, dass die Person eine starke Körperbehaarung aufwies. Der Leichnam war am frühen Mittwochmorgen von einem Wildhüter in einem Feuer entdeckt worden. Bei den sichergestellten menschlichen Überresten handelt es sich um einen Torso, von welchem der Kopf und die Extremitäten abgetrennt worden waren. Die fehlenden Körperteile konnten trotz intensiver Suche bisher nicht gefunden werden. Die unbekannte Täterschaft hatte versucht, den Torso auf einem Holzstapel zu verbrennen. Die Untersuchungsbehörden schließen nicht aus, dass sich der oder die Täter dabei Verbrennungen, namentlich an Körper- oder Kopfbehaarung, zugezogen haben könnten. Die Polizei wendet sich mit folgenden Fragen an die Öffentlichkeit:
– Wo wird eine Person vermisst, auf die die obige Beschreibung zutrifft?
– Sind seit letztem Mittwoch Personen aufgefallen, die Verbrennungen oder angesengte Haare aufwiesen?
Die Kantonspolizei Bern bittet Zeugen, die sachdienliche Hinweise machen können, sich an die nächste Polizeistelle zu wenden.
Der Schlaf weicht träge. Bloß nicht aufwachen. Nur noch ein wenig weiterdösen. Es gelingt nicht. Milla Nova versucht, wenigstens ihren Traum festzuhalten, dessen Stimmung gerade noch fassbar ist. Sie weigert sich, die Augen zu öffnen. Regungslos liegt sie da, ein Bein unter, das andere über der Decke, und lauscht den regelmäßigen Atemzügen. Es dauert einige Augenblicke, bis sie realisiert, dass es nicht ihre eigenen sind. Da ist noch jemand. Jetzt schlägt sie doch die Augen auf. Bandini! Milla hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass sich Sandro Bandini einen Platz in ihrem Leben ergattert hat – und mitunter auch einen in ihrem Bett. Sein Gesicht ist dem ihren so nah, dass sie es nur verschwommen wahrnimmt. Sie rückt ein wenig von ihm weg, schaut ihn an. Wie jungenhaft er aussieht, wenn er schläft. Sie möchte mit dem Finger über seine Augenbraue streichen, hält sich aber zurück. Als sich Milla aufsetzt, fällt ihr Blick auf das Pistolenhalfter auf dem Nachttisch. Erst jetzt stellt sie fest, dass er nicht in ihrem, sondern sie in seinem Bett liegt. In Bandinis Junggesellenbude unter dem Dach eines Altstadthauses.
Plötzlich ist alles wieder da. Milla hat aus einem bestimmten Grund nicht bei sich zu Hause in Zürich, sondern bei Sandro in Bern übernachtet: Heute ist jener Tag, auf den sie so lange gewartet hat. An Schlaf ist nun nicht mehr zu denken. Milla steigt aus dem Bett, darauf bedacht, Sandro nicht zu wecken, obwohl die Gefahr nur sehr gering ist. Er ist selbst dann schwer wach zu kriegen, wenn man ihn wach kriegen will. Barfuß tappst sie in die Küche, sie trägt eines seiner T-Shirts, in das sie fast zweimal hineinpasst. Die Küchenuhr zeigt halb sieben. Viel zu früh, aber das ist ihr gerade recht. Auf Knopfdruck verkündet ihr das Radio, dass heute in Japan ein nationaler Trauertag begangen wird – zwei Jahre nach Fukushima –, anschließend folgt die tägliche Leier der Staumeldungen.
Milla schüttet Haferflocken in eine Schale und gießt Milch darüber, ihr kleines Morgenritual. Dazu würde eigentlich auch die Lektüre einer Zeitung gehören. Doch Sandro, der Lesemuffel, hat tatsächlich keine einzige abonniert. Und dann lässt er sich ausgerechnet auf eine Journalistin ein … Milla schüttelt amüsiert den Kopf. Immerhin, einen Fernseher besitzt er. Doch sie bezweifelt, dass Sandro zu den regelmäßigen Zuschauern der Sendung Wochenthemen gehört, bei der sie als Reporterin ihren Lohn verdient. Obwohl er stets das Gegenteil behauptet. Aber was soll’s, sie hat nicht vor, ihn zum Medienkonsumenten zu erziehen, nur weil sie selbst ein News-Junkie ist. Im Badezimmer stellt Milla fest, dass eine Dusche unumgänglich ist. Nach der vergangenen Nacht stehen ihre schwarzen Locken wirr in alle Richtungen ab, Bürste oder Kamm kann sie vergessen, da muss Wasser her. Sie streift sich das T-Shirt über den Kopf, stellt sich unter die Dusche und das Wasser auf lauwarm. Danach zähmt sie ihren Haarschopf, indem sie ihn in einen Pferdeschwanz zwängt. Sie trägt etwas Kajal auf, etwas Wimperntusche. Fertig. Dann schlüpft sie in ihre Kleidung, die sie extra für diesen Tag eingepackt hat: eine schwarze Hose und ein beiger, eng anliegender Rollkragenpullover. Nicht ihre Alltagskleidung, aber dem Anlass angemessen. Sie rechnet damit, dass ihrem Erscheinen Beachtung geschenkt werden wird.
Es ist keine halbe Stunde vergangen, seit Milla aus dem Bett gestiegen ist. Sandro liegt noch immer genau so da wie zuvor. Sie wuschelt ihrem Polizisten kurz durch die Haare, beugt sich über ihn, drückt ihm einen Kuss auf die Stirn. Sandro riecht ein wenig nach saurer Milch.
»Aufwachen, Schlafmütze, in einer Stunde geht’s los«, sagt Milla, nicht sicher, ob sie zu ihm durchdringt. »Ich geh schon mal vor. Wir sehen uns. Nicht verschlafen!«
Sie kann das Brummen, das wohl eine Antwort ist, nicht genau deuten, tippt aber auf Zustimmung. Vor der Wohnungstür schnappt sie sich Sandros Velo, schleppt es die Treppe hinunter und macht sich auf den Weg. Eine kurze Fahrt durch die erwachende Stadt in der Morgenluft, die nach Frühling riecht und schon etwas Wärme verspricht. Mit etwas zu viel Schwung kurvt Milla einige Minuten später beim Berner Amtshaus um die Ecke. Sie bremst abrupt, als sie die Meute von Medienleuten unten an der Treppe vor dem Haupteingang erblickt. Zu spät. Sie haben sie schon erkannt und stürmen auf sie zu. Milla bleibt gerade noch genug Zeit, Sandros Fahrrad an die Hauswand zu lehnen. Sie ist noch dabei, es abzuschließen, da sind die Ersten schon bei ihr. Wie Schmeißfliegen, denkt Milla. Doch im gleichen Augenblick wird ihr bewusst, dass sie in diesem Medienpulk meist an vorderster Front mitkämpft. Dass sie, mit einem Kameramann im Schlepptau, den bedrängten Leuten wann immer möglich als Erste ihr Mikrophon unter die Nase hält – und demnach selbst eine dieser Schmeißfliegen ist, womöglich sogar eine besonders lästige. Also reißt sie sich zusammen und setzt, obwohl ihr gar nicht danach ist, ein freundliches Gesicht auf.
