Reinhard G. Kratz
QUMRAN
Die Schriftrollen
vom Toten Meer
und die Entstehung des
biblischen Judentums
C.H.BECK
Die Schriftfragmente und Ruinen, die 1947–1956 am Toten Meer entdeckt wurden, geben bis heute Rätsel auf. War die Gemeinschaft, die hier lebte, eine Art Kloster, eine absonderliche Sekte oder eine Schreibwerkstatt? Kamen Johannes der Täufer oder Jesus hierher? Der renommierte Bibelwissenschaftler Reinhard Kratz verabschiedet in seinem bahnbrechenden Buch viele der gängigen Hypothesen und zeigt, dass wir in Qumran Zeugnisse des entstehenden «biblischen Judentums» vor uns haben, das sich von anderen Jahwe-Verehrern abgrenzte und bis heute in Judentum und Christentum lebendig ist.
Reinhard G. Kratz ist Professor für Altes Testament an der Georg-August-Universität Göttingen, Leiter der dortigen Qumran-Forschungsstelle sowie Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Fellowships in Berlin, Oxford, Cambridge und Rufe nach Kiel, Heidelberg, Berlin und Oxford belegen sein internationales Renommee. Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem «Die Propheten der Bibel» (2022).
Einführung
Bildteil
I. «Bücher in hebräischer Schrift»
Ein spektakulärer Fund
1. Die Entdeckung
2. Die Veröffentlichung
3. Die Texte
II. «Um in die Wüste zu gehen» Ḥirbet Qumran und die Essener
1. Die «graue Ruine»
2. Die Essener-Hypothese
3. Neuansätze der Forschung
III. «Abgewendet vom Weg dieses Volkes»
Die Textüberlieferung
1. Die Bibel auf Leder und Papyrus
2. Schreiber und Schreibgewohnheiten
3. Fehler und Varianten
IV. «Damit du Einsicht gewinnst» Die Textentstehung
1. Bibelhandschrift oder Midrasch?
2. Drei Editionen
3. Pluralität und Autorität
V. «Dies ist die Ordnung»
Die Statuten der Gemeinschaft
1. Das griechische Vereinswesen
2. Männer der Tora
3. Der Rat
4. Der Bund
5. Die Lager
VI. «Wir aber sagen» Die Auslegung der Tora
1. Der mosaische Diskurs
2. Die Werke des Gesetzes
3. Jüdische Religionsparteien
VII. «Wir und unsere Väter vor uns»
Die Aneignung der heiligen Geschichte
1. Die heilige Geschichte
2. Die Reformulierung der heiligen Geschichte
3. Die Fortschreibung der heiligen Geschichte
4. Endzeitliche Historiographie
VIII. «Seine Deutung ist»
Die Kommentierung der Propheten
1. Der prophetische Diskurs
2. Fortschreibung und Pescher
3. Text und Kommentar
4. David als Prophet
5. Juda, Efraim und Manasse
6. Der «Lehrer der Gerechtigkeit» und seine Gegner
IX. «Gepriesen seist Du» Die Anbetung Gottes
1. Der davidische Diskurs
2. Biblische und parabiblische Psalmen
3. Loblieder
4. Lieder zum Brandopfer am Sabbat
5. Religiöse Gebrauchstexte
X. «Das Geheimnis des Gewordenen»
Die Erforschung von Himmel und Erde
1. Der salomonische Diskurs
2. Daniel und der henochische Diskurs
3. Die theologische Erklärung der Welt
4. Die wissenschaftliche Erklärung der Welt
XI. «Wir haben uns abgesondert»
Qumran im antiken Judentum
1. Qumran und das biblische Judentum
2. Frühes Christentum und rabbinisches Judentum
ANHANG
Liste der behandelten Qumranhandschriften
Bibelhandschriften
Parabiblische Texte (auch außerhalb der Qumranfunde bekannt)
Parabiblische Texte (außerhalb der Qumranfunde unbekannt)
Texte der Gemeinschaft von Qumran
Zeittafel
Glossar
Anmerkungen
I. «Bücher in hebräischer Schrift» Ein spektakulärer Fund
II. «Um in die Wüste zu gehen» Ḥirbet Qumran und die Essener
III. «Abgewendet vom Weg dieses Volkes» Die Textüberlieferung
IV. «Damit du Einsicht gewinnst» Die Textentstehung
V. «Dies ist die Ordnung» Die Statuten der Gemeinschaft
VI. «Wir aber sagen» Die Auslegung der Tora
VII. «Wir und unsere Väter vor uns» Die Aneignung der heiligen Geschichte
VIII. «Seine Deutung ist» Die Kommentierung der Propheten
IX. «Gepriesen seist Du» Die Anbetung Gottes
X. «Das Geheimnis des Gewordenen» Die Erforschung von Himmel und Erde
XI. «Wir haben uns abgesondert» Qumran im antiken Judentum
Literatur
Hebräische Bibel/Altes Testament
Apokryphen und Pseudepigraphen
Texte vom Toten Meer
Hilfsmittel (Konkordanz, Grammatiken, Wörterbuch)
Kataloge und Beschreibung der Handschriften
Archäologie und Geschichte von Qumran
Historischer Kontext
Einführungen
Sammelbände und Nachschlagewerke
Forschungsgeschichte
Übrige zitierte Literatur
Bildnachweis
Innenteil
Tafelteil
Stellenverzeichnis
Altes Testament
Apokryphen und Pseudepigraphen
Neues Testament
Antike Autoren
Qumran
Naḥal Ḥever
Masada
Der spektakuläre Fund der Fragmente von rund tausend hebräischen, aramäischen und griechischen Handschriften, die in den Jahren 1947–1956 in Höhlen am Toten Meer nahe der Siedlung Ḥirbet Qumran zutage gefördert wurden, ist eine der bedeutendsten Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Texte geben Einblick in die Lebens- und Vorstellungswelten einer bis dahin völlig unbekannten Gruppe des Judentums der hellenistisch-römischen Zeit und werfen ein neues Licht auf die Vielfalt des antiken Judentums und zugleich auf den Hintergrund, vor dem das Christentum und das Neue Testament entstanden sind.
