NATASCHA SAGORSKI
25 Frauen erzählen von ihren Schwangerschaften ohne Happy End – und wie sie danach trotzdem ihren Weg gefunden haben
Originalausgabe
1. Auflage 2022
Verlag Komplett-Media GmbH
2022, München
www.komplett-media de
E-Book ISBN: 978-3-8312-7103-0
Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Korrektorat: Kirsten Krebber
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Satz und Layout: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim www.brocom.de
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Für alle Sternenkinder und Sterneneltern.
Und ganz besonders für Sonja.
Vorwort
Natascha, 36, München
#Fehlgeburt #Ausschabung
Cathy, 31, Landsberg am Lech
#Fehlgeburten #Kinderwunsch
Anja, 32, München
#KleineGeburt #SchwangernachFehlgeburt
Steffi, 35, München
#Kinderwunschzentrum #WiederholteFehlgeburten
Bianca, 31, Wolfsburg
#MissedAbortion #Sternenbestattung
Nadine, 29, Bocholt
#Ausschabung #ZurückinsLebennachFehlgeburt
Lena, 32, Köln
#Solomama #Fehlgeburten
Sara, 39, München
#StilleGeburt #VACTERLSyndrom
Uli, 66, Marl
#Fehlgeburtinden70er-Jahren #UnruhigeGebärmutter
Jasmin, 32, Lahn-Dill-Kreis
#MissedAbortion #AusschabungnachkleinerGeburt
Maria, 36, München
#FehlgeburtimUrlaub #FehlgeburtbeizweitemKinderwunsch
Tanja, 36, Karlsruhe
#ZweiFehlgeburtenhintereinander #AusschabungohnePartner
Simone, 32, Freiburg
#WiederholteFehlgeburten #TherapienachFehlgeburten
Laura, 24, Stadthagen
#DiagnoseAnenzephalie #Schwangerschaftsabbruch
Ursula, 40, aus einer bayerischen Kleinstadt
#StilleGeburtinSSW39 #NotoperationnachGeburt
Ines, 50, München
#TherapienachFehlgeburt #AbschiedvomKinderwunsch
Eva, 42, Ebersberg
#FehlgeburtinChina #KinderwunschnachFehlgeburt
Lea, 30, Lich
#Faktor-V-Leiden #DiagnostiknachdreiFehlgeburten
Verena, 43, Köln
#Sternenzwillinge #StilleGeburt
Annika, 36, Oberschleißheim
#KleineGeburt #UmgangmitGeschwistern
Cornelia, 38, Niederösterreich
#UnbemerkteSchwangerschaft #BeziehungnachFehlgeburt
Marlene, 26, Kreis Göppingen
#Endometriose #JobundSchwangerschaft
Jenni, 31, Hamburg
#FehlgeburtwährendeinerPandemie #Trauerverarbeitung
Monica, 38, Saarbrücken
#Brustkrebs #Eileiterschwangerschaft
Kathrin, 39, München
#Perspektivenwechsel #AusderSichteinerGynäkologin
Frank, 37, Karlsruhe
#Sternenpapa #FehlgeburtausVätersicht
Ein paar Worte zum Schluss
Danke …
»Man hat das Gefühl, Natascha Sagorski ist in ihrem Leben bisher nie etwas Schlimmes widerfahren.«
Diesen Satz hatte eine Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, die mich und meinen damals neu erschienenen Roman vorstellte, über mich geschrieben und damit eine Heidenangst in mir ausgelöst. Denn sie hatte recht, so etwas richtig Schlimmes war mir bis dato nicht widerfahren in meinem Leben, es lief eher ziemlich glatt. Ich glaube, deswegen erwischte mich der Satz so eiskalt. Glück soll man nicht beschreien. Und hier wurde das Glück nicht nur niedergeschrieben und an Tausende Münchner Haushalte gestreut, für mich fühlte es sich so an, als würde dieser Satz mein Glück herausfordern.
In den kommenden Monaten hatte ich bei jeder noch so harmlosen Flugturbulenz feuchte Hände, bekam Herzrasen, wenn meine Eltern mich einmal zu ungewöhnlichen Uhrzeiten anriefen oder Schnappatmung bei der Hautkrebsvorsorgeuntersuchung. Doch alles war gut, blieb gut, und so begann ich den verhängnisvollen Satz mehr und mehr zu vergessen. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich entschloss, Kinder zu bekommen.
