Rainer Stamm • Gloria Köpnick
Karl Ernst
und
Gertrud Osthaus
Die Gründer des
Folkwang-Museums
und ihre Welt
C.H.Beck
Mit der Gründung des Folkwang-Museums, das als erstes Museum weltweit moderne Kunst zeigte, schrieben sich Karl Ernst und Gertrud Osthaus in die Kunstgeschichte ein: Hauptwerke von Cézanne, van Gogh, Gauguin, Matisse, Kirchner, Marc, Kandinsky und Schiele zählten zu ihrer Sammlung. Rainer Stamm und Gloria Köpnick zeichnen mit dieser ersten umfassenden Biografie des umtriebigen Sammlerpaares ein facettenreiches Panorama zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Großbürgertum und alternativen Lebensformen. Es ist eine Geschichte von Träumen und Erfolgen, der Suche nach Schönheit und großen Utopien.
Rainer Stamm ist Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kunst der Klassischen Moderne, die Geschichte der Fotografie sowie die Kunsthandels- und Museumsgeschichte.
Gloria Köpnick ist Direktorin der Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg. Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen die Kunst der Klassischen Moderne, die Kulturgeschichte der Weimarer Republik und das Bauhaus.
Prolog
1. «Was konnte anderes der leitende Gedanke meines Lebens sein als – Schönheit?»
Jeunesse dorée an der Ruhr
2. «A thing of beauty is a joy for ever»
Wege zur Museumsgründung
3. «Ich habe in van de Velde meinen Mann gefunden»
Henry van de Velde – der Prophet der Schönheit
4. «Der Renoir ist so rasend schön»
Auf dem Weg in die Moderne
5. «Freia: die Göttin der Schönheit!»
Folkwang statt Ruhmestempel
6. «acht Tage in die silberne Pariser Atmosphäre»
Die Erwerbungen des Jahres 1903
7. «Die Galerie Osthaus ist eine moderne im schärfsten Sinn des Wortes»
Marketing für die Moderne
8. «Der Meister von Aix»
Begegnung mit Cézanne
9. «der modernste der modernen Künstler»
Die Entdeckung der Werke von Matisse
10. «Das Problem einer künstlerisch geformten Stadt»
Die Anstifter
11. «Haus eines Kunstfreundes»
Der Hohenhof
12. «zäh, voll Energie, Opferwilligkeit und nüchterner Klarheit»
Kunst und Leben
13. «ein guter Kenner spanischer Keramik»
Walter Gropius, Andalusien und die Alhambra
14. «Seine Farbenpracht macht die ganze Umgebung grau erscheinen»
Emil Nolde und die Künstler der Brücke
15. «Formen, die von allem Nebensächlichen befreit sein müssen»
Die Neue Künstlervereinigung und die Künstler des Blauen Reiters
16. «Der tanzende Russe»
Alexander Sacharoff
17. «made in Germany»
Das Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe
18. «Diese Neuen vom Stirnband»
Künstlerkolonie Hohenhagen
19. «die Werke moderner Titanen»
Besuch von Le Corbusier
20. «Schenken Sie mir mein Bild zurück»
Die Wiener Moderne im Folkwang
21. «mein lieber Freund»
Die Mitarbeiter von Karl Ernst Osthaus
22. «liebste Prinzessin von Hohenhof»
Gertrud Osthaus
23. «The gentleman who first exhibited Negro objects»
Weltkunst
24. «Der Wahnsinn des Weltkrieges steht also bevor»
Die Werkbund-Ausstellung 1914
25. «Was ist der Krieg?»
Das Folkwang-Museum im Ersten Weltkrieg
26. «des Lebens Nötigungen und Verwirrungen»
Erschütterungen
27. «eine Umwertung aller bisher gültigen geistigen Werte»
Zersplitterungen
28. «Was wir brauchen, ist: der neue Mensch»
Die Folkwang-Schule
29. «Für das Museum habe ich jetzt einen Kronprinzen»
Das letzte Jahr vor Karl Ernst Osthaus’ Tod
30. «ein bleibendes Andenken»
Das Vermächtnis
31. «übersättigt und kulturmüde»
Auf dem Hatzenhof
32. «Im Museum hier ist alles miteinander verkracht»
Die Erben
33. Das «schönste Museum der Welt»
Das Museum Folkwang in Essen
34. «Kunst aus Blut und Boden»
Gertrud Stickforth und das Museum Folkwang im Nationalsozialismus
Epilog
Dank
Anmerkungen
Prolog
1. «Was konnte anderes der leitende Gedanke meines Lebens sein als – Schönheit?»
2. «A thing of beauty is a joy for ever»
3. «Ich habe in van de Velde meinen Mann gefunden»
4. «Der Renoir ist so rasend schön»
5. «Freia: die Göttin der Schönheit!»
6. «acht Tage in die silberne Pariser Atmosphäre»
7. «Die Galerie Osthaus ist eine moderne im schärfsten Sinn des Wortes»
8. «Der Meister von Aix»
9. «der modernste der modernen Künstler»
10. «Das Problem einer künstlerisch geformten Stadt»
11. «Haus eines Kunstfreundes»
12. «zäh, voll Energie, Opferwilligkeit und nüchterner Klarheit»
13. «ein guter Kenner spanischer Keramik»
14. «Seine Farbenpracht macht die ganze Umgebung grau erscheinen»
15. «Formen, die von allem Nebensächlichen befreit sein müssen»
16. «Der tanzende Russe»
17. «made in Germany»
18. «Diese Neuen vom Stirnband»
19. «die Werke moderner Titanen»
20. «Schenken Sie mir mein Bild zurück»
21. «mein lieber Freund»
22. «liebste Prinzessin von Hohenhof»
23. «The gentleman who first exhibited Negro objects»
24. «Der Wahnsinn des Weltkrieges steht also bevor»
25. «Was ist der Krieg?»