Eine Sensation war und ist nach wie vor der Fund von Handschriften des hebräischen und griechischen Alten Testaments, das wir bis dahin nur aus nachchristlichen, spätantiken und mittelalterlichen Handschriften kannten. Nunmehr ist es, wenn auch fragmentarisch, zum ersten Mal für die vorchristliche Zeit und dazu noch in verschiedenen Textfassungen handschriftlich bezeugt. Eine weitere Sensation waren die Fragmente von parabiblischen jüdischen Schriften, den sogenannten Apokryphen und Pseudepigraphen, die bisher nur in antiken Übersetzungen bekannt waren, in ihrer hebräischen oder aramäischen Originalsprache. Nicht minder sensationell war schließlich der Fund von Schriften, die aus der Gemeinschaft von Qumran selbst oder ihrem weiteren Umfeld stammen und vorher völlig unbekannt waren.
Üblicherweise werden Qumran und die Texte vom Toten Meer als ein singuläres historisches Phänomen für sich betrachtet und allenfalls mit dem zeitgenössischen und späteren rabbinischen Judentum sowie dem frühen Christentum in Verbindung gebracht. Dieses Buch beschreitet einen anderen Weg, den der Untertitel «Die Schriftrollen vom Toten Meer und die Entstehung des biblischen Judentums» zum Ausdruck bringt. Da in Qumran Handschriften biblischer und außerbiblischer (parabiblischer und qumranischer) Werke gefunden wurden, setzt die vorliegende Darstellung beides miteinander in Beziehung und erklärt eines aus dem anderen. Die Gemeinschaft von Qumran erweist sich so als ein fortgeschrittenes Entwicklungsstadium des von mir so genannten «biblischen Judentums», dessen Anfänge sich in der Entstehung der Hebräischen Bibel widerspiegeln.
Das Buch geht auch insofern einen anderen Weg, als es die einzelnen Schriften der Hebräischen Bibel, die parabiblischen Bücher und die Texte vom Toten Meer ihrerseits nicht als einheitliche, statische Größen, sondern als Ergebnis und Zeugen eines lebendigen literar- und theologiegeschichtlichen Prozesses begreift, in dem sich das biblische Judentum immer wieder aufs Neue selbst ausgelegt und definiert hat. Aus diesem Grund geht der Behandlung der Qumrantexte stets eine ausführliche Beschreibung der literarischen und konzeptionellen Entwicklung eines Themas innerhalb der Hebräischen Bibel voran, die sich in der parabiblischen Literatur und den Texten vom Toten Meer fortsetzt.
Soweit es angesichts der hermetischen Natur dieser Literatur möglich ist, werden auch die zeitgeschichtlichen Umstände und die Unterschiede zu anderen jüdischen Gruppen des antiken Judentums in hellenistisch-römischer Zeit mit in Betracht gezogen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich bei den Texten vom Toten Meer um literarische Dokumente handelt – ebenso wie bei den Texten der Hebräischen Bibel, der parabiblischen Literatur sowie der davon abhängigen jüdischen Historiographie (Flavius Josephus) und im Unterschied zu Archiven oder Depots von dokumentarischen Texten (wie den Funden von Elephantine in Ägypten, Al Jahudu in Mesopotamien, den samarischen Papyri aus dem Wadi Daliyeh). Das bedeutet, dass sie nicht unmittelbar historisch aussagekräftig sind und aus ihren Inhalten darum nur bedingt und mit aller Vorsicht historische Schlüsse gezogen oder gar die Geschichte ihrer Verfasser und Tradenten rekonstruiert werden können.
