Band 277
Die schlafende Göttin
Lucy Guth
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Cover
Vorspann
1. Vorhofflimmern
2. Die Nachricht
3. Atlan erinnert sich ...
4. Etwas Persönliches
5. Geheimnisse
6. Die Meinung einer Mutter
7. Kurz zuvor: Gelöste Fesseln
8. Das trojanische Pferd
9. Bradbury Central
10. Getarnt
11. Sandschwimmen
12. Paranoia
13. Die Marsianerin
14. In der Wüste
15. Der Tartaros
16. Der Angriff
17. Geschrei
18. Der Sandkrake
19. Der Garten der Ewigkeit
20. Das Erwachen
21. Das Verwehen der Sandrose
22. Unterdrückte Rache
23. Der Naat
24. Rhudhinda
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Vor sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen. Seither konnte die Menschheit zu den Sternen aufbrechen und hat fremde Welten besiedelt. Dann werden die Erde und der Mond in den fernen Kugelsternhaufen M 3 versetzt.
Als Rhodan diesen Vorgang rückgängig machen will, verschlägt es ihn 10.000 Jahre in die Vergangenheit. Nach seiner Heimkehr im Jahr 2107 stellt er fest: Die Überschweren mit ihrem Anführer Leticron haben die Welten der Menschen erobert.
Da trifft auf der SOL ein geheimnisvoller Funkspruch ein. Er enthüllt, dass die Mutter des unsterblichen Arkoniden Atlan, die Leticron vor 10.000 Jahren entführt hat, noch immer am Leben ist. Sie wird anscheinend auf dem Mars gefangen gehalten.
Atlan will sofort aufbrechen, um sie zu retten. Perry Rhodan hält das für zu riskant, und die alten Freunde geraten in Streit. Aber Atlan lässt sich nicht beirren – auf ihn wartet DIE SCHLAFENDE GÖTTIN ...
1.
Vorhofflimmern
Vorsichtig warf Atlan da Gonozal einen Blick aus der Tür. Sofort zuckten Thermostrahlen über ihn hinweg, und er zog hastig den Kopf zurück.
»So geht es nicht«, raunte er seinen beiden Begleitern zu. Mirona Thetin und Perry Rhodan waren ebenso wie er unbewaffnet und in ziviler Kleidung – sie verfügten also über keinen Schutzschirm. »Wenn uns einer der Schüsse trifft, sind wir sofort tot. Die Gon-Mekara verwenden keine Paralysestrahlen, sondern nur Thermofeuer.«
»Das schaffen wir nie«, prophezeite Mirona düster. »Zwischen uns und der Zentrale ist eine Überzahl von Überschweren. Wie viele uns dort erwarten, wissen wir nicht mal. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, die Zentrale ohne Schutzschirme und nur mit waffenlosem Kampf zurückzuerobern.«
»Warum so negativ, Miss Thetin? So kenne ich Sie gar nicht.« Rhodan grinste. »Einfach kann doch jeder. Stellen wir uns der Herausforderung!«
Er sagte es im Scherz, Atlan bereitete Mironas Stimmung jedoch ernsthafte Sorgen. Seit der Rückkehr der SOL aus der Vergangenheit war sie rastlos, ihre Gedanken blieben düster. Wahrscheinlich hing das mit ihrem Zellaktivator zusammen. Ihm selbst ging es schließlich ähnlich; auch ihn bedrückte der Gedanke, dass die verstörenden Aussetzer dieser lebensverlängernden Objekte jederzeit wieder auftreten konnten. Während ihres Aufenthalts in der Epoche der Methankriege hatten sich die zwei Geräte zwar irgendwie aufgeladen, doch seit sie zurück waren, mehrten sich die Anzeichen, dass dies nicht von Dauer sein würde. »Vorhofflimmern« hatte Sam Breiskoll, der Chefarzt der SOL, die zuweilen bereits spürbaren Herzstörungssymptome genannt. Nicht tödlich – noch nicht – aber alarmierend.
Momentan hatten sie jedoch keine Zeit für diese unheilvollen Überlegungen.
