Das Feuer, die Schuld und das Schweigen

Historischer Roman zum großen Stadtbrand von Plettenberg am 12. April 1725

Udo Weinbörner


ISBN: 978-3-95428-784-0
1. Auflage 2021
© 2021 Wellhöfer Verlag, Mannheim

Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
Der Roman wurde gefördert im Rahmen des Programms »Neustart Kultur für Verlage« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und vom Heimatbund des Märkischen Kreises, Altena (Westfalen). Verlag und Autor danken für die Ermöglichung des Projektes.

Bildnachweis: Titelabbildung Stadtarchiv Plettenberg

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Inhalt

 

Zum Gedenken an die Opfer

des Stadtbrandes vom 12. April 1725

 

Ein Höllenfeuer kann man nicht löschen und

ebenso wenig aufhalten, wie man mit den Händen

nicht den Wind ergreifen kann. /

Die Vergangenheit ist nie tot,

wir erleben sie in der Gegenwart

jeden Tag aufs Neue.

 

Udo Weinbörner, Mai 2021

 

Für Anne & Jan

Dieser Roman ist, obwohl in der Heimatstadt des Autors angesiedelt, frei erfunden. Auch wenn viele der im Roman namentlich genannten Personen tatsächlich zum Zeitpunkt des Stadtbrandes um 1725 Bürger dieser Stadt gewesen sind, versichert der Autor, dass die Handlungen ebenso wie die Eigenschaften der im Roman genannten Personen frei erfunden wurden und keine Rückschlüsse zulassen. Das gilt insbesondere für die Verstrickungen von Bürgermeister und Zunftmeistern in die Intrigen, die im Roman als mitursächlich für die Feuersbrunst dargestellt werden und selbstverständlich auch für die Liebschaft der Gattin des Ersten Bürgermeisters. Um sie von der historischen Person zu unterscheiden, erhielt sie mit ›Agnes‹ einen anderen Namen und eine andere Biografie als die historische Frau von den ­Hoeven. Der Roman ersetzt keine wissenschaftliche stadthistorische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen, greift jedoch für die Erzählung auf die vorhandenen Quellen der Stadtgeschichte, wie die Publikationen des Stadtarchivs, vorhandene Dokumente zum Leben der Tuchmacher hier und in vergleichbaren Städten in Deutschland zur damaligen Zeit sowie auf die historischen Vernehmungsprotokolle des Ermittlers Durham zurück. Die fiktive Gestaltung von Handlungsabläufen vor diesem Hintergrund eröffnet Leserinnen und Lesern die Ebene des unmittelbaren Miterlebens und Mitleidens. Der Roman bietet ihnen – basierend auf einer Vielzahl von historischen Details – einen lebendigen Eindruck vom Leben in Plettenberg um 1725 und dient so dem Gedenken an die Katastrophe, ihre Opfer und die Überlebenden.

 

Vom Untergang einer Stadt – Eine Vorrede – (2021)

 

Am 12. April 1725, bei dem großen Brand, der wie ein Höllenfeuer über Plettenberg hereinbrach, hätte die Stadt untergehen können. Sie hätte aber vielleicht auch vor den Flammen gerettet werden können. Überhaupt wäre das Feuer unter Umständen sogar vermeidbar gewesen. So aber vernichtete im Jahr 1725 ein zweieinhalbstündiges Höllenfeuer alles, was sich innerhalb der Stadtmauern befand. Es gab Tote und Verletzte, unsägliches Leid, mehr als eine Schuld an der Katastrophe und mehr als eine Ursache. Den Überlebenden blieb kaum Hoffnung auf einen Neubeginn.

Doch ist das Leid erst einmal so groß, dass niemand mehr die Kraft aufbringt, nach Recht und Gerechtigkeit zu schreien und zu klagen, schweigt man lieber und blickt nach vorn. Schweigend verwischt man die Spuren von dem im Leid nicht mehr zu ertragenden Flammen­gericht, das dem Pastor Thöne im April 1725, nachdem er zunächst Trost und Hilfe gespendet hatte, wortreich donnernd diente, seinen Mitbürgern, Stunden um Stunden ihre Sünden vorzuhalten. Nur aus der Buße erwachse der Segen für einen Neuaufbau.

Doch es liegt in der Natur des Menschen, dass er rasch verdrängt, wenn er den Blick in die Zukunft richtet. Über Schuld wird geschwiegen und man hofft gemeinsam, dass die Zeit die Geschichte umschreiben wird. Alles Lüge, vorbei, vergessen ...

Es fand sich kein Selbstgerechter mehr unter den Plettenbergern, um den ersten Stein zu werfen. So war es auch dieses Schweigen wider besseren Wissens, das den Bestand der Stadt rettete. Es ist eines Gedenkens wert.

Die Brandspuren gibt es noch, Brandschutt, gerötete und geschwärzte Steine, wie verkohlte Herzen, die Straßennamen, die von Menschen sprechen, die früher hier lebten, deren Häuser hier standen. Unter den neuen Stadtplan schiebt sich der alte mit den Brandfundamenten und den zu Asche zerfallenen Lebensträumen der stolzen Tuchmacher und ›Pohlbürger‹.6 Selbst der Turm der Christuskirche, die damals Sankt Lambertus hieß, bedarf eines inneren Korsetts aus ungezählten Eichenstämmen, eingezogener Stützen und Verklammerungen aus Eisen, damit er nicht an der Last der Erinnerungen zerbricht und einstürzt. Ein jeder kann heute noch immer in der Brandasche stochern und die Flammenschrift des Höllenfeuers an seinen Steinen im Innern lesen. Eine Schrift, die von Mut und Entschlossenheit der Zimmerleute und Bürger der Stadt berichtet, die von ihrem Turm nicht lassen wollten und die ein eigenes Buch der Erinnerungen schreibt. Eine Schrift, die über Jahrhunderte nicht zu löschen war.

Wenn man ihr folgt, wird deutlich, warum viele Fragen nach der Schuld, die der Bevollmächtigte der Kriegs- und Domänenkammer seiner königlichen Majestät von Preußen stellte, unbeantwortet blieben. Mögliche Geschichten finden sich in den Protokollen des bevollmächtigten Kommissars. Andere Versionen, die auf folgenschwere Versäumnisse und Schuld verweisen, lassen sich aus den Vorgaben des Architekten Moser ablesen, den man wegen eines Plans zum Wiederaufbau der Stadt hinzugezogen hatte. Deutlich wird: Es gibt mehr als eine Wahrheit. Irgendwann ist jede Wahrheit möglich und jede Möglichkeit ist es angesichts der Menschen und ihrer Schicksale wert, erzählt und gehört zu werden!