Das klingt jetzt sehr dramatisch. Vorneweg, Kinder sind das Größte auf der Welt, und ja, ich liebe meine Kinder abgöttisch. Sie waren alles wert. Und ja, ich kenne viele Frauen, die beschlossen haben, Nachwuchs zu bekommen, Sex hatten, zehn Monate schwanger waren, ein entzückendes Kind geboren haben, und alles war gut. Ich kenne aber eben mittlerweile ebenso viele Frauen, bei denen es nicht so glatt lief. Frauen, die nicht schwanger werden konnten, Frauen, die ihr Kind verloren haben oder eine Frühgeburt hatten.
Heute gehöre auch ich zu diesen Frauen.
Und von uns gibt es verdammt viele. Nur leider erfährt man das erst, wenn man selbst Mitglied in diesem fragwürdigen Club ist. Denn auch heute noch, während wir bereits unser Frühstück mit unseren Freunden auf Instagram teilen und uns Lebenspartner suchen, in dem wir Fotos zur Seite wischen, sind die Themen Fehlgeburt und Co. gesellschaftlich unerwünscht. Da redet man eben nicht drüber.
Und so dachte auch ich lange Zeit, die größte Hürde am Kinderkriegen sei das Schwangerwerden. Bist du einmal schwanger, geht schon alles gut. War ja immer so. Hätte ich damals schon gewusst, wie wenig wahr das ist, hätte mich das, was dann kam, wahrscheinlich etwas weniger hart erwischt. Und damit es anderen Frauen in Zukunft besser geht, und damit alle, die Ähnliches erlebt haben wie ich, wissen, dass sie nicht allein sind und alles Schlimme vorübergeht, schreibe ich nun dieses Buch.
Ich teile nicht nur meine eigene Geschichte, sondern hatte das Privileg, mit vielen weiteren Frauen sprechen zu dürfen, die ihre ungeborenen Kinder verloren haben und nicht mehr darüber schweigen wollen.
Wir alle erzählen in diesem Buch davon, was uns passiert ist und wie wir mit diesen Verlusten umzugehen lernten. Denn, und das ist vielleicht das Wichtigste, was wir mit unseren Geschichten vermitteln wollen, ein Kind im Bauch zu verlieren ist furchtbar. Es tut so sehr weh, dass man das Gefühl hat, innerlich zu zerreißen. Aber man zerreißt nicht.
Jede von uns hat ihren persönlichen Weg gefunden, den Schmerz zu verarbeiten und ihren eigenen Weg weiterzugehen. Und das wünschen wir uns auch für all die Frauen, die unser Schicksal teilen. Denn keine von uns ist allein, und Fehlgeburten gehören leider zum Kinderkriegen dazu. Das war immer so und wird wahrscheinlich auch immer so sein. Und darüber darf, nein, darüber muss man auch sprechen.
München
#Fehlgeburt
#Ausschabung
Ich weiß noch genau, wie ich an der Ampel Richtung Ludwigstraße in München stand und parallel über die Freisprechanlage mit meiner Kollegin telefonierte. Ich war auf dem Weg zum Gynäkologen für einen Kontrollultraschall und wollte danach wieder ins Büro. Die To-do-Liste war wie immer lang. In der Woche zuvor hatte ich für einen Kunden ein Event in einem großen Hotel umgesetzt, und im Rahmen der Eventplanung war einiges andere liegen geblieben, das ich nun aufarbeitete.
Ich war gerade in der zehnten Schwangerschaftswoche, glaubte zu bemerken, wie mein Bauch sich langsam ein kleines bisschen wölbte, hatte Heißhunger auf Käse, und morgens drehte sich mein Magen regelmäßig um. Alles ganz normal für eine Frühschwangerschaft.
Beim Arzt angekommen, musste ich wie immer recht lange warten, bekam Blut abgenommen, wurde gewogen, musste in den berühmten Becher pieseln, und mein Blutdruck wurde gemessen. Und dann überreichte mir die Sprechstundenhilfe endlich das lange ersehnte Dokument: den Mutterpass! Was war ich stolz, diesen endlich in den Händen zu halten.