»Auf was warten wir dann?«, fragte Atlan betont munter. »Wir haben eine Zentrale zurückzuerobern!«
Rhodan nickte. »Du links, ich rechts?«
Mirona spannte die Muskeln an. »Dann ich wohl geradeaus!«
Atlan warf eine Energiezelle, die er so manipuliert hatte, dass er sie als Sprengkörper verwenden konnte, aus ihrer Deckung ins Freie. Deren explosive Entladung lenkte die Überschweren ab. In der kurzzeitigen Konfusion sprangen auf Atlans Zeichen hin alle durch den Ausgang des künstlichen Hügels auf der Habitatebene drei, in dessen Innenräumen sie Zuflucht gesucht hatten. Zwischen ihnen und der Zentrale befanden sich nur noch dreißig Meter – und ein Dutzend schwer bewaffneter Gon-Mekara. Atlan wandte sich wie abgesprochen nach links und suchte Schutz hinter einem Felsen. Von dort aus schlug er einen Haken und rannte auf einen Gon-Mekara zu.
Schwer bewaffnet, ja, aber keine Individualschutzschirme, stellte er befriedigt fest, als er den Überschweren mit einem Dagorgriff überwältigte und dann wie einen lebenden Schutzschild vor sich hielt. Worauf er schon etwas stolz war, denn die Gon-Mekara waren nicht gerade Schwächlinge. Das ist dann wohl ausgleichende Gerechtigkeit. Sonst hätten wir überhaupt keine Chance.
Mit dem Überschweren im Schwitzkasten kämpfte sich Atlan voran, verwendete ihn sowohl als Deckung als auch als Stütze, nutzte die Masse des Gon-Mekara, um weitere Gegner durch Sprungtritte auszuschalten oder mit gezielten Kicks zu Fall zu bringen.
Ein Blick zu Rhodan zeigte ihm, dass der Terraner eine ähnliche Taktik gewählt hatte. Sein Dagor war gut, wenngleich nicht so ausgereift wie das von Thora oder Atlan selbst. Atlan war Tai-Laktrote, ein Dagorgroßmeister, und diesen Rang erreichte man nicht nebenbei. Die Einzigen, die es im waffenlosen Kampf derzeit mit ihm aufnehmen konnten, waren Thora Rhodan da Zoltral – ebenfalls eine Tai-Laktrote – und Mirona Thetin, die eine Kampftechnik der Liduuri benutzte und ihm Jahrtausende an Erfahrung voraus war.
Mirona allerdings setzte auf ein anderes Vorgehen. Sie hatte es geschafft, einen der Gon-Mekara zu überwältigen und ihm die Waffe abzunehmen. Sie schaltete die übrigen Angreifer nacheinander aus. Innerhalb weniger Augenblicke lagen zehn Gon-Mekara reglos am Boden. Die übrigen beiden hatten Rhodan und Atlan als Schilde im Schwitzkasten.
»Effektiv«, urteilte Rhodan leicht säuerlich, schlug den Mann, den er umfasst hielt, bewusstlos und ließ ihn zu Boden gleiten.
»Das Ziel ist die Zentrale, oder?« Mirona feuerte auf den Überschweren in Atlans Griff.
Er ließ den Mann los und sprang zur Seite. »Schon ...«
»Dann los!« Sie drehte sich um und wollte auf den Pfad zulaufen, der in die Zentrale führte.
»Halt!« Rhodan hob die Hand. »Bitte, Miss Thetin, lassen Sie uns strukturierter vorgehen. Wir wissen nicht, wie viele Gegner in der Zentrale sind.«
Mirona verdrehte die Augen. »Ist das wichtig? Schnappen Sie sich eine der Waffen, und dann einfach rein und Feuer.«
»Und was, wenn die Gon-Mekara Geiseln genommen haben?«, wandte Atlan ein. »Wir wissen nicht, ob von der Zentralebesatzung noch jemand vor Ort ist.«
Mirona schürzte die Lippen. »Also schön. Vorschläge?«
Der Terraner deutete auf den Ringwall, hinter dem sich ihr Ziel verbarg. »Wir sollten uns die Architektur der SOL-Zentrale zunutze machen: Sie ist nach oben hin offen. Wenn wir den Hang hinaufklettern, können wir sie einsehen. Und die Gon-Mekara sind mit dem Terrain nicht vertraut, sie rechnen bestimmt nicht mit einem Angriff von oben.«
»Ein guter Plan, Perry.« Atlan nickte beifällig. »Lasst es uns so versuchen.«
Mirona stimmte widerwillig zu, und kurz darauf kletterten sie keuchend den Hang empor. Die Erde war feucht und das Gras rutschig.
»Mir war nicht klar, dass das hier eine Sportübung wird«, murrte Mirona.