Andererseits kann aus Art und Anzahl der Texte, die in Qumran gefunden wurden, auf den Charakter der Gruppe geschlossen werden, die dem biblischen Judentum angehörte. Diese unterscheidet sich markant von den Gruppen des von mir so genannten «nichtbiblischen Judentums», das in anderen Quellenbeständen des antiken Judentums (wie Elephantine, Al Jahudu und Wadi Daliyeh) begegnet und für das die biblische Überlieferung keine Rolle spielt.
Die Unterscheidung zwischen «biblisch» und «nichtbiblisch» erfordert eine Erklärung. Da es zur Zeit der Gemeinschaft von Qumran «die Bibel» noch nicht gab, ist die Bezeichnung ein Anachronismus. Die Bezeichnung wird darum in der Forschungsliteratur immer wieder kritisiert, doch in Ermangelung einer Alternative halte ich bis auf weiteres aus pragmatischen Gründen an ihr fest. Mit «biblisch» werden diejenigen Schriften bezeichnet, die in den späteren Kanon der Hebräischen Bibel gelangt sind. Mit «außerbiblisch» oder «parabiblisch» werden solche Schriften bezeichnet, die der Bibel verwandt sind, aber nicht in den Hebräischen Kanon, sondern entweder in den erweiterten Kanon des griechischen Alten Testaments, der Septuaginta, gelangt sind oder daneben überliefert wurden. Darunter fallen in einem weiteren Sinne auch die Schriften, die in der Gemeinschaft von Qumran entstanden sind. Dementsprechend sind mit «biblischem Judentum» die Kreise gemeint, die für die Produktion und Überlieferung der nachmals biblischen und parabiblischen Literatur verantwortlich waren und ihre Identität darauf gründeten. Mit «nichtbiblischem Judentum» werden hingegen die Kreise bezeichnet, die diese Literatur entweder ignorierten oder noch nicht kannten.
Auch die Bezeichnungen «Hebräische Bibel» und «Altes Testament» bedürfen der Erläuterung. Beide Begriffe stehen für die Sammlung der «(heiligen) Schriften» des antiken Judentums und frühen Christentums. «Altes Testament» ist die im christlichen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung, die dem Unterschied zum «Neuen Testament» geschuldet ist (2 Kor 3,14). Die Bezeichnung «Hebräische Bibel» hat sich – neben dem Akronym «TeNaK» für den dreigeteilten hebräischen Kanon (Tora – Nebiim – Ketubim, das heißt Gesetz – Propheten – Schriften) – im jüdischen Sprachgebrauch eingebürgert. Der Einfachheit halber behalte ich beide Bezeichnungen bei und verwende sie mehr oder weniger bedeutungsgleich, wobei «Hebräische Bibel» allein die hebräischen, teilweise aramäischen (Daniel 2–7, Esra 4–7) Bücher des masoretischen Kanons, «Altes Testament» darüber hinaus die antiken Übersetzungen mit ihrem um Apokryphen und Pseudepigraphen erweiterten Bücherbestand umfasst. Dafür, was es mit den Begriffen «Qumran», «Gemeinschaft von Qumran», «Schriften von Qumran» usw. auf sich hat, sei auf die Ausführungen auf den folgenden Seiten, besonders Kapitel II, verwiesen.
Die Disposition des Stoffs, die sich aus dem methodischen Ansatz ergibt, ist sowohl thematisch (synchron) als auch historisch (diachron) angelegt. Nacheinander werden die Fundumstände und Publikation der Handschriften, die archäologischen und historischen Fragen und schließlich die Texte selbst behandelt. Die einzelnen Kapitel sind verschiedenen Themenbereichen gewidmet und bieten somit einen Querschnitt. Innerhalb der einzelnen Kapitel dieses Querschnitts werden die Themen jedoch im Längsschnitt, das heißt in historischer Perspektive, dargestellt. Das gilt insbesondere für die Kapitel über die Qumrantexte (Kap. V–X), in denen jeweils der Weg von den Anfängen eines thematischen Diskurses in den biblischen Schriften hin zu den Texten vom Toten Meer nachgezeichnet wird. Diese Kapitel sind daher gewissermaßen als parallele Durchgänge durch die biblische und parabiblische Literatur- und Theologiegeschichte zu den einzelnen Themenbereichen zu betrachten.
Doch auch die Reihenfolge der thematischen Querschnitte bildet – nach der Präsentation der Funde (Kap. I–II) – in groben Zügen die Entwicklung von den biblischen Handschriften (Kap. III–IV) hin zu diversen Etappen des in der Hebräischen Bibel angelegten literatur- und theologiegeschichtlichen Diskurses innerhalb der Gemeinschaft von Qumran ab. Diese hat sich schwerpunktmäßig zunächst mit ihrer Organisation (Kap. V) und der Auslegung der Tora (Kap. VI) befasst. Sie ist danach zunehmend dazu übergegangen, sich die biblische Geschichte anzueignen (Kap. VII) und auch die biblischen Prophetenschriften auszulegen (Kap. VIII), bis sie schließlich vor allem in liturgischen (Kap. IX) und weisheitlichen Texten (Kap. X) zu ganz außergewöhnlichen kosmologischen und anthropologischen Spekulationen über die Ordnung von Himmel und Erde und den Lauf der Welt vorgestoßen ist.