»Du wirst wirklich eine Mama.«
Mit diesem unglaublichen, aber wunderschönen Gedanken im Kopf betrat ich das Arztzimmer. Mein Gynäkologe fragte mich erst mal Allgemeines. Ob ich eine Hebamme gefunden, mich schon bei einem Krankenhaus zur Geburt angemeldet hätte und so weiter.
»Nun haben wir die kritische Zeit ja fast schon hinter uns. Aber jetzt schauen wir erst mal drauf …«, meinte er schließlich, und ich nahm auf dem Stuhl, den sicher keine von uns liebt, Platz.
Zuerst tastete er nur.
»Schon ganz schön gewachsen die Gebärmutter …«, freute er sich, und ich begann, mich etwas zu entspannen.
Bereits beim letzten Termin hatte der Arzt mir eröffnet, dass viele Frauen in ihrer ersten Schwangerschaft das Kind in den ersten zwölf Wochen verlieren. Ich war damals etwas vor den Kopf gestoßen, da er mir diese Information in den zehn Jahren zuvor noch nie mitgeteilt hatte und ich bei meinem ersten Ultraschalltermin voller Faszination das kleine Herz hatte schlagen sehen und an Kinderzimmer, Babyschuhe und alles Mögliche gedacht hatte, aber sicher nicht an Fehlgeburten. Doch das daraufhin aufkommende mulmige Gefühl hatte sich in den letzten Wochen abgeflacht, und die Vorfreude war immer größer geworden. Umso aufgeregter war ich nun, zum zweiten Mal mein Baby zu sehen.
Der Arzt setzte den Ultraschallstab an und begann zu schallen.
Es dauerte keine zehn Sekunden, da fiel der eine Satz, der alles veränderte.
»Uh, das sieht nicht gut aus.«
Ich hielt unwillkürlich die Luft an und wartete auf ein Lächeln und eine Richtigstellung. Irgendwas in der Art. »Ach nein, entschuldigen Sie, ich habe mich vertan. Scheint natürlich alles in Ordnung zu sein.«
Aber so ein Satz kam nicht.
Stattdessen nur Stirnrunzeln und weiteres Schallen. Ich wollte es nicht, aber ich spürte die ersten Tränen in meinen Augen aufsteigen. Einerseits war dies unvorstellbar, andererseits hatte ich schon realisiert, dass keine guten Nachrichten mehr kommen würden.
»Ich kann leider keinen Herzschlag mehr finden. Und der Embryo ist viel zu klein für die zehnte Woche. Es tut mir wirklich leid.«
Ich starrte durch meinen Tränenschleier auf den schwarz-weißen Bildschirm.
»Aber das sieht doch viel größer aus als beim letzten Mal«, wisperte ich.
Leider war das, was ich da vermeintlich als mein gewachsenes Baby identifizierte, nur der Dottersack.
Alles Weitere nahm ich nur noch dumpf wahr und verfiel in meinen Organisationsmodus. Nicht umsonst arbeite ich in der PR. In Stresssituationen funktioniere ich, egal, welche Welt gerade um mich herum zusammenbricht.
Auch wenn es meine eigene ist.
Abtreibungstabletten kamen für mich nicht infrage. Einfach abwarten auch nicht. Mein Körper hatte noch nicht verstanden, dass das kleine Wesen in uns tot war und produzierte fleißig weiter Schwangerschaftshormone. Aber ich war nicht mehr schwanger, alles fühlte sich plötzlich falsch an, und ich wollte diesen Schwebezustand so schnell wie möglich beenden. Deswegen entschied ich mich für eine Ausschabung.
Am liebsten. Jetzt. Sofort.
Mein Gynäkologe hätte mich erst in der Woche darauf operieren können, und so empfahl er mir, direkt in ein nahe gelegenes Krankenhaus zu fahren.
Die standesamtliche Hochzeit meiner besten Freundin sollte drei Tage später stattfinden, und ich hatte den irrwitzigen Gedanken, dass ich bis dahin wieder fit sein müsse.