»Frau Nova! Frau Nova, was ist es für ein Gefühl, heute den Menschen wiederzusehen, der auch Sie töten wollte?« Auf dem roten Mikrophon, das ihr die junge, blonde Frau hinhält, erkennt sie das Signet des Senders TeleBärn. Auch Milla hat einst ein solches Mikrophon benutzt; beim Berner Lokalsender hat sie die ersten Sporen im Journalismus verdient, bevor sie den Sprung nach Zürich zum Schweizer Fernsehen wagte. Das waren Zeiten. Erinnerungen klopfen an, sie schiebt sie rasch beiseite. Im Moment hat sie dafür keinen Platz. Milla räuspert sich.
»Es ist ein gutes Gefühl. Weil der Prozess zeigt, dass unser Rechtssystem funktioniert: Der Verbrecher wird vor Gericht gestellt und verurteilt.« Milla hält inne. Sie klingt wie jene, die sie als Journalistin verabscheut: Sie produziert heiße Luft und versteckt ihre wahren Meinungen und Absichten hinter salbungsvollen Worten. Ihre Gedankenpause dauert einen Atemzug zu lange, dann fügt sie an: »Aber wenn ich ganz ehrlich sein will, muss ich sagen: Es ist ein miserables Gefühl.«
»Warum?«, hakt die blonde Frau sofort nach.
Milla spürt, wie die Wut ausgerechnet jetzt wieder an die Oberfläche drängt.
»Warum? Einerseits, weil ein Jahr nach dieser schrecklichen Tat alles noch einmal hochkommt. Andererseits wird das Gericht zwar ein Urteil über diesen Mann fällen – doch die beiden Menschen, die er getötet hat, werden dadurch nicht wieder lebendig. Meiner Meinung nach ist der Gerichtsprozess sogar überflüssig. Weil bereits jetzt klar ist, dass dieser Mann nichts anderes als die Höchststrafe verdient. Und selbst diese ist nicht hart genug. Die Strafe macht nichts wieder gut.«
Milla redet sich um Kopf und Kragen, dabei hat sie sich gestern Abend ganz andere Antworten zurechtgelegt, für den Fall, dass diese Fragen kommen sollten. Doch sie kann nicht aus ihrer Haut. Zurückhaltung zählt nicht zu ihren Stärken.
»Wollen Sie damit andeuten, dass Sie sich die Todesstrafe zurückwünschen?« Die Reporterin klingt ehrlich überrascht.
»Das habe ich nicht gesagt!«, wehrt Milla ab. »Ich war stets eine Gegnerin der Todesstrafe. Das ist noch immer so. Aber wissen Sie, ich bin sehr wütend, ich verspüre Hass auf diesen Täter. Doch ich muss mich damit abfinden, dass dieser Prozess keine Genugtuung bringen wird. Sondern nur Enttäuschung. Enttäuschung, weil die Strafe nicht hoch genug sein kann. Plötzlich verstehe ich, warum manche Menschen Rache schwören und den dringenden Wunsch verspüren, denjenigen zu töten, der ihnen ihre Liebsten genommen hat. Weil ihnen das oft zu milde Urteil der Justiz nicht genügt.«
Das rote Lämpchen der Kamera erlischt. Die blonde Frau grinst zufrieden, und Milla fragt sich, ob sie zu weit gegangen ist.
Othmar Ehrsam reckt das Kinn in die Höhe, begutachtet sein Spiegelbild mit kritischem Blick. Sauber rasiert. Er nickt sich selbst anerkennend zu. Mit dem Kamm richtet er seinen Scheitel gerade, etwas links von der Mitte. Das Haar sitzt. Noch keine graue Strähne. Gut so. Dann rückt er vor dem Spiegel, den er an der Innentür des Büroschranks hat befestigen lassen, sorgfältig den Krawattenknopf zurecht. Perfekt. Richter Ehrsam ist bereit und wie immer bestens vorbereitet. Die Akten, es sind nicht wenige, kennt er nahezu auswendig. Die Geschichte und ihre Hintergründe mögen komplex sein – juristisch betrachtet handelt es sich für ihn aber um einen klaren Fall. Der Täter ist geständig und wurde sozusagen in flagranti erwischt. Man könnte sich den Prozess eigentlich sparen, findet Ehrsam, denn das Urteil hat er schon im Kopf. Sogar vom Strafmaß hat er bereits eine klare Vorstellung. Nicht, dass er es je laut aussprechen würde, es entspricht aber den Tatsachen. So gesehen ist die Verhandlung nicht viel mehr als eine Formsache. Was seiner guten Laune indes keinen Abbruch tut. Der Prozess wird viel Aufmerksamkeit erregen, die Medien werden umfangreich berichten. Das kann ihm nur recht sein. Der Richter wirft einen letzten Blick auf die blank polierten Schuhe. Makellos. Es kann losgehen.
Wenige Hundert Meter südöstlich von Ehrsams Büro betrachtet Sandro Bandini gerade sein zerknautschtes Gesicht im Badezimmerspiegel. Er wischt sich einen Rasierschaumflecken vom Kinn. Sein schwarzes Haar sieht unordentlich aus, was durchaus gewollt ist. Bandini ist einer jener Männer, die auch als Erwachsene noch immer aussehen wie der Bub, der sie einmal waren. Mit ordentlichen Haaren würde er zu brav und noch jungenhafter wirken. Wie dreiundzwanzig statt dreiunddreißig. Das will er vermeiden; es passt schlecht zum Bild eines erfahrenen Polizisten. Er hat sein bestes Hemd angezogen und die schwarze Jeans, was sich ein wenig so anfühlt, als wäre er zu einer Hochzeit geladen. Dabei muss er bloß als Zeuge vor Gericht erscheinen, aber das ist ihm, obwohl er schon seit einigen Jahren bei der Polizei arbeitet, noch nicht oft passiert. Wenn überhaupt jemand aus ihren Reihen vor dem Richter aussagen muss, dann meist seine Chefin Lisa Kunz. Sie führt das Dezernat Leib und Leben, jene Abteilung der Kantonspolizei Bern, die sich mit den abscheulichsten Verbrechen befasst. Mit schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung, mit Totschlag, vorsätzlicher Tötung, Mord. Aussagen vor Gericht über die Arbeit der Kapo sind daher in der Regel Chefsache, in diesem speziellen Fall aber wurde Bandini direkt aufgeboten. Er war es, der damals den Angeklagten mit einem gezielten Schuss von einer weiteren mörderischen Tat abgehalten hatte. Bandini ist etwas nervös – und spät dran. Er versucht, die Wohnungstür aufzuschließen, die gar nicht abgeschlossen ist, und stellt draußen im Treppenhaus fest, dass sein Fahrrad weg ist. »Milla!«, flucht Sandro laut. Er hätte es sich denken können. Jetzt muss er sich wirklich sputen.