26. «des Lebens Nötigungen und Verwirrungen»
27. «eine Umwertung aller bisher gültigen geistigen Werte»
28. «Was wir brauchen, ist: der neue Mensch»
29. «Für das Museum habe ich jetzt einen Kronprinzen»
30. «ein bleibendes Andenken»
31. «übersättigt und kulturmüde»
32. «Im Museum hier ist alles miteinander verkracht»
33. Das «schönste Museum der Welt»
34. «Kunst aus Blut und Boden»
Epilog
Literatur
Bild- und Rechtenachweis
Personenregister
Als der Weltmann, Schöngeist und Kunstsammler Harry Graf Kessler im Dezember 1911 die Stadt Hagen besuchte, war er erschüttert von den Kontrasten, die sich ihm boten: Hier, in der «öden, schmutzigen, verrussten, das Gemüt bedrückenden Fabrikstadt», fand er ein Museum, das die erlesensten Schätze der modernen Kunst präsentierte: Werke von Renoir, Rodin, van Gogh, Signac, Gauguin, Hodler, Matisse, Kokoschka, Nolde und Marc.
Oberhalb der Innenstadt mit den rauchenden Schornsteinen, die mit Essen, Düsseldorf und Köln allmählich zu einer «Fünfmillionenstadt» verschmelzen würde, wie ihm der Hagener Industriellensohn Karl Ernst Osthaus prophezeite, sollte eine Gartenstadt entstehen, wo die Menschen «nackt reiten, turnen, im Wald liegen und sich vergnügen können».[1] «Das Phantastische wird Ereignis», notierte Harry Graf Kessler staunend und irritiert.
Eine beispiellose und europaweit einzigartige Sammlung moderner Kunst und die Vision eines Monte Verità am Rande einer Industriemetropole – wie hängt all das miteinander zusammen?
Die rauchenden Schlote und die Vision einer Gegenwelt aus Kunst und alternativen Lebenskonzepten bedingten sich gegenseitig. Es ist eine Geschichte voller Gegensätze, eine Suche nach Schönheit, die als Motor der Vision wirkte und für das Ehepaar Osthaus zum Lebenselixier wurde. Sie ist das Thema dieses Buches.
1.
Die westfälische Stadt Hagen, deren Einwohnerzahl von 5300 im Jahr 1850 auf 91.000 im Jahr 1911 angewachsen war, war besonders von den Folgen der industriellen Revolution geprägt. Hier lag das Zentrum der Kleineisenindustrie, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit rasantem Tempo von Manufakturen zu Fabriken mit vollautomatischer Fertigung wandelte. Der Eisenbahnbau war dafür in doppelter Hinsicht ein entscheidender Motor gewesen. Schon 1825 – zehn Jahre vor der Inbetriebnahme der ersten Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth – hatte der westfälische Unternehmer Friedrich Harkort den Bau einer Eisenbahn zwischen Rhein und Weser gefordert. Dieser Traum sollte jedoch erst mehr als 20 Jahre später Wirklichkeit werden: 1847 wurde Hagen an die bergisch-märkische Eisenbahnlinie angeschlossen. Damit waren die südwestfälischen Produktionsstätten von Draht, Schrauben, Ketten und Beschlägen nicht nur mit den wichtigen Handelszentren verbunden, sondern wurden selbst zum «Zentrum der Produktion für Eisenbahnmaterial in Deutschland».[1]
Das Stahlwerk Asbeck, Osthaus & Co., das Eisenwalzwerk Funcke & Elbers und zahlreiche weitere stahlverarbeitende Unternehmen siedelten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in unmittelbarer Nähe des Hagener Bahnhofs an. Noch 1913 lässt eine Aufnahme des Hagener Bahnhofsviertels eine Vielzahl von Schornsteinen erkennen, die die industrielle Betriebsamkeit in der Hagener Innenstadt dokumentieren.
Der Großvater von Karl Ernst Osthaus, Bernhard Wilhelm Funcke – der in Hagen zur Unterscheidung seiner gleichnamigen Vor- und Nachfahren Schruwen-Willem (Schrauben-Wilhelm) genannt wurde –, war eine der wichtigsten Unternehmerpersönlichkeiten und wesentlicher Motor der Frühindustrialisierung in Hagen. Auf Handelsreisen durch England hatte er den dortigen Stand der Industrialisierung kennengelernt und, angeregt durch Friedrich Harkort, 1844 die Schraubenfabrik Funcke & Hueck gegründet. Für die industrielle Fertigung importierte er Werkzeugmaschinen aus England und nutzte als erster Unternehmer in Hagen eine Dampfmaschine. 1856 gründete er mit Verwandten das Puddel- und Walzwerk Funcke & Elbers und ab 1861 gelang ihm die vollautomatische Produktion von Holzschrauben. Mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes hatte Funcke die Produktpalette seines Unternehmens auf die erforderlichen Schwellenschrauben und -muttern erweitert und damit die Grundlage für den anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg gelegt.
Für den am 15. April 1874 in Hagen geborenen Karl Ernst Osthaus waren seine Großeltern Bernhard Wilhelm Funcke und dessen Frau Adeline die wichtigsten Bezugspersonen: Seine Mutter Selma Emilie Funcke, die 1873 den Bankier Ernst Osthaus geheiratet hatte, war an den Folgen der Geburt ihres einzigen Kindes gestorben. Der Vater hatte daraufhin die Schwester seiner Frau, Laura, geheiratet, mit der er noch weitere zehn Kinder bekam. Eine ähnlich innige Beziehung wie zu seinen Großeltern baute Karl Ernst Osthaus jedoch weder zu seinem Vater noch zu seiner Stiefmutter oder seinen Stiefgeschwistern auf.
Die Kindheit von Karl Ernst Osthaus war geprägt von Gegensätzen, die für sein weiteres Leben entscheidend werden sollten. Aufgewachsen in der elterlichen Villa in der Bahnhofstraße, in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken seines Großvaters, hatte er Fortschritt und Folgen der Industrialisierung unmittelbar vor Augen, bis sein Vater 1890 – wie nahezu alle Vertreter des Großbürgertums – aus dem Tal der Flüsse Volme, Lenne und Ennepe auf die Anhöhen am Rande der Innenstadt zog. Hier, in der 1890 errichteten Villa auf der Elfriedenhöhe, lebte der junge Osthaus in dem immensen Reichtum der Profiteure des Industriezeitalters. Sein privates Umfeld bildeten im Wesentlichen die untereinander verwandten und verschwägerten Großunternehmerfamilien der Region.