Noch im Arztzimmer schrieb ich meinem Mann eine Whatsapp. Nicht sehr sensibel, aber ich hätte es nicht ertragen, ihn anzurufen und ihn vielleicht erst noch überzeugen zu müssen, dass diese Nachricht real war. Denn wer wollte und konnte eine solche Katastrophe am Telefon realisieren, vor allem wenn er nicht, wie ich kurz zuvor, das stumme Ultraschallbild ohne blinkendes Pünktchen gesehen hatte.
Als ich ihn dann vom Auto aus anrief, war er so gefasst wie möglich und fuhr sofort vom Büro aus nach Hause, um mit mir in die Klinik zu fahren. Ich rief noch meine Kollegin an, mit der ich kurz zuvor so unbeschwert telefoniert hatte, um ihr mitzuteilen, dass ich nicht mehr ins Büro käme. Allerdings lief das nicht so gefasst ab, wie es jetzt vielleicht klingt. Vielmehr konnte sie mich vor lauter Weinen kaum verstehen. Auch an meine Chefin sendete ich noch eine Sprachnachricht, und dann versuchte ich, mich innerlich abzuschotten und für das zu wappnen, was da auf mich zukam.
Mein Mann hatte bereits meine Mutter informiert, die wir vor wenigen Wochen mit einem positiven Schwangerschaftstest in einer Geschenkschachtel überrascht hatten. Ich war meinem Mann dankbar dafür, denn ich hätte es nicht geschafft, ihr Bescheid zu geben. Wusste ich doch, dass die Nachricht meine Mutter fast so sehr zerreißen würde, wie mich selbst.
In der Klinik angekommen, blieb mir bei der Anmeldung die Stimme weg. Ich weiß noch genau, wie ich vor der Dame hinter der Glasscheibe stand und ihr mitteilen wollte, dass wir in die gynäkologische Notaufnahme müssten. Schon von Berufs wegen rede ich sehr viel und frei, auch wenn ich aufgeregt bin, weil ich vor vielen Menschen sprechen muss. Aber dieses Gefühl, den Mund aufzumachen und einfach keinen Ton herauszubekommen – das hatte ich so noch nie gespürt. Mir fehlten die Worte sogar körperlich.
Mein Mann sprang ein, und schließlich steuerten wir die Station an. Das Problem in einer solchen Situation ist, dass man in fast allen Kliniken zu einer Ausschabung auf die gleiche Station muss, auf der andere Frauen liegen, wenn sie gerade ihre Kinder bekommen haben. Wir liefen also ein Treppenhaus nach oben, begleitet von riesigen Schwarzweiß-Fotografien von Neugeborenen. Mir fällt kein anderes Wort als »Spießrutenlauf« ein.
Nach der Anmeldung warteten wir mit einer hochschwangeren Frau und ihrem Mann in einem Wartezimmer. Ich dachte immer, solche klischeeartigen Situationen findet man nur in Filmen, doch da hatte ich mich getäuscht.
Als ich schließlich drankam, begleitete ich eine junge Assistenzärztin in einen kleinen Untersuchungsraum mit gynäkologischem Stuhl. Ich nahm Platz, und sie begann zu schallen und den Herzschlag zu suchen, den sie erwartungsgemäß nicht finden konnte. Da es sich um ein Lehrkrankenhaus handelte, musste dann noch mal ein weiterer Arzt draufschauen, und ich wartete eine halbe Stunde in diesem Stuhl mit gespreizten Beinen, bis mir schließlich ein dritter Arzt an diesem Tag erklärte, dass mein Baby tatsächlich tot war.
Beide Klinikärzte versicherten mir, dass sie jeden Tag etliche Frauen mit derselben Diagnose auf Station hätten und dies nicht außergewöhnlich sei und nicht bedeuten würde, dass ich keine Kinder mehr bekommen könne. Auch wenn sie natürlich verstehen würden, dass mir das jetzt nicht helfe. Ich habe das in meinem Nebel alles nur abgenickt und mich über die Ausschabung, die sie für den nächsten Tag einschieben konnten, aufklären lassen.