Atlan grinste. »Hattest du nicht gesagt, du willst dich mal wieder richtig austoben?«
»Doch nicht so!«
»Ruhe!« Rhodan zeigte nach vorn. Er hatte sich ebenso wie Atlan an Mironas Vorschlag gehalten und sich mit einem Strahler ausgerüstet. »Wir sind gleich da.«
Atlan schob sich zur Kuppe des Ringwalls und blickte zunächst auf die obere Kalotte der Holosphäre, die das wie ein Amphitheater gestaltete Innenrund der Zentrale überspannte. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Dann erkannte er unter der transparenten, dreidimensionalen Darstellung des Weltraums, der das Hantelraumschiff umgab, zahlreiche Gestalten. Die Zentrale wimmelte von Gon-Mekara, mindestens zwanzig Soldaten besetzten die verschiedenen Leitstände auf den Rängen. Auf dem Kommandosessel in der Mitte der Arena, in dem normalerweise Chart Deccon saß, hatte ein Mann Platz genommen, auf den weder Atlan noch Rhodan besonders gut zu sprechen waren: Leticron, der Anführer der Gon-Mekara.
Neben Atlan knirschte Rhodan mit den Zähnen. Leticron, der das Solsystem und die terranischen Kolonien seit Jahren besetzt hielt, in der Zentrale der SOL zu sehen, hatte etwas Symbolisches, das dem Terraner wohl einen besonderen Stich versetzte.
Sicher hat er große Lust, Leticron aus diesem Sitz herauszuprügeln – aber nein, das entspricht nicht Perrys Stil. Wahrscheinlich will er ihn herausquatschen.
Erschwerend kam hinzu, dass Leticron eine Geisel neben sich hatte, die Atlan nun erst bemerkte: eine hochgewachsene Arkonidin: Thora.
»Das ist fies«, murmelte Atlan. Wenigstens war Thora, soweit er sehen konnte, die einzige Geisel. »Ich schlage vor, wir gehen über die rechte Seite rein, dort, wo der Wissenschaftsbereich ist. Da sind die wenigsten Überschweren stationiert. Und Mirona, du ... Mirona?«
Seine Partnerin war verschwunden. Nach kurzem Suchen entdeckte er sie, wie sie sich langsam und geduckt durch die obersten Ränge der Zentrale schlich.
»Sie ist heute etwas übermotiviert, was?« Rhodan klang halb belustigt, halb verärgert.
»Scheint so. Folgen wir ihr.«
Sie hatten sich noch nicht vollends vom Rand ins Amphitheater hinabgelassen, als Mirona bereits das Feuer eröffnete. Sie hockte hinter einem der Wissenschaftspulte und schaltete gezielt die vier Überschweren aus, die Leticron flankierten.
Atlan und Rhodan ließen sich in Deckung fallen und feuerten ebenfalls auf die Überschweren; das sorgte zumindest für Verwirrung.
Danach nahm Mirona den Anführer der Gon-Mekara unter Beschuss. Wie von Atlan nicht anders erwartet, war der Kommandosessel im Gegensatz zum Rest der Überschweren durchaus mit einer Energiebarriere gesichert. Mirona belegte dieses Ziel mit Dauerfeuer, um das Abwehrfeld zu überlasten, und ging ungeachtet all des Chaos ringsum auf Leticron zu. Rhodan zuckte zusammen, als Thora unter einem Streifschuss zusammenbrach. Gleichzeitig erlosch Leticrons Energieschirm.
»Hab ich dich!«, rief Mirona, die nur noch wenige Meter von dem Überschweren entfernt stand, und hob die Waffe zum finalen Schuss.
Im nächsten Moment verzog sie erschrocken das Gesicht, ließ die Waffe fallen und presste die Hände auf ihre Brust. Sie keuchte angsterfüllt.
»Das gehört nicht dazu!«, rief Atlan alarmiert. »Simulation abbrechen!«
Sofort verschwand die SOL-Zentrale um sie. Stattdessen wurde die neutrale graue Innenumgebung der Simulatorhalle sichtbar. Mirona hing verkrampft in dem Gestell, das ihnen erlaubte, sich scheinbar frei durch die simulierten Welten und Trainingsszenarien zu bewegen. Atlan riss sich die unterstützende Holobrille vom Kopf, befreite sich aus seinem Gestell und überbrückte die drei Schritte bis zu seiner Partnerin mit einem Satz.
»Was hat sie?«, fragte Rhodan erschrocken, der sich ebenfalls aus den Bändern und Schnallen kämpfte, mit denen er in seinem Gerüst befestigt war.
»Der Zellaktivator! Er stottert wieder!«
Atlan befreite Mirona von ihrer Simulationsausrüstung und legte sie langsam auf den Boden.
