So sehr hat sich die arbeitende Menschheit von der Bebauung der Erde losgesagt, daß die ländlichen Distrikte in der ganzen zivilisierten Welt sich auf Hilfe aus den Städten verlassen müssen, um die Ernte hereinzubekommen.
Deshalb wird der vom Lande stammende Überschuß der Großstadt wieder aufs Land zurückgerufen, wenn der reiche Segen der Erde in Gefahr ist, umzukommen. In England kehren die Arbeiter nie als wohlhabende Leute zurück, sondern als Ausschuß – als Landstreicher und Parias, vor denen ihre Brüder auf dem Lande sich fürchten und fliehen, als Tagediebe, die in Gefängnissen und Armenhäusern oder unter Büschen schlafen und von Gott weiß was leben.
Man rechnet, daß Kent allein achtzigtausend Herumtreiber braucht, um seinen Hopfen zu pflücken. Und aufs Land hinaus strömt eine Schar vom Volke des Abgrunds, einer inneren Stimme gehorchend – der Forderung ihres Magens und dem noch in ihnen schlummernden Rest von Abenteuerlust. Die Armenviertel, die Kasernen und die Ghettos speien sie aus, ohne daß man spürt, daß der Inhalt der Großstadt an Fäulnis sich verringert. Sie überschwemmen das Land wie ein Heer von Dämonen, und das Land liebt sie nicht. Sie passen auch eigentlich nicht dorthin. Wie sie ihre schlaffen, mißbildeten Leiber auf Straßen und Wegen dahinschleppen, gleichen sie einer häßlichen Brut aus der Unterwelt. Ihre Anwesenheit allein, die Tatsache, daß sie atmen, tut ja der frischen, strahlenden Sonne und den grünenden, sprießenden Pflanzen Gewalt an. [Ihre widerliche Krummheit machte die reinen, aufrechten Bäume zuschanden], und ihre Fäulnis ist eine häßliche Entheiligung der Schönheit und Reinheit der Natur.
Ist dieses Bild eine Übertreibung? Für den, der das Leben liebt und es beurteilt, ohne etwas anderes als Aktien und Kupons zu kennen, ist es sicher eine Übertreibung. Für den aber, der das Leben im Hinblick auf allgemeinen Menschenwert beurteilt, kann es unmöglich zu stark sein. Solche Horden tierischen Elends und unbegreiflichen Jammers haben selbstverständlich keinen Wert für einen millionenschweren Brauer, der in einem Palast in West End wohnt und seine Neigungen mit den sensationellen Freuden aller goldenen Theater Londons befriedigt, der mit Lords und Prinzen trinkt und vom König zum Ritter geschlagen wird. Er verdient sich seine Sporen – ja, Gott helfe uns! In alten Tagen, als in der Schlacht große blonde Barbaren an der Spitze ritten, gewann man sich seine Sporen, indem man die Feinde vom Scheitel bis zum Sattel spaltete; und alles in allem ist es wohl edler, einen starken Mann mit einem sicheren Hieb von singendem Stahl zu töten, als mit Hilfe der schlauen, tückischen Handgriffe von Industrie und Politik ihn und seine Nachkommen durch viele Generationen hindurch zu Sklaven zu machen.
Kehren wir jedoch zum Hopfen zurück. Auf diesem Gebiet spürt man die Flucht vor dem Bodenbau ebenso stark wie auf allen andern Gebieten der Landwirtschaft in England. Während immer mehr Bier gebraut wird, nimmt der Hopfenbau beständig ab.
Dieses Jahr ist nur sehr wenig angebaut worden, dazu war der Sommer schlecht, und furchtbare Unwetter haben die Ernte verringert. Die Folgen dieses Unglücks hat sowohl der Herr zu tragen, dem die Hopfenernten gehören, wie der, der den Hopfen pflückt. Die Bauern müssen sich mit weniger von den guten Dingen des Lebens begnügen, die Pflücker weniger essen von dem, was sie selbst in den besten Zeiten nicht genügend bekommen. Wochenlang hat man in den Londoner Zeitungen Überschriften wie folgende lesen können:
»Massenhaft Landstreicher, aber wenig Hopfen.«
Außerdem wurden viele Artikel ungefähr folgenden Inhalts gedruckt:
»Aus den Hopfendistrikten erhalten wir traurige Neuigkeiten. Das gute Wetter der letzten Tage hat viele Hunderte von Hopfenpflückern nach Kent gelockt, die jetzt warten müssen, weil der Hopfen noch nicht reif ist. In der Umgegend von Dover ist die Zahl der Landstreicher in den Arbeitshäusern dreimal so groß wie voriges Jahr um diese Zeit, und auch in verschiedenen andern Gegenden ist die späte Saison schuld an dem starken Zuwachs in den Arbeitshäusern.«
Um das Unglück noch größer zu machen, wurden Hopfengärten und Hopfenpflücker, als die Ernte begonnen hatte, fast fortgefegt von einem furchtbaren Unwetter mit Sturm, Regen und Hagel. Der Hopfen wurde von den Stangen gerissen, während die Pflücker, die Schutz vor dem peitschenden Hagel suchten, in ihren Hütten und Löchern an den niedrig gelegenen Stellen fast ertrunken wären. Ihre Situation war nach dem Unwetter kläglicher als je, ihre Obdachlosigkeit jetzt erst buchstäblich. Denn wenn die Ernte auch elend war, so bedeutete ihre Vernichtung für sie doch, daß sie jede Möglichkeit, einige wenige Groschen zu verdienen, verloren. Und Tausende konnten nichts anderes tun, als zu Fuß nach London zurückwandern.