Es ging darum, dass ich mich einverstanden erklärte, dass es in sehr seltenen Fällen bei sehr selten notwendigen Blutkonserven zur Ansteckung mit HIV kommen könnte oder dass in sehr seltenen Fällen beim Eingriff die Gebärmutter durchstoßen werden kann und vor der Ausschabung ein Medikament eingesetzt wird, das in sehr seltenen Fällen zu Nebenwirkungen führen kann und eigentlich für etwas komplett anderes entwickelt wurde. Ich habe keine Ahnung mehr für was. Ich weiß nur noch, dass alles angeblich »sehr selten« war, außer den Fehlgeburten selbst und wie ironisch mir das vorkam. Ich unterschrieb einfach alles, was ich sollte und wollte es nur hinter mich bringen. Inzwischen war es spätabends, und ich sollte am nächsten Morgen nüchtern um sieben Uhr wieder in der Klinik sein.
An die Nacht habe ich keine große Erinnerung. Ich weiß nur noch, dass ich mir jede Menge südfranzösische Krimis auf meinen Kindle geladen habe, um so gut wie möglich in eine andere Welt abtauchen zu können. Und das hat mich über den nächsten Tag, oder besser gesagt, über die nächsten Wochen gebracht.
Mein Mann hatte sich den Tag freigenommen und ist mit mir morgens ins Krankenhaus gefahren, zurück auf die Station mit den ganzen Babybildern an der Wand. Ich hatte in meinem tunnelartigen Zustand meine private Zusatzversicherung einfach vergessen und lag in einem Dreibettzimmer mit zwei weiteren Frauen. Beide erstaunlich gut gelaunte Brustkrebspatientinnen und sicher sehr nett. Doch ich war entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten zu keinerlei Small Talk fähig. Und als eine junge Ärztin zu einer Untersuchung an mein Bett kam und mich mit den Worten »Es tut mir sehr leid, was Ihnen passiert ist« begrüßte, war meinen Zimmergenossinnen sicher auch klar, weshalb ich so still war.
Eine der beiden Patientinnen kannte das Klinikpersonal sehr gut und wurde von den Schwestern immer wieder auf dem Laufenden gehalten, wie viele Kaiserschnitte heute im OP durchgeführt wurden und wie viele Babys im Laufe des Tages das Licht der Welt erblickten. Immer wieder hörte man auch Babygeschrei.
Ich tauchte angestrengt ganz tief ab in die Welten, die ich auf meinen Kindle geladen hatte, und versuchte, möglichst nicht aufzuhören zu lesen. Denn immer, wenn ich das kurz einmal nicht schaffte, liefen mir sofort die Tränen übers Gesicht. Gefühlt war es der wohl längste Tag meines Lebens. Es wollten einfach eine Menge Babys auf die Welt kommen an diesem Tag, und so konnte meines nicht ausgeschabt werden. So bitter das klingt, genauso fühlte es sich in diesem Moment für mich an.
Ich weiß noch, dass ich irgendwann mittags meinen Mann gebeten habe, nach Hause zu gehen. Da ich sowieso nur mit Abtauchen beschäftigt war und die ganze Situation meinen Mann genauso belastete, war es das Beste für uns beide.
Abends gegen 19 Uhr kam dann endlich eine der jungen Ärztinnen zu mir und wollte mir das besagte Medikament zur Vorbereitung auf den Eingriff verabreichen. Da ich den ganzen Tag nichts trinken durfte, freute ich mich fast schon darauf, rechnete ich doch damit, gleich einen Schluck Wasser für die Pillen zu erhalten. Nur hatte die Ärztin leider keine Pillen, sondern zwei Zäpfchen in der Hand und sah mich bzw. meine Bettdecke auffordernd an. Erst verstand ich nicht, was sie wollte. Als sie mich schließlich bat, mich auf die Seite zu legen und die Bettdecke anzuheben, war mir klar, dass das Medikament vaginal verabreicht werden sollte. Irgendwie hat mich das total geschockt, ich habe es aber einfach geschehen lassen. Nachdem sie mir recht unsanft die Zäpfchen verabreicht hatte, hieß es, dass ich in zwanzig Minuten zum OP geschoben werde, da das Medikament schnell wirkt und dass ich mich nicht wundern solle, wenn es sich in meinem Unterleib gleich heiß anfühle. Ich habe dann nur noch schnell meinem Mann eine Nachricht geschickt, dass es jetzt losgeht und meine Sachen in den Spind gesperrt. Dann wartete ich darauf, dass es auch tatsächlich losging.