Erster Teil: Das große Feuer

1. Der Schock! Wo Rauch ist, gibt es auch Feuer!

 

Vom Tod kann nur jener erzählen, der das Sterben überlebt. Aber was machte die Erinnerung aus den Überlebenden?

Pastor Thöne diktierte Vikar Reinighaus eine Bekanntmachung für die Gemeindemitglieder. Der Pastor formulierte ein wenig umständlich, verlor immer wieder den Faden. Er warf dem jungen Mann einen schrägen Blick zu. Figürlich schien der ihm ein wenig zu stämmig für das karge Gehalt eines Vikars zu sein. Ein seltsamer rötlicher Schein breitete sich auf der Wand des Studierzimmers aus. Thöne rieb sich die Augen. Der Schein, den nur er zu bemerken schien, glich einem Licht bei einer ­Vollmondnacht. Thöne gähnte, müde genug schien er ja, aber dann wurde er unruhig, sagte sich, Mondschein am späten Nachmittag müsse doch völlig abwegig sein! Rasch trat er ans Fenster.

Das Erste, was er sah, war die schlanke Gestalt der Agnes von den Hoeven, die Frau des Bürgermeisters, wie sie mit raschen Schritten vom Alten Marktplatz1 kommend, im Schatten der Häu­serfronten in Richtung Oberstadt lief. Wahrscheinlich war sie wieder einmal auf dem Weg zu Hendrik Jacobi. Ein jeder in der Stadt wusste um ihre Jugendliebe. Es gab Anlässe genug, an denen sie ihren Gatten, den Konsul Konrad von den Hoeven, in aller Öffentlichkeit spüren ließ, dass er wesentlich älter und keines­wegs ihre erste Wahl war. Der Pastor seufzte. Es konnte nicht gut sein, wenn dem Bürgermeister der Stadt Hörner aufgesetzt wurden.

Aber woher kam dieses Licht? Vom Himmel rührte es nicht. Dort waren am Nachmittag Wolken aufgezogen, die ein frischer Wind vor sich hertrieb. Thöne öffnete einen Fensterflügel und hörte, wie Reinighaus bemerkte: »Riecht es nicht irgendwie brenzlig, Herr Pastor?«

Die Standuhr in der Studierstube schlug fünf. Ein scharfer Geruch lag in der Luft. Vikar Reinighaus, ganz ein Gemütsmensch, sprach es gelassen aus: »Wenn es mal nicht irgendwo brennt, was meinen Sie, Herr Pastor? Nicht so weit aus dem Fenster beugen! Sie könnten auf die Straße fallen.«

In diesem Moment packte Thöne das Entsetzen, als er aus der großen doppelten Flügeltür, die in Brauckmanns Haus und Schankstube am Marktplatz führte, Flammen schlagen sah! Flammen, die kurz züngelten, dann zwei Meter hochschlugen und nach dem Dach griffen. Sie waren bereits so groß und mächtig, dass ihr Lichtschein alle Fassaden der in der Nachbarschaft des Rathauses stehenden Häuser erhellte. Pastor Thöne spürte Eiseskälte in sich aufsteigen. Die Flammen sprangen von der Strohdachkante des Brauckmann‘schen Hauses auf die Dachfläche über und fraßen sich mit immer neuen Flammenherden in einer breiten Schneise hinauf zur Dachspitze. Das ging rasend schnell! Aus dem Schornstein stieg ein Funkenregen auf. Thöne machte bereits neue Flammenherde auf dem gesamten Dach und dem angrenzenden Stall aus. Rauchte es nicht ebenfalls aus dem Haus und den Stallungen der Wittib Weiß? Brauckmanns Fuhrbetrieb und Schankstube versperrten jedoch ein wenig die Sicht auf das Anwesen der Witwe. Wie gelähmt vor Schreck, starrte Pastor Thöne die Straße hinunter, wollte um Hilfe schreien, warnen, doch sein Körper versagte vollständig.

Jetzt entdeckte der Vikar ebenfalls das brennende Brauckmann‘sche Haus. »Mein Gott, Pastor! Feuer, Feuer! Das ganze Haus steht ja schon in Flammen und niemand ist zu sehen! Wir müssen sofort handeln, sonst brennt Brauckmanns mitsamt dem Nachbarhaus noch zu Schutt und Asche!« Flüsterleise, die Stimme von Thöne: »Nicht nur Brauckmanns, Reinighaus. Dann sind wir alle verloren.«

Noch immer klammerte er sich mit beiden Händen an das Fensterbrett, noch immer starrte er auf das, was nie hätte geschehen dürfen und konnte nicht handeln. Da fuhr der inzwischen scharf aufkommende Ostwind in die Stadt, heulte um die Häuserecke und jagte eine gewaltige Qualmwolke durch die Gassen Richtung Kirche und Pfarrhaus. Das geöffnete Fenster schlug hart an die Innenwand. Das teure Glas bekam einen Riss und eine halbe Fensterscheibe splitterte zu Boden.