Seine Zeit und sein eigenes Elternhaus nahm Osthaus sicherlich ähnlich wahr, wie es der Künstler und Schriftsteller Friedrich Ahlers-Hestermann in seinem Epochenrückblick Stilwende. Aufbruch der Jugend um 1900 schildert:
«Kaum hat ein Jahrhundert die Welt so verändert wie das neunzehnte, und wenn man einen raschen Blick darauf wirft, wirkt es so überfüllt wie die Zimmer eines schnell reich gewordenen Mannes um 1880. Da steht neben seiner schier die Natur überwindenden Größe sein soziales Elend, neben der Erfüllung jahrtausendealter Menschheitsträume die platte Geldgier. Sein monumentaler Pessimismus beschattet es wie die Rauchwolken, die aus Fabrikschloten dringen, hysterische Überheblichkeit reißt sich zu funkelnder Gottähnlichkeit empor, und bei aller ungeheuren Arbeitsleistung tönt immer das Schubertmotiv auf: ‹Dort, wo du nicht bist, ist das Glück!›»[2]
Die kaufmännische Strebsamkeit seines Vaters blieb Karl Ernst Osthaus fremd. Als Schüler legt er eine Stein- und Schmetterlingssammlung an und übt sich in lyrischen und dramatischen Versuchen. Als 17-Jähriger beginnt er ein Tagebuch zu führen und ist sich sicher, Schriftsteller werden zu wollen. Als anlässlich einer Feier zum 300. Geburtstag des Pädagogen und Philosophen Comenius an seiner Schule ein Festgedicht des jungen Osthaus vorgetragen wird, notiert er stolz, erstmals «öffentlich als Dichter»[3] in Erscheinung getreten zu sein. Dem Tagebuch vertraut er auch sein Gefühl der Einsamkeit und die schwärmerische Zuneigung zu einem zehnjährigen Cousin an: «Ich war immer so einsam, habe nie einen Bruder gehabt», schreibt er wenige Tage nach seinem 18. Geburtstag: «Und vor mir tauchten all die Nächte auf, in denen ich geweint hatte, weil mich keiner lieben wollte, und der einzige, der mich geliebt hatte, im Grabe lag.»[4]
Sowohl sein Tagebuch wie auch die Briefe an seine Großmutter sind durchzogen von der Erinnerung an einen früh verstorbenen Freund, bei dem es sich vermutlich um einen jugendlichen Verwandten aus der Familie Harkort handelte. Der 18-Jährige wird sich bewusst, dass er sowohl die Erinnerung an den Verstorbenen als auch die Zuneigung zu dem jungen Cousin verdrängen muss: «Ich bin stark, will es sein», notiert er: «In der Literatur finde ich Trost für das Schwerste, in der Arbeit Vergessen.»[5]
Nach dem Abitur schickt ihn der Vater als kaufmännischen Lehrling in eine Spinnerei, an der er selbst finanziell beteiligt ist, nach Dieringhausen im Bergischen Land.[6] Doch von der Realität des Arbeitsalltags ist der feinsinnige Osthaus entsetzt. Er sitze «zwischen zwei Gewächsen der hiesigen Gegend, von denen der eine den Parfümextrakt eines ganzen Bauernhofes, der andere den von einem Dutzend Rauchercoupés mit ins Geschäft brachte», berichtet er seiner Großmutter pikiert: «Ich war Zeuge von Szenen, bei denen mir der Verstand stillstand […].»[7] Als Karl Ernst Osthaus einen Nervenzusammenbruch erleidet, muss auch sein Vater einsehen, dass es mit der kaufmännischen Lehre aussichtslos ist und willigt in ein Studium seines Sohnes ein.
«In schweren Kämpfen habe ich mich streng geprüft und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich eine Befriedigung nur in einem idealen, ja nur in dem idealsten Berufe finden kann, in dem ich den höchsten Gütern der Menschheit, dem Wahren, Schönen und Guten völlig mich widmen kann»,[8] erklärt er gegenüber seinem Großvater.
«Was konnte anderes der leitende Gedanke meines Lebens sein als – Schönheit?», bekennt der 18-Jährige gegenüber seinen verständnisvollen Großeltern: «Versuchet nicht, mich anderen Sinnes zu machen. Keine Dämme vermögen diese langverhaltenen aber doch endlich losgebrochenen Wogen festzuhalten. Ich habe mich wiedergefunden; alle früheren weltweiten Gedanken von einem praktischen Berufe waren schlechtgetragene Maske.»[9]
Zum Sommersemester 1893 beginnt er ein recht planlos wirkendes Studium. Das erste Semester studiert er Ästhetik, deutsche und französische Literatur und Geschichte in Kiel, das zweite Semester führt ihn nach München, wo er unter anderem Vorlesungen über Ästhetik bei Moritz Carrière hört, die seine lebenslange Suche nach Schönheit theoretisch untermauern. «Wir wissen unmittelbar von uns selbst, unseren Gedanken und Empfindungen, und so auch von Lustgefühlen, in welchen unser ganzes Gemüth sinnlich und geistig harmonisch angeregt und befriedigt wird», heißt es in der Grundlegung der Ästhetik Carrières: «die Gegenstände, welche solches in uns veranlassen, nennen wir schön: Ineinsbildung des Idealen und Realen […].»[10]
Den Sommer 1894 verbringt Osthaus erneut in Hagen, um hier sein Graecum nachzuholen, das er für eine etwaige spätere Promotion benötigt. In der kurzlebigen, in seiner Heimatstadt erscheinenden «Rheinisch-Westfälischen Zeitschrift für Litteratur, Kunst und Wissenschaft» Guestphalia veröffentlicht er erste Gedichte, Ausschnitte aus seinem Drama König Saul, das zwei Jahre später in kleiner Auflage in einem Hagener Verlag erscheint, und einen ersten kunsttheoretischen Aufsatz mit dem Titel «Worin hat die Entfremdung unserer Malerei vom deutschen Volk ihren Grund?» Hierin verarbeitet er einige Gedanken aus den Vorlesungen Carrières, vor allem jedoch die Lektüre des wenige Jahre zuvor erschienenen Programmbuchs des völkischen Kulturpessimismus Rembrandt als Erzieher. Wie Julius Langbehn, der das Buch 1890 anonym publizierte, vermisst Osthaus in der Kunst seiner Zeit die Volkstümlichkeit, die der Kunst im Mittelalter vermeintlich noch innegewohnt hatte. Die «Kunstkenner mit ihren ästhetischen Regeln» bezeichnet er als «Landplage für unsere Nation».[11] Auch wenn der Aufsatz des gerade 20-Jährigen in vielem den späteren Überzeugungen des Autors diametral entgegengesetzt scheint, ist er doch die erste belegbare Auseinandersetzung mit Fragen der bildenden Kunst und zeugt von der lebenslangen Sehnsucht des späteren Sammlers und Mäzens, in seinen Ansichten und Bemühungen von seinen nichtakademischen Zeitgenossen verstanden zu werden.
