Falls Sie im Einzelnen wissen wollen, wer hier eine Rolle spielt und wer eher weniger:

Mit mir, Rike Scherschnitt, haben Sie am meisten zu tun und ich erzähle gerne, was in unserem Eifeldorf so los ist. Da sollen die Großstädter ruhig einmal Augen machen, wenn sie behaupten auf dem Land sei der Hund begraben.
In meinem Alter befindet man sich als Frau in den besten Jahren und wie ein Schiff halte ich gemeinsam mit Hilmar auch im schwersten Sturm den Kurs mit der Mannschaft. Wir misstrauen beide diesem Staat und der Wirtschaft, die mittlerweile ja ein und dasselbe sind und den Räubern vom Finanzamt ohnehin. Deshalb geben wir unsere Steuererklärung lieber persönlich dort ab. Ich kann Ihnen sagen, beim letzten Mal, da war das wirklich ein Hindernislauf sondergleichen und das kostete mich vielleicht Nerven.Aber eines steht fest: Die sitzen nicht nur herum. Und wenn die sitzen, dann sitzen die nicht nur etwas aus.
Tja, wie das Leben so spielt: Eine Weile läuft alles ganz gut, es läuft alles wie geschmiert und auf einmal ist sie da: die Arbeitslosigkeit. Und mit der ist das so eine Sache: Sie überfällt einen wie eine plötzlich auftretende Viruserkrankung, kommt meist völlig überraschend und man kann sich nicht davor schützen. Schließlich sitzt man bei der Agentur für Arbeit und erkundigt sich bei seiner Arbeitsvermittlerin erwartungsvoll: „Was haben Sie denn so anzubieten?“
Worauf die eine wegwerfende Handbewegung macht: „Na nichts. Da werden Sie sich schon selbst drum bemühen müssen!“, und dann fragt die sie: „Was würden Sie als Ihre herausragenden positiven Charaktereigenschaften ansehen?“ Ehrlich gesagt, da musste ich aber erst einmal überlegen. Wenn ich jetzt Kreativität angab, war das garantiert falsch. Jeder sagt das doch. Auch Flexibilität klang irgendwie zu abgegriffen. Es musste etwas richtig Originelles sein.
Nach fünf Minuten fiel es mir wie Schuppen von den Augen: „Meine größte Charaktereigenschaft ist: Spontanität!“, rief ich aus und hätte dabei die Arbeitsvermittlerin beinahe geweckt. Mühsam rappelte sie sich wieder auf. Stolz über diese fabelhafte Idee lud ich nach und rief spontan: „Und Begeisterungsfähigkeit, die habe ich auch!“
„Meinen Sie wirklich?“, fragte sie ein wenig matt zurück.
„Natürlich!“, und als es von ihrer Seite aus keinerlei Einwände gab: „Überzeugungskraft! Und Durchsetzungsvermögen!“, fiel mir dazu ein.
Als letzte, der gesuchten Charaktereigenschaften warf ich ihr noch: „Selbstüberzeugung!“, als Stichwort zu.
„Wollen Sie da nicht lieber Selbstvertrauen nehmen? Ich bin der Meinung, das klingt irgendwie besser?“, meinte mein Gegenüber und damit einverstanden, nickte ich. So, und jetzt wissen Sie wenigstens, mit wem Sie es zu tun haben. An und für sich sind das alles die besten Voraussetzungen für eine steile Karriere. Sie werden es nicht glauben, durch eine glückliche Fügung wollte ich sogar das höchste Amt im Staat anstreben, aber natürlich wurden mir da wieder unnötige Steine in den Weg gelegt. Damit wäre ich die zweite Frau in diesem gläsernen Bau gewesen, und wenigstens eine, mit einem wirklich real existierenden Ehemann, der auf Staatsbesuchern immer drei Schritte hinter mir geht.

Hilmar Scherschnitt:
Status: verheiratet, und zwar mit mir.
Anlässlich seines letzten runden Geburtstages zog er ein langes Gesicht und warf wortlos einen entnervten Blick auf sein, an ihn gekoppeltes Blutdruck-Messgerät. Danach seufzte er vernehmlich und ging anschließend auf 180, man hörte es bereits an dem immer hektischer klingenden Piepston, als er meinte: „Also nochmal die doppelte Jahresrunde mache ich garantiert nicht mehr, dann wäre ich ja der älteste Mensch der Welt. Jetzt habe ich auch noch Bluthochdruck. Hundertachtzig zu siebenundachtzig. Diese blöde Pharmalobby hat einfach die Werte versetzt, um ihr Zeug zu verkaufen. Und, als wenn das alles nicht schon schlimm genug wäre, nun bringe ich mindestens zwanzig Kilo zu viel auf die Waage. Und das pur, ohne Slip, mit leerem Magen und obwohl ich komplett rasiert bin. Außerdem habe ich mir die Fingernägel und Fußnägel geschnitten und sogar die Hornhaut entfernt. Ich sage dir, ab sechzig, da geht es bergab. Bald sehe ich selbst aus wie Billy, eines der Walrossbullen, aus unserem Zoo.“ Hilmar weiß, wovon er spricht, denn schließlich ist er Biologe.
Eins kann ich Ihnen sagen: Sollte Ihnen Ihre langjährige Beziehung noch etwas wert sein: Machen sie keinesfalls (!!!) eine gemeinsame Diät!

Als Nächstes stelle ich Ihnen unsere beiden, dem Papa wie aus dem Gesicht geschnittenen, rothaarigen Kinder vor.

Lisa Scherschnitt:
Sie ist unsere Älteste und eine wissbegierige Ü-30-Jährige noch dazu: In dem Augenblick, in dem auf die große Geburtstagstorte die letzten zwei Kerzen beim besten Willen nicht mehr drauf passten, zeigte sie erste Anzeichen von Panik: „Meine Güte! Was ist, wenn ich keinen mehr finde? Wenn mich niemand will? Jetzt kommen die Falten und sag` bloß nichts, um mich zu trösten. Ich gucke selber in den Spiegel und sehe diese Stirnfalten und die Mimikfalten um die Mundwinkel herum. Na toll, wenn das so weiter geht, dann hilft nur noch Botox.“
Beim Dahinscheiden ihres Robbys musste ich echte Trauerarbeit leisten. Mittlerweile saugt sie lieber wieder selbst. Diese leise über den Boden schwebende Riesendiskusscheibe war mir ohnehin nie geheuer.