Im selben Moment, in dem Richter Ehrsam sein Büro verlässt, um mit dem Gerichtsschreiber die letzten Punkte zu besprechen, und Sandro Bandini zu Fuß durch Berns Lauben die Altstadt hinauf Richtung Amtshaus hetzt, sitzt Donovan Hardman in einem blauen Kastenwagen auf einer harten Bank, eingepfercht in einer Box, die ihm nur wenig größer scheint als jene, die man für Hundetransporte im Auto braucht. Er sitzt seitwärts zur Fahrtrichtung, seine Knie berühren die Tür vor ihm, neben seinen Schultern bleiben ihm gerade mal je fünfzehn Zentimeter Platz. Rechts und links von seinem Kopf, an der Innenwand der Kiste, sind Polster angebracht, um den ruppigen Fahrstil des Chauffeurs abzufedern. Vor ihm steckt eine Papiertüte in einem Metallbehälter, für den Fall, dass er sich durch das Gerüttel nicht nur den Kopf anstoßen, sondern es ihm zusätzlich den Magen umdrehen sollte. Hardman überlegt, ob er sie wirklich benutzen will, falls ihm übel wird. Oder ob er den Justizvollzugsbeamten die Putzarbeit überlassen soll.
Durch ein viereckiges Guckloch sieht er hinter der dunkel getönten Scheibe die Gegend vorbeiziehen, was ihm surreal erscheint. Es erinnert ihn an alte Filme, in denen deutlich zu erkennen ist, dass sich nicht das Auto mit den Schauspielern bewegt, sondern die Hintergrundkulisse. Die Landschaft hat sich verändert. Auf Wald und Wiesen sind zwei, drei Siedlungen gefolgt. Mittlerweile fahren sie durch städtisches Gebiet. Donovan Hardman ist sich nicht sicher, ob es schon Bern ist. Aber eigentlich sollten sie bald da sein. Zwanzig Minuten, haben sie gesagt, würde die Fahrt dauern, von der Strafanstalt Thorberg in Krauchthal bis zum Amtshaus in Bern, wo Donovan Hardman sich heute dem Richter stellen muss. Wegen zweifachen Mordes und eines Mordversuchs. Aktion misslungen, würde sein Vater dazu sagen.
Tatsächlich ist einiges schiefgelaufen. Donovan Hardman ärgert sich noch immer, dass es ihm nicht gelungen ist, diese lästige Journalistin auszuschalten, die das Geheimnis seiner Familie ans Licht gezerrt hat. Und noch viel zorniger ist er über sich selbst, weil er sich hat erwischen lassen und jetzt hier sitzt, in einem Gefangenentransporter, an Händen und Füßen gefesselt. Auf frischer Tat ertappt – wobei diese letzte Tat zu allem Übel noch vereitelt wurde. Welch Dilettant er doch ist! Ein überführter Verbrecher, auf den das Zuchthaus wartet, für eine Ewigkeit in Vaters Heimatland, das ihm selbst fremd ist. Donovan Hardman stützt die Ellenbogen auf die Knie und die Stirn auf seine Hände. Er stellt sich vor, weit weg zu sein. Nicht in diesem rumpelnden Wagen. In dem Moment stößt er unsanft gegen die Polster an der Wand, der Transporter fährt eine steile Rampe hinab, es wird dunkel draußen. Der Wagen stoppt. Es dauert einige Minuten, dann wird die Schiebetür geöffnet und die separate Tür der eingebauten Zelle aufgeschlossen. Jemand fasst ihn am Arm und zieht ihn hinaus. Er steht in einer Einstellhalle. »Let’s go«, sagt der Mann, der ihn in Empfang genommen hat, und führt ihn durch einen langen Gang in eine Zelle, in der er wohl auf seinen Auftritt warten muss. Hardman setzt sich auf die Bank, starrt die grüne Wand an, die orangefarbene Zellentür. Die grelle Farbkombination, die vor vierzig Jahren modern gewesen sein muss, irritiert ihn nicht. Sein Kopf ist vollständig leer. Wie ein ausgeblasenes Ei.
»Eigentlich müsste ich dich hier und jetzt verhaften.« Milla Nova dreht sich um. Hinter ihr steht Sandro Bandini. Seine dunklen Augen blitzen. Er sieht eindeutig wacher aus als vor einer Dreiviertelstunde.
»Warum?«
»Weil du eine kleine Velodiebin bist!«
»Ach das – entschuldige bitte, es ging grad nicht anders …« Milla setzt ihre Unschuldsmiene auf.
»Hab ich mir doch gedacht, dass du eine stichhaltige Begründung bereithaben wirst!« Sandro lacht sie mit schelmischem Blick an.
Milla umarmt ihn kurz und drückt ihm rasch einen Kuss auf den Mund, obwohl sie weiß, dass es ihm in diesem Umfeld unangenehm ist. Sie sind bis heute nur inoffiziell ein Liebespaar, auch weil eine Liaison zwischen einem Polizisten und einer Journalistin eine heikle Angelegenheit ist. Denn was der eine weiß, darf die andere nicht wissen. Und umgekehrt, manchmal. Ihre gemeinsame Geschichte hat während seines Dienstes ihren Anfang genommen. Sandro verliebte sich in Milla, als er mit ihrem Fall betraut war, der sie beide nun auch in diesen Gerichtssaal führt. Sie hat damals, vor zwei Jahren, im Rahmen einer journalistischen Recherche mehr herausgefunden, als dem jetzt Beschuldigten Donovan Hardman lieb war. Sie ist auf Verbrechen gestoßen, die Jahre zurücklagen. Donovan Hardman wollte um jeden Preis verhindern, dass das Geheimnis seiner Familie ans Licht kommt, und versuchte, Milla zu stoppen – nur dass sie sich nicht so schnell bremsen lässt, wenn sie eine Ungerechtigkeit aufdeckt. In diesem Fall hätte es sie beinahe das Leben gekostet. Nur durch Zufall hat sie überlebt. Und dank Sandro, der alles dafür getan hat, um sie zu retten.