Zunächst setzt Osthaus jedoch sein Studium fort. Während des Wintersemesters 1894/95 studiert er an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin, im Sommersemester in Straßburg, im folgenden Semester erneut in Berlin und 1896 ist er in Wien. Statt an einem Ort Wurzeln zu schlagen, findet er an seinen Studienorten Anschluss bei völkischen, alldeutschen und antisemitischen Studentenverbindungen. In Straßburg wird er Mitglied im Verein deutscher Studenten, in Wien Mitglied der akademischen Burschenschaft Gothia, durch die er in Kontakt mit den radikalen Antisemiten Georg von Schönerer, Kurt Lueger und Eduard Pichl kommt. In den Kreisen der Alldeutschen Bewegung findet Osthaus die ersehnte Anerkennung, Aufmerksamkeit und Gehör. Anlässlich der ungarischen Millenniumsfeier 1896 veröffentlichte er ein Georg von Schönerer gewidmetes Gedicht An die Deutschen der Ostmark und eine Denkschrift, in der er die Festlichkeiten als «magyarisch-jüdische Reklamefeiern» verspottete.[12] Nachdem er anlässlich des Jubels der nationalistisch gesinnten alldeutschen Studenten in Wien «Befriedigung und […] Größe» empfinden konnte, wird der «deutsche Unterthan Osthaus» wegen seiner Demonstrationsteilnahme «polizeilich aus dem österreichischen Staatsgebiet ausgewiesen»,[13] wie die Meraner Zeitung ebenso wie zahlreiche andere Zeitungen meldet. Osthaus, der erste Student, der seit der Revolution von 1848 aus politischen Gründen aus Österreich ausgewiesen wurde, musste sich somit wieder einen neuen Wirkungsbereich suchen. Ruhelos wechselt er die Orte: Nachdem er Wien verlassen hat, nimmt er im August als Vertreter des Verbands der Vereine Deutscher Studenten (auch: Kyffhäuserverband) am Kongress für niederländische Sprache und Literatur in Antwerpen teil; im Wintersemester hört er Vorlesungen bei Hermann Grimm und Wilhelm Dilthey in Berlin, das folgende Sommersemester verbringt er in Straßburg, wo er sich erneut im Kyffhäuserverband engagiert.
«Die Beschäftigung mit Vielem zersplittert mich nicht»,[14] hatte er den Großeltern zwar geschrieben, doch fühlte er sich ruhelos und «inmitten seiner Freunde völlig einsam».[15]
Als beide Großeltern plötzlich und kurz nacheinander sterben, nimmt sein Leben die entscheidende Wende: Im November 1896 erbt Karl Ernst Osthaus ein Vermögen in Höhe von rund drei Millionen Mark. Damit gibt er den Gedanken an eine konkrete, bodenständige Berufswahl auf und beginnt, sich seiner selbstgewählten Mission zu widmen: den Menschen Schönheit zu bringen.
Er nimmt sich vor, zwei Drittel des ererbten Vermögens für das Allgemeinwohl aufzuwenden und seinen Jugendtraum zu verwirklichen, ein Museum zu gründen. Nur über dessen Inhalt ist er sich nicht im Klaren. Während sein Vetter Theodor Rocholl ihm zu einer Gemäldesammlung rät, plädiert sein ehemaliger Lehrer am Hagener Realgymnasium Johann Hermann Heinrich Schmidt für eine naturkundliche Sammlung. Karl Ernst Osthaus schreibt sich daher an der Universität in Bonn ein, um zwei Semester lang naturwissenschaftliche Vorlesungen zu hören. Hier lernt er Walter Colsman kennen. Dieser ist wie er im Verein Deutscher Studenten aktiv, studiert Jura und stellt ihm schließlich seine Schwester Gertrud vor, die Karl Ernst Osthaus im Oktober 1899 heiratet.
Gertrud und Walter Colsman kamen aus einer ähnlich wohlhabenden Familie wie Osthaus. Hermann Colsman, der Vater der Geschwister, stammte aus einer traditionsreichen Textilunternehmerfamilie und hatte 1879 im rheinischen Langenberg die bedeutende Seidenweberei Conze & Colsman gegründet. Mit ihren acht Geschwistern wuchs die 1880 geborene Gertrud wohlbehütet in der im Jahr ihrer Geburt errichteten Langenberger Villa «Im Sonnenschein» auf, die von dem Architekten des Berliner Doms Julius Carl Raschdorf entworfen worden war. Das kleine Städtchen Langenberg, zwischen Essen und Wuppertal an der Grenze der Provinzen Rheinland und Westfalen gelegen, zählte am Anfang des 20. Jahrhunderts rund 10.000 Einwohner und aufgrund seiner bedeutenden Textilindustrie zu den wohlhabendsten Städten im Deutschen Reich: Das 1911 erschienene Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen listet in Langenberg 15 Millionäre auf; sechs davon trugen den Namen Colsman.
Über Kindheit und Jugend Gertrud Colsmans wissen wir kaum etwas. Vermutlich besuchte sie, wie andere Töchter der Unternehmerfamilie Colsman, ein protestantisches Mädchenpensionat wie jenes in Montmirail in der Westschweiz, das sich darauf spezialisiert hatte, Kinder aus wohlhabenden Familien in der politisch neutralen und stabilen Schweiz auf Französisch zu unterrichten. Ihr vier Jahre älterer Bruder Walter hatte, bevor er nach Bonn gekommen war, zeitweise in Lausanne unweit von Montmirail studiert.