Steffi Scherschnitt:
Die Jüngste ist ziemlich forsch und lebt noch daheim. Zu ihrer Schullaufbahn kann man sagen: Sie drückte die Schulbank eher mit mäßigem Interesse. Dagegen finden diverse Tattoostudios bei ihr mehr Aufmerksamkeit. Derzeit ist sie mit ihrem aktuellen Teilzeitfreund auf dessen Moped unterwegs. Vielleicht sind die beiden wieder einmal auf dem Weg zu einem neuen Tattoostudio?
Steffi hat ihre eigene Meinung zu manchen Dingen und spricht zu allem Übel wirklich alles gleich aus, was sie denkt. Als sie klein war, dachte ich, so etwas wächst sich irgendwann von alleine aus. Aber falsch gedacht. Bestes Beispiel: „Voll krass! Sex im Alter ist irgendwie widerlich. Ich meine, ab Mitte vierzig hört es doch auf!“, Sie zeigt ein großes Interesse an ihrer Umgebung und an der rauen Realität, der Unterricht in der Schule sei ihr zu trocken, meint sie. Da biete ihr das wahre Leben doch so viel mehr! Und tatsächlich: Seitdem es ihr gelungen ist, Tommys Password zu knacken, interessiert sie sich sehr für die Datingportale ihres Onkels. Sie recherchiert besonders innerhalb unserer Familie immer gerne und denkt deshalb über eine Investigativ-Reporter-Karriere im Internet nach.

Stinker:
Der Name ist Programm! Manchmal gehen Gerüche trotz aller vielgepriesenen Haushaltsmittel wie Essig, Kaffeepulver, Wasserstoffperoxid und Zitronensäure nicht mehr raus. Diese kniehohe, gefleckte, italienische Promenadenmischung liebt Kartons wegen ihres Überraschungsinhaltes und Pastagerichte, die ihm mittlerweile eine gute, winterliche Rippen- und Bauchdeckenisolierung garantieren. Weiterhin ist er ein bekennender Regenwasserhasser.
Seitdem er sich uns in Italien ausgesucht hat, weiß ich zumindest, wie mein Schweinehund aussieht.

Hermi:
Sie wohnt im Nebentraktgebäude, geht stramm auf ein Jahrhundert zu und erlebt im Sessel sitzend, ihre ruhmreiche Vergangenheit noch einmal mit. Weiterhin wird sie regelmäßig von ihrer Pflegekraft enthaart.
Teilt mit Steffi die Liebe zu bunten Tattoos. Nach ihrer eigenen Aussage, ist sie im Besitz von mehreren Gemälden, die einige ihrer Körperstellen zieren wie die Ölbilder eines alten Meisters. Seitdem diese einstmals widerstrebende Wählerin eine Tafel Schokolade in brauner Umverpackung erhielt, ist sie Feuer und Flamme und will unbedingt an der nächsten Wahl teilnehmen. Nach unseren, in der letzten Zeit, gemachten Erfahrungen werde ich panisch, wenn ich nur daran denke. Im Augenblick überlege ich, wie man das am besten umgehen könnte. Mittlerweile tendiere ich eher zu einer generellen Briefwahl für Senioren.
Außerdem kann ich niemandem empfehlen, eine jahrzehntelange Kettenraucherin wie Hermi zu einem Raucherentwöhnungsseminar zu überreden. Eine solche Aktion ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt, zumindest dann, wenn ein eingeschleuster Spion mitten unter den Teilnehmern sitzt.

Araya:
Nach ihren Angaben geschätzte fünfunddreißig, lebt bei Hermi und hilft ihr, wo sie kann. Um das Heimweh erträglicher zu machen, hat sie neuerdings eine Fototapete mit thailändischem Strandmotiv, eine Hängematte und feinen Sand vom Obi-Baumarkt in ihrem Wohnzimmer. Dort hält sie ihre Schildkröten, die unter Artenschutz stehen. Eine befindet sich noch immer hinter schwedischen Gardinen beim Zoll.
Sie kann zwar überhaupt nicht kochen, plant aber, gemeinsam mit ihrem deutschen Freund Ralf, mit den exotischen Köstlichkeiten ihres Heimatlandes ins Gastronomiegeschäft einzusteigen. Sie will uns dauernd bei sich zum Essen nebenan einladen, mittlerweile gehen uns die Ausreden aus.

Fritzi:
Ein in die Jahre gekommener Kater und rothaariger Streuner, der bei Hermi Unterschlupf gefunden hat. Er liebt das Vernaschen unserer selbstgemachten Desserts und die dicken Brummer aus der Mülltonne, die er mit Vorliebe in seinen aufgeplusterten Backentaschen ihre Runden ziehen lässt, bevor er sie vernascht. Seitdem ich ihn kenne, kann ich sagen, dass der Rückgang der Insekten nicht nur auf den Klimawandel zurückzuführen ist.

Mein Vater und Mutter Lenz:
Obwohl sie bereits ihr Rentnerdasein leben, sind sie reichlich beschäftigt. Mit ihrem nagelneuen und direkt nach der Fertigstellung bereits sanierungsbedürftigen spanischen Ferienhaus und meinem fünf Jahre jüngeren Bruder sieht es so aus: wenn schon von Anfang an der Wurm im Gebälk drin ist ....

Deshalb zu guter Letzt, quasi zum krönenden Abschluss, zumindest, was die Familienbande betrifft, kommen wir zu:

Tom Lenz, meinem Bruder:
Allgemein ist er als Tommy bekannt und wird von mir aus besonderem Anlass Winny boy genannt. Bei seinem ersten unehelichen Kind wollte der die Kondomfirma verklagen, weil er eine absichtliche Perforierung vermutete. Nachdem er herausgefunden hatte, dass dieses Unternehmen in einem riesigen Konzerngeflecht ebenfalls Windeln und Babynahrung herstellt, strengte er eine millionenschwere Klage gegen den Konzern an. Erst auf Druck unserer CDU linientreuen Eltern hat der seine Klage zurückgezogen und ärgert sich bis heute darüber. Seitdem wir ihn zwangsweise bei uns aufnehmen mussten, weiß jetzt, dank Steffi und Facebook, wenigsten die halbe Welt, wie so eine elektrische Fußfessel aussieht.
Mittlerweile können wir nur das Eine über diese Einquartierung sagen: nie wieder. Als der zuletzt zu Besuch war, herrschte hier eine Bombenstimmung und Hilmar hatte Bluthochdruck wie nie. Zum Glück sind die Wiederaufbauarbeiten des Nebengebäudes nun endlich abgeschlossen und Tommys Auge ist auch einigermaßen abgeschwollen.

Und weil man sich bekannterweise weder die liebe Familie noch seine Nachbarn aussuchen kann, allerdings leider immer wieder mit ihnen konfrontiert wird, hier wären im Besonderen zu nennen:

Agnes und Detlef Schnitzler:
Na, das ist wirklich ein feines Pärchen! Sie, eine selbstständige Unternehmensberaterin und er, ein Bauunternehmer und angeblich aufstrebender Lokalpolitiker. In Wahrheit ist das ein im Niedergang begriffener Möchtegern-Politiker, der es nie hoch geschafft hat aber der gerne bei diversen Eröffnungsfeierlichkeiten ungefragt seinen Senf dazugibt.
So blöd, wie die sind, denken die, wir bekämen es nicht mit, wenn sie mitsamt ihrer Brut hinter der Hecke unserer nachbarschaftlichen Feindeslinie lauern: Vor nicht allzu langer Zeit konnten wir die auf frischer Tat bei ihren nächtlichen Schandtaten ertappen. Aber wer denkt, die hören endlich auf damit, der irrt sich gewaltig: Sie töpfert weiter fleißig im kreativen Toskanaurlaub vor sich hin und stellt die so entstandenen Minen auch noch absichtlich direkt an der Grenzlinie zu unserem Grundstück auf. Wie gut, dass es da den knallroten A 5013, Superstar, Made in USA gibt.