»Wir wollen nicht die Landstraßen fegen«, sagten sie und zogen fort von den Feldern, wo man bis über die Fußgelenke im Hopfen watete. Die Zurückbleibenden jammerten furchtbar über die halbnackten Stangen, und weil sie vierzehn Scheffel für einen Schilling pflücken sollten – die Bezahlung in guten Jahren, wenn der Hopfen von bester Sorte ist, und im übrigen auch die Bezahlung in schlechten Jahren, weil die Bauern nicht mehr bezahlen können.
Ich kam, kurz nachdem der Orkan gewütet hatte, durch Teston, Ost- und West-Farleigh; ich hörte die Klagen der Pflücker und sah den Hopfen auf den Feldern faulen. In den Treibhäusern in Barham Court waren dreißigtausend Scheiben vom Hagel zerschlagen, und Pfirsiche, Pflaumen, Birnen, Äpfel, Rhabarber, Mangos, alles war dahin.
Es war schlimm für die Besitzer, aber es gab doch keinen einzigen unter ihnen, der sich deshalb nicht satt essen konnte. Dennoch waren sie es, denen die Zeitungen lange Spalten voller Sympathie widmeten, wenn sie die pekuniären Verluste beschrieben: »Herr Herbert L... berechnet seinen Verlust auf 8000 Pfund Sterling«; »Herr F..., der bekannte Brauereibesitzer, der alles Land in diesem Distrikt gepachtet hat, verliert 10 000 Pfund«; »ebenfalls große Verluste erleidet der Wateringburyer Brauer Herr L..., ein Bruder des Herrn Herbert L...«
Um die Pflücker kümmerte sich niemand. Aber ich behaupte, daß die vielen knappen Mahlzeiten, deren der unterernährte William Buggles und die unterernährte Frau Buggles und die unterernährten kleinen Buggles verlustig gingen, eine weit furchtbarere Tragödie darstellten als die zehntausend Pfund Sterling, die Herr F... verlor. Und dazu muß man sich erinnern, daß der unterernährte William Buggles nur einer von Tausenden war, während Herr F... nicht einmal mit fünf multipliziert werden kann.
Um zu sehen, wie es William Buggles und andern seines Schlages erging, zog ich mein Seemannszeug an und begab mich auf die Arbeitssuche. Ich schloß mich beherzt einem jungen Schuhflicker aus Ost-London an, der sich von dem Abenteuerlichen der Fahrt hatte verlocken lassen. Auf meinen Rat hatte er sich seine schlechtesten Lumpen angezogen, und als wir die Londoner Straße entlang nach Maidstone wanderten, war er sehr besorgt, daß er zu schlecht gekleidet sein würde.
Dazu ist nichts zu sagen. Als wir bei einem Wirtshaus haltmachten, musterte der Wirt uns scharf, und seine Miene erhellte sich nicht, als wir ihn sehen ließen, welche Farbe unser Geld hatte. Die Einwohner an der Küste zeigten sich uns gegenüber sehr mißtrauisch, und junge Stutzer aus London, die im Wagen an uns vorüberfuhren, verspotteten uns, brachten Hurras für uns aus und schleuderten uns Beleidigungen nach. Ehe wir jedoch den Maidstone-Distrikt hinter uns hatten, war mein Freund schon zu der Erkenntnis gelangt, daß wir ebenso gut, wenn nicht besser gekleidet waren als die meisten Pflücker. Einige von den Vogelscheuchen, die wir trafen, sahen direkt wunderbar aus.
»Na, jetzt ist wohl Ebbe«, rief eine Frau von zigeunerhaftem Aussehen ihren Kameraden zu, als wir an einer langen Reihe von Kisten vorbeikamen, über denen die Pflücker den Hopfen »streiften«.
»Hast du verstanden?« flüsterte Bert. »Sie meint dich.«
Ich hatte verstanden. Und ich muß gestehen, daß ihre Bemerkung recht treffend war. Bei Eintritt der Ebbe bleiben die Boote auf dem Strande liegen und können nicht abfahren, und ebenso ergeht es dem Seemann; wenn Ebbe ist, wird es auch ihm schwer, sich oben zu halten. Meine Seemannsausrüstung und meine Anwesenheit im Hopfendistrikt erzählten deutlich, daß ich Seemann ohne Heuer war – ein gescheiterter Mann.
»Haben Sie Arbeit für uns?« fragte Bert den Vorarbeiter, einen älteren Mann, der freundlich aussah und sehr beschäftigt war.
Sein Nein klang sehr bestimmt, aber Bert ließ nicht locker und folgte ihm auf den Fersen, wo er stand und ging, und dasselbe tat ich. Ob es unsere Ausdauer war, die den Vorarbeiter erweichte, oder unser armseliges Aussehen und unsere Rede, konnte weder Bert noch ich herausfinden, aber schließlich gab er nach und wies uns die einzige Kiste an, an der noch Platz war – eine Kiste, die soeben zwei andere Männer verlassen hatten, weil sie nicht genügend für ihren Unterhalt verdienten.
»Benehmt euch nun anständig«, sagte der Vorarbeiter zu uns, als er uns unter all den Frauen bei der Arbeit ließ.