»Es ist niemand zu sehen bei Brauckmanns und auch nicht bei der Wittib Weiß nebenan! Ich verstehe das nicht! Das ­Feuer muss doch längst bemerkt worden sein!« Weit beugte sich ­Vikar Reinighaus aus dem Fenster und wedelte dabei mit beiden ­Armen wie eine Windmühle im aufziehenden Sturm. Völlig geistesabwesend und geschockt bückte sich Pastor Thöne, die Scherben von dem Fensterglas aufzusammeln. Da fuhr erneut ein kräftiger Windstoß durch das offene Fenster. Der Qualm ließ Pastor und Vikar husten und nach Luft schnappen. Rasch rappelte sich Thöne auf und schrie aus Leibeskräften in Richtung Straße: »Gott stehe uns bei! Feuer! Brauckmanns brennt! Feuer in der Stadt! Leute, hört mich!« Dann jagte er den Vikar zu Brauckmann, die Leute zu warnen und weiter zum Rathaus, damit man die Wasserspritze von dort rasch beim Brandherd in Stellung bringe. Er selbst stolperte hinter dem Vikar die Treppen des Pfarrhauses hinunter, eilte zum Kirchhof, Küster Hasenstab aufzuscheuchen, um die Brandglocke des Kirchturms zu läuten. Die Menschen, denen er auf der kurzen Wegstrecke begegnete, nahm der Pastor in seiner Aufregung nicht mehr richtig wahr. Er hatte nur noch ein Ziel vor Augen. Mehr oder weniger blind eilte er an ihnen vorbei, schrie dabei unentwegt: »Feuer, Leute! Brauckmanns brennt! Feuer in der Stadt! Gott steh uns bei!« Für einen Moment starrten ihm die Leute nach, dann reckten sie ihre Hälse Richtung Brauckmanns, bemerkten die riesige dunkle Rauchwolke, die über dem dahinterliegenden Alten Markt aufstieg und bereits drohend über der Stadt stand und wuchs. Wind kam auf, der wie ein Blasebalg durch die Straßen fegte und jedem Fünkchen Nahrung gab. Jetzt begriffen die Letzten unter ihnen, in welche Gefahr sie gerieten. Sie schrien und rannten, ihr Hab und Gut zu retten.

Pastor Thöne traf weder Küster Hasenstab noch jemanden von dessen Familie an. Aufgeregt lief er ums Haus, fragte eine Nachbarin, doch die machte nur große Augen. Thöne schwitzte vor Panik. Jeder Augenblick zählte! Jede Verzögerung konnte schreckliche Folgen für die gesamte Stadt haben! Im Haus unter den Linden griff sich Thöne den völlig überraschten Tuchmacher Burkhard Rump, zerrte ihn, der noch nichts vom Feuer bemerkt hatte, gewaltsam vom Webstuhl weg in die Kirche. Er drohte ihm mit Höllenqualen, wenn er nicht sofort mit ihm die Feuerglocke läute. Der helle Ton der Glocke sollte ein letztes Mal zur Warnung für die Plettenberger schlagen.

Tuchmacher Rump hetzte nach verrichtetem Dienst für die Gemeinschaft zu seiner Familie. Vor dem Altar erbat der Pastor von seinem Schöpfer Gnade und Errettung. Er nahm sich nicht viel Zeit, eilte wieder auf den Kirchhof, wo ihm eine schrille Frauenstimme ins Ohr gellte: »Das Alte Rathaus brennt!«

Dann ein Stimmengewirr und Geschrei, dass einem schwindlig werden konnte: »Bei Brauckmanns ist der Dachstuhl eingestürzt, vom Schuppen stehen nicht mal mehr die Mauern!« »Rettet, was ihr retten könnt, Leute! Das Feuer springt auf die Dächer!« »Alte Leute und Kinder zuerst. Schafft sie aus den Häusern! Herr im Himmel!«

Überall Menschen, die in Panik gerieten und durch ihr rücksichtsloses Vorgehen, sich selbst und anderen zur Gefahr werden drohten. Wo blieb die Stadtwache? Wo waren die Ratsherren und ersten Bürger der Stadt, um die Ordnung wiederherzustellen und Schlimmeres zu verhüten?

Dazu dieser verfluchte Wind! Wenn er wenigstens Regen bringen würde, dachte Pastor Thöne verzweifelt. Aus den Gassen der Stadt hallten die Angstschreie der in Panik geratenen Menschen. Er durfte sich nicht von der Angst, die auch ihn inzwischen fest im Griff hatte, irremachen lassen.

Kaum ein Durchkommen mehr Richtung Alter Markt. Das Rathaus ebenfalls ein Raub der Flammen? Die Schreie dröhnten in ihm; er bekam sie nicht aus dem Kopf. Für Augenblicke wusste er nicht weiter. Mein Gott, sicher war Reinighaus dort! Er wollte vom Rathaus die Wasserspritze holen! Hoffentlich konnte er sie in Stellung bringen! Hoffentlich passierte dem jungen Vikar nichts. Junge Männer trauten sich doch manches Mal einfach zu viel zu. Die Wasserspritze! Wo blieb Reinighaus mit der Wasserspritze? Sie war ihre einzige Waffe gegen die Flammen. Für einen Moment hatte Thöne nicht Acht gegeben. Schon befand er sich in einem sich vorwärtsdrängenden, sich schiebenden und rücksichtslos rempelnden Pulk von Menschen, von denen jeder nur noch nach Hause wollte. Andere drängten mit der gleichen Panik und grimmigen Verzweiflung in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollten möglichst schnell durch das Obertor, die sogenannte Raue Pforte, aus der Stadt gelangen. Niemand nahm noch Rücksicht. Keine Frage, der Teufel hatte von Plettenberg Besitz ergriffen! Thöne sah ein, dass er von Ellenbogen und Fäusten Gebrauch machen musste, um nicht zu Boden geworfen zu werden. Er erhielt einen Stoß in die Rippen, der ihm fast den Atem raubte und einen Faustschlag auf die Nase. Dann presste er sich noch rechtzeitig an die Häuserwand, als die mit Eisen beschlagenen Räder eines Fuhrwerks, das von einem wild gewordenen Pferd gezogen und kaum noch gelenkt werden konnte, eine Handbreit an seinen Beinen vorbeidonnerten. Wäre er gerade hingeschlagen, das schwere Fuhrwerk hätte ihm den Rest gegeben!


1 Alter Marktplatz = Platz vor dem Alten Rathaus und seitlich daneben, mitten in der Stadt gelegen, der im Archiv für 1725 mit »Marktplatz« oder auch vereinzelt mit »Alter Marktplatz«, nach dem Wiederaufbau der Stadt in Stadtplänen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, in denen die Gassen und Straßen der Stadt auch erstmalig namentlich bezeichnet wurden, durchweg bis in die Gegenwart nur noch mit dem Namen »Alter Markt«, in Unterscheidung zum Markt auf dem Wieden, bezeichnet wurde. Da sich die heutigen Leser bei den Begrifflichkeiten leichter an den gegenwärtigen Verhältnissen orientieren können und der Gebrauch der Bezeichnung »Alter Markt« auch in grauer Vorzeit nicht unüblich war, habe ich mich für die Bezeichnung »Alter Markt« für jenen Platz entschieden, auf den später die Wilhelmstraße und die Graf-Engelbert-Straße münden sollte. Aus vergleichbaren Erwägungen fiel meine Entscheidung zugunsten der Verwendung der Bezeichnung »Altes Rathaus«.