Rhodan forderte über sein Komarmband Unterstützung an: »Sud, Mister Breiskoll, wir haben hier einen medizinischen Notfall! Bitte kommen Sie umgehend in die Simulatoranlage drei.«
Atlan rechnete nicht damit, dass einer der beiden Ärzte besonders schnell eintreffen würde. Die Simulatoren lagen im zylindrischen Mittelteil der SOL und waren schwerer erreichbar, besonders von den Habitaten aus, falls die zwei sich gerade dort aufhielten. Zumindest öffnete sich bereits die Tür, um einen Medoroboter hereinzulassen. Diese Maschinen waren in regelmäßigen Abständen überall in der SOL stationiert, um bei Notfällen rechtzeitig zur Stelle zu sein.
Atlans Finger tasteten nach Mironas Puls – er flatterte. Dieses Mal ist das deutlich schlimmer als Vorhofflimmern!
Sie schlug die Augen auf und stöhnte rasselnd. »Ich bekomme keine Luft!«
Der Medoroboter verabreichte ihr ein Medikament, das den Herzschlag normalisieren sollte; ohne Erfolg.
Zwischen Atlan und Rhodan materialisierten Gucky und Sud.
Letztere ließ sich sofort neben Mirona auf die Knie sinken und untersuchte sie. »Es ist schlimmer geworden, oder?«
»Ja.« Atlan biss die Zähne zusammen. »Wir müssen sie ins Situativ bringen.«
»Das sehe ich auch so.« Sud winkte den Mausbiber herbei, der ungewohnt schweigsam war. »Bring Atlan und Mirona sofort auf die GARTAVOUR, und hol mich dann nach!«
Gucky gehorchte und griff ihre Hände. Beim nächsten Wimpernschlag befanden sich Atlan und Mirona auf ihrem Schaltschiff. Gucky war sofort wieder verschwunden.
Der Arkonide hob seine Partnerin hoch und legte sie hastig in das sogenannte Situativ. Die mobile Medoanlage war in ständiger Bereitschaft, seit die Aktivatoren wieder Aussetzer hatten.
Nur einen Moment später tauchte Gucky mit Sud wieder auf.
Die Ärztin machte sich sofort an Mirona zu schaffen. Sud war Situativen gegenüber grundsätzlich misstrauisch – schließlich hatte ein ähnliches Gerät die Heilerin Sue Mirafiore und den Teleporter Sid González vor einem halben Jahrhundert zum Mentamalgam Sud verschmolzen. Dennoch wusste sie die Heilungsfunktion des Geräts zu schätzen, vor allem im Fall von Mirona und Atlan. Sie hatte die beiden mithilfe der in Andromeda entwickelten Apparatur schon mehrfach erfolgreich behandeln können.
Suds Finger glitten halb in Mironas Körper hinein, schienen ihrem Herz eine Art Starthilfe zu geben. Zu ihrer aller Erleichterung hatte Sud ihre Heilkräfte kürzlich wieder vollständig zurückerhalten, nachdem ihre Berührungen vorübergehend eine tödliche Wirkung gehabt hatten. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Ärztin die Wiederherstellung ihrer vormaligen Paragabe überhaupt bemerkt hatte. Eine medizinische Erklärung dafür hatte niemand gefunden, doch das war ihr am Ende egal gewesen. Der Umstand, dass sie ihre Psi-Fähigkeiten wieder zum Wohl ihrer Patienten einsetzen konnte, machte sie einfach nur überglücklich.
Die Prozedur dauerte deutlich länger als die vorigen Male. Nach etwa zwanzig Minuten trat Sud von dem Situativ zurück und atmete durch. »Sie schläft jetzt. Wenn sie aufwacht, muss ich sie noch einmal untersuchen, aber sie wird wieder.«
Atlan, der die ganze Zeit zusammen mit Gucky schweigend im Hintergrund gestanden und gewartet hatte, schloss kurz die Augen. »Danke, Sud. Was würden wir nur ohne dich machen?«
»Nun, wahrscheinlich würde das Situativ diese Arbeit auch allein erledigen, vielleicht nur etwas langsamer«, meinte Sud trocken. Sie strich gedankenverloren über das Intarsium, jenes Metallstück an ihrer linken Stirn und Schläfe, das sich bis tief in ihr Gehirn verzweigte. »Die Anfälle werden schlimmer. Wir müssen dringend einen Weg finden, um eure Zellaktivatoren wieder in Schuss zu bringen.«
»Wir könnten eine weitere Reise in die Zeit unternehmen, als es noch Halatium in Hülle und Fülle gab.« Atlan verzog das Gesicht. »Etwas Besseres fällt mir derzeit nicht ein.«
»Wir arbeiten dran.« Sud zuckte mit den Achseln. »Wie geht es dir?«
»Momentan habe ich keine Beschwerden. Aber wer weiß, wann es auch bei mir wieder losgeht.«
»Am besten wäre es, wenn ihr euch beide regelmäßig von mir untersuchen lasst – prophylaktisch, nicht erst dann, wenn es zu spät ist«, sagte Sud streng.