Kommen wir zu Nancy, einer guten Bekannten, die ein paar Straßen von uns entfernt wohnt:
Deren Nachname und Alter dürfen hier niemals genannt werden, schließlich ist sie derzeit fleißig im Dunklen des Netzes unterwegs. Die vertickt mittlerweile, nach eigener Aussage, ihr besonderes Backwerk demnächst rund um den Globus.
Sie liebt Griechenland und vor allem den einen oder anderen griechischen Adonis dieses herrlichen Landes. Nancy erzählte mir einmal, dass fast jeder verheiratete Grieche, gleich welchen Alters, im Besitz von mindestens einer ausländischen Touristen-Geliebten sei, die ihn aushielte. Manch einer schafft sogar bis zu vier Touristinnen in der Sommersaison. Natürlich hintereinander, nicht gleichzeitig. Was dachten Sie denn?
Nancy erzählte mir letztens, dass die griechischen Lover an den Häfen sehnsüchtig auf ihre jeweilige Lebensabschnitts-Gefährtinnen warten. Das fand ich wiederum höchst interessant und so habe ich mir dazu mein eigenes Bild gemacht: Ich wundere mich darüber, wie wenig kreativ die Regierenden dieses wunderschönen Landes überhaupt sind. Bei uns muss mittlerweile für jedes Brötchen und Würstchen ein Bon zur Finanzierung des maroden EU-Staatshaushaltes her. Weshalb gilt das eigentlich nicht bei einem solchen lukrativen Geschäftszweig? Alleine von den Einnahmen dieser Freizeitlover könnte man höchstwahrscheinlich den gesamten griechischen Staat sanieren!

Ute Brügge:
Nancys Geschäftspartnerin und, ihrer Meinung nach, Nancys beste Freundin. Die spielt momentan und überhaupt hier keine wichtige Rolle.
Nancy fand sie aber immerhin erwähnenswert, deshalb musste an dieser Stelle nochmal nachgebessert werden.

Meine Schwiegermutter:
Die kommt zuletzt. Diese Frau war viermal verheiratet. Wie die zuletzt hieß, ist mir total entfallen. Seit einiger Zeit ist die mit Buddha liiert und wohnt in einem Kloster. Sie ist immer in Orange unterwegs und kommt in der Regel ungefragt hin und wieder zu Besuch.
Fragen Sie mich bloß nicht, wie ich dazu stehe. Es ist mir jedes Mal sehr unangenehm, sobald die mit den anderen orangefarbenen Bettüchern hier im Ort einfällt und die Vollglatzenträgerinnen im Pulk bei Aldi oder Lidl zum Einkaufen gehen. Nicht, dass mir das besonders viel ausmacht, aber die Leute tuscheln ohnehin genug!
Weiter möchte ich an dieser Stelle nicht auf diese Frau eingehen, sorry, selbst wenn die einen der Äste des Familienstammes belegt.

 



 









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Satireroman

 

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In der Nähe von Bad Münster-Eifel, 24.07.2015, 13.45 Uhr

Vorbereitungen ...