2. Wie Pastor und Bürgermeister den Kaufmann Ohle retten

 

Thöne gelangte in die Nähe des Alten Marktes, der inzwischen von mächtigen Qualmwolken umhüllt war. Es herrschte eine höllische Hitze. Die Stadt, eingezwängt zwischen ihren Stadtmauern, wurde zu einem Backofen. Ohne länger darüber nachzudenken, wollte er sich anbieten, bei den Löscharbeiten zur Hand zu gehen, jedoch war nirgends auch nur eine Spur von den Stadtbediensteten und edlen Herren des Rates zu sehen, die für die Organisation der Brandbekämpfung zuständig gewesen wären. Wo hatte man diese verdammte Löschspritze zum Einsatz gebracht? Dass überhaupt niemand etwas zur Rettung der Stadt unternahm, das konnte, das durfte nicht sein!

Er hoffte inständig, dass er nicht zu spät kam und dass Reinighaus nichts zugestoßen war. Als der fast undurchsichtige Vorhang aus Qualm zwischen zwei Windstößen zerriss, zeichneten die Flammen, die hoch über allen Dächern aufschlugen, Pastor Thöne ein allzu deutliches Bild der wachsenden Bedrohung. Ein Regen aus Funken und Asche prasselte auf die Menschen nieder, die sich zu schützen versuchten. Thöne rang nach Atem. Sein Schweiß floss in Strömen. Er musste sich mit anderen Menschen in seiner Nähe immer wieder in Sicherheit bringen. Das Feuer hatte längst die mächtigen Holzbalken der eng stehenden Häuser als glühend heiße Nahrung entdeckt. Die Flammen fraßen mit ihrer Höllenhitze die Atemluft.

Erschöpft beugte Thöne seinen Oberkörper nach vorn, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Oberschenkeln ab. Den Menschen in seiner Nähe erging es nicht besser. Er nahm sich jetzt Zeit, schaute hin, konnte einfach nicht mehr weiter. Nackte Angst sprang ihn aus aufgerissenen Augen an, er sah alte Männer und Frauen mit weit offenem Mund zu Boden sinken und um Atem ringen, bevor ihnen ihre Kinder, Anverwandten oder Nachbarn wieder auf die Beine halfen und sie fortschleiften. Schweiß floss ihnen in Bächen über die bleiche Stirn. Mitunter wankten sie mit unsicher gewordenem Schritt, obgleich es sich um kräftige Männer handelte. Vereinzelt entdeckte Thöne Männer und Frauen, die mit ledernen Wassereimern versuchten, dem tausendköpfigen Feuerdrachen zu Leibe zu rücken. Ebenso wie jene, die immer wieder todesmutig in die im Stadtzentrum brennenden Häuser stürzten, hatten sie sich Tücher und Schals vor Mund und Nase gebunden. Ein Hut oder eine Kappe tief in die Stirn gezogen, die Augen zu Schlitzen verengt, wollten sie die Augen vor dem stechenden Licht der lodernden Flammen schützen und dem beißenden, stinkenden Rauch entgehen.

Es schien dem Pastor, der so etwas noch nie erlebt hatte, als sei das Feuer ein selbstständiges Lebewesen, ein Drache gar, der in regelmäßigen Abständen fauchend Feuer und Pesti­lenz aus seinen Nüstern stieß und die Männer und Frauen wieder zurück auf die Plätze und in die Gassen jagte. Thöne war inzwischen überzeugt davon, dass nirgends in der Stadt eine organisierte Feuerwehr stattfand. All die Vorkehrungen des Bürgermeisters von den Hoeven in den letzten Jahren, die Anschaffungen von Brandbekämpfungsmitteln und das Einschwören von Helfern für den Ernstfall unter der Leitung von Stadtdiener, Nachtwächter, Stadtwachen und schließlich den Mitgliedern des Rats, alles war vergebliches, eitles Treiben gewesen. Zu nichts nutze! Dabei hätte fast ein jeder, der im Rat der Stadt saß und über die Anschaffung der teuren Löschspritze entschieden hatte, wahrscheinlich etwas über deren Ausstoß in gemessenen Liter pro Viertelstunde bei entsprechend günstigem Anschluss an eine Wasserquelle referieren können. Ja, wenn es darum ging, sich fortschrittlich zu zeigen, da warfen sich die Herren stolz in die Brust! Jetzt schienen sie alle damit beschäftigt, ihr eigenes Hab und Gut aus der Stadt zu schaffen. Die Weitsicht des Bürgermeisters von den Hoeven, so löblich sie war, lief im Angesicht der Katastrophe ins Leere. Alle verabredeten Maßnahmen ­griffen in einem Notfall wie diesem nicht! Wo war der Rat der Stadt, der in Krisenzeiten mutig und vorbildlich vorangehen sollte? Wo blieben Männer und Frauen mit all den beschafften Löscheimern und dem Brandschutzgerät? Wie winzig und hilflos nahmen sich die wenigen verzweifelt kämpfenden Menschen vor den entfesselten Elementen des Feuers aus!

Die gefräßigen Flammen verzehrten heulend und zischend Wollballen, Körbe, Webstühle, Tuch, Stroh, jagten durch die Viehställe und die provisorischen Behausungen der Zugezogenen, die noch keine andere Bleibe gefunden hatten. Der Rat und die eingesessenen Pohlbürger blickten auf sie herab, wollten ihnen das Leben schwermachen und andere davon abhalten, in der Stadt ihr Auskommen zu suchen. Das rächte sich jetzt. In diesen Buden und Hütten fand das Feuer reichlich Nahrung und leicht brennbares Material. Schon setzten die Flammen, Raubtieren ähnlich, zum nächsten Sprung an. Mit einem Knallen und mit Zischlauten sprang das feurige Ungeheuer die Menschen von allen Seiten an!