Gucky hob mahnend den Zeigefinger. »Hör auf deine Ärztin. Und das sage ich nicht nur, weil Sud ziemlich sauer werden kann.«
Sud verpasste ihm einen Klaps. »Sorg dafür, dass sich Mirona ein wenig ausruht, und schick sie später zu mir.«
»Zu Befehl!« Da Atlan nun wusste, dass Mirona auf dem Weg der Besserung war, konnte er wieder scherzen.
Doch sobald Sud und Gucky weg waren, verging ihm das Lachen. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Situativ, betrachtete die schlafende Mirona.
»Was tun wir hier eigentlich?«, fragte er flüsternd.
Es war einige Tage her, dass Perry Rhodan im Wegasystem die für die Reparatur der SOL notwendigen Hyperschwingquarze erbeutet hatte. Sie waren mittlerweile ins Schiff eingebaut, und ein kleiner Vorrat lagerte noch als Reserve in den Depots. Seither war der Hantelraumer wieder voll einsatzfähig und hielt sich zwischen dem Wega- und Solsystem verborgen. Die Schiffsführung unter dem Kommandanten Chart Deccon und dem Expeditionsleiter Perry Rhodan beriet über die nächsten Schritte im Kampf gegen Leticrons Gon-Mekara, die Besatzer der von den Terranern besiedelten Welten und des arkonidischen Imperiums.
Obwohl Atlan verstand, dass ihr weiteres Vorgehen sorgfältig erwogen werden musste, machte ihn die Warterei wahnsinnig.
Mirona ging es ebenso. Um sich abzulenken, hatten sie sich zusammen mit Rhodan auf eine Trainingseinheit im Simulator eingelassen, die von der Bordpositronik SENECA auf die aktuelle Bedrohungslage zugeschnitten worden war.
Nach einer halben Stunde regte sich Mirona endlich wieder und versuchte, sich aufzusetzen.
Sofort war Atlan in ihrer Seite. »Still, Zhy'Fama. Sud hat gesagt, du sollst dich ausruhen.«
Die Liduuri lächelte. »Licht meines Lebens – so hast du mich lange nicht mehr genannt.«
»Du hast mich auch schon lange nicht mehr so erschreckt. Als du sagtest, dass du dich austoben willst, wusste ich nicht, dass du so weit gehen würdest.«
Mirona stemmte sich ächzend auf die Ellbogen. »Das hatte ich mir tatsächlich anders vorgestellt.«
Atlan reichte ihr ein Glas Wasser und musterte sie besorgt. »Du warst heute ohnehin ... anders. Verbissen und leichtsinnig ...«
Sie verdrehte die Augen. »Es war nur eine Simulation, Atlan. Die sind dafür da, um Extremsituationen zu testen. Oder hat dein Freund Perry Rhodan geweint, weil seine Frau erschossen worden ist?«
»Ein schöner Anblick war Thoras Simulationstod für mich auch nicht«, erwiderte Atlan stirnrunzelnd. »Immerhin bin ich mit den beiden lange befreundet. Aber als du zusammengebrochen bist, dachte ich, mein Herz bleibt mit deinem zusammen stehen.«
»Wag es ja nicht! Wer hätte mich denn sonst ins Situativ schleppen sollen?« Sie sagte es im Scherz, doch ihre Miene war ernst.
Atlan wollte etwas antworten. Eine Audiomitteilung aus der Zentrale unterbrach ihn.
»Atlan, hier spricht Perry. Geht es Mirona Thetin besser?«
Atlan seufzte. »Es sieht ganz so aus.«
»Gut. Kannst du bitte in die Zentrale kommen? Wir haben einen sonderbaren Funkspruch aufgefangen, den wir nicht entschlüsseln können.«
»Und warum soll ausgerechnet ich da helfen können?«
»Das erkläre ich dir besser persönlich. Bitte beeil dich!« Die Verbindung endete.
»Manchmal fühle ich mich ein wenig als Handlanger missbraucht«, beklagte sich Atlan.