Mit einer Geschwindigkeit von über 100 km/h bretterten wir an diesem wolkenverhangenen Freitag an den Verkehrsschildern vorbei, die auf freilaufende Schulkinder hinwiesen, durch die Tempo 30er-Zone eines Wohngebietes.
Nancy, die Fahrerin des schokoladenbraunen Transporters mit der auffälligen, knallpinkfarbenen Werbeaufschrift, wandte sich mit einem kurzen Seitenblick an mich: „Keine Sorge, es sind Sommerferien, da haben die Kitas und Schulen allesamt dicht!“
In dem Augenblick, indem ich zu ihr sagte: „Nett von dir, dass du dir die Zeit nimmst, mit mir hierherzufahren. Und das, obwohl du doch erst gestern Abend aus dem Urlaub vom Flughafen zurückgekehrt bist!", blitzte es plötzlich linksseitig aus einer Mülltonne heraus. Daraufhin ging sie voll in die Eisen, kam nach einem längeren Bremsweg zum Stehen und der hinter uns fahrende Pkw bremste mit quietschenden Reifen.
Nancy fluchte wie ein Müllkutscher: „Diese verdammten A....löchrigen ...besch..... Straßenräuber! Diese S.... äcke, diese Aasgeier, Hur...s..e , Abzocker. Ständig nur abkassieren! Selbst vor Mülltonnen machen die nicht halt! Aber natürlich, irgendeiner muss ja die riesigen Staatsschulden und die Besoldung für dieses L.......... k bezahlen!“
Als in diesem Augenblick von dem nachfolgenden Wagen ein lautstarkes Hupkonzert einsetzte, brachte das die Autofahrerin nur noch mehr in Rage.
Blitzschnell sprang sie aus dem Auto und eilte nach hinten, um dem beinahe aufgefahrenen Mercedesfahrer durch seine heruntergedrehte Seitenscheibe jetzt tüchtig die Meinung zu sagen. Aufgebracht stand die schmale Gestalt in der schwarzen Lederjacke mit den breiten Schultern und der hautengen Jeans bedrohlich vor ihm. Mit wilder Gestik und lauten Worten wie: „Zuerst hältst du den Mindestabstand nicht ein, fährst mir fast drauf und fängst dann an mit dem Hupen. Da bleibt einem ja das Herz stehen! Was bildest du dir eigentlich ein, du Schwachmat, du Penner?“
Als er es offenbar trotzdem wagte aus dem Wageninneren heraus Widerworte zu geben, wurde es für ihn noch ungemütlicher und Nancy gab so richtig verbal Gas. Spätestens da war mir klar, warum es bei meiner langjährigen Bekannten aus der Nachbarschaft nie und nimmer mit einer Beziehung klappen würde. In diesem Augenblick lief hinter dem Mercedes eine Schlange auf und ein Hupkonzert sondergleichen brach los. Leider verstand ich jetzt von der Unterhaltung kein einziges Wort mehr, aber ihrer Gestik nach taktete sie ihm einiges um die Ohren, dass dem Hören und Sehen vergingen.
Als ihr Kontrahent trotzdem etwas erwiderte, bearbeitete sie mit der geballten Faust derart die Kühlerhaube, dass dem Fahrer der Mund wieder zufiel und der Benzstern vom Oldtimer abfiel. Nancy, die ihre Wasserstoffperoxid hellblondgefärbten schulterlangen Haare heute zu Rasterzöpfen geflochten trug, war als frühere professionelle Kickboxerin sogar einmal Zweite bei den Europameisterschaften geworden. In ihrem Fitnessraum, unten im Keller, hingen und standen zahlreiche Auszeichnungen und Pokale. Wenn man das dort sah, glaubte man es aufs Wort.
Während der schlaksige Vollbartträger wortlos ausstieg, um seinen Stern vom Asphalt zu retten, machte sich Nancy auf den Rückweg. Allerdings nicht, ohne den anderen hupenden Verkehrsteilnehmern als kleinen Abschiedsgruß einen kurzen Vogel zu zeigen. Vielleicht war es auch der Stinkefinger, ich konnte die interessanten Details nicht gut genug erkennen, da meine Brille zu Hause lag.
Mit der Bemerkung: „So, dem habe ich es aber gezeigt! Die ganze Zeit so dicht auffahren und sich danach beschweren, sobald man einmal bremsen muss“, nahm meine Fahrerin, mittlerweile wieder die Ruhe selbst, mit befriedigtem Gesichtsausdruck ihren Platz ein. Dabei ließ sie die Tür derart zuknallen, dass mir der, von ihr in mühsamer Heimarbeit, selbstgebastelte Traumfänger aus braunen Vogelfedern vor der Nase hin- und herflog. Eines ihrer Hobbys, neben dem Backen und Reisen, wie sie mir einmal erzählte. Vor allem, um „Runterzukommen" sei ein so kniffeliges Kunsthandwerk geradezu ideal, meinte sie.
Nach einer kleinen Gedankenpause fragte sie mich mit aufgeschreckten Augen: „Ach du scheiße, jetzt bin ich zu schnell gewesen! Wie viele Punkte gibt das eigentlich in Flensburg? Und was wird da kohlemäßig eigentlich fällig?“
Achselzuckend sagte ich: „Keine Ahnung, vielleicht ist sogar eine zeitweilige Entziehung der Fahrerlaubnis drin?“
In diesem Augenblick sah sie mich mit einem erschrockenen Blick aus grau-blauen Augen an: „Welche Fahrerlaubnis?“
Wegen meines perplexen Gesichtsausdrucks lachte sie sich schlapp: „Ha, war nur ein Scherz! Aber du bist glatt drauf reingefallen, was?“
Während sie schalkhaft über ihr hageres, gebräuntes Gesicht grinste, ließ ich meinen Blick zwischen den im Fahrerraum liegenden Müll hin- und herwandern: Überall auf dem Boden lagen zerrupfte Brötchentüten, Leergut, verschiedene mit Kaffeeflecken übersäte Schriftstücke mit und ohne Siegel, aufgerissene Chips- und Nusstüten, Kaugummi- und Bonbonpapier sowie zerknüllte Zeitungsseiten. Im hinteren Teil lag sogar eine Klopapierrolle, verziert mit bunten, niedlichen kleinen Drachenaufdrucken.
In diesem Augenblick wurden bei mir Erinnerungen geweckt, zurück zu meiner Kindheitszeit, als meine Eltern voller Befriedigung, den mit Mühe und Not bis zum Rand mit Gepäck gefüllten Kofferraum ihres Fords schlossen.
„So, auf geht es in den Urlaub. Italien, wir kommen!“, verkündete mein Vater voller Stolz. In meinen kindlichen Ohren klang das für mich, die noch immer die Kriegsbilder aus dem Fernsehen in Erinnerung hatte, über fünfundzwanzig Jahre nach dem Krieg, eher wie eine Drohung. Währenddessen richtete meine Mutter, das für sie vielleicht wichtigste Utensil überhaupt auf der Rücksichtsbank kniend aus: Ein von ihr, eigenhändig in Stäbchenoptik, fabrizierter orangefarbener gehäkelter Klohut thronte ab da genau in der Mitte, hinter meinem kleineren Bruder und mir, auf der Rückablage. Auf mich wirkte das geradezu majestätisch, wie er da als Statussymbol uralter deutscher Handwerkstradition, im Hintergrund von zahlreichen Aufklebern aus österreichischen- und bayrischen Landen präsentiert wurde. Meine Mutter mahnte im Kommandoton von vorne in den Fahrzeughinterraum: „Rike, jetzt nimm dem Tommy doch endlich diese Muschel aus dem Mund. Dass der auch immer an diesem süßen Zeug lecken muss. Davon bekommt er Karies und dann müssen wir wieder zum Zahnarzt. Nicht auszudenken, wenn er in Italien Zahnweh bekommt. Wer weiß, vielleicht steht dort auf dem Markt irgend so ein Metzger, der gleichzeitig Zähne zieht!“
Als ich dem Befehl folgte und beherzt in den halb geöffneten Schlund meines Bruders griff, setzte ein Geschrei sondergleichen ein und der über Dreijährige begann sich, mit Händen und Füßen, zu wehren. Während er, sehr schmerzhaft für mich und meine Knie, mit seinen Schuhen nach mir trat, brüllte er schrill, dass man fast einen Hörsturz bekam, aus Leibeskräften: „Nein!!! Nicht Muschi wegnehmen. Will Muschi lecken! Du dumme Nuss! Geh` weg!“