Die Kombination aus Quer- und Längsschnitt ist dem Umstand geschuldet, dass die Schriften der Hebräischen Bibel wie auch die in Qumran gefundenen Texte teilweise parallel, teilweise nacheinander entstanden sind, und erlaubt eine übersichtliche Anordnung des Materials. Die Darstellung strebt eine Balance zwischen Überblick und Details an. So kann die literarische Analyse der biblischen und parabiblischen Schriften sowie der Texte vom Toten Meer hier nicht im Einzelnen vorgeführt werden, doch werden die Grundlinien der literar- und theologiegeschichtlichen Entwicklung aufgezeigt. Die Forschungsliteratur wird in Auswahl zitiert und punktuell diskutiert. Für die Auseinandersetzung mit ihr und weiterführende Hinweise sei auf die in den Fußnoten genannten Arbeiten sowie das Literaturverzeichnis verwiesen.
Auf originalsprachige Zitate wurde bewusst verzichtet, einzelne Begriffe oder Wendungen werden in einer vereinfachten Umschrift notiert. Die deutsche Wiedergabe von Bibelzitaten orientiert sich an der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 2017, die der Qumrantexte an den deutschen Ausgaben von Eduard Lohse, Annette Steudel und Johann Maier, doch wurden sämtliche Übersetzungen am Originaltext geprüft und stellenweise geändert. Durchgängig geändert ist die Wiedergabe des Gottesnamens, dessen historische Aussprache unsicher ist und der darum hier mit den transkribierten Konsonanten «JHWH» des hebräischen Wortes, dem sogenannten Tetragramm, wiedergegeben wird. Zur Orientierung beim Lesen sind im Anhang eine Zeittafel mit den wichtigsten historischen Daten, Namen und Fakten sowie ein Glossar der verwendeten Fachterminologie beigegeben.
Mein Dank geht zuerst an Nathan MacDonald und das St John’s College Cambridge für die Einladung zu einem Fellowship im akademischen Jahr 2014/15, das es mir ermöglichte, wesentliche Teile des Buches abzufassen. Wie wertvoll eine solche Gelegenheit ist, zeigt sich allein schon daran, dass es danach weitere fünf Jahre gebraucht hat, um das Manuskript im laufenden Universitätsbetrieb abzuschließen. Ein besonderer Dank gebührt auch meinen Göttinger Kollegen Annette Steudel und Peter Porzig, die freundlicherweise das gesamte Manuskript durchgesehen und zahlreiche substantielle Hinweise und Anregungen gegeben und damit geholfen haben, es in der Sache wie im Ausdruck erheblich zu verbessern. Stehen gebliebene Fehler und Irrtümer gehen allein auf mein Konto. Ferner danke ich meiner Mitarbeiterin Astrid Stacklies für ihre wertvolle Hilfe bei der Korrektur des Manuskripts, Sarah Kilian für die Anfertigung des Stellenregisters sowie dem Verlag C.H.Beck und insbesondere meinem Lektor Ulrich Nolte für sein nicht nachlassendes Interesse an der Fertigstellung dieses Buches, seine Geduld und die vorzügliche verlegerische Betreuung.
Um das Jahr 800 schrieb der Patriarch von Seleukia-Ktesiphon im Zweistromland, Timotheus I. (727–823), einen Brief an seinen Amtsbruder Sergius (gest. ca. 805), den Bischof von Elam, und berichtete von einem seltsamen Fund. Ein Hund habe sich beim Jagen in eine Felshöhle nahe Jericho verlaufen. Als sein Besitzer ihm gefolgt sei, habe er «Bücher in hebräischer Schrift» entdeckt und umgehend die Juden in Jerusalem davon in Kenntnis gesetzt. Es handele sich um Bücher des Alten Testaments und andere Schriften, darunter mehr als zweihundert Psalmen Davids.[1]
Ganz ähnlich klingt die Geschichte, die die Beduinen des Stammes Taʿamire über den bedeutendsten Fund antiker jüdischer Handschriften im zwanzigsten Jahrhundert erzählen.[2] Diesmal soll es eine Ziege gewesen sein, die einem Hirtenjungen entlaufen sei und ihn auf seiner Suche zu einer Höhle geführt habe. Als er zum Zeitvertreib Steine in die Höhle geworfen habe, sei er auf die Tonkrüge mit den Schriftrollen gestoßen.