Mirona setzte sich vollends auf und stieß ihn leicht in die Seite. »Geh! Wenn Rhodan sagt, es ist dringend, wird er seinen Grund haben.«
»Na schön. Du meldest dich gleich bei Sud, verstanden? Sie will dich noch mal gründlich untersuchen.« Er beugte sich vor, um sie zu küssen.
»Schluss mit der Knutscherei!«, krähte Gucky hinter ihm. Wie üblich war der Mausbiber ohne Vorwarnung aufgetaucht. »Der Chef hat gesagt, es ist dringend, also hopp, hopp! Das Teleport-Taxi steht bereit!«
Atlan schnaubte. »Ich bin froh, dass auch du wieder ganz der Alte bist.«
Und dann küsste er Mirona Thetin doch noch – Gucky hin, Gucky her.
2.
Die Nachricht
Gucky materialisierte mit Atlan da Gonozal am Eingang zur Zentrale. Einen kurzen Augenblick lang verspürte der Arkonide eine dumpfe Orientierungslosigkeit. Zu sehr stand ihm die Szene in der fiktiven Zentrale noch vor Augen, als Thora im Feuergefecht zwischen Gon-Mekara und Mirona Thetin tödlich getroffen worden war. Er blinzelte, um die Erinnerungsbilder zu vertreiben. Dass Thora Rhodan da Zoltral derzeit neben Perry Rhodan stand und sich bester Gesundheit erfreute, erleichterte ihn.
Was ist los, alter Knabe, so sentimental? Solche Übungen nehmen dich doch sonst nicht derartig mit, stichelte sein Extrasinn.
Das liegt wahrscheinlich daran, dass meine Partnerin im Anschluss an diese Szene fast gestorben ist. Hängt mir wohl etwas nach.
Mag sein. Da diese Krise aber überstanden ist, solltest du dich zusammenreißen.
Ich gebe mir Mühe.
Atlan dankte Gucky und ging zu Rhodan und Thora, die neben dem Arbeitspult von Funk- und Ortungschefin Mai Tai Tanaka standen. Er grüßte Chart Deccon, der ihnen seinen flexiblen Sessel zugedreht hatte. Der massige Kommandant der SOL erhob sich nur ungern von seinem Platz, hatte die Zentrale jedoch stets komplett im Blick.
»Gut, dass du so schnell kommen konntest, die Zeit drängt nämlich etwas«, begrüßte Rhodan seinen alten Freund.
Atlan zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ich bin gespannt, warum ausgerechnet ich der Mann der Stunde bin.«
»Das kann dir am besten Miss Tanaka erklären.«
Die zierliche Japanerin strich über ihren dicken, schwarzen Zopf, der mit bunten Strähnen und Blumen geschmückt war und ihr bis zur Taille reichte. Dann schob sie ihn über die Schulter zurück, um ungehinderter gestikulieren zu können. Diese Frisur wirkte an ihr fast langweilig; meist schmückte sie sich mit weitaus aufwendigeren Haarmoden.
Erst als Atlan an ihre Seite trat, erkannte er, dass jede Strähne noch mal in sich gedreht und in einem anderen Farbschimmer getönt war. Also doch wieder ein kleines Frisurenkunstwerk.
»Die Hyperfunknachricht, die wir empfangen haben, ist vermutlich in Altarkonidisch verfasst«, begann sie. »Wir wissen nicht sicher, ob wir die Adressaten sind. Einiges spricht jedoch dafür, dass er an die SOL gehen sollte.«
»Was Mister Deccon etwas nervös macht«, setzte Rhodan hinzu.
»Wundert Sie das?« Deccon schnaufte. »Immerhin glaubten wir, dass wir gut versteckt wären.«
»Der Funkspruch ist selbstredend verschlüsselt, allerdings nur mit einem eigentlich primitiven Passwort. Üblicherweise wäre es für SENECA nur eine Frage der Zeit, bis er dieses Codewort herausgefunden hat«, fuhr Tanaka fort. »Diesmal allerdings haben wir ein Problem.« Sie aktivierte ein Hologramm, in dem ein Texteingabefeld leuchtete. Eine Einfügemarke blinkte auffordernd.
»Ein simples Kennwort?« Ungläubig verengte Atlan die Augen.
Wenn so etwas für SENECA ein Problem darstellt, habe ich die KI bisher vollkommen überschätzt, spottete Atlans Logiksektor. Da steckt mehr dahinter.