Doch ein Polizist, der sich mit einer Zeugin und Geschädigten einlässt – das geht natürlich gar nicht. Überdies ist es ihm damals kaum gelungen, seine Zuneigung zu Milla zu verbergen. Seine Chefin hat bald schon Verdacht geschöpft und ihn hart kritisiert. Um ein Haar hätte sie ihn von dem Fall abgezogen. Er darf gar nicht darüber nachdenken, was dann geschehen wäre – wahrscheinlich wäre Milla heute tot.
Bei Milla hat es ein bisschen länger gedauert, bis sie Sandro näher an sich heranließ. Sie tut sich schwer mit Beziehungen. Bis sie sich auf jemanden einlässt, braucht es seine Zeit. Sie traut Männern aus Prinzip nicht, wohl auch darum, weil sie, schon bevor sie auf der Welt war, vom ersten Mann in ihrem Leben verlassen wurde: Ihr Vater ließ ihre hochschwangere Mutter sitzen. Milla fürchtet sich davor, ebenfalls verletzt zu werden. Sie ist der Überzeugung, es sei am besten, immer nur sich selbst am nächsten zu sein. Auch wenn sie manchmal den Gedanken zulässt, dass bei Sandro vielleicht alles anders sein könnte. Auf jeden Fall ist sie froh, ihn heute an ihrer Seite zu wissen.
Der Korridor vor dem Gerichtssaal füllt sich langsam mit Leuten. Sie stauen sich vor der Metalldetektorschleuse, die vor der noch verschlossenen Eingangstür installiert ist. Milla kennt viele der wartenden Journalisten. Kramer ist da, für das Regionaljournal des Radios. Er muss nur den Mund aufmachen, und schon ahnt man, dass er ein Radiomann ist: Seine sonore, ruhige Stimme verrät ihn. Milla erkennt auch Berger, den Polizeireporter der Gratiszeitung. Er steckt in seiner Jeansjacke, die er schon seit Jahrzehnten zu tragen scheint. Und jetzt entdeckt sie den alten Tanner von der Nachrichtenagentur, der eigentlich längst pensioniert ist, aber noch immer den Weg in die Gerichtssäle findet. Mit geübtem Blick teilt sie das Publikum in drei Kategorien ein: Medienleute, Jura-Studenten und gemeines Volk. Zu Letzterem gehören ganz offensichtlich die beiden Frauen um die vierzig. Sie haben sich herausgeputzt, als ginge es nach der Gerichtsverhandlung direkt auf eine Ü40-Party. Hausfrauen wohl, die einmal einen echten Mörder sehen wollen, denkt Milla. Natürlich ist auch die Grauhaarfraktion vertreten; gewissen Pensionären sind Prozesse eine willkommene Abwechslung, ihren langweilig gewordenen Alltag mit etwas »Sex and Crime« aufzupeppen. Nicht einordnen kann Milla jenen Mann, der regungslos in der Warteschlange steht. Für einen zivilen Polizisten fehlt ihm der Knopf im Ohr, der Funkkopfhörer. Auch seine Kleidung passt nicht ins Bild eines Polizisten; sie ist eine Spur zu elegant. Als er sich plötzlich Richtung Milla dreht, erkennt sie in seinem Gesicht einen hellen Fleck, wohl eine Pigmentstörung, die von der Schläfe senkrecht hinunter bis zum Kieferknochen reicht. Milla wendet ihren Blick ohne weiteren Gedanken ab. Alle relevanten und dem Fall zugewandten Personen scheinen anwesend zu sein, einzig von ihrem Anwalt ist noch nichts zu sehen. Was sie nicht wundert, denn das gehört von jeher zu seinen Eigenheiten: Sie hat Ferdi Rosenmund engagiert, einen Freund aus der Schulzeit, und schon damals tauchte er immer erst kurz vor Beginn des Unterrichts im Klassenzimmer auf.
»Nervös?«
Sandro reißt Milla aus ihren Gedanken. Sie zuckt zusammen.
»Bist du bereit für den Prozess? Wirst du ihn durchstehen?«, fragt er voller Sorge.
»Ich denke schon. Ist ja nicht der erste Gerichtsprozess, den ich miterlebe.«
»Aber heute bist du nicht als Journalistin hier. Dieser Fall betrifft dich direkt. Denk einfach dran: Er wird zwar im Saal anwesend sein – er wird dir aber nichts tun können. Du bist in Sicherheit. Und ich bin in deiner Nähe.«
»Danke. Aber ich habe keine Angst. Es wird schon gehen.«
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür zum Gerichtssaal. Fast gleichzeitig schließt eine Polizistin einen kleinen Nebenraum auf. Millas Nackenhaare sträuben sich, als Donovan Hardman heraustritt. Sie erkennt ihn sofort wieder. Er schaut sie direkt an. Instinktiv wendet Milla sich ab. Bloß nicht in diese Augen sehen. Sie erschrickt ob ihrer ungewohnten Reaktion – sonst hält sie doch jedem Blick stand. Milla packt Sandro am Oberarm und drückt so fest zu, dass er leise aufstöhnt. Zum ersten Mal regen sich Zweifel in ihr, ob sie für diese erneute Konfrontation mit dem personifizierten Bösen wirklich gewappnet ist.
Zuletzt betreten Othmar Ehrsam und seine beiden Richterkollegen den Gerichtssaal. Direkt vor ihnen hat der Angeklagte mit seinem Verteidiger Platz genommen. Donovan Hardman ist ein Mann um die fünfzig, kräftig gebaut, etwas gedrungen, das Haar dicht und dunkel, aber von grauen Strähnen durchzogen. Er hat kein sympathisches Gesicht; es wirkt grob, die Nase ist mächtig, mit stark betontem Rücken, die Lippen sind zu schmal geraten, was ihm etwas Verschlagenes verleiht. Seine Augen glänzen, als wären sie von zu viel Tränenflüssigkeit benetzt. Donovan Hardman hat sich nicht die Mühe gemacht, einen Anzug anzuziehen, wie das andere Angeklagte tun. Seine Füße stecken in ausgetretenen Turnschuhen und weißen Socken. Dazu trägt er zu kurze, verwaschene Jeans und ein buntes Kurzärmelhemd, das Richter Ehrsam als Hawaiihemd klassifizieren würde. Darüber eine schwarze Lederweste. Seine Kleidung verrät den Amerikaner in ihm, der nichts mit seinen Schweizer Wurzeln anfangen kann, und wirkt neben dem Anzug seines Verteidigers unpassend und schäbig.