Als wohlhabende und gebildete Unternehmertochter teilte Gertrud Colsman das Schicksal vieler Generationsgenossinnen, vor einer Zukunft ohne erfüllende Aufgabe zu stehen: Der Zugang zum Abitur oder gar zu einem Universitätsstudium blieb Frauen in Preußen bis 1908 verwehrt, und wie sich die im selben Jahr wie sie geborene Schauspielerin und Kunstsammlerin Tilla Durieux erinnerte, durften Mädchen «wohl malen, Klavier spielen, singen, nur Gott behüte nicht mit künstlerischem Anspruch, das sah schon wieder verdächtig nach Beruf aus».[16] Eine Rolle im elterlichen Unternehmen war Gertrud Colsman nicht zugedacht und eine eigene Arbeit aufzunehmen war nicht standesgemäß. Ihr blieb fast nur der Weg einer standesgemäßen Heirat.
Der kunstsinnige Unternehmersohn Karl Ernst Osthaus, der sich der Mission verschrieben hatte, dem Industrierevier zu mehr Schönheit zu verhelfen, muss ihr als der Richtige erschienen sein. Aufgrund der beträchtlichen Vermögen und bedeutenden Beteiligungen an den familieneigenen Unternehmen, die beide Partner in die Ehe einbrachten, schlossen sie am 9. Oktober 1899 einen Ehevertrag, bevor sie zwei Tage später heirateten.
2.
Durch Vermittlung seines Cousins Theodor Rocholl hatte Karl Ernst Osthaus von dem ererbten Geld bereits im Frühjahr 1897 für über 2000 Mark Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen von Künstlern der Düsseldorfer Malerschule wie Heinrich Hermanns, Martin Kurreck, Hugo Mühlig, Ludwig Munthe und Rocholl selbst erworben. Dieser dankte ihm überschwänglich und machte dem jungen Sammler Mut:
«Sie haben für eine würdige Sammlung einen vorzüglichen Anfang gemacht. Fahren Sie doch fort, irren Sie nicht bei Franzosen und alten Meistern herum. Ich möchte Ihnen dasselbe zurufen, was ich den wirklichen Geheimräthen hier zurufen möchte, welche das Nationalvermögen verplempern für alte Meister und Fremde: Besinnt Euch, seht um Euch. Wohin Ihr seht, wenn Ihr vorders gesunde normale Augen habt, seht Ihr Talente in allen Variationen in Deutschland.»[1]
Als Vorbild empfahl er ihm die in der Nachbarstadt Barmen (heute ein Teil Wuppertals) im Bau befindliche «Ruhmeshalle», die im Begriff war, eine «bewusste Verbindung von Kunstmuseum und Hohenzollern‹tempel›» zu werden.[2] Der rührige Barmer Kunstverein, wohlhabende Bürger und die Stadt selbst hatten sich zusammengetan, um eine Symbiose aus einer Weihestätte des Kaiserreichs und einer deutsch-nationalen Gemäldegalerie zu verwirklichen. Am 22. März 1897, anlässlich des 100. Geburtstags Kaiser Wilhelms I., erfolgten der erste Spatenstich und die Grundsteinlegung, und Rocholl regte Osthaus an, diesem Vorbild nachzueifern:
«Sie wollten dort im Herzen Westfalens der Kunst ein Heim gründen helfen, in dem richtigen Gefühl, daß dort in der Gegend riesiger Industrien, in der Gegend rastlosen Aufhäufens der Geldsäcke und in der Gegend großer Goldquellen und Reservoirs, – daß dort es gut wäre, wenn die Menschen auf Ideales und Höheres gerichtet würden. Geben Sie den Gedanken nicht auf. Denn wirklich: ein naturwissenschaftliches Museum wird nie den Einfluß auf das Denken und Dichten und Trachten üben, wie eine Bildersammlung, die, wenn sie gut zusammengestellt wird, einen großen Einfluß ausüben muß.»[3]
Die erworbenen Werke der Düsseldorfer Malerschule blieben für die weitere Museumsplanung jedoch nahezu wirkungslos und tauchen 1912 – als der erste Bestandskatalog des Museums Folkwang erscheint – nicht einmal darin auf; mehr noch: Ab 1917 werden Karl Ernst und Gertrud Osthaus versuchen, den Großteil dieser Bilder auf Auktionen abzustoßen, tunlichst darauf bedacht, dass weder ihr Name noch der Zusammenhang mit der Folkwang-Sammlung dabei Erwähnung findet.
Wie schwankend und beeinflussbar Osthaus in Hinblick auf die Ausrichtung des zu gründenden Museums zunächst war, geht aus dem permanenten Wandel seiner Überlegungen in diesen Jahren hervor. Während Rocholl für die Gründung eines Kunstmuseums warb, lud der pensionierte Altphilologe und Naturkundler Johann Hermann Heinrich Schmidt seinen ehemaligen Schüler ein, ihn auf eine Exkursion nach Nordafrika zu begleiten.
Gemeinsam mit Schmidt bricht Osthaus daher im Frühjahr 1898 zu einer Studienreise auf, die vor allem der Erweiterung der von Schmidt begonnenen Käfer-, Insekten- und Mineraliensammlungen dient. Während der gemeinsamen Reise, die von Hagen über Köln, Basel, Bern, Genf, Lyon und Avignon nach Marseille führte, um von dort an Bord des Dampfschiffs «Général Chanzy» nach Algier überzusetzen, führt der 23-jährige Osthaus ein schwärmerisches Tagebuch, das er noch im selben Jahr in einem Hagener Verlag «Als Beitrag zur Kenntnis Nord-Afrikas» publiziert.