Tanaka nickte. »Niemand kann es ermitteln. Ich habe es mit einer Recherche in allen uns verfügbaren Datenbanken versucht, leider erfolglos. Zudem haben wir nur einen einzigen Versuch, um das fragliche Passwort einzugeben, mussten wir feststellen. Wenn es falsch ist, startet selbsttätig ein komplexer Positronikalgorithmus, der die Nachricht unwiderruflich zerstört.«
»Ich bin mir sicher, dass ich das Kennwort mit etwas Zeit ermitteln könnte«, ertönte SENECAS sonore Stimme.
Ein kleines Holofeld erschien über Tanakas Schulter. Es zeigte die Positronikspezialistin Donna Stetson, die sich wahrscheinlich gerade in ihrem persönlichen virtuellen Arbeitsbereich aufhielt und auf diese Weise an der Besprechung teilnahm. »Das könnte SENECA tatsächlich«, bestätigte sie. »Dazu brauchen wir allerdings Zeit. Und die haben wir nicht.«
»Bei unseren ersten Bemühungen, auf den Inhalt der Funkbotschaft zuzugreifen, haben wir einen Countdown gestartet.« Tanaka deutete auf eine holografische, ein Stück oberhalb des Texteingabefelds platzierte Zeitanzeige, die rückwärtszählte und momentan auf 13 Minuten und 58 Sekunden stand. »Wird das Kennwort bis zum Ablauf dieser Frist nicht korrekt eingegeben, ist die Botschaft ebenfalls unrettbar verloren. Das hat uns der unbekannte Absender ebenfalls freundlich, aber unmissverständlich mitgeteilt.«
»Wieso glauben Sie eigentlich, dass der Hauptinhalt des Funkspruchs in Altarkonidisch verfasst ist? Wenn Sie ihn doch nicht entschlüsseln konnten?«
»Es ist ein Hinweis vorangestellt, eine unverschlüsselte Textzeile – und die ist zweifelsfrei in Altarkonidisch.«
Atlan verstand noch immer nicht. »SENECA müsste das problemlos übersetzen können, wozu brauchen Sie mich?«
Tanaka schürzte die Lippen. »Nun, Sir, Mister Atlan ... SENECA hat versucht, es zu übersetzen. Es ergibt keinen Sinn.«
Sie öffnete ein weiteres Holo und zog eine Textfläche so groß, dass Atlan sie mühelos lesen konnte: »Fam eta Fama mekar votanthar Tai Moaa kho'no gon saii toor?«
Atlan spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. In seinem Magen schien plötzlich ein Eisklumpen zu liegen, der langsam schmolz und dessen Tropfen bis in seine Fußspitzen rannen. Hilfe suchend wandte er sich an Thora.
Die Arkonidin hob abwehrend die Hände. »Mich brauchst du nicht anzusehen, ich werde daraus nicht schlau.«
Atlan hingegen verstand. Es ließ sich nur sehr rudimentär übersetzen, aber er erkannte die scheinbar sinnlosen Worte.
»Wie ruft die große Mutter in der Stille ihren ewigen Sohn?«, flüsterte er.
»Kannst du damit etwas anfangen, alter Freund?«, fragte Rhodan, der seine Reaktion bemerkt hatte.
Atlan holte tief Luft. »Gib als Codewort Shevoa'Cel ein.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Rhodan. »Wir haben nur diesen einen Versuch.«
Atlans Magen verkrampfte sich um den Eisblock. »Tu es!«
Rhodan nickte Tanaka zu. Die schlanken Finger der Kommunikationsspezialistin flogen über eine Holotastatur. Alle hielten den Atem an.
Ein kurzer Signalton erklang. Dann entsperrte sich die Datei tatsächlich. Die Countdownanzeige und das Eingabefeld verschwanden, stattdessen erschienen eine kurze Schriftsequenz sowie ein Koordinatensatz im Holo.
Mai Tai Tanaka tippte auf die altarkonidische Textzeile, und SENECA lieferte prompt eine englische Sprachübersetzung: »Sie lebt, Höchstedler. Aber es bleibt nur noch wenig Zeit. Beeilen Sie sich, sonst ist es für immer zu spät.«
3.
Atlan erinnert sich ...