Damals wie heute wäre für mich nichts dagegen einzuwenden, wenn man ihn im Kaufhaus als Prototypen der ersten Warensicherung als Sicherheitsetikett irgendwo angetackert hätte.
Selbst vierzig Jahre später konnte er bis zum heutigen Tag nicht von dieser merkwürdigen Angewohnheit ablassen und nicht zuletzt deshalb scheint er mit seinem Dating-Handy eng verschmolzen zu sein.
Aber immerhin verschwand irgendwann die Klorolle von hinten.
Anlässlich eines Spanienurlaubs erbrach sich Tommy nämlich einmal in einer, von unserem Papa sportlich genommenen, scharfen Linkskurve. Als ich, in Ermangelung einer Tüte, stattdessen, die umgedrehte Kloumhüllung nahm, fand dieses handwerkliche Meisterstück meiner Mutter ihr trauriges Ende in einem Mülleimer eines Rastplatzes.
Aber im Gegensatz zu Nancys Transporter heute sah es damals im elterlichen Auto immer tipp topp aus. Hier, bei Nancy könnte man alleine von den überall verteilten bröseligen Inhalten der herumliegenden Verpackungen in Notzeiten gut eine Woche überleben. Im Hinblick auf das, auf der Rückbank abgelegte großformatige Buch mit englischem Titel: „Best home made cannabis-cakes from Nancy", fragte ich voller Neugierde: „Ach, deine Backbücher sind schon gedruckt?“
Ein freudestrahlendes Lächeln zog sich daraufhin über ihr Gesicht.
Voller Stolz warf sie einen kurzen Blick nach hinten und meinte: „Ja, die sind zum Glück fertig. „Best home made cannabis-cakes from Nancy, läuft wie geschmiert. Vor allem in den USA ist es der Renner. Aber auch in England, Schweden und den Niederlanden läuft es wie Butter! Das da ist übrigens bereits die zweite Auflage, die ich noch in meinem Urlaub in Auftrag gegeben habe. Hierzulande steht es unter „Kekse backen mit Cannabis mit Nancy", lediglich im Darknet.“
„Was? Schon die zweite Auflage?“, staunte ich, während ich nach dem glänzenden Buch griff, um einen Blick hineinzuwerfen.
Nun ging es in gemäßigterem Tempo weiter. Statt der innerorts erlaubten 50 km/h, mit etwas über 70 km/h. Einige ahnungslose Fahrrad- und Rollerfahrer fuhren erschrocken zur Seite und ein Rollerfahrer fand sich im Grünstreifen wieder.
„Die dürfen hier eh nicht auf der Straße fahren, diese neuen Roller“, bemerkte sie, während sie forsch die Einfahrt zur Tankstelle nahm: „Die Dinger sind dafür gar nicht zugelassen, das sind noch mehr Verkehrshindernisse, neben den vielen Radfahrern und Fußgängern. Am schlimmsten sind die Kids, die rennen einfach planlos über die Straße. So, ich werde den Wagen jetzt erst einmal gründlich sauber machen. Ein dreckiges Auto macht keinen guten Eindruck, so kann man die Waren nicht ausfahren. Und gleich nach dem Waschen fahren wir für dich zum Baumarkt und holen das Regal ab. Hoffentlich passt es noch hinein. Wenn wir die Kartons hinten ein bisschen zur Seite räumen, müsste es gehen!“ Zügig lenkte sie den Lieferwagen mit der pinkfarbenen Aufschrift Naschwerk - nur für Erwachsene, in Richtung Waschanlage.
„Während der Autowäsche könntest du mir einiges erzählen und wir sprechen das Ganze dann ins Diktaphon. Leider muss ich heute nach Frankfurt, wir machen da eine Zweigstelle auf. Deshalb habe ich vorhin in aller Herrgottsfrühe den Wagen beladen. Läuft übrigens super, das Geschäft, schon alleine wegen der Banker. Ute ist nicht zuzumuten, dreimal die Woche dorthin zu fahren. Eine Bekannte von ihr übernimmt das Frankfurtgeschäft. Die Ute meint, dass man sich auf die verlassen kann. Ist gar nicht so einfach, heute gute Leute zu finden. So ein Mist, noch einer vor uns!“, bemerkte sie, während sie anhielt, ihr Smartphone von der Ablage nahm, um die neuesten Nachrichten zu checken.
Vor uns, aus dem weißen SUW, ging die Tür auf und ein farblich passend zum Wagen gekleidetes kleines Männlein mit gewissen Ausstiegsproblemen stieg aus. Das Ganze erinnerte an die ersten Filme über die Mondlandungen und die Astronautenbegrüßungen hinterher auf der Erde. Jetzt blickte sie auf und ein Grinsen zog sich über ihr Gesicht: „Nun guck dir den da an! Der kommt mit den Füßen kaum aus seiner Kiste heraus, der braucht eine Trittleiter! Das ist ja wieder einmal typisch. So ein Kleiner muss so einen Großen fahren!“, sie zeigte auf das, von ihr vermutete Minimaß des Fahrers und grinste sich eins.
„Ha, schau mal da, jetzt linst der tatsächlich zu uns herüber. Vielleicht der nächste Kunde?“, fragte ich.
Ein Lächeln zog in ihr braungebrutzeltes Gesicht ein, dass das Ergebnis eines achtwöchigen Griechenlandurlaubs mit Inselhopping von Kos nach Rhodos und von da aus von Kreta nach Santorin war. Während Nancy, wieder abgelenkt von den eingehenden Mails, über ihr Handydisplay strich, meinte sie: „Wir führen jetzt übrigens auch Viagra. Bei uns ist es viel billiger als in den anderen Internetläden.“
„Klar, das war ja irgendwie naheliegend!“, gab ich zur Antwort.
„Also, wenn du und Hilmar einmal etwas braucht, ihr bekommt wirklich alles bei mir und selbstverständlich zum Großhandelspreis.“
Lässig winkte ich ab: „Nö du, lass mal, danke. Aber dass du mich jetzt nicht missverstehst, deine Kekse und die Pralinen schmeckten sagenhaft. Echt super. Jedenfalls war die Wirkung damals, als ich das Zeug versehentlich bei dir probiert habe, phänomenal. Derzeit ist bei uns kein Bedarf da für so etwas. Nein, wirklich nicht!“
Wenn ich nur an damals dachte, wurde mir noch immer speiübel. Da kommt man nur mal eben zu Fuß zu einer kurzen Stippvisite, zu der einige Straßen weiter wohnenden Nachbarin vorbei und dann ist das beinahe ein Besuch ohne Wiederkehr. Fast hätte ich die Radieschen oder besser gesagt, das Gras von unten betrachten dürfen. Diese gemeingefährlichen Plätzchen lagen auf der Esstheke ihrer Küche wie auf dem Präsentierteller. Nicht vorzustellen, wenn so etwas in Kinderhände geriet. Wer konnte denn da ahnen, welche Folgen eine derartige Verkostung haben würde?
„Ich wäre damals bei meinem Besuch bei dir beinahe an einer Vergiftung gestorben!", sagte ich, die nicht länger einsah, dieses Geschehnis als ein kleines Versehen abzutun.
Nancy, die wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf ihr Display sah, erstarrte, dann sah sie mich an und schlug sich schließlich vergnügt auf die Oberschenkel. Dann prustete sie los: „Vergiftet! Mit Gras! Man! Ist das gut! So etwas habe ich ja noch nie gehört! Voll die Comedy hier!"
Mit ernsthafter Miene blieb ich sitzen. Man, die hatte vielleicht Nerven! Fast wäre ich gestorben, weil die Anführerin einer skrupellosen Bande dieses Zeug wie zu einer kostenlosen Verkostung bei Biofrost auf den Präsentierteller gelegt hatte. Und zu allem Überfluss riskierte die auch noch auf meine Kosten eine dicke Lippe! Für die beiden Grazien, Nancy und Ute, war es seinerzeit bloß ein großes Glück, das ich dicht gehalten hatte. Sonst hätten die aber die schwedischen Gardinen mehrere Jahre von innen gesehen, darauf gehe ich jede Wette ein!
Immer noch lachend wischte sie sich die Tränen aus den Augen, dabei zog sie sich das verlaufene Mascara gleich streifenweise quer durch das Gesicht. Ich schwieg. Sie sagte: „Na, du hattest es doch gut bei mir. Kost und Logis für mehrere Tage frei und du brauchtest deine Schwiegermutter und die anderen orangefarbenen Betschwestern nicht zu beköstigen und Hilmar musste sich stattdessen mit seiner Mutter & Co. abplagen. Schließlich warst du ja auf der Flucht vor denen. Als du dann nach Hause kamst, waren die wieder weg."