Während er den größten Teil der Reise gemeinsam mit seinem Lehrer bequem per Eisenbahn fährt, zwischen Algier und Tunis komfortabel in Grandhotels oder «deutschen Gasthäusern» wie dem Hotel Viktoria in Biskra wohnt und die Altstadt von Algier dankbar mit einer «amtlichen Fremdenführung» erlebt, fühlt Osthaus sich als Abenteurer und Forschungsreisender einer überlegenen Kultur. Die Zeichen und Erfolge der französischen Kolonialverwaltung kommentiert er abfällig: «Welche Tragik, daß der Franzose so viel guten Willen an einen Traum setzt, während unser deutsches Volk, das wie kein anderes zur Weltherrschaft berufen ist, sich alle Mühe giebt, seine Sendung zu verscherzen!»[4]
Wie sehr die Reise auf den üblichen Routen erfolgt, belegen nicht zuletzt die gesellschaftlichen Begegnungen: Im algerischen Constantine treffen Schmidt und Osthaus auf den Augenarzt Carl Theodor von Bayern mit seinem Gefolge. In Biskra begegnen sie dem Königsberger Zoologen und Parasitologen Max Lühe, mit dem Osthaus sich stolz als Teil einer Gemeinschaft aus Naturforschern empfindet. In Biskra und El Kantara ist er dankbar für schwedische «Stammesgenossen», die abends am Klavier ein Stück aus Wagners Tannhäuser anstimmen, und in Tunis besucht er den deutschen Generalkonsul Arthur von Bary und dessen Schwester, die ihn beim Kauf orientalischen Kunstgewerbes beraten.
In der bereits wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Hagen erschienenen, gut 40-seitigen Publikation seines Tagebuchs sind die Reisemonate März und April im Stil der Alldeutschen Bewegung, die seine Studienzeit geprägt hatte, «Lenz» und «Ostaring» benannt. Mehr noch, das gedruckte Tagebuch spart nicht an deutsch-nationalen und antisemitischen Floskeln und verdeutlicht die Pole, zwischen denen der junge Osthaus während dieser formative years oszilliert: Zu Beginn seiner Reise, auf der Fahrt Richtung Alpen, erinnert er sich der schwelgerischen Freuden seiner Studentenzeit und bekräftigt die Überzeugung von der Überlegenheit Deutschlands gegenüber den romanischen Ländern und der «Fäulnis des Südens».[5] In Nordafrika jedoch nimmt er die Eigenständigkeit und hohe Qualität des arabischen Kunstgewerbes wahr und fragt sich angesichts des quirligen Lebens in der Hafenstadt Algier: «Was lauert hinter diesem Königsblick voll Schönheit und Leben? Eine Zukunft der Weltgeschichte?»[6]
Doch zunächst stehen die Naturalien im Mittelpunkt des gemeinsamen Interesses. Mit seinem ehemaligen Lehrer sammelt er Käfer, Muscheln, Eidechsen, Skorpione und Fossilien – Naturformen, deren Formen und Farben für ihn den unumstößlichen Kanon ewiger Schönheit repräsentieren. Neben den Naturalien erwirbt er in Algier und Tunis orientalische Teppiche und «Kunstgewerbe des Orients», Waffen, Silberarbeiten, Gläser, Gewebe und Töpferwaren für seine Sammlungen.
In den ausgewählten Stücken entdeckt Osthaus sowohl Zeichen des Nachlebens der Antike als auch eine lebendige, eigenständige, nicht historisierende Ornamentik. Kunstgewerbe hatte auch schon auf der Hinreise sein Interesse geweckt: In Genf hatte er nicht nur die naturwissenschaftlichen Sammlungen der Universität, sondern mit großem Interesse auch das auf Glas und Keramik spezialisierte Musée Ariana besucht, das auf die Sammlung des Schweizer Archäologen und Mäzens Gustave Revilliod zurückgeht. All diese Reise- und Seherlebnisse tragen schließlich zur Reifung seiner eigenen Museumsplanungen bei.
Nach Hagen zurückgekehrt präsentieren Schmidt und Osthaus die erworbenen Schätze stolz den Mitgliedern des naturhistorischen Vereins Westfalens am Rande ihrer Mitgliederversammlung: «[…] während der Pause war den Theilnehmern Gelegenheit gegeben, die zoologischen und ethnologischen Sammlungen der kürzlich von einer wissenschaftlichen Studienreise zurückgekehrten Herrn […] zu besichtigen.»[7] Hierbei dürfte es sich um die erste von Osthaus arrangierte Ausstellung gehandelt haben.
Theodor Rocholl indes betrachtet das neu erweckte Interesse mit Argwohn. Wenige Tage nach der Präsentation der Erwerbungen der Reise appelliert er an Osthaus, den zuvor gefassten Plan einer Dissertation über die Geschichte der Düsseldorfer oder rheinischen Kunst nicht aufzugeben und am Aufbau einer Gemäldesammlung festzuhalten. Sorgenvoll rät er dem jungen Sammler: «Vergeben Sie sich nur nicht ganz in Steine. Diese sind kalt und haben kein Herz, können auch wenig, auch so wenig zu Herzen sprechen. Doch ein jeder muss für sich stehen, das weiss ich wohl.»[8]
Doch die Leidenschaft für das Kunstgewerbe ferner Länder ist geweckt: Vom Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe erwirbt Osthaus im Sommer 1898 ausgeschiedene Dubletten aus der Sammlung japanischen Kunstgewerbes, und nach dem Ende des Sommersemesters gibt er sein Studium endgültig auf und reist über Ungarn, Rumänien, die Türkei, Griechenland, Kleinasien und Syrien bis nach Ägypten.
An zahlreichen Stationen dieser Reise wählt er bei Händlern und Sammlern Antiken und kunstgewerbliche Objekte aus. So treffen im Laufe des Jahres Sendungen aus Budapest, aus der Sammlung des griechischen Archäologen Athanasios Rhousopoulos in Athen, aus Konstantinopel (Istanbul) und aus Kairo in Hagen ein. Mithilfe des deutschen Konsuls bezieht er aus Damaskus das Interieur eines antiken arabischen Zimmers, und in Jerusalem begegnet Osthaus dem Maler Gustav Bauernfeind, von dem er eine feinteilig gemalte Stadtansicht erwirbt. In Kairo entdeckt er eine reich illustrierte Handschrift des Schāhnāme von Firdausī von 1605 (heute: Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz), die ihm künftig als einer seiner bedeutendsten Schätze gilt.
«Die Reise machte mich zum Sammler von Kunstwerken», erinnert sich Osthaus später, «und als ich im Frühjahr 1899 nach Hagen zurückkehrte, war das Problem der Aufstellung meiner Kunstsammlungen bereits dringend geworden.»[9] Er trug sich in diesen Jahren sogar mit dem Gedanken, in Hagen ein islamisches Museum oder ein Museum für orientalische Altertümer einzurichten – was in seiner Zeit ein absolutes Novum gewesen wäre.