Pastor Thöne sah voller Schrecken durch die weit offenstehende Haustür, wie in dem Haus zu seiner Rechten ohne Vorwarnung der Holzboden brannte und Flammen an vielen Stellen gleichzeitig zwischen den Dielen hochschossen, schon die Seiten des Fachwerks entlang leckten, wie eine schnell kriechende Schlange und von einem Moment auf den anderen auch knisternd, knackend und zischend den Holzbelag der Decke entzündete. Da hatte der in der Mitte des Raumes hängende große schmiedeeiserne Leuchter mit den teuren Glasbehältern für die Kerzen keinen Halt mehr und krachte zu Boden. Das Vieh machte einen fürchterlichen Lärm in seinem Todeskampf. Aus der Stube drang der Schrei bis auf den Platz: »Zu Hilfe! Zu Hilfe, Leut! Das Feuer hat mich erwischt! Ich seh nichts mehr!« Dann ein markerschütternder Schmerzensschrei, Jammern und weitere Hilferufe einer Frau.

Pastor Thöne richtete sich auf, schlug hastig ein Kreuz und tapste auf den Hauseingang zu. Er war voller Angst und unschlüssig, wie weit er gehen könnte, ohne sich nicht selbst allzu sehr in Lebensgefahr zu bringen. Aber einen Menschen verbrennen lassen? Aus dem grellen Licht der Flammen taumelten Mann und Frau Richtung Haustür. Sie, die ganze Last seines Körpers haltend, fiel Thöne geradezu in die Arme. Er packte an, erkannte plötzlich Bürgermeister von den Hoeven an seiner Seite, den es von seinem Anwesen jenseits des Untertors und außerhalb der Unterstadt zum Rathaus gedrängt hatte. Er zeigte sofort Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Doch für die Rettung des Rathauses kam er bereits zu spät.

Entschlossen und mit dem Mut der Verzweiflung packte der Stadtoberste zu, ließ sich nicht von den Schmerzensbekundungen und der Panik des schwer verletzten Mannes irritieren und schleifte ihn aus dem Inferno der Flammen. Thöne war froh, von den ­Hoeven an seiner Seite zu haben. Obwohl dieser inzwischen Mitte fünfzig und ein Mann des Wortes und kein schwer arbeitender Handwerker war, verfügte er über eine erstaunliche Körperkraft. Die Rettung von Mann und Frau gelang sicher und rasch, aber auch auf der Straße vor dem Haus konnten sie nicht bleiben, denn die Flammen sprangen inzwischen von Speicher zu Speicher, von Hütte zu Hütte, von Dach zu Dach. Sie fanden überall reichlich Nahrung. Lumpen, Holz, Abfälle, Getreide, Zucker, Schnapsflaschen, Bierfässer, Webstühle, Betten, Vorhänge ... Sie waren nicht wählerisch, verschlangen alles in Windeseile, bildeten immer neue Brandherde und glühten alles Lebendige aus. Teure Scheiben und Töpferwaren zerplatzten krachend. Begleitet von einem Funkenregen, rutschten brennende Strohballen vom Dach auf die Gasse. Thöne konnte noch rechtzeitig zur Seite springen. Jammernd und wehklagend stand die Frau neben ihm und musste zusehen, wie das brennende Stroh all die Dinge dem Raub der Flammen überantwortete, die sie und ihr Mann unter Lebensgefahr noch aus dem Haus nach draußen gerettet hatten. Noch einmal schrie sie voller Verzweiflung auf, dann rannen ihr still die Tränen in einem nicht enden wollenden Fluss über die Wangen. Jetzt besaßen ihr Mann und sie nichts mehr als die zerrissenen und angesengten Kleider, die sie am Leib trugen. Worte des Mitgefühls und des Trostes, die der ansonsten hartgesottene Pastor sprach, erreichten sie nicht. Schmerz und Leid hatten sie taub gemacht. Natürlich dachte Thöne an die biblischen Worte von der Apokalypse und das Schicksal von Sodom und ­Gomorrha. Doch die Gefahr zwang ihn in die Gegenwart zurück, erneut musste er sich zurückziehen und einen halbwegs sicheren Platz suchen. Dort hockte er sich für einen Moment auf den Boden, um seine schmerzenden Füße zu untersuchen. Er betastete die Brandlöcher in seinen teuren Lederschuhen, deren Sohlen zum Teil wie weggeschmolzen waren, weshalb ihm schmerzhafte Brandblasen zusetzten. Er musste besser darauf achten, wohin er trat.

Bürgermeister von den Hoeven wurde handgreiflich. Mit der Autorität seines Amtes, der Androhung, ihm später den Prozess zu machen und nach einigen Faustschlägen, die er mit dem selbstbewussten Ratsmitglied und Beisitzer des Zunftmeisters der Tuchmacher Jobst Rümher austauschte, waren dieser und seine Frau schließlich widerwillig bereit, einige Tuchballen und ein wenig Hausrat vom Leiterwagen, den sie zogen, abzuladen. Der verletzte Kaufmann Heinrich Ohle fand obenauf Platz. Von den Hoeven und Jobst Rümher warfen sich noch einige Schimpfwörter an den Kopf. Der Bürgermeister drohte, dass er durchaus eine Vorstellung von den Machenschaften habe, in die Rümher in der Angelegenheit des Meisters Pampel bei der Prüfung der Tuchfälschungen verstrickt sei. Er dulde keinen Missbrauch ehrenwerter Zunftämter mehr. Der Name Jobst Rümher stehe in diesem Zusammenhang. Er solle alles daransetzen, dass ihm später Gnade widerfahre! Was anschließend zwischen den beiden an Derbheiten und Vorhaltungen ausgetauscht wurde, konnte Thöne nicht verstehen. Dann schärfte von den Hoeven der Frau des Kaufmanns Ohle ein, sie möge kräftig zupacken und ihren Mann nicht aus den Augen lassen, damit er sicher auf dem Leiterwagen aus der Stadt gelange und ihm geholfen werden könne. »Gott sei mit euch! Nichts für ungut, Rümher, aber du wirst es noch einsehen müssen!«, rief der aufrechte Mann dem Uneinsichtigen hinterher. »Dabei sind sie doch Nachbarn!«, empörte sich von den Hoeven. So viel selbstlose Entschlossenheit hatte Thöne dem Bürgermeister nicht zugetraut, und er bedankte sich für die Hilfe zur rechten Zeit.

3. Der Untergang des Alten Rathauses

 

Da endlich entdeckte der besorgte Pastor seinen Vikar, der geradewegs über den Alten Markt lief. Er winkte ihm. Reinighaus sah schlimm aus, sein Gesicht schwarz verrußt, die Kopfhaare angesengt, seine Kleidung verdreckt und eingerissen.