Es war Sonnabend nachmittag, und wir wußten, daß die Arbeit früh aufhören würde; wir machten uns deshalb eifrig an den Hopfen, fest entschlossen, uns mindestens das Salz zu unserm Brot zu verdienen.
Es zeigte sich, daß es eine schlechte Arbeit war, eigentlich nur für Frauen, nicht für Männer geeignet. Wir saßen auf dem Rande der Kiste zwischen den Hopfenstangen und pflückten den Hopfen, wobei uns der Stangenzieher beständig mit großen, duftenden Ranken versorgte. In einer Stunde waren wir so tüchtig, wie man überhaupt werden kann. Sobald die Finger gewohnt sind, rein automatisch den Unterschied zwischen Hopfen und Blättern zu fühlen und ein halbes Dutzend Blüten auf einmal abzustreifen, gibt es nichts mehr zu lernen. Wir arbeiteten mit Leichtigkeit und tatsächlich ebenso schnell wie die Frauen, aber ihre Kisten füllten sich schneller, weil ihre Kinder sie überall umschwärmten und mit beiden Händen fast ebenso schnell pflückten wie wir andern.
»Pflückt nicht allzu sauber, das tun wir nicht«, bemerkte eine der Frauen; und wir verstanden den Wink und waren ihr dankbar.
Im Laufe des Nachmittags erkannten wir, daß man mit der Arbeit keinen Tagelohn verdienen konnte – jedenfalls nicht für einen Mann. Frauen konnten ebenso schnell pflücken wie Männer, und Kinder fast ebenso schnell wie die Frauen, so daß es einem Manne selbstverständlich unmöglich war, mit einer Frau und einem halben Dutzend Kindern zu konkurrieren. »Hör', Kamerad, ich habe einen niederträchtigen Hunger«, sagte ich zu Bert. »Wir haben kein Mittagessen bekommen.«
»Ja, ich könnte direkt den Hopfen fressen«, antwortete er.
Und dann begannen wir beide darüber zu jammern, daß wir versäumt hatten, eine zahlreiche Nachkommenschaft in die Welt zu setzen, so daß wir heute, wo es uns so not tat, die rechte Hilfe gehabt hätten. Auf die Art schlugen wir die Zeit tot und machten andauernd spaßige Bemerkungen zur Erbauung der Umsitzenden. Wir gewannen völlig das Herz des Stangenziehers, und der junge Bauernbursche, der auch die Aufgabe hatte, die abgerissenen Zweige aufzulesen, schüttete immer wieder abgefallene Blüten in unsere Kiste.
Wir fragten ihn, wieviel wir »machen« könnten, und erfuhren, daß die Bezahlung einen Schilling für vierzehn Scheffel ausmachte, daß wir aber höchstens einen Schilling für vierundzwanzig Scheffel ausbezahlt bekämen. Das hieß, daß das Geld für zehn Scheffel zurückgehalten wurde – eine Methode, die die Hopfenbauer eingeführt haben, um die Pflücker in der Hand zu behalten, ob die Ernte nun gut oder schlecht war, namentlich aber, wenn sie schlecht war.
Eigentlich war es herrlich, hier im Sonnenschein zu sitzen, während der goldene Blütenregen aus unseren Händen strömte und der scharfe, aromatische Hopfenduft uns die Nase kitzelte – und unterdessen erinnerten wir uns undeutlich der lärmenden Großstädte, aus denen diese Menschen gekommen waren. Arme Menschen der Straße! Die Bevölkerung der Rinnsteine! Selbst die konnten nach der Erde hungern, sich nach dem Boden sehnen, von dem sie vertrieben waren, und nach dem Leben im Freien, nach Wind, Regen und Sonne, nach alledem, was nicht vom Schmutz der Großstadt besudelt war. Wie das Meer den Seemann, so zieht das Land sie an; und in ihrem verstümmelten, verwesten Körper verspüren sie einige seltsame Regungen, unbewußte Ackerbauer-Erinnerungen, ererbt von ihren Vorfahren, die lebten, ehe die Städte entstanden. Und auf unerklärliche Weise fühlen sie Freude über die Erde, den Duft, den Anblick und die Geräusche, die ihr Blut nicht vergessen hat, wenn sie sich dessen auch nicht bewußt sind.
»Jetzt gibt's keinen Hopfen mehr, Kamerad«, klagte Bert.
Es war fünf Uhr, und die Stangenzieher hatten Schluß gemacht; alles sollte weggeräumt werden, da am Sonntag nicht gearbeitet wurde. Eine ganze Stunde mußten wir auf die Aufseher warten, und unsere Beine zitterten vor Kälte, sobald die Sonne untergegangen war. Gleich neben uns standen zwei Frauen und ein halbes Dutzend Kinder, die achtzehn Scheffel gepflückt hatten, so daß die zehn Scheffel, die der Aufseher in unserer Kiste fand, wohl ganz respektabel waren, namentlich in Anbetracht des Umstands, daß die Kinder, die den Frauen geholfen hatten, im Alter von neun bis vierzehn Jahren waren.
Zehn Scheffel! Wir rechneten aus, daß das acht und einen halben Pence für zwei Mann ergab, die drei und eine halbe Stunde gearbeitet hatten. Also vier Pence und einen Farthing für jeden, oder etwas über einen Penny die Stunde! Wir hätten nur fünf Pence von der ganzen Summe ausbezahlt bekommen sollen, aber der Lohnzahler hatte kein Wechselgeld, und so gab er uns sechs Pence. Vorstellungen waren zwecklos. Eine Geschichte von unserer unglücklichen Lage konnte ihn nicht rühren. Er erklärte laut, wir hätten einen Penny mehr bekommen, als uns zustände, und ging seines Weges.