„Ja aber nur mit Mühe und Not konnte ich Hilmar davon abbringen, mich bei den Anonymen Alkoholikern anzumelden. Nur weil du ihm als Ausrede aufgetischt hattest, ich würde mich im absoluten Vollrausch befinden und er sollte mal besser auf mich acht geben. Was meinst du, wie Lisa und Steffi mich angesehen haben! Nicht auszudenken! Ihre Mutter eine Alkoholikerin! Die hatten mich doch schon auf der Straße liegen gesehen!", bemerkte ich. Von diesem Tag an gab es zu Weihnachten und zum Geburtstag keine Weinbrandbohnen oder leckeren Rumtrüffel mehr. Selbst das Verschenken von Marzipan hielt mein Nachwuchs für bedenklich. Lediglich Hilmar bekam sich wieder ein. Nachdem er mir beim Abendessen den Tischwein verweigern wollte, schenkte ich ihm endlich reinen Wein ein. Daraufhin meinte er trocken: „Na, du hältst dich demnächst besser von der Nancy fern. Wer weiß, was der noch so alles einfällt. Einen Job hat sie dir bereits angeboten? Pass bloß auf. Wir haben genug andere Probleme am Hals. So etwas hat uns, bei all den Schwierigkeiten, noch gefehlt."
In meine Gedanken hinein meinte Nancy kopfschüttelnd, während sie mit den Fingern flink über die Tastatur ihres Displays tippte: „Nun reg` dich mal wieder ab. So schlimm war das Ganze auch nicht. Was soll ich denn sagen? Wenn ich nur an meinen armen Pluto denke! Mein Baby. Ich weiß ja nicht, wie viele Kekse du ihm gegeben hast. Aber ich dachte, er schafft es nicht. Ich konnte doch nicht zum Tierarzt gehen und da erzählen: Mein Hund hat Cannabiskekse gegessen. Nicht auszudenken. Der war erst nach einer Woche einigermaßen der Alte, die ganze Zeit hat der nur geschlafen und gefressen! Und geschnarcht hat der! Deshalb musste ich nebenan im Gästezimmer schlafen, bis der wieder clean war."
Während sie sprach, blickte ich, die sich soeben diese allesfressende Riesenweißwurst auf vier Beinen bildlich vorstellte, schweigend durch die Seitenscheibe: „Trotzdem. Das Angebot mit dem Superrabatt gilt nach wie vor für meine besten Freunde. Bei den vielen Ehescheidungen ringsherum. Da werden Lahme wieder munter."
„Nein danke, bei uns ist alles gut", äußerte ich und fügte vorsichtshalber noch ein, meiner Meinung nach, überzeugend klingendes: „Wirklich!", hinzu.
Sie sah mich mit ihrem „Na, wer-weiß-Blick an und entgegnete: „Ich wollte es dir nur einmal anbieten. Für den Fall der Fälle. Bei den vielen Ehescheidungen ab Mitte der Vierziger kann man ja nie wissen.“
Schließlich ging ihr offenbar ein anderer Gedanke durch den Kopf: „Ach, du entschuldige. Ich hatte es vorhin so eilig und wir haben uns jetzt so lange nicht gesehen: Erzähl mir mal Genaueres: Wie war es denn so im Frauenknast?“
Während sie erneut, wie die Schlange die Maus, ihr Handy fixierte, erzählte ich: „Ähm, ja, was soll ich sagen? Die Einrichtung ist in so einem Knast ziemlich spartanisch, aber dafür das Essen sehr gut. Zufällig war die Knastköchin eine Sterneköchin, die wegen Steuerhinterziehung drin saß. Vielen Dank auch für die Kekse und die Pralinen, die waren die pure Nervennahrung. Vor allem bei den schönen Postkarten aus dem Urlaub bekam ich selbst richtige Reisesehnsucht. “
„Ja, leider waren das Kekse ohne Füllung, die blieb aus naheliegenden Gründen draußen. Die Süßigkeiten hat dir übrigens die Ute auf meine Anweisung hin zugeschickt. Obwohl du das gut im Knast hättest tauschen können gegen Zahnpasta zum Beispiel oder Hochprozentigen. Musstest du da eigentlich Kugelschreiber zusammensetzen und Kartons falzen?“, wollte sie interessiert wissen und blickte zwischendurch einmal vom Display auf zu mir.
„Nein, das war ja nur die Untersuchungshaft und ich saß letztendlich nur drei Monate drin. Jetzt bin ich ja zum Glück wieder auf freiem Fuß!“
Mit skeptischer Miene warf sie einen schaudernden Blick auf meine zusammengebundenen Haare: „Du, sag mal: Sind eigentlich deine Haare nicht ein ganzes Stück kürzer? Musstest du da etwa zum Knastfriseur? In den Dokus über Gefängnisse zeigen die immer, dass man den Insassen vorher den Kopf ratzekahl abrasiert und dann müssen die solche einheitlichen Overalls anziehen.“
Was diese Sache anging, konnte ich sie beruhigen: „Nein, das machen die doch in den USA oder Russland. Ich war gestern beim Friseur und die Friseuse hat es leider zu gut gemeint. Aber immerhin sind sie noch schulterlang. Übrigens kommt mein Fall erst jetzt zur Verhandlung. Mein Anwalt meinte, dass die mit der Klage keinen Erfolg haben werden. Schließlich gibt es genug Zeugen, die für mich eine Aussage machen. Es ist geradezu lächerlich, wenn man sich überlegt, dass die ihre zwei privaten Sicherheitsleute als eine ganze Sondereinheit bezeichnen. Außerdem hätte man mich und die Frau Meitgen gar nicht auf dem Stuhl aus dem Bankgebäude tragen dürfen, das gilt als eine astreine Freiheitsberaubung. Deshalb klagt mein Anwalt jetzt auf Schmerzensgeld. An der Anklage ist nicht das Geringste dran. Dieser angeblich von mir unangemeldete Aufruf zu einer Demonstration gegen die Bank, auch der ist erstunken und erlogen. Lächerlich. Lediglich die Sache mit dem Oldtimer bereitet mir noch Sorgen.“
Aufgeregt rief Nancy: „Mensch! Da könnte für dich ja richtig Kohle drin sein. Vielleicht zahlt dir die Bank sogar aus Angst vor schlechter Presse eine Millionen-Abfindung!"
Skeptisch entgegnete ich: „Deshalb hatte ich mich bereits erkundigt. Leider sieht das nicht danach aus. Wir sind hier nicht in Amerika, da wäre bestimmt eine solche Schadensersatzklage erfolgreich."
Jetzt verzog Nancy bedauernd das Gesicht: „Oh du, mir tut es echt leid, dass ich dich nicht besuchen konnte. Du Arme! Während ich mich unter der strahlenden Sonne Griechenlands amüsiert habe, musstest du im dunklen Kerker auf alles verzichten. Du, die Ute und ich, wir wären gerne gekommen ... aber aus naheliegenden Gründen wollten wir davon Abstand nehmen. Du verstehst doch, warum?“
Ich winkte ab: „Klar, kein Problem. Hilmar kam jeden Tag und auch Lisa und Steffi.“
„Na gut, dass du deine beiden Kids hast. Die sind ja bereits erwachsen. Was läuft denn so bei Lisa in puncto Männer?“
„Äh, sie hat Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Mal abwarten. Mittlerweile bekommt sie Torschusspanik und meint, sobald eine Frau die Dreißig überschritten hat, dann wäre das Leben vorbei und sie bekäme keinen mehr ab. Die besten neuwertigen Modelle seien genauso wie die teure und reduzierte Modebekleidung irgendwelcher bekannten internationalen Labels bereits vergriffen. Sie würde sich ja auch keine Secondhandklamotten kaufen, selbst wenn das jetzt der Trend sei. Und einen aus zweiter Hand will sie nicht. Bei Steffi ist dieses Thema mit ihren zwanzig Jahren ebenfalls ein Dauerbrenner!“
Mit einem hohen Signalton ging eine erneute E-Mail ein, die Nancy unverzüglich beantwortete. Nichtsdestotrotz sprach sie weiter: „Gut, wir sind alle einmal jung gewesen. Aber mit über dreißig wird die Sache schwierig, da hat sie recht. Sag` mal, wie wäre es denn mit einem temperamentvollen, verständnisvollen Griechen? Einem italienischen Casanova? Oder einem charmanten Franzosen? Also, ich könnte ihr da einige Adressen nennen. Ein paar nette Bilder habe ich auch, die hat deine Lisa bestimmt nicht in dem Reisebüro, in dem sie arbeitet, parat. Ich würde ihr da gerne weiterhelfen und wertvolle Tipps geben. Nein, du brauchst mich gar nicht so skeptisch anzugucken, ich bin eine sehr empathische Zuhörerin und spreche aus meiner Lebenserfahrung heraus. Ach, wenn ich daran denke, wie bewegend mein damaliges Liebesleben war. Aber es ist nicht vorbei, ganz im Gegenteil." Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte plötzlich ihren Mund und einen Moment fühlte ich mich an den Louvre und die Mona Lisa erinnert.