»Brauckmanns ist eingestürzt! Wir konnten die Wittib Weiß noch im letzten Moment aus der Schankstube retten. Mit Pferd und Karren sind Bruckmann und Knecht inzwischen zum Untertor. Kein Mensch kann sagen, ob er es geschafft hat. Das Viehzeug, das sonst noch im Stall stand, hat fürchterlich geschrien, war aber verloren! Es ist einfach furchtbar!«

»Der Wind treibt das Feuer weiter und weiter!«, stöhnte Thöne, der froh war, Reinighaus wieder bei sich zu wissen.

Das Prasseln und das Zischen der hoch aufjagenden Flammen, die inzwischen vom Himmel zu fallen schienen, das Knistern der Glut, das Donnern und die dumpfen Schläge des herunterbrechenden Gebälks und der einstürzenden Gebäudeteile schürten Todesängste. Die Gluthitze, die von dem Inferno ausging, in dessen Mittelpunkt sich das Rathaus befand, wurde plötzlich so stark, dass sich Thöne, Reinighaus und der Erste Bürgermeister gezwungen sahen, in eine rückwärtige Gasse zu fliehen.

»Wie durch ein Wunder ist bei Brauckmanns nichts Schlimmeres passiert! Der Knecht der Wittib Weiß wollte wohl noch den teuren Wein und Schnaps retten. Ich riss ihn im Gang zur Wirtsstube zu Boden. Um uns herum schon überall Flammen. Da ging das große Fass Wein in einer einzigen großen Flamme in die Luft und gleichzeitig fielen die vier Fässer mit selbstgebranntem Schnaps und Obstler krachend vom Regal. Sie begannen im schönsten Blau zu leuchten und gaben uns laut zischend wie eine große Schlange eine letzte Warnung vor der nächsten großen Explosion. Bevor wir uns noch recht besinnen konnten, begannen die Fässer wie Feuerräder den Flur entlangzurasen. Geradewegs auf uns zu! Schreiend und tatsächlich im allerletzten Moment schafften der Knecht und ich es nach draußen. Die Detonation und die Stichflamme, die uns folgten, waren so heftig, dass es die große Doppeltür zur Schankstube aus den Angeln riss, die in Stücken auf die Straße geschleudert wurde. Danach klaffte ein großes Loch in der Wand.«

»Herr im Himmel! Sind Sie verletzt, Reinighaus?«, fragte Pastor Thöne besorgt.

»Ein wenig taub bin ich auf den Ohren und ziemliche Kopfschmerzen setzen mir seit der Explosion zu. Aber ansonsten haben der Knecht und ich Glück gehabt. Absolut!«

»Von Glück würde ich in diesem Zusammenhang wirklich nicht mehr sprechen wollen«, bemerkte von den Hoeven und bedachte den jungen Vikar mit einem seltsamen Blick. Das Gebälk knisterte und krachte laut im heißen Feuer, das ihm zusetzte, um ihm den Garaus zu machen. Dann stürzten erneut schwere Dachbalken krachend zu Boden. Sie lösten einen heftigen Funkenflug aus. Die Erde erzitterte unter diesen Schlägen. Die Luft schien zu brennen. Reinighaus wollte zurück zum Kirchhof, aber den Pastor und den Ersten Bürgermeister zog es noch einmal auf den Alten Markt. »Lasst uns Abschied nehmen von unserem Alten Rathaus. Schaut hin, wir werden es jetzt zum letzten Mal sehen.«

»Es ist keine Zeit für Sentimentalitäten. Wir begeben uns unnötig in Gefahr, dass uns die Flammen einschließen werden«, mahnte Reinighaus. Doch Thöne beschlich das Gefühl, diese Anteilnahme wäre er dem Gebäude, an dem viele Erinnerungen hingen, schuldig. Sie folgten von den Hoeven auf einem kleinen Umweg zurück zum Alten Markt. Die Hausdächer des Tuchmachermeisters Jobst Rümher und des angrenzenden Schusters Johann Dietrich Boeley fielen krachend und Funken sprühend in sich zusammen. Bei diesen in der Nachbarschaft des Alten Rathauses stehenden Fachwerkbauten fraßen sich die Flammen jetzt nach innen durch die Wohn- und Schlafstuben, was die Hitze draußen auf dem Platz erträglicher machte und den Männern um Thöne und von den Hoeven ein weiteres Vorrücken erleichterte. Schuster Boeley gab es endgültig auf, noch etwas aus seiner Werkstatt retten zu wollen. Er fiel verzweifelt und entkräftet auf die Knie.

»Diese verdammte Spritze steht sicher und wohl verwahrt auf der Rückseite des Rathauses mit einem Schloss an der Hintertür. Es ist mir nicht gelungen, die Tür aufzubrechen und die Spritze herauszuholen. Die Gefahr, selbst von brennenden Dachteilen, die immer weiter herunterfielen, in Brand zu geraten, wurde einfach zu groß. Ich war völlig allein da. Ich habe es aufgegeben.« Der Vikar wirkte verzweifelt.

Pastor Thöne legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Sie haben es wenigstens versucht. Schließlich war es auch nicht Ihre Aufgabe, Reinighaus.«

Weitere Menschen fanden sich vor dem Alten Rathaus ein. Sie erkannten den Pastor und den Ersten Bürgermeister. Vielleicht erhofften sich einige Anweisungen oder Zuspruch, einen Fingerzeig für einen Ausweg aus der Hölle. Die Verzweiflung und Angst standen allen ins Gesicht geschrieben.