Laßt uns nun einmal den Fall setzen, daß wir waren, wofür wir uns ausgaben: arme, verbrauchte Männer, dann wäre unsere Lage folgendermaßen gewesen:
Die Nacht brach herein, wir hatten noch kein Abendbrot bekommen, auch kein Mittagessen, und besaßen alles in allem sechs Pence. Ich war so hungrig, daß ich drei Portionen zu sechs Pence hätte essen können, und Bert auch. Soviel war sicher, daß, wenn wir unsern Magen nur 16⅔ Prozent Gerechtigkeit werden ließen, alle unsere sechs Pence draufgingen, und unsere Magen immer noch 83⅓ Prozent Ungerechtigkeit leiden würden. Wir konnten unter einem Strauch schlafen, was nicht so schlimm gewesen wäre, wenn die Kälte uns auch arg zugesetzt hätte. Dazu kam, daß der nächste Tag ein Sonntag war, an dem nicht gearbeitet wurde; unsere dummen Magen wären doch kaum geneigt gewesen, deshalb die Arbeit niederzulegen. Das Problem stellte sich daher folgendermaßen: Woher sollten wir drei Mahlzeiten am Sonntag und zwei am Montag nehmen, wenn wir erst Montagabend wieder Lohn erhielten?
Wir wußten, daß alle Obdachlosenasyle überfüllt waren; wir wußten auch, daß wir, wenn wir bei den Bauern oder in den Dörfern bettelten, alle Aussicht hatten, für ein paar Wochen eingesteckt zu werden. Was sollten wir tun? Wir starrten uns verzweifelt an –
Nein, wir waren nicht die Spur verzweifelt. Froh dankten wir Gott, daß es uns nicht erging wie den andern, nämlich wie diesen Hopfenpflückern, marschierten nach Maidstone und ließen in unsern Taschen die Silbermünzen und Goldstücke rasseln, die wir von daheim mitgenommen hatten.
Man sollte es für unmöglich halten, mitten im Herzen von Kent »Die Frau am Meer« zu finden; aber ebendort fand ich sie in einer einfachen Straße im Armenviertel von Maidstone. Sie hatte keinen Zettel im Fenster, daß sie Zimmer vermietete, und es kostete mich viel Überredung, ehe sie sich dazu bequemen ließ, mich in ihrem Vorzimmer schlafen zu lassen. Am Abend stieg ich in ihre halb unterirdische Küche hinab und plauderte mit ihr und ihrem Mann, der Thomas Mugridge hieß.
Als ich mit ihnen sprach, war es, als verschwände all die furchtbare und verwickelte Maschinerie unserer Zivilisation. Es war, als hätte ich durch Haut und Fleisch hindurch bis in die nackte Seele hineingeschnitten und in Thomas Mugridge und seiner alten Frau das innerste Wesen dieser merkwürdigen englischen Rasse erfaßt. Ich fand hier die Sehnsucht, die die Söhne Albions nach allen Zonen der Erde gelockt hatte; ich fand hier den ungeheuren Mangel an Berechnung, der die Engländer in sinnlose Streitigkeiten und in törichte Kämpfe getrieben hatte, ich fand den Eigensinn und Starrsinn, der sie geschlossenen Auges direkt zu Größe und Macht geführt hat; und ebenso fand ich die ungeheure und unfaßbare Geduld, die die Bevölkerung in den Stand gesetzt hatte, alle Lasten zu tragen, klaglos schwere Jahre hindurch sich abzurackern und gehorsam ihre besten Söhne hinauszusenden, um zu kämpfen und die Erde von einem Ende zum andern zu kolonisieren.
Thomas Mugridge war einundsiebzig Jahre alt, ein unansehnliches Männlein. Wegen seiner Kleinheit hatte er nicht gedient. Er war daheim geblieben und hatte gearbeitet. Seine ersten Begriffe hatten in Verbindung mit Arbeit gestanden. Er kannte nichts als Arbeit. Er hatte all seine Tage gearbeitet, und er arbeitete noch trotz seinen einundsiebzig Jahren. Er stand mit der Lerche am Morgen auf und ging aufs Feld. Er war Tagelöhner, und als Tagelöhner war er geboren.
Frau Mugridge war dreiundsiebzig Jahre alt. Von ihrem achten Jahre an hatte sie auf dem Felde gearbeitet, erst hatte sie die Arbeit eines Knaben, später die eines Mannes geleistet. Sie arbeitete noch, hielt das Haus blitzblank, wusch, kochte und buk, kochte auch für mich und machte mir mein Bett, als ich ins Haus gekommen war, so daß ich mich fast schämte. Nach mehr als sechzigjähriger Arbeit hatte sie nichts, hatte keine andere Aussicht als mehr Arbeit. Und sie war zufrieden. Sie erwartete nichts anderes, wünschte nichts anderes.