Sie fuhr fort: „Übrigens: Du kannst dir überlegen, ob du nicht berufsmäßig bei uns einsteigen willst. Das Angebot steht jedenfalls!“
„Ja, danke. Aber im Augenblick, also ... ich denke, eher nicht. Hilmar meinte letztens noch, wir hätten so viele Scherereien. Außerdem habe ich doch diese Pechsträhne!"
Als ich daraufhin ihren aufmerksamen, skeptischen Blick auffing, fügte ich eilig hinzu: „Eins kannst du mir glauben, ich habe ihm nichts erzählt, was damals gewesen ist. Ehrenwort.“
Leider fiel mir zu spät ein, wer seinerzeit vor laufenden Mikrofonen ebenfalls sein Ehrenwort gegeben hatte und sich danach tot in der Badewanne eines Schweizer Hotels wiederfand.
Plötzlich wurde Nancy erneut abgelenkt, sie schien meine letzten Worte gar nicht wahrgenommen zu haben und fluchte laut: „So ein Mist! Verdammt. Diese Arschlöcher: Alles probieren und dann die Hälfte reklamieren. Jetzt wollen die ihr Geld zurückhaben, das bekommen die aber nicht. Das wäre ja noch schöner, erst ordentlich verköstigen und danach umtauschen. Wenn da nicht System dahintersteckt! Vor Gericht werden die sich jedenfalls nicht wagen. Na, die können etwas erleben."
Während sie auf dem Bildschirm weiterscrollte meinte sie nachdenklich: „Eigentlich könnte doch die Transe von nebenan das Geld für euch mit einer Bühnenshow wieder einfahren. Wie wäre es denn mit dem kommenden Dorffest? Der Auftritt wird auch vom Heimatverein bezahlt.“
Diesen Vorschlag wehrte ich sofort ab: „Nein, lass mal. Du, die Hermi ist derart durcheinander, ich glaube, sie bekommt kein einziges Lied zustande.“
Mir fiel etwas ein und ich kramte einige Postkarten aus meiner Tasche: „Ach, du. Bevor ich es vergesse. Das hier hat der Postbote einmal wieder bei uns falsch eingeworfen!“
Sofort griff sie mit ihren schmalen Händen nach den Karten, drehte und wendete sie kurz und ließ das vertauschte Postgut kommentarlos in ihrer riesigen Handtasche verschwinden. Von ihrem Handy aus machte es „Bling" und sogleich widmete sie sich einer offenbar brandneuen Nachricht.
In die Stille hinein sagte ich: „Man müsste sich echt mal gemeinschaftlich bei der Post beschweren, das passiert doch dauernd.“
Sie warf mir einen kurzen Blick zu und meinte: „Wieder zwei Großbestellungen. Die muss ich, sobald ich zu Hause bin, gleich fertigmachen. Du! Mir fällt da gerade ein, dass bei mir für euch etwas eingeworfen wurde. Irgendein an dich gerichteter Brief von der Staatsanwaltschaft. Den gebe dir demnächst, wenn ich daran denke. Es könnte allerdings auch sein, dass ich ihn im Wagen liegen habe. Moment einmal, vielleicht liegt er hier irgendwo. Du! Guck mal, ob du ihn findest. Vor dem Urlaub hatte ich ihn, das glaube ich zumindest, in der Eile direkt von meinem Postkasten ins Auto gelegt."
Nun kreisten ihre Augen wie ein Detektor suchend durch das Wageninnere. Dann fiel ihr etwas anderes ein: „Sag mal: Hatte ich euch eigentlich seinerzeit das letzte Protokoll für Hilmar gegeben? Das muss schon ein Weilchen her sein. Ich meine, das war vor deinem Knastaufenthalt.“
Im ersten Augenblick regte sich bei mir tiefe Empörung und ich dachte mir meinen Teil: Also, das war wirklich nicht zu glauben! Die sagte kein Sterbenswörtchen wegen der Postkarte aus Kreta mit einem Eros Dingsdabumsda darauf. Ich wollte einmal zu gerne wissen, ob der tatsächlich so heißt oder ob das irgend so ein Künstlername ist. Jedenfalls hatte der eine Sauklaue, die Schrift war kaum entzifferbar und es war kein Wunder, dass diese offenbar selbstfabrizierte Karte eigentlich so gut wie gar nicht zustellbar war. Außerdem präsentierte der sich fast nackig von vorne. Geschmacklos, das Ganze. An der entscheidenden oder nichtentscheidenden Stelle befand sich zwar ein Palmblatt aber vermutlich hätte es auch das Blatt eines Olivenbaumes getan. Dann bekam sie noch einen weiteren Brief in Englisch, aus dem der Schmalz nur so heraustriefte. Der war von einem Ajax, von dem ich zunächst annahm, dass es sich dabei um eine Reinigungskraft ihres Ferienhauses auf Kos handeln könnte. Über die dritte Karte mit dem Elefanten mit dem langen Rüssel darauf sagte sie ebenfalls kein Sterbenswörtchen. Als wenn es auf Mallorca einen Safaripark gäbe! Nicht, dass es mich großartig interessieren würde, was die auf Malle und in Griechenland so trieb, das blieb alleine ihre Sache. Aber dass so etwas in einem EU-Land geduldet wurde, dass einer sein Aktfoto gleich als Postkarte abschicken durfte, war einfach unfassbar. Wo kommen wir eigentlich hin, wenn das jetzt jeder macht? Werden irgendwann auch noch die Briefmarken mit irgendetwas Unanständigem aufgepinselt?
Schon aus dem Grund besaßen solche Länder meiner Meinung nach keinerlei Berechtigung zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union! Außerdem, wenn das ein Kind sah! Zum Glück arbeitete Steffi an diesem Tag auf einer Praktikumsstelle, denn in der Regel ist sie oft diejenige, die die Post herausholt.
Warum nahm der griechische Staat von seinen Gigolos, die regelmäßig gutbetuchte, abgehalfterte deutsche Touristinnen an den Häfen abgriffen, eigentlich keine Steuern? Hierzulande wurde doch auch jeder besteuert! Dann wären die Griechen und die EU dieses Schuldendesaster endlich los!
Aber Nancy machte keine Anstalten, mir die Verhältnisse wenigstens einigermaßen zu erklären und das, obwohl sie mir vorhin diese unmoralische Offerte für Linda gemacht hatte. So ist es immer: Was in der Kindheit versäumt wurde, holt der Erwachsene nicht mehr auf.
Nun, bitte schön, wozu gibt es Papierkörbe oder noch besser: Papierzerkleinerer.
An dieser Stelle musste ich ihr jetzt aber einmal klipp und klar meine Meinung sagen: „Du, hör mal, um auf das Diktieren mit dem Diktaphone zurückzukommen: Die Änderungen, die du letztens vorgeschlagen und diktiert hast, die konnte ich im Knast gar nicht abhören. Außerdem ist das Sprechen auf Tonband in der Waschanlage wirklich keine gute Idee.“
Nancy sah mich nun voller Aufmerksamkeit an und entgegnete: „Dann lassen wir das heute. Eigentlich wollte ich, da ich nachher woanders hin muss, das Ganze bei der Autowäsche mit dir beratschlagen und aufnehmen.“
Kopfschüttelnd sagte ich, während ich beobachtete, wie das kleine weiße Männlein vor uns seinen hellen Panzer bestieg und anfuhr: „Weißt du, ich habe da noch so einiges an Änderungen und für so ein Buch braucht es schon mehr Vorbereitungszeit. Das kann man nicht so einfach hier zwischen Tür und Angel besprechen!“
In diesem Moment setzte Nancy ihrerseits den Wagen in Gang, legte das Handy zur Seite und fuhr in die Waschanlage: „Ich würde sagen, wir bequatschen das irgendwann in der nächsten Woche. Wie wäre es mit Sonntag?“
„Du, da ist es ganz schlecht! Weißt du was? Ich habe mir einmal überlegt, dass ich, um die Sache für die Zukunft zu vereinfachen, alles, was bei uns so passiert, sofort aufschreibe.“