»Unser Rathaus ist zwar altmodisch, in vielerlei Hinsicht auch zu klein, aber mit seinem kleinen Eckturm mit der Uhr und der Wetterfahne, dem Treppenaufgang mit fünf Stufen von links und rechts, der Bank davor, doch das Herz unserer Stadt! Unser Altes Rathaus, oder? Das darf doch nicht abbrennen!«, klagte Hendrik Görres, der als Schuster und Schlachter in der Stadt sein Auskommen hatte und jetzt zu seinem verzweifelten Handwerkskollegen, dem Schuster Boeley lief, um zuzupacken und ihn mit Worten des Trostes aus der Gefahrenzone vor dessen Haus zu bringen. Boeley trottete mit gesenktem Haupt an den Männern vorbei Richtung Unterpforte und sagte kein Wort. Diese stumme Trauer berührte sie alle tief und Reinighaus meinte: »Gerade so, als sei ihm die Sprache abhandengekommen. Der Arme ...«

Hendrik Görres berichtete davon, wie er das Feuer entdeckt hatte. »Wollte gerade zur Wittib Weiß, um eine Kanne Bier zu holen, da habe ich aus dem Stall die Flammen schlagen sehen.«

Reinighaus drängte zum Aufbruch. »Kommen Sie, Herr Pastor, wir sollten zum Pastorat und zum Kirchhof. Sehen, was zu tun ist. Zwischen Brauckmanns und dem Pastorat stehen nur die Häuser des Herrn Esselen und des Holländers Hausstelle, die bereits ein Raub der Flammen geworden ist. Beten wir, dass die Flammen nicht auf die Oberstadt überspringen.«

Thöne deutete mit ausgestrecktem Arm auf das in der ersten Etage des Rathauses, ziemlich mittig oberhalb des Fensters des Sitzungssaales und der breiteren Eingangstür im Untergeschoss befindliche Holztor, das auf einen dahinterliegenden Speicher führte. Das Tor schwang auf und ein Mann stand dort breitbeinig in der Öffnung. Er begann wie wild, Holz- und Ledereimer sowie das gesamte dort gelagerte Feuerlöschgerät, wie Brandharken und Schaufeln, auf die Straße hinunterzuwerfen. Wie besessen schuftete er, während das Dach über ihm bereits lichterloh brannte. Eigentlich müsste er bereits vor Hitze eingehen! Ein Aufschrei ging durch die Menschen, die sich auf dem Platz versammelt hatten, als die Spitze des Rathaustürmchens, die sich nur zwei Schritte von ihm entfernt befand, abbrach und auf die Straße stürzte. Jeden Moment konnte es auch mit ihm zu Ende sein. Der Mann winkte, deutete auf das Löschgerät, ein paar Männer und Frauen sprangen hinzu, griffen sich das eine oder andere. Aber an ein organisiertes Vorgehen war nicht mehr zu denken.

»Ja, ist denn der toll geworden!«, rief von den Hoeven und winkte ihm, er möge springen und vor den Flammen flüchten.

»Seht nur, der Hermann Heymann! Der traut sich was!«, rief Hendrik Görres aufgeregt.

»Hoffentlich ist nicht noch jemand dort im Alten Rathaus. Das wäre doch der helle Wahnsinn, woll!« Kaum hatte es der Erste Bürgermeister ausgesprochen, sprang ein Mann aus dem Fenster des Sitzungssaals im Unterstock auf die Straße, stürzte schwer, kroch panisch ein Stück auf den Knien vor den Flammen davon, bis er wieder auf die Beine kam. Gerade noch rechtzeitig, um den herunterstürzenden brennenden Dachteilen zu entgehen. Tränenüberströmt, verwirrt, schrie er nur: »Es ist alles verloren! Alles verloren! Keine Urkunde konnte ich retten, nicht einmal die Stadtkasse! Feuer! Feuer überall!« Dann brach er zusammen und schnappte nach Luft. Seine Arme und Hände umschlossen in einem Krampf das schwere Einnahmen- und Ausgabenbuch der Stadt, an dem er bis zuletzt gearbeitet hatte. Ganz fest presste er das Buch an die Brust.

Es war der Stadtsekretär Hammerschmidt, der gemeinsam von Görres, Reinighaus und von den Hoeven aus der Gefahrenzone gebracht wurde. Sie lagerten ihn vorsichtig und redeten ihm zu, um ihn bei Bewusstsein zu halten. Dem Ersten Bürgermeister gelang es, bei dem Stadtsekretär den Krampf in seinen Armen zu lösen. Er entzog ihm behutsam das schwere Buch. »Dies wird uns leider auch nicht mehr weiterhelfen«, flüsterte er Pastor Thöne zu. Ergriffen von dem Pflichtbewusstsein des Stadtsekretärs schüttelte er immer wieder seinen Kopf. Pastor und Bürgermeister wechselten vielsagende Blicke und dachten, ohne etwas zu sagen, gleichermaßen: Hätte er doch lieber die Stadtkasse mitgenommen. Dieses angesengte und teilweise verkohlte Buch könnte vielleicht in fernen Zeiten einmal wieder Bedeutung erlangen, war aber für all die Anforderungen, die das Feuer mit seinen Folgen auf Jahre an die Stadt und seine Einwohner stellen würde, völlig untauglich. Ungerührt standen zwei Alte daneben, die den Verlust der Stadtkasse trocken kommentierten: »Gold und Schnee verbrennt schon nicht! Woll?«

Sicherheit gab es nirgendwo mehr, das Feuer schien überall zu sein. Noch einmal griffen die Menschen am Alten Markt zu den Ledereimern und den Feuerharken. Der todesmutige Einsatz von Tuchmachermeister Heymann, der jetzt im buchstäblich letzten Moment aus der Luke nach unten vor die Treppe sprang und sich ebenfalls rettete, sollte nicht umsonst gewesen sein. Alle sehnten sie sich nach einem rettenden Helden, aber sie sahen recht bald ein, dass es nichts mehr zu löschen und zu retten gab. Das Feuer schrieb seine eigene grausame Geschichte.

Kein Nachtwächter, niemand von den Stadtwachen und kein Stadtdiener war zur Brandbekämpfung angetreten. Bürgermeister von den Hoeven war tatsächlich bis zu diesem Moment – sah man einmal von dem Zusammentreffen mit Meister Jobst Rümher ab – der einzige Ratsherr am Ort des Geschehens. Er kümmerte sich um den Stadtsekretär Hammerschmidt und befragte diesen. Aber Hammerschmidt musste nicht lange reden, um von den Hoeven davon zu überzeugen, dass tatsächlich alles für die Stadt verloren war.