Seine Familienangehörigen betrachteten die merkwürdigen Ambitionen des jungen Philanthropen indes mit Argwohn: «Carl Ernst Osthaus ist ein hochbegabter Mensch u. hat viel gelernt auch mehrere Jahre Kunstgeschichte, Litteratur u. dergl. studiert, aber entgegen den Wünschen seines Vaters kein Examen auf der Universität gemacht», notiert seine Patentante in ihr Tagebuch: «Von Jugend auf hat er nun die rühmliche Idee gehegt, auf seine Kosten in seiner Vaterstadt Hagen ein Museum zu errichten. […] Wenn Carl Ernst Osthaus nun seine ganze Arbeitskraft dem Museum widmet u. er sein eigener Direktor an dem Institut wird, dann kann es schon sein ganzes Leben ausfüllen. Wenn nur die Moneten für dieses großartige Werk reichen!»[10]
Um sich für die Gründung eines Museums vorzubereiten, hospitiert Osthaus im Sommer 1899 für zwei Wochen bei Justus Brinckmann am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Selbstbewusst teilt er dem Kunsthistoriker im August des Jahres mit, dass er anlässlich der Tagung des Alldeutschen Verbands in Hamburg sei: «Einmal in Hamburg, werde es mir dann sehr gelegen sein, […] Ihrem liebenswürdigen Anerbieten, mich über den Betrieb Ihrer Anstalt näher zu unterrichten, zu entsprechen.»[11]
Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe war in dieser Zeit das fortschrittlichste Kunstgewerbemuseum in Deutschland, und der Einfluss dieses wenn auch kurzen Museumspraktikums auf den jungen Sammler und angehenden Museumsgründer ist nicht zu überschätzen.
Brinckmann hatte das 1874 – als viertes Kunstgewerbemuseum im deutschsprachigen Raum – gegründete Museum konsequent auf- und ausgebaut. Ziel des Museums sollte es sein, geschmacksbildend auf Kunsthandwerker zu wirken, um somit die Qualität zeitgenössischer kunstgewerblicher Produktion zu heben. Als Maxime des Sammlungsauf- und -ausbaus empfand er das Postulat des Architekten und Vordenkers der deutschen Kunstgewerbemuseen Gottfried Semper: «Die Sammlungen und öffentlichen Museen sind die wahren Lehrer eines freien Volkes. Sie sind nicht bloß Lehrer der praktischen Ausübung, sondern, worauf es besonders ankommt, Schuler des allgemeinen Volksgeschmacks.»[12]
Für Brinckmann sollten Gewerbemuseen, die zunächst aus der Konkurrenzsituation nationaler kunstgewerblicher Produktion hervorgegangen waren, wie sie auf den Weltausstellungen offenbar geworden war, nicht länger nur als Vorbildersammlungen für Kunsthandwerker dienen, «sondern in tieferer Auffassung, als Schatzkammern der ‹things of beauty›, von denen der englische Dichter [John Keats] gesungen hat, daß sie ‹a joy for ever› seien.»[13]
Während seines Praktikums in Hamburg konnte Osthaus Brinckmanns unbestechlichen Qualitätsanspruch bei der Auswahl jedes einzelnen Exponats erleben: «Von der ersten Stunde an hat Brinckmann nur fehlerlos Erhaltenes gekauft, und stets hat er der Versuchung widerstanden, seltene und köstliche Werke zu erwerben, die durch einen Fehler wohlfeil geworden waren»,[14] erinnert sich sein Kollege Alfred Lichtwark anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Museums. Vorbildlich war für Osthaus sicherlich auch die Erweiterung der Sammlung über die Gegenstände der klassischen europäischen Kunstgeschichte hinaus: Als erster Museumsdirektor in Deutschland hatte Brinckmann die besondere Qualität japanischer Farbholzschnitte und japanischen Kunsthandwerks erkannt und seit 1883 nicht nur Werke aus Japan für die Sammlung seines Museums erworben, sondern diese durch die Berufung des japanischen Kollegen Shinkichi Hara als Mitarbeiter auch wissenschaftlich erschließen lassen.
Auch die Erweiterung der Sammlungen bis in die Gegenwart war für Osthaus ein Impuls, der sein weiteres Tun entscheidend prägen sollte: «Werke der eigenen Zeit zu erwerben», war ein Novum; doch im Rahmen der «Stilwende» und einer Zeit, in der «die lebende Kunst unmittelbaren Einfluß auf die Zierkunst gewann»,[15] hatte Brinckmann begonnen, zeitgenössische Beispiele neuesten Kunstgewerbes zu erwerben. Zu den Höhepunkten seiner Ankäufe sollte der Erwerb des sogenannten Pariser Zimmers auf der Weltausstellung in Paris 1900 werden, mit der der Jugendstil zum ersten Mal in einem deutschen Museum im Rahmen eines period room erfahrbar wurde.
Osthaus nahm all diese Ideen begierig auf. Wenn man sich die Entwicklung seiner Ankäufe und Museumsplanungen der folgenden Jahre vor Augen führt, sind etliche seiner Wandlungen und Überlegungen von der Erfahrung des Hamburger Vorbilds inspiriert: von dem Engagement Henry van de Veldes über die zeitlebens anhaltende Begeisterung für das Kunstgewerbe bis zu den Erwerbungsreisen, die Karl With im Auftrag des Folkwang-Museums 1913/14 nach Japan unternehmen sollte.
Seine tiefe Dankbarkeit gegenüber Brinckmann brachte Osthaus zum Ausdruck, als er anlässlich der Feierlichkeiten des 25-jährigen Bestehens des Museums für Kunst und Gewerbe im September 1902 seinem Nestor eine Doppelhenkelvase nach einem Entwurf van de Veldes schenkte und zwei Farbholzschnitte von Henriette Hahn, der dritten Ehefrau Brinckmanns, für seine Folkwang-Sammlung erwarb.[16] Darüber hinaus beteiligte er sich an der Finanzierung der von Ernst Barlach geschaffenen Bronze-Plakette auf Brinckmann, die anlässlich des Jubiläums gegossen wurde, und nahm ein Exemplar davon – als Hommage an seinen Hamburger Lehrmeister – in die Sammlung des Folkwang-Museums auf.