Allerdings dauerte es deutlich länger als zwanzig Minuten, und so ganz ohne Ablenkung traf mich die Realität wieder mit voller Wucht. Ich wollte nicht weinen, ich wollte tapfer in den OP einfahren, aber ich konnte nichts tun, die Tränen rannen mir einfach über das Gesicht. Als ich endlich abgeholt wurde, hatte ich das Gefühl, Feuer zwischen den Beinen zu haben und wollte es wieder mal einfach nur hinter mich bringen.
Doch vor dem OP musste ich ewig warten, bevor ich dann in einen Vorbereitungsraum geschoben wurde und in einen fahrbaren gynäkologischen Stuhl umziehen musste. Dann gab es plötzlich ein riesiges bürokratisches Heckmeck, weil meine private Zusatzversicherung wohl doch in einem Computer aufgetaucht war und dadurch mehrere Unterschriften vor der Narkose von Nöten waren. Das war das Letzte, für das ich in dieser Situation und mit gespreizten feuerspeienden Beinen noch Nerven hatte.
Nach einer nicht nur gefühlt langen Zeit, etlichen Anrufen in diversen Sekretariaten einer zunehmend genervten Anästhesistin und jeder Menge stiller Tränen wurde ich dann doch endlich in den OP geschoben. Das Mitgefühl einer Schwester (»Ich weiß, das ist heute kein schöner Anlass für einen Eingriff«) ließ dann unvermittelt alle Dämme bei mir brechen. Ich blickte in ein grelles Neonlicht über mir, um mich herum lauter fremde, vermummte Menschen in OP-Kleidung und meine gespreizten Beine mittlerweile ganz entblößt auf dem Stuhl. Zudem die Gewissheit, dass diese Menschen gleich das aus mir schaben würden, was eigentlich mein Baby hätte werden sollen. Ich begann laut zu schluchzen.
Ich hasste es, meine Emotionen nicht weiter unterdrücken zu können, aber es ging nicht. Ich sehnte nur noch das friedliche Dunkel der Narkose herbei, doch meine Venen spielten nicht mit, und der Zugang war plötzlich dicht, was mich noch panischer aufschluchzen ließ. Ich weiß noch, dass mich jemand bat, mich zu beruhigen und mir eine Sauerstoffmaske ins Gesicht drückte. In dem Moment habe ich meine ganze Gedankenkraft zusammengenommen und mich auf das Deck eines Kreuzfahrtschiffs, das ich sehr gern habe, konzentriert. Habe versucht, in mir das Gefühl wachzurufen, wie es sich anfühlt, beim Auslaufen an der Reling zu stehen. Ein Glas Champagner in der Hand und auf die immer kleiner werdende Silhouette des Ufers zu blicken. Habe mir das Rauschen der Wellen vorgestellt, den blauen Dunst, welcher das Meer gegen Abend in ein ganz besonderes Licht taucht und wie dieses Schiff mich ganz weit weg von allem bringt, immer weiter aufs Meer hinaus und in die Freiheit.
Dann wurde es endlich schwarz um mich.
Ich wachte auf und hörte eine Frau neben mir rufen, dass sie nichts sehen könne. Pochende Schmerzen in meinem Unterleib erinnerten mich daran, woraus ich gerade erwacht war. Es tat wirklich höllisch weh, viel mehr, als ich mir das vorher vorgestellt hatte. Vielleicht hatte ich mir auch nichts vorgestellt und war deswegen so überrascht.
Irgendwann kam eine Frau, die die laut rufende Patientin, sie lag nach einer Augenoperation neben mir im Aufwachraum, beruhigte. Ich fragte nach Schmerzmitteln und bekam eine Tablette. Ungefähr vier Stunden später durfte mein Mann mich abholen. Ich blutete stark und war von den Erlebnissen wie paralysiert. Trotzdem war ich dankbar, dass es vorbei und froh, als ich endlich zu Hause war.