Ob Hund oder Ziege, in den Jahren 1947 und 1948 tauchten auf dem Antiquitätenmarkt in Bethlehem sieben Schriftrollen auf, die Beduinen zuvor in einer Felshöhle am Nordwestende des Toten Meeres, etwa 13 Kilometer südlich von Jericho, entdeckt hatten. Sie bildeten den Grundstock der Handschriften, die in den fünfziger Jahren nach und nach in insgesamt elf Höhlen am Felsabhang des Wadi Qumran, nahe der Siedlung Ḥirbet Qumran, und an einigen anderen, weiter südlich gelegenen Orten am Toten Meer (Naḥal Ḥever, Wadi Murabbaʿat, Masada) gefunden wurden. Im Jahre 2017 wurde eine zwölfte Höhle entdeckt, die allerdings schon ausgeplündert war und nur noch Scherben von Tonkrügen sowie unbeschriftete Reste von Schriftrollen und Materialien zum Zusammenbinden und Einwickeln der Rollen enthielt.
Dass diese Handschriften aus derselben Quelle stammen wie «die Bücher in hebräischer Schrift», von denen der Patriarch Timotheus I. berichtet, lässt sich nicht beweisen, ist aber nicht unwahrscheinlich. Ähnliche Nachrichten gab es immer wieder in der Antike. Euseb von Cäsarea (260–340) und Epiphanius von Salamis (gest. 403) erwähnen Funde von hebräischen und griechischen Texten in der Zeit des Kaisers Caracalla (Severus Antonius, 211–217), wiederum in Tonkrügen in der Nähe von Jericho. Von Euseb erfahren wir, dass schon Origenes (185–254) von ihnen Gebrauch machte. Der große christliche Gelehrte verfasste ein monumentales textkritisches Werk, in dem diverse hebräische und griechische Textfassungen des Alten Testaments in sechs Spalten aufgeführt waren und miteinander verglichen wurden, weswegen es Hexapla, die «Sechsfache», heißt. Eine der griechischen Versionen des Psalters stammte aus den Textfunden bei Jericho.
Auch von den späteren Funden zur Zeit Timotheus’ I. versprach man sich Aufschluss über einen zuverlässigeren, wenn nicht sogar den ursprünglichen Text der heiligen Schrift. Der Patriarch vermutete, die Bücher seien von dem Propheten Jeremia oder seinem Schreiber Baruch aus Furcht vor der Zerstörung durch die Babylonier im sechsten Jahrhundert v. Chr. bei Jericho deponiert worden. Ähnliches vermutet die moderne Wissenschaft. Von den Funden des zwanzigsten Jahrhunderts nimmt sie an, die Texte seien aus Furcht vor der Zerstörung durch die Römer im ersten Jahrhundert n. Chr. in den Höhlen am Toten Meer versteckt worden. Sie geben tatsächlich einen einzigartigen Einblick in die Geschichte des Alten Testaments und darüber hinaus in die Geschichte des antiken Judentums.
Bis die Forschung Einblick erhielt und das Material studieren konnte, war es jedoch ein weiter Weg. Die Fundgeschichte, die John C. Trever 1965 auf Englisch erzählt hat, ist 1967 unter dem Titel «Das Abenteuer von Qumran» auf Deutsch erschienen und liest sich wie ein Kriminalroman. Viele Gerüchte, Spekulationen und Mythen ranken sich seither um die Umstände, wie die Textfunde aus den Höhlen von Qumran in die Hände von Wissenschaftlern gelangten und schließlich publiziert wurden.
Sicher ist, dass die Höhlen mit den meisten Textresten (1, 2, 4, 6 und 11) von Beduinen, die übrigen (3, 5 und 7–10) im Zuge der archäologischen Grabungen gefunden wurden, die in den Jahren 1949–1958 in Ḥirbet Qumran und Umgebung durchgeführt wurden. Über den Antiquitätenhändler Khalil Iskandar Shahin, genannt Kandu, aus Bethlehem, der der syrisch-orthodoxen Kirche angehörte, gelangten von den zuerst entdeckten sieben Schriftrollen aus Höhle 1 vier in den Besitz des St.-Markus-Klosters in Jerusalem. Die drei übrigen gerieten in die Hände von Professor Eliezer Sukenik, der am 29. November 1947, dem Tag der UN-Resolution zur Gründung des Staates Israel, inkognito nach Bethlehem in das damals noch britische Mandatsgebiet reiste und sie für die Hebräische Universität in Jerusalem erwarb. Die vier Rollen aus dem St.-Markus-Kloster sind auf dem Umweg über den Libanon und den amerikanischen Markt von Sukeniks Sohn, dem General, Staatsmann und Archäologen Yigael Yadin, 1954 käuflich erworben und dem Staat Israel übergeben worden. Sämtliche sieben Rollen und anderes Material aus Höhle 1 werden seither in dem eigens dafür erbauten Shrine of the Book (Hekhal Ha-Sefer) in Jerusalem gelagert und ausgestellt.