Links vor Richter Ehrsam sitzt der Staatsanwalt. Es ist der Chef persönlich, der die Anklage führt. Das hat er sich nicht nehmen lassen, nicht in einem aufsehenerregenden Prozess wie diesem. Und ganz rechts steht das Pult der Nebenklägerin Milla Nova und ihres Anwalts. Ehrsam hat zwar viel über die TV-Reporterin gehört, sie aber noch nie gesehen. Er hat sie sich anders vorgestellt, größer, kräftiger, resoluter. Stattdessen sitzt vor ihm eine zierliche Person mit einer mädchenhaften Figur. Sie wirkt eher wie eine Frau, die man beschützen möchte, als eine, vor der man sich in Acht nehmen muss. Die schwarzen Locken hat sie streng zurückgebunden. Ihre Nervosität ist deutlich erkennbar. Pausenlos reibt sie sich die Hände, hin und wieder beißt sie sich auf die Unterlippe.
Hinter Milla Nova sind die Zuschauerreihen bis auf den letzten Stuhl besetzt. Einige Gesichter kennt der Richter aus früheren Verhandlungen. Neben der Eingangstür hat sich ein uniformierter, leicht übergewichtiger Polizist auf einem Stuhl postiert. Der Wachposten. Er sieht jetzt schon müde aus.
Othmar Ehrsam räuspert sich und setzt dem Gemurmel im Saal ein Ende: »Ich erkläre die Verhandlung gegen Donovan Hardman für eröffnet«, spricht er ins Mikrophon. Ehrsam kostet diesen Moment aus. Wie jedes Mal ist es ein gutes Gefühl, eine Dosis Adrenalin schießt durch seinen Körper. Er liebt seine Arbeit. Mit ruhiger, fester Stimme liest er die Anklage vor.
»Haben Sie verstanden, was Ihnen vorgeworfen wird?«, fragt er den Angeklagten, als er damit fertig ist.
»Ja, ich habe verstanden.«
Richter Ehrsam weist den Befragten auf sein Recht hin, die Aussage zu verweigern, dann beginnt er, ihm Fragen zu stellen.
»Mein Name ist Donovan Hardman«, lautet dessen erste Antwort. Er hört sich an, als würde er Kaugummi kauen, während er spricht. Nur bei genauem Hinhören erkennt man, dass sein Berndeutsch wirklich Berndeutsch und kein Englisch ist. Emotionslos gibt Donovan Hardman Auskunft über seine Herkunft, über die Gründe, weshalb er in die Schweiz gekommen ist, weshalb er Milla Nova stoppen wollte und weshalb er zwei Menschen tötete. Nichts Neues für Othmar Ehrsam. Steht alles in den Akten.
Auch Milla kennt längst die ganze Geschichte. Trotzdem erschüttert es sie, das Geschehene aus dem Mund dieses Mannes erzählt zu bekommen. Und zwar in einem Tonfall, als würde er die Gebrauchsanweisung eines Küchenmixers vorlesen. Als Hardman beschreibt, wie er ihre Nachbarin und Freundin Annalena erschossen hat, schließt Milla die Augen. Ihr Magen revoltiert gegen das, was ihre Ohren mit anhören müssen. Ihr wird übel. Und es wird nicht besser. Denn gleich anschließend kommt der Richter auf jene Szene zu sprechen, in der Milla dem Tod so nahe war wie nie zuvor. Am liebsten würde sie den Saal verlassen, aber sie bleibt sitzen.
»Warum haben Sie an jenem Tag die Journalistin Milla Nova verfolgt?«
»Ich wollte sie töten.«
»Warum?«
»Weil sie sich in Sachen eingemischt hat, die sie nichts angehen.«
»Das ist für Sie Grund genug zum Töten?«
»Sie hatte kein Recht dazu. Es ging um die Ehre meiner Familie.«
»Und darum haben Sie zwei Menschen umgebracht?«
»Das war anders geplant.«
»Bereuen Sie Ihre Taten?«
»Ich bereue, dass ich die Journalistin nicht erwischt habe.«
Milla schwitzt und friert zugleich und presst die Zähne aufeinander, damit sie nicht klappern. Sie hat nicht damit gerechnet, dass die Einvernahme sie derart aus der Fassung bringen würde. Milla fragt sich, was für ein Mensch Hardman sein muss. Woher diese Kälte kommt. Ob es in ihm gar keine Gefühle gibt.
Auch Richter Ehrsam fällt die Emotionslosigkeit des Angeklagten auf. Doch das ist bei seiner Klientel nichts Außergewöhnliches. Verfahrenstechnisch ist Donovan Hardman sogar ein Angeklagter, wie ein Richter ihn sich nur wünschen kann: Sachlich, klar und ohne Beschönigung erzählt er, was er verbrochen hat und wie er vorgegangen ist. Seine Antworten entsprechen seinen früheren Aussagen. Bis Ehrsam zu jener Frage kommt, zu der es in den Akten keine klaren Angaben gibt.
»Herr Hardman«, fährt der Richter fort, »haben Sie alleine gehandelt, oder hatten Sie hier in der Schweiz Helfer?« Schweigen.
»Herr Hardman, hatten Sie hier einen Helfer? Oder mehrere?«
Donovan Hardman rutscht auf seinem Stuhl hin und her.
»Haben Sie die Frage verstanden?« Ein Nicken.
»Gut. Ich lese Ihnen vor, was Sie in der Vernehmung zu diesem Punkt gesagt haben, vielleicht hilft das Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge. Ich zitiere Actorum vierundzwanzig zwei, Pagina hundertsiebenundneunzig: ›Mein Vater ist ein mächtiger Mann. Es gibt verschiedene Leute, die auf seiner Gehaltsliste stehen.‹ Bitte erklären Sie mir, wie Sie das gemeint haben.« Othmar Ehrsam hat etwas Schärfe in seine Stimme gelegt. Er blickt in Donovan Hardmans Gesicht und liest darin Trotz.
»Lassen Sie meinen Vater aus dem Spiel! Sie haben doch keine Ahnung!«
»Herr Hardman, Sie haben Ihren Vater selber ins Spiel gebracht. Helfen Sie uns, damit wir eine Ahnung bekommen!« Niemand rührt sich im Gerichtssaal. Kein Herumrutschen, kein Räuspern, als hielten alle den Atem an.