Sie lebten einfach. Ihre Ansprüche waren gering – ein halbes Liter Bier, das sie in der halb unterirdischen Küche schlürften, wenn der Arbeitstag beendet war, ein Wochenblatt, das sie sieben Abende hintereinander studierten, und ein bißchen träge, gedankenlose Unterhaltung, ganz mechanisch, wie das Wiederkäuen der Kühe. Von einem Holzschnitt an der Wand blickte eine zarte, engelhafte junge Frau herab; unter dem Bild stand geschrieben: »Unsere künftige Königin.« Und von einer stark kolorierten Lithographie daneben warf eine dicke ältere Dame einen Blick in die Stube, und darunter stand: »Unsere Königin – bei ihrem diamantenen Jubiläum.«
»Je schwerer man für sein Brot arbeitet, desto besser schmeckt es«, zitierte Frau Mugridge, als ich meinte, es wäre bald Zeit, daß sie sich ein bißchen Ruhe gönnte.
»Wir brauchen keine Hilfe«, sagte Thomas Mugridge als Antwort auf meine Frage, ob die Kinder ihnen denn nicht zur Hand gingen.
»Wir werden arbeiten, bis wir fertig sind, Mutter und ich«, fügte er hinzu, und Frau Mugridge nickte eifrig zustimmend mit dem Kopfe.
Sie hatte fünfzehn Kinder in die Welt gesetzt, und alle waren fortgezogen oder gestorben. Aber die »Kleine« wohnte in Maidstone, sie war übrigens jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Waren die Kinder verheiratet, so hatten sie genug mit ihren eigenen Familien und ihren eigenen Sorgen zu tun, wie ihre Eltern vor ihnen.
Wo in der Welt waren die Kinder? Ach, wo waren sie nicht? Lizzie war in Australien, Mary in Buenos Aires, Poll in New York, Joe war in Indien gestorben – so zählte sie sie, die lebenden und die toten, Soldaten und Seeleute und Kolonistenfrauen, zur Belehrung des Reisenden auf, der in ihrer Küche saß.
Sie reichte mir eine Photographie. Ein schmucker junger Mann in Uniform sah mich an.
»Welcher von den Söhnen ist das?« fragte ich.
Sie lachten beide herzlich. Sohn! Nein, Enkel, gerade aus Indien heimgekehrt, Trompeter beim Regiment des Königs. Sein Bruder stand beim selben Regiment wie er. Und so erzählte sie weiter von Söhnen und Töchtern und Kindeskindern; alle waren über den Erdball verstreut und bauten mit am Kaiserreich, während die Alten daheim saßen und auf ihre Weise mit am Reiche bauten.
Aber wie sie haben unzählige englische Frauen ihre Kinder in die Welt hinausgeschickt. Die Frauen ihrer Söhne können das Geschlecht vermehren, aber ihre eigene Zeit ist vorbei. Die zuerst ausgesandten englischen Söhne sind jetzt Australier, Afrikaner und Amerikaner. England hat zulange seine besten Söhne fortgeschickt und die zurückbleibenden so grausam vernichtet, daß für die Mutter, die »Frau am Meer«, nichts blieb, als die langen Abende dazusitzen und die Königsbilder an der Wand anzustarren.
Der richtige britische Handels-Seemann existiert nicht mehr. Der Handelsdienst ist nicht mehr die Vorschule für Seebären wie die, welche unter Nelson bei Trafalgar und am Nil kämpften. Die Kauffahrteischiffe werden hauptsächlich mit Fremden bemannt, die Engländer versorgen sie noch mit Offizieren, ziehen jedoch Fremde in der Back vor. In Südafrika lehren die Kolonisten die Eingeborenen schießen. Die Offiziere begehen Fehler, während das Publikum daheim hysterisch protestiert, und das Kriegsministerium senkt das Niveau durch das Werben von Soldaten.
Wie könnte es anders sein. Der phlegmatischste Brite kann doch nicht hoffen, immer wieder das beste Herzblut des Landes abzapfen zu können, ohne es durch neues zu ersetzen, und doch die Nation zu bewahren. Frau Thomas Mugridge ist in die Großstadt getrieben worden, und sie bringt kaum mehr als ein blutarmes, schwächliches Geschlecht zur Welt, das sich kaum ernähren kann. Die Stärke der englischsprechenden Rasse findet man heutzutage nicht mehr auf der engen kleinen Insel, sondern in der neuen Welt jenseits des Meeres, wo die Söhne und Töchter von Frau Thomas Mugridge wohnen. Die Frau am Meer hat ihre Rolle in der Welt beinahe ausgespielt, wenn sie es selbst auch nicht einsehen kann. Sie muß jetzt sich und ihre müden Lenden eine Weile ausruhen, und wenn sie nicht ihre Zuflucht zum Asyl für Obdachlose und zum Armenhaus nehmen muß, so kommt es nur daher, daß sie diese Schar von Söhnen und Töchtern großgezogen hat, die sie unterstützen, wenn sie alt und schwach wird.
In einer Gesellschaft, deren Zivilisation rein materialistisch ist und auf dem Besitzrecht beruht, ist es selbstverständlich, daß Besitz höher rangiert als Seele, daß Verbrechen gegen das Besitzrecht weit ernster angesehen werden als Verbrechen gegen die Person. Seine Frau zu mißhandeln und ihr ein paar Rippen im Leibe zu zerbrechen, gilt nur als ein kleines Vergehen im Vergleich mit Schlafen unter freiem Himmel, weil man nicht das Geld für ein Bett hat. Ein junger Mensch, der einer reichen Eisenbahngesellschaft ein paar Birnen stiehlt, wird als größere Gefahr für die Gesellschaft angesehen, als ein junger Bandit, der einen wehrlosen Greis von siebzig Jahren überfällt. Und das junge Mädchen, das unter dem Vorwand, Arbeit zu haben und seine Miete bezahlen zu können, ein Zimmer mietet, begeht eine so gefährliche Gesetzesübertretung, daß man meinen sollte, die ganze Besitzrechtmaschinerie könne zusammenstürzen, wenn sie und ihresgleichen nicht bestraft würden; wäre sie schamlos nach Mitternacht Piccadilly und den Strand auf und ab spaziert, so würde die Polizei nicht eingeschritten sein, und sie hätte ihre Miete bezahlen können.