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tagebuch
15.10.2013:

1. Kapitel

Wer die Wahl hat …

Zehn Tage vor dem Countdown zur Kommunal- und Europawahl, da gab der Detlev Schnitzler von nebenan plötzlich auf.
Jeder im Ort fand, dass die aufgedeckten Schandtaten des Bürgermeisteranwärters kein gutes Licht auf diesen Kandidaten warf und er erst auf öffentlichen Druck hin seinen Rücktritt bekannt gab. Vor allem in Zeiten, in denen überall auf der Welt vom Naturschutz geredet wurde, ließ unser Nachbar Schnitzler als Bürgermeisterkandidat wirklich nichts aus, um von einem Fettnäpfchen ins nächste zu schliddern.
Von keinen Geringeren als meiner Familie wurden er und seine nichtsnutzige Brut dabei ertappt, wie sie nachts mit zwei gefüllten Eimern zu einem Steinbruch fuhren, um sich der, hinter unserem Grundstück eingesammelten Salamander zu entledigen. Um endlich die von ihm geplante Baugenehmigung zu erhalten, plante der, den Fortbestand des seltenen Feuersalamanders in der Gegend zu dezimieren. Zum Glück gibt es heute Handys, mit deren Hilfe man stechend scharfe Aufnahmen und Videos als Beweismittel machen kann.
„Dabei ist dieses Gebiet rund um den Steinbruch überhaupt nicht für diese Amphibien geeignet, die Salamander würden dort allesamt nicht überleben“, meinte Hilmar und erstattete umgehend Anzeige gegen den Kandidaten.
Unbedingt erwähnenswert ist, dass die kriminalistische Aufdeckung des Falls Steffi und ihrem zeitweiligen Freund Lukas zu verdanken war. Nächtelang legten sie sich zur Überführung der Täter auf die Lauer. Mit dem Motorroller folgten sie den Verbrechern und machten mit ihren Handys Aufnahmen vom Aussetzen der armen Kreaturen.
Als dies am nächsten Tag im Internet zu sehen und zu lesen war, gab es einen Riesenskandal über die Gemeindegrenzen hinweg.
Eigentlich sollte man annehmen, dass so ein überführter Bürgermeisterkandidat sofort von seiner Kandidatur Abstand nimmt. Aber weit gefehlt! Da erwies sich der Schnitzler als ganz sturer Hund, der die Sache zunächst versuchte durch Aussitzen irgendwie hinter sich zu bringen. Tatsächlich dachte der, dass er wieder einmal mit einem blauen Auge davonkam! Glücklicherweise ließ die hiesige Presse nicht locker und hakte sich an den Fall fest. Belagert von mehreren Lokaljournalisten verbarrikadierten sich die Schurken von nebenan in ihren eigenen vier Wänden. Die grauen Fensterläden an ihrem modern gestylten Betonbunker blieben auch tagsüber auf beiden Etagen zu. Vermutlich war da deren Alexa im Spiel, die sofort den Securety-Modus anwarf und alles dichtmachte. Eine Weile lebten die so, wie die Maulwürfe, unter den Erdhügeln auf unserer Wiese. Nachts sah man aber einen Lichtschein aus der Küche, also waren die nicht, wie die Waltraud Berger aus dem vorderen Haus anfangs vermutete, heimlich in den Urlaub abgerauscht.
Irgendwann, vermutlich, als drinnen die Lebensmittel ausgingen, kam die Bagage nach und nach, so wie die Motten das Licht suchen, wieder ans Tageslicht. Vorsorglich hatten die ihre Kinder zuvor aus der Schule genommen wegen eines angeblichen Todesfalls einer entfernt lebenden Verwandten.
Zufällig war ich an jenem Morgen dabei, als die Agnes Schnitzler die Wut zumindest eines Teils unserer Dorfgemeinschaft zu spüren bekam:
Mit mehreren Kunden stand ich freitags im Bäckerladen, als die Agnes Schnitzler ihren Zweitwagen, einen Sportschlitten, wie üblich vor dem Geschäft mit laufendem Motor stehen ließ.
Sie stieß die Glastür bis zum Anschlag auf, die der Markus Schneider, aus der unteren Dorfstraße, beinahe ins Kreuz bekam. Dann hetzte die, eingehüllt in eine süße Parfümwolke, an der Schlange vorbei in Richtung Bedientheke mit den Worten: „Sorry! Ich habe es total eilig. Könnten Sie mich einmal kurz vorlassen! Ich habe es auch passend dabei!", damit hielt sie ihre riesige Geldbörse wie eine Siegertrophäe hoch: „Ein Landbrot bitte und vier Rosinenschnecken! Der Rest ist Trinkgeld!"
Voller Hektik öffnete sie die braune Börse, zog einen Schein heraus und fuchtelte mit einem Zwanzigeuroschein der erstaunten Verkäuferin über die Ladentheke entgegen. Sofort herrschte im Laden eine derartige Stille, ich sag` mal, da hätte man sogar einen Floh husten gehört.