Zwischen 1952 und 1956 wurden nach und nach die anderen zehn Höhlen entdeckt. Sofern die Texte nicht aus archäologischen Grabungen stammten, sondern von Beduinen gefunden wurden, wurden sie als heißbegehrte Ware auf dem Antiquitätenmarkt gehandelt und erzielten hohe Preise. Dabei hat leider das Material nicht selten gelitten. Es musste ausfindig gemacht und entweder den Beduinen selbst oder Sammlern aus aller Welt abgekauft werden, woran sich viele Nationen, darunter auch Deutschland, Institutionen und Privatpersonen beteiligten. Dies und nicht zuletzt die politischen Veränderungen in Palästina haben zu einer höchst komplizierten und diffusen Rechtslage geführt, die bis heute nicht restlos geklärt ist. Manche Stücke sind im Museum von Amman in Jordanien und in anderen Museen der Welt gelagert und dort zu bestaunen. Das meiste Material wurde jedoch im Rockefeller Museum im Ostteil Jerusalems untergebracht. Heute befinden sich auch diese Funde im Israel Museum im Westteil der Stadt und werden hier neben den Funden aus Höhle 1 im Shrine of the Book von einer eigenen Forschungseinheit professionell konserviert, wissenschaftlich untersucht und in Ausstellungen präsentiert.
Die Suche nach Handschriften geht weiter, doch außer den elf (neuerdings zwölf) Höhlen bei Qumran und den anderen Fundorten sind bis heute keine nennenswerten weiteren Entdeckungen mehr gemacht worden. Gelegentlich tauchen neue Fragmente auf, die stets viel Aufsehen erregen, aber meistens keine neuen Erkenntnisse bringen und deren Herkunft unsicher ist. Fast alle der in jüngster Zeit bekannt gewordenen Fragmente von Bibelhandschriften unsicherer Herkunft, wie etwa die im Washingtoner Museum of the Bible ausgestellten oder in der Schøyen-Sammlung befindlichen Stücke, haben sich als moderne Fälschungen erwiesen und können daher vernachlässigt werden.
Die Publikation der Handschriften ging zunächst zügig voran, geriet jedoch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ins Stocken, bevor sie in den neunziger Jahren wieder aufgenommen wurde. Rund sechzig Jahre nach dem Fund der Handschriften wurde 2010 die offizielle Publikationsreihe «Discoveries in the Judaean Desert» (DJD) abgeschlossen. Seither liegen sämtliche Texte vom Toten Meer in edierter und in mehrere Sprachen übersetzter Form vor.[3]
Die lange Zeit, die die Publikation benötigte, gab Anlass zu mancherlei Kontroversen in der wissenschaftlichen Welt und aufregenden Spekulationen in den Medien. Einen Höhepunkt erreichte die Entwicklung 1991 mit dem Paukenschlag der Publikation einer unautorisierten Edition von Ben Zion Wacholder und Martin Abegg. Die beiden Forscher haben unpublizierte, noch nicht freigegebene Texte mit Hilfe des Computers aus einer nur in wenigen Exemplaren existierenden handschriftlichen Konkordanz der rechtmäßigen Bearbeiter zusammengesetzt und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Des Weiteren kündigte die Huntington Library in San Marino (Kalifornien) an, den kompletten Satz von Fotografien der Texte vom Toten Meer, der ihr als eine Art Sicherungskopie anvertraut worden war, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nur wenig später erschien eine Faksimile-Ausgabe mit Fotografien, deren Herkunft nicht genannt wurde. Schließlich überschwemmten populärwissenschaftliche Bücher den Markt und wurden von der Sensationspresse begierig aufgenommen. Diese Publikationen setzten das Gerücht in die Welt, die Schriftrollen vom Toten Meer enthielten unorthodoxe Ansichten über das Christentum und würden deshalb unter Verschluss gehalten. Die Verzögerung der Publikation wurde als eine Verschwörung katholischer Priester dargestellt, die ihre Weisung direkt aus dem Vatikan erhielten.
An den Gerüchten ist nie etwas dran gewesen. Sie wurden von vielen renommierten Qumranforschern und Kennern der Szene wie Hartmut Stegemann oder James C. VanderKam ein für alle Mal widerlegt. Die Verzögerung der Publikation war in der Tat misslich, hatte jedoch andere Gründe. Ein Grund war der anstehende Generationenwechsel, ein anderer die veränderte politische Lage nach dem Sechstagekrieg 1967. Hinzu kamen interne und persönliche Probleme im Herausgeberkreis.