Seit dem Aufwachen hatte ich nicht mehr geweint, erst als ich daheim im Wohnzimmer meinen Hund in die Arme schloss, liefen die Tränen.
Ich weiß nicht mehr viel von den darauffolgenden Tagen. Zur Hochzeit meiner Freundin bin ich nicht gegangen, auch die Reise zur Hochzeit einer weiteren Freundin eine Woche später habe ich abgesagt. Mein Mann hatte mir von unserem Hausarzt eine Krankschreibung besorgt, und ich verbrachte den Großteil der Tage draußen im Garten auf einer Liege und habe meine französischen Krimis gelesen. Ich war noch nicht bereit, mich mit dem Erlebten und dem Verlust auseinanderzusetzen. Der Schmerz war einfach zu groß für mich.
Dazu muss ich sagen, dass ich vorher eigentlich keine großen Schicksalsschläge kannte. Natürlich war nicht immer alles eitel Sonnenschein in meinem Leben, ich hatte Liebeskummer erlebt, wurde betrogen, habe Großeltern verloren und die Scheidung meiner Eltern durchlitten. Aber an sich war mein Leben recht dramafrei. Dieser tiefe, bohrende Schmerz, dass ein kleines Wesen, das in mir gewachsen war, dessen Herz ich hatte schlagen sehen und das ich bereits nach zehn Wochen zu lieben begonnen hatte, einfach gestorben war, dieser Schmerz war so neu für mich und kam mit solch einer Wucht, dass ich nicht bereit war, mich ihm zu öffnen.
Zusätzlich zu diesem tiefen Schmerz und der Endgültigkeit der Ausschabung kam das Gefühl, dass ich gar nicht trauern dürfe. Das Gefühl, das ich im Krankenhaus gespürt hatte, als ich die anderen, »richtig Schwangeren« gesehen hatte. Ich war ja erst zehn Wochen schwanger. Ich hatte noch keinen großen Babybauch gehabt, und mein Baby war offiziell auch kein Baby, sondern ein Fötus.
»Das Gute ist, wir wissen jetzt, SIE KÖNNEN BABY. Sie können schwanger werden!«, hatte mein Gynäkologe gesagt, und natürlich hatte er recht. Viele Frauen werden nie auf natürlichem Weg schwanger, und aus medizinischer Sicht war meine Fehlgeburt kein großes Ding.
Nur für mich war sie eine Katastrophe. Eine Begegnung mit dem Tod, die ich so noch nie gemacht hatte. Ich habe nie ernsthaft damit gerechnet, dass meine Schwangerschaft so schnell enden würde. Selbst nachdem mein Arzt mich nach dem ersten Ultraschall vorgewarnt hatte, dass sehr viele Frauen bei der ersten Schwangerschaft eine Fehlgeburt in den ersten zwölf Wochen erleiden, habe ich diese Möglichkeit zwar wahrgenommen, aber nicht wirklich erwartet, dass es tatsächlich mich treffen würde. Ich denke, ich bin ein sehr positiv denkender Mensch und hoffe immer erst einmal auf das Beste. Das tue ich immer noch, und damit dies noch so ist, war in dieser Situation viel Arbeit an mir selbst nötig.
Ich glaube, das fast exzessive Lesen und Abtauchen in den ersten Tagen war wichtig, um meine Seele zu schützen und um ihr Zeit zum Heilen zu geben. Sehr untypisch für mich, habe ich in dieser Zeit mit niemandem gesprochen, außer mit meinem Mann. Nicht einmal mit meiner Mutter oder meiner engsten Freundin. Ich habe mir die Zeit mit mir selbst gegeben, die ich gebraucht habe. Und das war so wichtig.