Die folgenden beredten Beispiele sind den Polizeiberichten einer einzigen Woche entnommen.
Polizeigericht Widnes. Vor den Richtern Gossage und Neil erschien Thomas Lynch – angeklagt wegen Trunksucht, Erregung öffentlichen Ärgernisses und Überfalls auf einen Polizisten. Der Angeklagte hatte eine verhaftete Frau befreit, dem Schutzmann Fußtritte versetzt und ihn mit Steinen beworfen. Er wurde für das erste Vergehen zu drei Schilling sechs Pence und für den Überfall zu zehn Schilling und zu den Kosten verurteilt.
Polizeigericht Glasgow Queens Park. Dem Richter Thompson wurde John Kane vorgeführt, der gestand, seine Frau mißhandelt zu haben. Fünfmal vorbestraft, wurde er zu zwei Pfund und zwei Schilling Strafe verurteilt.
Vor dem Rathausgericht Taunton erschien John Painter, ein großer, stämmiger Bursche, der angab, Arbeiter zu sein. Er war wegen Mißhandlung seiner Frau angeklagt. Die Frau hatte zwei Faustschläge auf die Augen erhalten, und ihr Gesicht war stark geschwollen. Das Urteil lautete auf ein Pfund acht Schilling einschließlich der Kosten. Ihm wurde auferlegt, in Zukunft Frieden zu halten.
Polizeigericht Shaftesbury. Vor dem Bürgermeister erschien Thomas Baker, angeklagt, im Freien geschlafen zu haben. Er wurde zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt.
Polizeigericht Glasgow Central. Vor dem Richter Dunlop erschien Edward Morrison, ein Knabe, der dabei ertappt worden war, wie er von einem Güterwagen auf dem Bahnhof fünfzehn Birnen stahl. Er wurde zu sieben Tagen Gefängnis verurteilt.
Polizeigericht Doncaster Borough. Vor dem Richter Clark und dem Magistrat erschien James M'Gowan, angeklagt wegen Wilddieberei. Man fand bei ihm Werkzeuge zum Gebrauch bei ungesetzlicher Jagd sowie eine Anzahl Kaninchen. Er wurde zu zwei Pfund Strafe nebst Kosten oder einem Monat Gefängnis verurteilt.
Vor dem Bezirksgericht Dunfermline erschien John Young, Gelegenheitsarbeiter, der Alexander Storrar überfallen hatte. Er hatte ihm mehrere Faustschläge an den Kopf und den Körper versetzt, ihn zu Boden geworfen und mit einem Knüppel geschlagen. Er wurde zu einem Pfund verurteilt.
Polizeigericht Kirkcaldy. Dem Richter Dishart wurde Simon Walker vorgeführt, angeklagt, einen Mann überfallen und zu Boden geschlagen zu haben. Der Überfall erfolgte ohne den geringsten Anlaß, und der Magistrat bezeichnete den Angeklagten als eine Gefahr für den Distrikt und verurteilte ihn zu 30 Schilling Strafe.
Polizeigericht Mansfield. Vor dem Bürgermeister und den Richtern F. J. Turner, J. Whitaker, F. Tidsbury, E. Holmes und Dr. R. Nesbitt erschien Joseph Jackson, angeklagt, einen Überfall auf Charles Nunn verübt zu haben. Ohne Anlaß hatte er dem Kläger einen heftigen Schlag ins Gesicht versetzt, ihn zu Boden geschlagen und ihm Fußtritte an den Kopf versetzt. Der Überfallene wurde bewußtlos aufgefunden und war vierzehn Tage lang in ärztlicher Behandlung. Der Angeklagte wurde zu einer Strafe von 21 Schilling verurteilt.
Vor dem Bezirksgericht Perth erschien David Mitchell unter Anklage der Wilddieberei. Er war zweimal vorbestraft, zuletzt vor drei Jahren. Es war dem Richter nahegelegt worden, Milde walten zu lassen, da Mitchell 62 Jahre alt war und keinen Widerstand geleistet hatte, als der Förster ihn festnahm. Er wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.
Polizeigericht Reading Borough. Den Richtern W. B. Monck, F. B. Parfitt, H. M. Wallis und G. Gillagan wurde der sechzigjährige Alfred Masters vorgeführt, unter der Bezichtigung, auf einem nicht angebauten Feld geschlafen zu haben. Er war außerstande, einen Erwerb nachzuweisen, und wurde zu sieben Tagen Gefängnis verurteilt.
Rathausgericht Salisbury. Vor dem Bürgermeister und den Richtern C. Hoskins, G. Fullford, E. Alexander und W. Marlow erschien James Moore, angeklagt, ein Paar Stiefel vor einem Laden gestohlen zu haben. Er wurde zu einundzwanzig Tagen Gefängnis verurteilt.
Polizeigericht Horncastle. George Brackenbury, ein junger Arbeiter, stand unter der Anklage, ohne jeden Anlaß einen rohen Überfall auf James Sergeant Foster verübt zu haben, einen über siebzig Jahre alten Greis. Das Urteil lautete auf ein Pfund und 5 Schilling sowie 6 Pence Kosten.