Der ersten Generation der Qumranforscher gehörten Wissenschaftler dreier Institutionen in Jerusalem an: der Hebräischen Universität (Eliezer Sukenik, Nahman Avigad, Yigael Yadin), der American Schools of Oriental Research (John Trever, Millar Burrows, William Brownlee) sowie der École biblique et archéologique française (Maurice Baillet, Dominique Barthélemy, Pierre Benoit, Józef T. Milik, Roland de Vaux). Sie alle haben das ihnen anvertraute Material in erstaunlich kurzer Zeit veröffentlicht. Die ersten Ausgaben der großen Texte aus Höhle 1 waren unmittelbar nach der Auffindung in den Jahren 1948–1956 in separaten Editionen sowie in DJD I erschienen. Es folgten die Publikation der Texte aus den Höhlen 1 und 5–10 sowie aus Wadi Murabbaʿat in den Jahren 1961–1962 (DJD II–III), mit etwas Verspätung dann auch einiges aus Höhle 11 (J.A. Sanders, DJD IV, 1965) und Höhle 4 (J.M. Allegro, DJD V, 1968). Damit war ein Großteil des Materials publiziert.
Schwierigkeiten bereiteten den Bearbeitern jedoch die Unmengen von kleinen Fragmenten aus Höhle 4 von Qumran. Sie wurden im Palestine Archaeological Museum (später Rockefeller Museum) in Ostjerusalem aufbewahrt, das bis 1967 unter jordanischer Aufsicht stand. Anfang der fünfziger Jahre wurde von den jordanischen Behörden ein internationales Team von sieben Wissenschaftlern unter der Leitung von Roland de Vaux von der École Biblique in Jerusalem bestellt, unter denen sich keineswegs nur Katholiken, sondern auch zwei Presbyterianer, ein Lutheraner und ein Agnostiker befanden. Jüdische Forscher durften dem Team nach dem Willen der jordanischen Regierung nicht angehören.
Dem Alphabet nach der Erste war John Marco Allegro, ein britischer Linguist und eine schillernde Figur, der sich in späteren Jahren zu kühnen Thesen verstieg und diese in seinen Büchern «The Sacred Mushroom and the Cross» und «The Dead Sea Scrolls and the Christian Myth» popularisierte. Das genaue Gegenteil war der Amerikaner Frank Moore Cross, damals ein strebsamer junger Mann, später Hancock Professor of Hebrew and Other Oriental Languages an der Divinity School der Universität von Harvard, der sich als solider Paläograph, Epigraphiker und Textkritiker einen Namen machte. Von ihm stammt das paläographische Schema, nach dem die Handschriften bis heute datiert werden. Nur für kurze Zeit, von 1954 bis 1957, war Claus-Hunno Hunzinger Mitglied des Teams, der einzige Deutsche und Privatdozent aus Göttingen, dem unter anderem die Fragmente der sogenannten Kriegsrolle (Serekh Ha-Milchama) anvertraut waren. Józef Tadeusz Milik war ein hochgelehrter, in vielen antiken und modernen Sprachen bewanderter polnischer Bibelwissenschaftler und geweihter Priester, dem wir die erste Edition der aramäischen Fragmente des Henochbuches sowie eine Reihe von Vorveröffentlichungen und einschlägige Beiträge zur Entzifferung der Texte verdanken. Patrick Skehan von der Catholic University in Washington, ebenfalls katholischer Priester und ein Kenner der Weisheitsliteratur, hat vor allem biblische Fragmente ediert. Jean Starcky, ein französischer Priester, Spezialist für palmyrenische und nabatäische Inschriften, war für die aramäischen Fragmente aus der Höhle 4 von Qumran zuständig. Brillant und exzentrisch war John Strugnell, neben Milik vielleicht das begabteste Mitglied des Teams, ein gebürtiger Brite, der in Oxford studiert hatte und später in den USA an der Harvard Divinity School lehrte. Er hat nicht viel publiziert, doch für viele Editionen die Transkriptionen angefertigt und wegweisende Hinweise gegeben. Etwas später kam der französische Epigraphiker Maurice Baillet hinzu, der den ausscheidenden Hunzinger ersetzte und neben anderem die 4Q-Fragmente der Kriegsrolle edierte.
Auch dieses Team hat anfänglich überaus zügig gearbeitet. Innerhalb von rund sechs Jahren hat man neben der Entzifferung, Identifizierung und Zusammensetzung der Fragmente eine Zettelkonkordanz erstellt, die alle Wörter der außerbiblischen hebräischen und aramäischen Qumrantexte aus den Höhlen 2–10 enthält und mit Kontext verzeichnet. Die Arbeit des Teams endete 1960 und mit ihr die Arbeit an der Konkordanz, die danach kopiert, fotografiert und 1988 von Hartmut Stegemann und John Strugnell im Privatdruck den Spezialisten zugänglich gemacht wurde. Es ist diese Konkordanz, mit der Wacholder und Abegg den Computer gefüttert und so die unautorisierte Edition von 1991 hergestellt haben.