Dr. Christoph Hendrich Homberg, der Zweite Bürgermeister, der in einem repräsentablen Haus außerhalb der Stadtmauern jenseits des Obertores am Maiplatz, dem städtischen Platz für besondere Versammlungen und Feste, wohnte, traf ein. Er deutete Richtung Oberstadt und erklärte entschuldigend: »Ich habe alles versucht, aber es war einfach kein Durchkommen an der Rauen Pforte. Selbst die dortigen Stadtwachen konnten mir im Gedränge keinen Einlass verschaffen. Bin den ganzen Weg am Stadtgraben entlang, um durch den Einlass vor dem zweiten Gefängnisturm in der Unterstadt hierher zu kommen. Aber auch dort, Zustände! Man macht sich keine Vorstellung!« Dr. Homberg unternahm spontan den Versuch, selbst noch einmal ins Rathaus vorzudringen, dazu rief er immer wieder: »Das Geld! Das schöne Geld! Unser Stadtschatz, unsere letzte Sicherheit! Was soll nur werden?«

Mit Reinighaus eilte von den Hoeven seinem Vertreter hinterher. Durch Zurufen hielten sie ihn nicht mehr auf, sie brachten ihn auf den Stufen vor dem Eingang zu Fall und schleiften ihn gegen seinen Willen gewaltsam zurück auf den Platz. Ohne Frage, der Zweite Bürgermeister verdankte den beiden sein Leben!

Während die ersten bereits abzogen, Richtung Kirche und Oberstadt, um sich dort endlich besser zu organisieren und den Kampf gegen das Feuer aufzunehmen, versuchte sich Hermann Heymann verzweifelt, mit seinem angebrochenen Fuß zum Untertor durchzuschlagen. Er floh aus der Stadt, für die er kürzlich noch sein Leben eingesetzt hatte.

Pastor Thöne, der ihm nachblickte, nickte anerkennend und sagte zu von den Hoeven und Dr. Homberg: »Der Heymann hat das Herz am rechten Fleck. Weiß Gott, wenn die Stadt nur mehr von seiner Sorte hätte. Dabei ist er als armer Tuchmacher auch nicht mit Reichtümern gesegnet.«

Der Holzbau des Alten Rathauses erzitterte, die Balken ächzten und jaulten in hohen Tönen mit beinahe menschlichen Stimmen. Dann stürzten die Reste des kleinen Turms mit der Uhr auf die Bank, die vor dem Rathaus stand und aus dem Uhrwerk war ein letzter scheppernder Metallschlag zu vernehmen. Wenige Augenblicke später fiel die Fassade wie ein brennendes Gerippe. Die Steine, schwarz wie Kohle, teilweise rotglühend und dampfend. Flammen züngelten gefährlich aus den Trümmerhaufen. Eine Feuersbrunst, die die jämmerlichen Reste des Bürgerstolzes der freien Stadt vernichtete. Es war kein Bleiben mehr am Alten Markt. Der kleine Platz lag voll mit brennendem Schutt, sodass man kaum durchkam. Die Hitze entfachte einen Luftzug wie in einem Kamin und infernalische Zustände ließen sie um jeden Atemzug ringen. Ein weiteres Ausharren im Zentrum der Stadt wurde ihnen schier unmöglich. Die rasende Feuersbrunst ließ jedes Zögern lebensgefährlich erscheinen. Wer jetzt nicht vor den Brandherden floh, musste damit rechnen, dass ihm der Fluchtweg aus der Stadt von dem Feuer abgeschnitten würde. Sie blickten einander ins Gesicht und erkannten, wie die Augen ihres jeweiligen Gegenübers inzwischen von panischer Angst erfüllt waren. Den Menschen blieb einzig eine vage Hoffnung, es aus der Rauen Pforte, dem Obertor, Richtung Maiplatz zu schaffen. Wenn es nicht schon längst dafür zu spät geworden war.

»Ich wüsste nur zu gern, wo Agnes ist. Ich habe sie bereits gesucht. Aber niemand hat sie gesehen«, sagte von den Hoeven und blickte verlegen zu Boden. Er machte keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Pastor Thöne warf ihm einen Blick von der Art zu, er solle ihnen kein Theater vorspielen, sagte aber nichts. Jeder von ihnen ging davon aus, dass Agnes sich bei ihrem Liebhaber Hendrik Jacobi aufhielt. Thöne hatte sie vor Ausbruch des Feuers gesehen, erwähnte dies aber nicht.

Menschen und Tiere drängten sich lärmend durch die Gassen und suchten einen Weg nach draußen. Reinighaus versuchte, sich in dem Lärm schreiend Gehör zu verschaffen: »Los! Wir müssen weg von hier! Richtung Obertor! So hören Sie doch!« Thöne packte den Bürgermeister am Ärmel seines Überrocks und zog ihn keuchend mit sich. »Kommen Sie, bevor das Feuer ausbrach, habe ich Agnes Richtung Oberstadt laufen sehen. Los, nur fort von hier!« Jetzt hatte er es doch gesagt!

Von den Hoeven spielte den Erstaunten. »Ist sie wieder Richtung Oberstadt gelaufen. Was sie wohl dort will?«, stöhnte er gequält auf und konnte seine Verlegenheit kaum verbergen. Es war allen peinlich. Wenigstens eilte er jetzt voran. Dr. Homberg schloss sich ihnen an und drückte jedem erneut eine Feuerharke und einen Löscheimer in die Hand. Kein Durchkommen mehr in den größeren Straßen. Sie liefen Umwege durch die kleineren Gassen zum rückwärtigen Ring der Stadtmauer am Offenborn entlang. Von dort wollten sie sich zur Lambertus-Kirche und zum Obertor vorarbeiten.

Thöne fühlte sich plötzlich hungrig. Es schien ihm absurd in dieser Ausnahmesituation, aber es kollerte und rumpelte fürchterlich in seinem Bauch. Ihm fiel ein, dass er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Er beschimpfte sich selbst, ein alter, nichtsnutziger Narr zu sein. Aber sogar ein Schwindel erfasste ihn, seine Beine schienen ihm kraftlos vor Hunger. Ein Himmelreich für einen Kanten Brot, ein paar Löffel einer dicken Suppe! Das war Teufelswerk! Thöne rang mit sich, begann zu wanken, fiel hinter den anderen zurück. Der Satan hatte ihn am Wickel! In Gedanken sah er sich, wie er selbstgefällig von der Kanzel seine langen Predigten hielt. Weiß Gott, er hätte auch so manche Predigt nötig gehabt! Aber nein, er hielt sich für den einzig Gerechten unter all den Sündern! Es bedurfte nur des Feuers und des Hungergefühls, um ihm diese Ahnung vom Abgrund zu geben, in die eine Höllenpforte führte.