Feindselig starrt Hardman den Richter an. Giftig klingt jetzt seine Stimme. »Nehmen Sie sich in Acht. Mein Vater und seine Freunde sind überall.«
»Wer sind die Freunde Ihres Vaters?«, hakt der Richter unbeirrt nach.
»Das werden Sie merken, wenn die Organisation die Macht übernimmt. Dann werden Sie mit Ihren unnützen Gesetzen nichts mehr zu melden haben. Gar nichts!« Hardmans Gesicht hat eine bedrohlich dunkle Farbe angenommen, und sein Verteidiger flüstert eindringlich auf ihn ein.
»Muss ich das als Drohung verstehen?«, fragt Ehrsam. Der Angeklagte starrt ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
»Von was für einer Organisation sprechen Sie?« Ehrsam bleibt die Ruhe selbst.
Donovan Hardman blickt zu Boden. Atmet schnell und laut. Als würde er jeden Augenblick in die Luft gehen. Dann schüttelt er heftig den Kopf. »Ich sage nichts mehr.«
»Warum nicht?« Wieder nur Schweigen.
»Ich habe Sie etwas gefragt!« Keine Antwort.
Der Richter wartet ab. Eine Minute, zwei. Bis das Schweigen unerträglich wird. Othmar Ehrsam seufzt hörbar.
»Dann eben nicht.«
Jetzt erst geht ein Raunen durch die Zuschauerreihen. Verwirrung macht sich breit. Auch Milla weiß nicht, was sie von dieser Entwicklung halten soll. Sie hat immer gedacht, Donovan Hardman habe allein gehandelt. Doch jetzt ist sie nicht mehr sicher. Hatte er Helfer? Oder schlimmer: Hat er immer noch Helfer? Jemand, der ihr gefährlich werden könnte? Milla versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie will nicht glauben, dass an seinen wirren Aussagen etwas dran ist. Wahrscheinlich, denkt Milla, hat er den Verstand verloren – sofern er je einen besessen hat.
Othmar Ehrsam schaut auf seine Armbanduhr und ist überrascht, wie spät es ist. Er wird das Gefühl nicht los, dass sich während seiner Prozesse die Zeiger der Uhr jeweils schneller drehen. Er überlegt ein paar Sekunden und beschließt, die Verhandlung zu vertagen. In diesem Zustand, in dem sich der Angeklagte befindet, wird er aus ihm nicht mehr viel herausbekommen. Der soll sich zuerst wieder beruhigen.
»Wir fahren morgen früh um acht Uhr mit der Einvernahme des Angeklagten und anschließend mit den Zeugenbefragungen fort. Die Verhandlung wird so lange unterbrochen.«
Blätterrascheln, Stühlerücken, Geflüster, der Saal leert sich langsam. Die Handschellen klicken. Zwei Polizisten nehmen den Angeklagten in ihre Mitte und führen ihn hinaus. Nur der Richter sitzt noch auf seinem Stuhl. Blickt ins Leere, verloren in Gedanken. Othmar Ehrsam hasst es, wenn es nach einer Einvernahme mehr offene Fragen gibt als davor.
Zwei Stockwerke weiter unten öffnet sich im selben Moment wie von Geisterhand und mit einem leisen Sirren die schwere Holztür, als Milla sich ihr nähert. Sie hält inne, schaut der automatischen Tür abwartend zu und atmet zweimal tief durch, bevor sie ins Freie tritt. Draußen wird sie schon erwartet.
»Frau Nova, wie haben Sie die Verhandlung erlebt?« – »Was für einen Eindruck haben Sie vom Angeklagten?« – »Was war das für ein Gefühl, dem Täter gegenüberzusitzen?« – »Wissen Sie, von welcher Organisation er gesprochen hat?«
Die Zeitungsjournalisten haben ihre Schreibblöcke gezückt. Die Aufnahmegeräte der Radioreporter sind eingeschaltet. Auch die blonde Frau von TeleBärn schwenkt wieder ihr Mikrophon. Doch dieses Mal hofft sie vergebens auf ein knackiges Zitat. Milla verliert kein Wort über ihre Übelkeit. Sagt nicht, dass es ihr beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen hat, dass sie den Saal am liebsten fluchtartig verlassen hätte. In knappen Worten erklärt sie, der Prozessauftakt habe im Großen und Ganzen ihren Erwartungen entsprochen. »Mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen. Ich will zuerst sehen, wie es weitergeht.« Sie nickt ihren Kolleginnen und Kollegen zu, eilt die Treppe hinunter und stellt erleichtert fest, dass Sandro Bandini bei seinem Fahrrad auf sie wartet.
»Bist du okay?«
»Alles in Ordnung. Mal schauen, was der morgige Tag bringt.«
»Wenn wir beide unseren großen Auftritt haben. Wir werden das schon schaffen.« Sandro lächelt und nimmt Millas Hand. Einmal mehr stellt sie fest, dass ihre Hände perfekt ineinanderpassen. Milla schiebt das Fahrrad, gemeinsam schlendern sie durch die Gassen nach Hause. Sie ahnen nicht, dass es zu ihrem Auftritt nicht mehr kommen wird.
Die beiden Männer stehen Seite an Seite und blicken durch die Fensterfront hinunter auf die Stadt. Stolz hebt sich das Bundeshaus ab von den aneinanderklebenden Sandsteinhäusern: opalgrüne Kuppeln vor einer verschachtelten, rotbraunen Dachlandschaft. Die Aare hat sich wie ein türkisblaues Band um die Altstadt gelegt. Die Sonne schenkt der Welt zum Abschied des Tages ein Lichtspiel mit den Wolken, die am Horizont hängen geblieben sind.
»Er hat geredet.«
Die Worte hallen im Raum.
»Wie viel?«
»Genug.«
Die beiden Männer rühren sich nicht, während sie miteinander sprechen. Nur Worte werden getauscht. Keine Blicke, keine Gestik, die Hände hinter dem Rücken.
»Kann er zu viel verraten?«
»Durchaus.«
»Das müssen wir verhindern.«
»In Ordnung. Ich weiß auch schon, wie.«
»Du trägst die Verantwortung.«
»Verstanden.«
Die untergehende Sonne taucht das Wohnzimmer in Himbeerrot. Dabei ist der Raum ganz in Weiß gehalten. Weiße Bodenplatten. Weiße Möbel. Klinisch karg eingerichtet. Jedes Staubkorn wäre zu sehen, aber es gibt keines.