Meine bloßen Füße patschen auf den kalten, harten Boden aus silbernem arkonidischem Marmor, während ich in heilloser Panik den Gang entlangrenne. Ich höre meine Häscher hinter mir und wage nicht, mich umzudrehen. Nur zwei Gänge noch, dann bin ich am Ziel und in Sicherheit. Ich rase auf die Einmündung in einen Querkorridor zu, an der ich nach links abbiegen muss. Ich bremse etwas zu spät ab, komme ins Straucheln. Schwer schlage ich auf dem Marmor auf, rutsche weiter und pralle gegen die Wand. Ich brauche nur eine Sekunde, um aufzuspringen und weiterzurennen – die Mobilität eines Fünfjährigen, gepaart mit nackter Angst vor meinen Verfolgern, machen es möglich.
Ich hetze weiter, obwohl meine Schulter schmerzt und warme Flüssigkeit mein Bein hinunterrinnt. Blute ich, oder habe ich mich – welch eine Schande – eingenässt? Beides erscheint möglich, beides will ich nicht. Ich habe keine Zeit, um nachzusehen. Die keuchenden Atemstöße und unterdrückten Flüche hinter mir kommen immer näher.
Ich schlittere um eine weitere Ecke. Nur wenige Meter vor mir endet der Gang – und meine Retterin tritt durch die Tür.
»Noni!« Erleichtert, meine Mutter zu sehen, haste ich zu ihr und verstecke mich hinter ihrem ausladenden Kleid, unter dem sie nach aktueller höfischer Mode so viele gestärkte Unterröcke trägt, dass sie kaum durch die Tür passt.
Mutter stößt einen erschrockenen Ruf aus, dreht sich halb zu mir herum und legt ihre Hand auf meinen Kopf. In meiner Situation erscheint sie mir noch schöner als sonst, eine rettende Sternengöttin. Ihre Miene drückt Überraschung und Sorge aus.
Meine Verfolger erreichen ebenfalls die Pforte zu den Gemächern meiner Mutter. Zitternd presse ich mich an den weichen blauen Stoff des Überrocks, als ich meinen Vater sehe. Sein Gesicht ist gerötet – wahrscheinlich von der Verfolgung ebenso wie vor Wut. Neben ihm erscheint mein Hauslehrer, ein Arkonide mit streng zurückgekämmten, weißen Haaren, in denen sich bereits schwarze Strähnen zeigen. Er keucht pfeifend wie ein Kessel bei der K'amanazeremonie und ist röter als Vater. Außerdem ist er mit dunkelblauen Sprenkeln übersät.
»Geh aus dem Weg, Yagthara!«, sagt Vater mit seiner Donnerstimme, die ich so sehr fürchte. Er benutzt sie nur, wenn es um mich geht, glaube ich – und nur, wenn ich etwas angestellt habe. »Der Junge muss diszipliniert werden!«
»Und warum nun schon wieder?« Mutter weicht keinen Schritt zur Seite, sondern streichelt mir weiter beruhigend das Haar. »Was hat er dieses Mal getan, um deinen Ansprüchen nicht zu genügen?«
Vater wird noch röter; ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist. Der Anblick erfüllt mich mit Furcht. Vater ist ein unbeherrschter Mann, doch in Gegenwart eines Untergebenen wie meinem Hauslehrer Gidars lässt er sich normalerweise nicht so gehen. Ich muss ihn wirklich sehr, sehr wütend gemacht haben.
»Mascaren weiß genau, was er getan hat!«
»Aber ich weiß es nicht. Ich gebe euch beiden den Jungen garantiert nicht heraus, damit ihr ihn bestrafen könnt, wenn ich gar nicht weiß, um was es geht. Er ist erst fünf Jahre alt, Mascudar. Wie schlimm kann es also sein?«
»Mit Verlaub, Hochedle, der junge Prinz war aufsässig und unbeherrscht«, sagt Gidars, ehe Vater antworten kann.
»Unbeherrscht?« Mutter zieht eine der elegant gezupften Augenbrauen hoch. »Von wem er das nur hat?«
»Verflucht, Yagthara, das ist kein Spiel!«, poltert Vater. »Gib mir Mascaren sofort, damit Gidars ihn maßregeln kann!«
Schützend legt sich Mutters Hand auf meine Schulter. »Auf keinen Fall! Ich lasse nicht zu, dass dieser ... alte Jenkar mein Kind bestraft.« Abschätzig sieht sie Gidars an. »Dieser Mann ist weder in der Lage, ein Kind zu unterrichten, noch es zu fördern. Ich war von Anfang an dagegen, dass er unseren Sohn betreut.«
»Hochedle!« Gidars japst entsetzt nach Luft.
»Gidars hat bereits mich und meine Brüder unterrichtet.« Wütend hebt Vater die Faust.
Ich zucke zusammen, doch Mutter steht fest wie ein Fels in der Brandung.