Rathausgericht Worksop. Vor den Richtern Foljambe, Eddison und Smith erschien John Priestley, angeklagt, Rev. Leslie Graham überfallen zu haben. Der Angeklagte, der betrunken gewesen war, schob einen Kinderwagen vor einen Transportwagen, so daß der Kinderwagen umstürzte und das Kind herausfiel. Der Transportwagen überfuhr den Kinderwagen, ohne daß das Kind jedoch zu Schaden kam.
Der Angeklagte griff darauf den Kutscher des Transportwagens an und überfiel hinterher den Kläger, der ihm Vorwürfe wegen seines Benehmens machte. Infolge der Schläge, die der Angeklagte ihm erteilt hatte, mußte der Kläger ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Der Angeklagte wurde zu 40 Schilling Strafe sowie zu den Kosten verurteilt.
Dem Polizeigericht Rotherham West Riding wurden Benjamin Storey, Thomas Brammer und Samuel Wilcock vorgeführt. Sie wurden wegen Wilddieberei zu je einem Monat Gefängnis verurteilt.
Polizeigericht Southampton. Dem Magistrat wurde Henry Thorrington vorgeführt, unter der Anklage, unter freiem Himmel genächtigt zu haben. Er erhielt sieben Tage Gefängnis.
Vor dem Polizeigericht Eckington erschien Joseph Watts. Er hatte neun Farne aus einem Garten gestohlen und wurde zu einem Monat Gefängnis verurteilt.
Polizeigericht Südwest-London. Dem Richter, Herrn Rose, wurde John Probyn vorgeführt, unter der Anklage, einen Polizisten überfallen zu haben. Der Arrestant hatte seine Frau sowie eine andere Frau, die ihr zu Hilfe kam, mit Fußtritten traktiert. Der Schutzmann war hinzugekommen und hatte versucht, ihn zu bewegen, in seine Wohnung zu gehen, plötzlich aber hatte er sich gegen den Schutzmann gewandt, ihn mit einem Schlag ins Gesicht zu Boden geworfen, ihm, als er auf dem Boden lag, Fußtritte versetzt und versucht, ihn zu erwürgen. Schließlich hatte er dem Schutzmann einen Tritt an eine sehr gefährliche Stelle versetzt und ihm eine Beschädigung zugefügt, die ihn längere Zeit an Ausübung seines Dienstes verhindern wird. Der Arrestant wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.
Polizeigericht Lambeth, London. Dem Richter, Herrn Hopkins, wurde die neunzehnjährige Choristin ›Baby‹ Stuart vorgeführt, unter der Anklage, sich Kost und Logis im Werte von 5 Schilling unter falschen Vorspiegelungen und in der Absicht, Emma Brasier zu betrügen, verschafft zu haben. Die Klägerin, Emma Brasier, war Inhaberin einer Pension in der Atwell-Straße. Die Arrestantin mietete bei ihr ein Zimmer unter dem Vorgeben, am Crown-Theater engagiert zu sein. Als sie drei bis vier Tage bei Frau Brasier gewohnt hatte, untersuchte diese ihre Verhältnisse und kam zu dem Ergebnis, daß die Angaben des jungen Mädchens erlogen waren, worauf sie sie verhaften ließ. Die Arrestantin erklärte dem Richter, daß sie gearbeitet haben würde, wenn sie nicht zu schwächlich gewesen wäre. Sie wurde zu sechs Wochen schwerer Strafarbeit verurteilt.
Ich blieb einen Augenblick auf dem Mile-End-Feld stehen und lauschte auf einen Wortwechsel. Es war spät abends, und die Teilnehmer an der Unterhaltung waren bessere Arbeiter. Sie hatten sich um einen der Ihren geschart, einen dreißigjährigen Mann mit angenehmen Zügen, und ereiferten sich sehr.
»Aber was sagst du denn zu dieser Einwanderung von billigen Arbeitskräften?« fragte einer von ihnen. »Ich behaupte, daß die Juden in Whitechapel uns auffressen.«
»Das ist Unsinn«, lautete die Antwort. »Es geht ihnen genau wie uns, sie müssen auch leben. Man kann einem Mann keine Vorwürfe machen, wenn er sich billiger anbietet als du und ich und uns unsere Arbeit nimmt.«
»Aber was soll dann aus Frau und Kindern werden?« wandte sein Gegner ein.
»Ja, eben; der andere Mann, der billiger arbeitet und uns die Arbeit nimmt, hat ja auch Frau und Kinder. Nicht wahr? Soll er vielleicht keine Rücksicht auf Frau und Kinder nehmen? Er interessiert sich natürlich mehr für seine eigenen Kinder als für deine und kann nicht mitansehen, daß sie hungern. Da verlangt er eben weniger, und du bist erledigt. Aber Vorwürfe kann man ihm nicht machen, dem armen Teufel. Er kann nichts dafür. Die Löhne werden immer gedrückt werden, wenn zwei sich um dieselbe Arbeit bewerben. Die Konkurrenz ist schuld, nicht der Mann, der Arbeit sucht.«
»Aber wenn man eine Gewerkschaft hat, werden die Löhne nicht gedrückt«, wandte der andere darauf ein.