»Wie wirst du vorgehen?«
»Ich kenne da jemanden.«
»Weiß ich, von wem du sprichst?«
»Ja.«
»Dann los. Und zwar schnell.«
Ein paar Sekunden lang ist nur das nie verstummende Summen der elektronischen Geräte zu hören, bis es übertönt wird von einem anderen Geräusch. Ein silbergraues Flugzeug nähert sich im Tiefflug. Seine Scheinwerfer gleichen während eines kurzen Moments Augen, die sich auf die beiden Männer richten. In wenigen Minuten wird es auf dem Belper Flughafen zur Landung ansetzen.
»Konsequenzen müssen wir ja nicht mehr befürchten, der Alte ist doch tot, oder?«
»Richtig. Er ist vor drei Monaten gestorben.«
»Dann steht uns nichts im Weg.«
»Die Aktion wird positiv verlaufen.«
Der Größere der beiden Männer wendet sich ab. Verlässt grußlos den Raum und das Haus, um das Notwendige in die Wege zu leiten. Der Kleinere bleibt an der Fensterscheibe stehen, das Bundeshaus im Blick. Ein Feindbild. Eines von vielen.
Am nächsten Morgen steht Milla Nova wieder im Treppenhaus, und die Versuchung ist groß. Zu groß. Obwohl sie Gefahr läuft, sich diesmal wirklich Ärger einzuhandeln, schnappt sie sich erneut Sandros Fahrrad. Sie ist nun mal ein Velomensch und findet es unerträglich, sich in überfüllte Stadtbusse zu quetschen. Und ihr eigenes Fahrrad steht in Zürich. Also macht sie sich ohne schlechtes Gewissen zunutze, dass sie auch heute wieder deutlich früher unterwegs ist als der Langschläfer, der gerade erst aus dem Bett gestiegen und im Badezimmer verschwunden ist. Ach was. Sandro wird ihr den Veloklau bestimmt ein weiteres Mal verzeihen, sie hat es sich ja auch nur geliehen. Milla schwingt sich auf den Sattel, strampelt zügig hinauf zum Hauptbahnhof, legt bei der Markthalle einen Kurzstopp ein, um ein paar Blumen zu besorgen, und fährt weiter Richtung Länggasse. Sie will noch etwas erledigen, bevor sie wieder am Gericht sein muss. Ihr Ziel ist der Bremgarten-Friedhof.
Weil Milla mit einem miserablen Orientierungssinn gestraft ist, irrt sie etliche Minuten zwischen den Gräberreihen umher, bis sie Annalenas letzte Ruhestätte auf dieser Erde wiederfindet: ein liebevoll gepflegtes Grab, mit einem runden Stein, der das chinesische Zeichen Yin-Yang darstellt, davor ein Teppich aus gelborangen Krokussen. Mitten in den Frühlingsblumen steht ein rotes Grablicht. Die Flamme darin wehrt sich gegen das Erlöschen, während die Sonne erste Strahlen auf die Hecken legt. Der neue Tag hat in großzügigen Schwüngen ein paar Wolken an den Himmel gepinselt, um dem eintönigen Blau die Langeweile auszutreiben. Wiederum ein schöner Tag. Unpassend schön, findet Milla.
»Guten Morgen, Annalena.«
Sie setzt sich vor dem Grab auf den Boden und lehnt mit dem Rücken an einen Stein der hinteren Gräberreihe, ohne zu wissen, wessen Name er trägt.
»Der Prozess ist angelaufen. Endlich steht er vor Gericht. Ich hätte nicht gedacht, dass es derart schwierig werden würde.«
So früh am Morgen ist Milla der einzige lebende Mensch auf dem Friedhof. Keiner hört, dass sie laut mit einem Grabstein spricht. Und wenn doch, wäre es ihr egal.
»Ich bin noch immer unsäglich wütend, dass er dir das angetan hat. Und ich fühle mich schuldig. Weil nicht du, sondern ich jetzt hier liegen müsste.«
Millas Stimme verliert sich. Plötzlich wiegt die Trauer wieder schwer. Sie ist zwar mit der Zeit kleiner geworden, doch hin und wieder klopft sie an, als müsse sie darauf aufmerksam machen, dass sie noch immer da ist und nie ganz verschwinden wird.
»Dieser Mann muss für den Rest seines Lebens hinter Gitter kommen. Eine andere Strafe ist undenkbar. Aber genügt das? Natürlich kann er nicht zum Tode verurteilt werden. Und doch ist lebenslang zu kurz. Könnte es nicht etwas dazwischen geben?«
Die Fragen bleiben unbeantwortet. Milla steht auf, streicht mit der Hand über den runden Grabstein.
»Mach’s gut.«
Eine Viertelstunde später schließt Milla Sandros Fahrrad vor dem Amtshaus ab. Sie ist gerade auf der ersten Stufe der Treppe angelangt, als schräg hinter ihr ein Motor aufheult. Reifen kreischen. Erschrocken schnellt sie herum. Schon kracht es gewaltig. Milla duckt sich instinktiv und erfasst das Chaos auf einen Blick. Nur wenige Meter hinter ihr steht ein zerbeulter Lieferwagen quer auf der Straße. Ein aufgemalter Comic-Klempner grinst von dessen Seitenwand und prahlt: »Wir machen das Rohr frei!« Gleich daneben steht ein dunkelblauer Transporter: Er ist noch übler zugerichtet, vorne rechts scheint ein Teil zu fehlen. Sein Kühler dampft. Der Gestank von verbranntem Gummi hängt in der Luft, vermischt sich mit dem Geruch von Benzin. Den Bruchteil einer Sekunde lang regt sich nichts und niemand, als handelte es sich um ein Standbild einer Unfallszene, in der die angehaltene Zeit zuerst wieder angeschubst werden muss. Hinter dem Transporter stehen drei weitere Autos quer auf der Straße und blockieren den Verkehr. Es gibt kein Durchkommen mehr. In dem Augenblick, als sich die Welt mit einem Ruck wieder in Bewegung setzt und Milla realisiert, dass sie den beiden Fahrern helfen muss, öffnen sich die Türen der Autos hinter dem Transporter, und dunkle Gestalten stürzen heraus. Hektisch bellen sie sich Befehle zu.