Erst einige Tage später habe ich angefangen nach Berichten von anderen Frauen, die auch eine Fehlgeburt hatten, zu recherchieren. Und ich bin fündig geworden. Ich hätte gern noch mehr gelesen, aber die, die ich gelesen habe, haben mir sehr geholfen. Und zwar weil diese Berichte von ganz normalen Frauen waren. Frauen, die trotzdem irgendwann wieder fröhlich waren, deren Leben weiterging und die nicht an ihren Fehlgeburten zerbrochen waren. Und auch diese Frauen hatten wie ich um ihre Babys getrauert und das, obwohl sie keinen Babybauch gehabt hatten. Auch das gab mir das Gefühl, dass es okay war, traurig zu sein und dass ich trotz der kurzen Zeit das Recht hatte, meiner Schwangerschaft, meinem ungeborenen Kind nachzutrauern.
Das half. Jeden Tag ein Stückchen mehr.
Auch das Glück, mich mit meinem Mann austauschen zu können, bei langen Spaziergängen an der Isar über das Erlebte zu sprechen, gemeinsam zu weinen und irgendwann auch wieder gemeinsam zu lachen.
Nach zweieinhalb Wochen ging ich wieder arbeiten und habe zumindest meine engsten Kolleginnen ins Vertrauen gezogen. Am nächsten Tag stand eine weiße Lilie auf meinem Schreibtisch. Eine schlichte Geste, die mir Kraft und das Gefühl gegeben hat, dass mich jemand verstand.
Und so kam ein Sommertag nach dem anderen und auch die nächsten Hochzeiten von Freunden. Diese sagten wir nicht mehr ab, sondern feierten mit. Und weil eine davon am Comer See stattfand, verlängerten wir und machten uns ein paar schöne Tage in Italien, tranken jede Menge Wein und tankten Sonne.
Je mehr der Sommer sich seinem Ende neigte, desto mehr ließen wir den Gedanken zu, dass unser Kinderwunsch noch da war. Ja, vielmehr nach der Fehlgeburt sogar stärker und bewusster geworden war. Und nachdem langsam auch mein Zyklus wieder einsetzte, verhüteten wir nicht.
Ich stellte es mir so vor, dass dort oben eine Seele schwebte, die im ersten Anlauf noch nicht bereit gewesen war, zu uns nach unten auf die Erde zu kommen. Muss ja sicher auch schön sein, so über den Wolken. Doch sie war da und wartete nur darauf, zu uns zu kommen.
Mit einer Freundin beschloss ich, spontan dem Herbst noch ein paar Tage zu entfliehen und letzte Sommersonnenstrahlen auf Mallorca zu sammeln. Wir verbrachten traumhafte Tage in einem kleinen Fincahotel, mieteten uns ein Cabrio und düsten mit Leopardenkopftüchern und Audrey-Hepburn-Sonnenbrillen durchs Tramuntanagebirge. Es war herrlich. Doch trotz all dieser Herrlichkeit verzichtete ich in diesem Urlaub auf den obligatorischen Cava und blieb, sehr entgegen meiner sonstigen Urlaubsgewohnheiten, abstinent.
Denn da war auf einmal so ein Bauchgefühl … Noch am Tag des Rückflugs machte ich mit meinem Mann an meiner Seite einen Schwangerschaftstest.
Und da war er: der zarte blaue zweite Streifen. Noch dünn und blass, aber unverkennbar da.
Wir weinten beide.
Das Ergebnis dieser zweiten Schwangerschaft ist unser wunderschöner und mein Herz jeden Tag zum Überlaufen bringender Sohn Finn. Auch diese Schwangerschaft war alles andere als komplikationsfrei und sein zu früher Start ins Leben das Gegenteil von entspannt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Auch wenn ich jede einzelne geweinte Träne schon vor meinem Kinderwunsch hätte voraussehen können, nichts in meinem Leben war es mehr wert, einen so steinigen Weg zu gehen. Ich würde ihn immer wieder gehen, denn das Gefühl der Liebe, das ich heute in meinem Herzen habe, ist von einer Tiefe, die ich zuvor nicht einmal erahnen konnte. Natürlich hätte ich mir trotzdem ganz unaufgeregte und normale Schwangerschaften gewünscht, aber so läuft es im Leben eben nicht immer. Ich glaube, das Wichtigste ist, sich selbst trotz aller Steine und Schicksalsschläge nicht zu verlieren und den Glauben zu bewahren. Und dabei ist keine von uns allein, denn das Leben ist es wert, dass wir gemeinsam darum kämpfen.