3.
Als Karl Ernst Osthaus im Sommer 1899 in Hamburg ein Museumspraktikum absolvierte, um sich über den «Betrieb» einer solchen «Anstalt» zu unterrichten, hatte er das Grundstück in der Hochstraße am Rande der Hagener Innenstadt, auf dem sein Museum entstehen sollte, bereits gekauft und den Berliner Architekten Carl Gérard engagiert.
Gérard hatte in Hagen 1890 die elterliche Villa «Elfriedenhöhe» – ganz im Stil des wilhelminischen Historismus – errichtet: «Aus rotem Backstein gebaut, mit Zinnen und Türmen verziert, prangt sie oberhalb der rußgeschwärzten Stadt; das Eingangstor zum Vorgarten ist von zwei Löwenskulpturen flankiert. Im Innern herrscht ein Stil-Mischmasch: Wände und Decken sind mit Stuckbordüren versehen, Fenster- und Türrahmen mit Plüschvorhängen behangen, die Möbel nachgemachtes Rokoko, auf ovalen Tischchen mit gebogenen Füßen liegen kostbar gebundene Alben. Es fehlen ebensowenig der prunkvolle Kristall-Lüster wie der Gobelin mit Schäferszenen à la Fragonard.»[1]
Der Architekt des Elternhauses muss dem jungen Osthaus als adäquater Erbauer seines Wohn- und Museumsgebäudes erschienen sein. Für den Museumsneubau, in dem das junge Ehepaar Osthaus auch wohnen würde, hatten sich Osthaus und Gérard für ein Gebäude im Stil der Neorenaissance entschieden – jenem Stil, der in den 1890er Jahren am besten zur Verkörperung idealistischer und humanistischer Bauaufgaben geeignet schien.
Mit der Beauftragung Gérards entstand der Rohbau eines Museums, das Privatwohnung, Naturkundemuseum, islamische Abteilung und Galerieräume miteinander verbinden sollte. Ein Hybrid war somit im Entstehen, der in dieser Form nie die Wirkung hätte entfalten können, wie es das Museum Folkwang schließlich tat. Als im Frühjahr 1899 die Ausschachtungsarbeiten begannen, meldete die Hagener Zeitung noch, ein «Museum für naturhistorische Altertümer» sei im Bau, das dereinst «einen neuen Schmuck unserer immer weiter emporblühenden Unterstadt bilden wird».[2]
Spätestens während der Zeit bei Justus Brinckmann in Hamburg müssen dem jungen Museumsgründer indes Zweifel an der Wahl des Architekten gekommen sein. Die Ausrichtung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe «auf künstlerische Gültigkeit jeder einzelnen Erwerbung»,[3] wie Alfred Lichtwark es formulierte, muss Osthaus verdeutlicht haben, dass ein Museumsbau in historisierenden Formen kein Dokument einer zeitgenössischen Ästhetik bilden würde und der historisierende Bau in Renaissanceformen schwerlich der ideale Ort für ein Museum sein konnte, wie es Brinckmann für einen «lebendigen Organismus» empfahl.[4]
Im selben Jahr 1899 stößt Osthaus zudem erstmals auf den Namen des flämischen Gestalters Henry van de Velde.
Im Sommer des Jahres hatte van de Velde auf der Internationalen Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler im Ausstellungsgebäude am Münchner Königsplatz seine von der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung inspirierten und in ihrer eigenständigen Formensprache dennoch vorbildlosen Möbelentwürfe präsentiert, die zuvor in Siegfried Bings Pariser Galerie Maison de l’Art Nouveau sowie 1897 auf der Internationalen Kunstausstellung in Dresden gezeigt worden waren. In München stellte van de Velde ein luxuriöses «Herrenzimmer in Eichenholz» vor,[5] dessen Zentrum der 1897 für den Kunstkritiker Julius Meier-Graefe entworfene, exquisite, bohnenförmige Schreibtisch in einer überarbeiteten Variante bildete.
Osthaus muss von van de Veldes Prototyp einer Zimmereinrichtung im ‹Neuen Stil› und der souveränen künstlerischen Handschrift überwältigt gewesen sein. Doch hatte er bereits Entscheidungen getroffen, die er nun bereute: Nicht nur war der Bau seines künftigen Wohnhauses und Museums bereits im Gange, sondern nach seiner Verlobung mit Gertrud Colsman im Mai des Jahres hatte er auch schon die Einrichtung für das gemeinsame Haus bestellt. Konsterniert schreibt er Anfang August 1899 an seine Braut: «Es ist wirklich schade, daß wir mit der Aussteuer nicht noch ein halbes Jahr warten können, dann hätte ich wieder viel gelernt. Die modernen Regungen kenne ich, wie ich nun sehe, noch viel zu wenig.»[6] Und wenige Tage später, aus Hamburg, ergänzt er reumütig: «Ich ärgere mich eigentlich, dass [der Kölner Möbelfabrikant] Pallenberg den [Auftrag zur Lieferung des] Schreibtisch[s] bekommen hat. Van de Velde hat zur Zeit in München ein Herrenzimmer von glänzender Schönheit ausgestellt, so wunderbar schön, daß ich es ohne weiteres von der Ausstellung kaufen möchte. Wenn Pallenberg doch irgend einen Vorwand gäbe, die Sache zurückzuziehen!»[7]
Wie so oft bei Osthaus und der Umsetzung seiner philanthropischen Ideen hatte die Entdeckung einer modernen und zukunftsweisenden Variante eine bereits getroffene Entscheidung als überholt erwiesen. Als einerseits tragischer und andererseits besonders faszinierender Wesenszug von Osthaus’ kulturellem und mäzenatischem Engagement wird hier zum ersten Mal deutlich, wie er neue Eindrücke verarbeitet und innerhalb kürzester Zeit bereit ist, auch unter Inkaufnahme teilweise beträchtlicher wirtschaftlicher Einbußen, bereits gewonnene Überzeugungen zu revidieren und sich für eine zukunftsweisendere Variante zu entscheiden.