»Vorwärts!«
»Holt ihn raus!«
Mehr versteht Milla nicht. Doch auf einmal ist ihr klar, dass sie nicht Zeugin eines gewöhnlichen Verkehrsunfalls ist. Die Männer tragen Kampfanzüge. Ihre Köpfe stecken in Sturmhauben, in den Händen halten sie Maschinenpistolen. Ein Überfall! Milla hört hinter sich hastige Schritte, Stimmen. Menschen rennen weg. Sie selbst bleibt wie angewurzelt stehen. Schaut zu, wie aus dem demolierten Lieferwagen ein weiterer maskierter Kerl steigt. Durch die Frontscheibe bedroht er mit einer Waffe den Fahrer des blauen Transporters, zwingt ihn, auszusteigen und sich auf den Boden zu legen. Zwei der Männer machen sich derweil an der seitlichen Schiebetür zu schaffen.
Wie aus weiter Ferne vernimmt Milla einen eigenartigen Lärm. Ein Hupkonzert. Es stammt von den Autos, die sich hinter den quer gestellten Wagen stauen, die wie eine Barrikade die Straße Richtung Waisenhausplatz abriegeln.
Milla nimmt jedes Detail scharf wahr, so, als beobachte sie nicht eine reale Szene, sondern präge sich vielmehr ein Suchbild ein, das in Bewegung geraten ist. Und alles, was sie sieht, fühlt sich falsch an. Ich muss hier weg! Plötzlich ist nichts anderes mehr als dieser eine Gedanke in Millas Kopf. Nur weg von hier! Doch gerade als sie sich aus ihrer Starre lösen kann und in Bewegung setzen will, zerreißt ein Knall die Luft, und ein Beben erschüttert den Boden. Ein Zittern durchfährt Millas Körper, auf einmal hört sich die Welt dumpf an, als habe ihr jemand Watte in die Ohren gesteckt. Schwarzer Rauch steigt auf. Die Seitentür des Kastenwagens ist völlig verbogen. Einer der Männer wuchtet die Metalltür auf, die sich dahinter befindet. Milla denkt im ersten Moment an eine große Kühlbox, die im Wageninnern steht. Oder nein – natürlich: ein Tresor! Doch der Vermummte zerrt einen Menschen heraus, packt ihn am Arm und drängt ihn in Richtung der Autos, die die Straße versperren. Ein schrill-buntes Hemd, darüber eine Lederweste … Fassungslos erkennt Milla, dass es sich um Donovan Hardman handelt. Zuerst streift sie der Gedanke, er werde entführt. Dann erst begreift sie, dass er jetzt, in diesem Moment und vor ihren Augen, befreit wird. Hardman und zwei der Männer steigen in das vorderste der quer stehenden Autos, der Motor läuft bereits. Noch bevor alle Türen geschlossen sind, braust der Wagen davon.
Da nimmt Milla im rechten Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie schaut hin. Erkennt Sandro. Er stürmt direkt auf die übrigen Männer zu.
»Nein!«, schreit sie. »Nein! Nicht!«
Sie beginnt ebenfalls zu rennen. Schüsse rattern. Jemand schreit. Milla lässt sich zu Boden fallen, verbirgt den Kopf unter ihren Armen. Sie hört das Zuschlagen von Türen, zwei Autos, die davonrasen. Zusammengekauert bleibt sie liegen, sie presst die Augen zu und rührt sich nicht. Will nichts sehen. Will nichts wissen. Will die schlimme Frage nicht zulassen. Die Frage, wo Sandro ist. Ob er getroffen ist.
Da schüttelt sie jemand. Milla zuckt zusammen.
»Bist du in Ordnung? Bist du in Ordnung?« Sandro brüllt ihr ins Gesicht. Sie nickt, obwohl sie keine Ahnung hat, ob sie wirklich in Ordnung ist. Aber unendlich erleichtert ist sie, dass er bei ihr ist, dass er heil zu sein scheint.
»Den Schlüssel! Gib mir den Schlüssel!« Sie versteht nicht, was er will.
»Den Schlüssel fürs Velo!«
Mechanisch klaubt Milla den kleinen Schlüssel aus der Jackentasche, legt ihn Sandro in die Hand. Und bereut es in der gleichen Sekunde.
»Du willst doch nicht …«
Doch Bandini hat sich schon aufgerichtet, rennt zu seinem Fahrrad, schließt es auf und strampelt los wie ein Wahnsinniger. Doch weit kommt er nicht. Nach wenigen Metern gibt er seinen kläglichen Versuch einer Verfolgung auf.
Erst jetzt heulen Sirenen auf. Milla fragt sich, warum das so lange gedauert hat, liegt doch die Polizeizentrale keine zweihundert Meter vom Amtshaus entfernt. Plötzlich fühlt sie sich nicht mehr sicher auf den Beinen. Erst jetzt merkt sie, wie sehr sie zittert. Da vernimmt sie hinter sich eine aufgeregte Stimme.
»Hast du das drauf, hast du das gefilmt?«
Milla erkennt die Stimme wieder. Sie gehört der blonden Frau von TeleBärn.
»Es tut mir leid, es ging alles viel zu schnell«, antwortet der Kameramann. »Die waren schon weg, als ich eingeschaltet habe.«
»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst? Das kann doch nicht wahr sein! Du hast diese Szene wirklich nicht im Kasten?«
Die Reporterin hört sich plötzlich weinerlich an, fasst sich jedoch rasch wieder und fordert ihren Kameramann auf, sich wenigstens jetzt an die Arbeit zu machen. Die TeleBärn-Journalistin postiert sich vor dem zerbeulten blauen Kastenwagen, wartet, bis die Schärfe eingestellt ist, und spricht mit ernster Miene in die Kamera: »Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Was Sie hinter mir sehen, ist ein beschädigter Gefangenentransporter, aus dem soeben der Mörder Donovan H. entwichen ist. TeleBärn wurde vor Ort Zeuge der spektakulärsten Befreiungsaktion, die die Schweiz je gesehen hat. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, viel zu schnell für die Berner Polizei. Der gemeingefährliche Mörder, der der bekannten TV-Journalistin Milla Nova nach dem Leben trachtet, ist jetzt wieder auf freiem Fuß!« Als sich die blonde Frau nach Milla umschaut, um sie vor die Kamera zu ziehen, ist sie verschwunden.
»Sagt mir, dass das nicht wahr ist!«
Die Männer am Tisch schweigen betreten. Lisa Kunz geht im Zimmer auf und ab wie ein Tiger im Käfig.
»Ausgerechnet Donovan Hardman! Wie konnte das passieren?«
Derart wütend haben Sandro Bandini und seine Kollegen ihre Chefin noch selten erlebt. Die groß gewachsene Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur, die das Dezernat Leib und Leben der Kapo Bern leitet, ist sonst nicht so schnell in Rage zu versetzen. Jetzt aber bebt sie vor Zorn.
»Und so was nennt sich Polizei! Was für Banausen haben wir da eigentlich angestellt?«