»Da hast du wieder recht, das ist vollkommen richtig. Die Gewerkschaft verhindert die Konkurrenz unter den Arbeitern, macht sie aber noch schwerer, wo es keine Gewerkschaft gibt. Und so steht es eben mit den Leuten, von denen du sprichst, in Whitechapel, die sich unterbieten; es sind keine gelernten Arbeiter, und sie haben keine Gewerkschaft, und deshalb fressen sie sich gegenseitig auf – und uns mit, wenn wir nicht dafür sorgen, daß wir uns ordentlich organisieren.«
Ich will nicht näher auf dieses Gespräch eingehen. Dieser Mann auf dem Mile-End-Feld deckte die Tatsache auf, daß die Löhne immer gedrückt werden, wenn zwei Männer sich um dieselbe Arbeit bewerben. Ginge jemand noch näher auf die Sache ein, so würde er entdecken, daß sogar die Gewerkschaften behaupten, daß zwanzigtausend arbeitstüchtige Männer nicht imstande sein würden, die Löhne zu halten, wenn zwanzigtausend Arbeitslose versuchten, die organisierten Arbeiter zu verdrängen.
Gerade jetzt, da die Soldaten aus Südafrika heimkehren und entlassen werden, hat man ein schlagendes Beispiel dafür. Zehntausende von ihnen sind jetzt im Heer der Arbeitslosen in einer furchtbaren Situation. Im ganzen Lande sind die Löhne heruntergegangen, und das gibt wieder Anlaß zu großen Arbeitskämpfen und Streiks, was die Arbeitslosen benutzen, indem sie freudig das Werkzeug ergreifen, das die Streikenden niedergelegt haben.
Forcierte Arbeit, Hungerlöhne, Heerscharen von Arbeitslosen und Massen von Obdachlosen sind die unvermeidliche Folge davon, daß es mehr Menschen als Arbeit für sie gibt. Die Männer und Frauen, die ich auf den Straßen herumwandern sah, die ich in den Arbeitshäusern und Speiseanstalten traf, kommen nicht dorthin, weil sie sich ihren Lebensunterhalt dort leicht verdienen. Ich habe wohl genügend die Leiden beleuchtet, die sie durchmachen müssen, und man wird mit mir einig darin sein, daß die Verhältnisse an diesen Stätten alles eher als leicht sind.
Es ist sehr einfach auszurechnen, daß es in England leichter ist, für zwanzig Schilling wöchentlich zu arbeiten, regelmäßige Mahlzeiten und jede Nacht ein Bett zu bekommen, als auf die Straße zu gehen. Die Männer, die auf die Straße gehen, leiden weit mehr, arbeiten weit schwerer und bekommen weit weniger dafür. Ich habe erzählt, wie sie ihre Nächte verbringen, und wie die körperliche Erschöpfung sie in die Asyle treibt, um ein wenig Ruhe zu finden – auch dort verdienen sie nicht leicht. Vier Pfund Werg pflücken, zwölf Zentner Steine klopfen oder die ekelhaftesten Arbeiten für eine elende Kost und Unterkunft ausführen, muß als reichliche Bezahlung bezeichnet werden – reichlich bezahlt von denen, die die Arbeit leisten. Seitens der Behörden ist es der reinste Raub; sie bezahlen die Arbeit weit niedriger als die privaten Arbeitgeber. Der Lohn für eine für einen privaten Arbeitgeber ausgeführte Arbeit würde ihnen bessere Unterkunft, besseres Essen, bessere Behandlung, und vor allem größere Freiheit verschaffen.
Wie gesagt, die Asyle vorziehen, hieße seine Arbeitskraft verschwenden. Und daß die Armen das wissen, sieht man am besten daran, wie sie diese Stätten scheuen, bis körperliche Leiden sie hintreiben. Was ist also der Grund, daß sie hinkommen? Nicht, daß ihnen der Mut zur Arbeit fehlt, sondern eben, weil ihnen der Mut zum Müßiggang fehlt.
Der Tramp in den Vereinigten Staaten ist fast immer ein Mann, dem es an Arbeitsmut fehlt. Er hält das Leben des Landstreichers für besser als das des Arbeiters. Aber so ist es nicht in England. Hier haben die Machthaber ihr Bestes getan, den Mut der Müßiggänger und Vagabunden niederzuschlagen, die denn auch wahrlich schrecklich entmutigte Geschöpfe geworden sind. Hier weiß der Landstreicher, daß er sich für einen Tagelohn von zwei Schilling drei gute Mahlzeiten und Nachtlogis kaufen kann und sogar noch ein paar Pence Taschengeld übrig hat; er will lieber für diese zwei Schilling arbeiten als für die Barmherzigkeit, die die Asyle ihm gewähren, denn er weiß, daß er dann weder so schwer zu arbeiten braucht, noch so abscheulich behandelt wird. Tut er nichts, so kommt es nur daher, daß es mehr Arbeiter gibt, als die Arbeit verlangt.
Gibt es mehr Arbeiter, als die Arbeit verlangt, so findet unweigerlich ein Ausscheidungsprozeß statt. In allen Industriezweigen werden die am wenigsten Tauglichen hinausgedrängt, sie werden es eben wegen ihrer Untauglichkeit, und es geht mit ihnen bergab, bis sie ihr eigentliches Niveau, die Stelle des Arbeitsmarktes erreichen, wo sie als tauglich angesehen werden können. Es ist daher selbstverständlich, daß, wer am allerwenigsten taugt, ganz bis auf den Boden sinken muß – bis hinab auf die Schlachtbank, wo er einen kläglichen Tod erleidet.