Bis dahin hatten die Mitglieder des siebenköpfigen Expertenteams, die das Material und die Rechte zur Veröffentlichung unter sich aufteilten, «ihre» Texte vereinzelt oder auszugsweise in wissenschaftlichen Zeitschriften bekannt gemacht. Die endgültige Publikation des Materials aus Höhle 4 in der Reihe DJD ging jedoch nur schleppend voran: Zwischen 1968 und 1982 erschienen gerade einmal drei Bände (DJD V–VII). Daneben kamen noch zwei bedeutende Einzelveröffentlichungen heraus, die viel mehr als nur die Edition der Texte bieten: 1976 die von Milik bearbeiteten Henoch-Texte aus Höhle 4 und 1977 die von Yadin bearbeitete Tempelrolle aus Höhle 11, jeweils mit ausführlichem Kommentar.
Der Schwung der ersten Jahre war jedoch bereits Ende der sechziger Jahre erlahmt. Außer dem Auslaufen der Finanzierung und den politischen Veränderungen traten auch fachliche Differenzen und persönliche Schwierigkeiten im Herausgeberteam auf. Krankheiten und andere Umstände machten eine Umbildung des Teams und eine neue Planung des Unternehmens nötig, die von den beiden Hauptherausgebern dieser Zeit, Pierre Benoit und John Strugnell, jedoch nur zögerlich in Angriff genommen wurde. Immerhin wurde unter Strugnell der Generationenwechsel eingeleitet und das Team durch jüngere Leute verstärkt, unter denen sich zum ersten Mal auch israelische Forscher und – für die damalige Zeit ungewöhnlich viele – jüngere Wissenschaftlerinnen befanden. Doch die Maßnahme konnte nicht die immer lauter werdende, berechtigte Forderung beschwichtigen, der Wissenschaft den ungehinderten Zugang zu den Texten zu erlauben. So kam es zu dem oben geschilderten Eklat Anfang der neunziger Jahre, der bewirkte, dass wieder Bewegung in die Sache kam.
Sowohl die israelische Antikenbehörde, die 1998 ein Advisory Board einsetzte, als auch zwei amerikanische Wissenschaftsorganisationen, die Society of Biblical Literature und die American Schools of Oriental Research, die 1991 und 1992 leicht divergierende Richtlinien zum Umgang mit den Texten vom Toten Meer veröffentlichten, reagierten prompt. Nach wirren antisemitischen Äußerungen des offensichtlich bereits erkrankten John Strugnell wurde dieser 1990 von der zuständigen israelischen Antikenbehörde als Hauptherausgeber der Reihe DJD abgesetzt und durch Emanuel Tov von der Hebräischen Universität Jerusalem ersetzt. Unter seiner Leitung ist 1993 eine Microfiche-Edition der Originale erschienen sowie 2010 die Edition in der Reihe DJD zum Abschluss gebracht worden. Auf ihr beruhen alle weiteren Schritte der Publikation und Bearbeitung der Texte.
Nicht zuletzt war es auch Emanuel Tov, der als einer der Ersten die Möglichkeiten der Digitalisierung erkannte und das Zeitalter der sogenannten Digital Humanities mit einleitete. So begann er schon in den achtziger Jahren mit der Entwicklung von Programmen zur Erforschung der Septuaginta und sorgte dafür, dass auch die Texte vom Toten Meer digital zugänglich gemacht wurden. Auf seinen Spuren forschen heute weltweit diverse Datenbank-Projekte mit digitalen Mitteln an der weiteren und präziseren Texterfassung, der Paläographie, der Lesung der Fragmente und materiellen Rekonstruktion sowie der philologischen und inhaltlichen Erschließung.[4]
Edition und Publikation der Texte vom Toten Meer waren von Anfang an ein internationales Unternehmen, das nicht nur von höchstem wissenschaftlichem Interesse, sondern auch dem kulturellen Erbe Israels und der Welt verpflichtet ist. In Anbetracht dieser Bedeutung und der herausragenden Verdienste um die Erschließung und Bewahrung dieses Erbes wurde Emanuel Tov und nach ihm auch Elisha Qimron, dem Herausgeber einer hebräischsprachigen Neuausgabe der Texte, vom Staat Israel die höchste kulturelle Auszeichnung des Landes, der Israel-Preis, verliehen.
Die Anzahl der Handschriften, die in den elf Höhlen und an anderen Orten am Toten Meer gefunden wurden, lässt sich nur annähernd beziffern. Man rechnet mit rund acht- bis neunhundert Handschriften allein in Qumran und etwas über tausend Dokumenten insgesamt. Von ihnen sind lediglich neun (!) Handschriften aus Höhle 1 und 11 als annähernd intakte Rollen und zwei einzelne Lederblätter als vollständige Manuskripte erhalten. Der gesamte Rest besteht aus Fragmenten. Es sind Zigtausende von größeren oder – mehrheitlich – kleineren Stücken bis hin zu kleinsten Schnipseln aus Leder oder Papyrus, die von dem ersten Forscherteam gesäubert und präpariert, fotografiert, entziffert, einzelnen Händen von Schreibern zugeordnet und nach Möglichkeit zusammengesetzt und katalogisiert werden mussten. Einige Beispiele für biblische und nichtbiblische Handschriften finden sich im Tafelteil dieses Buches.
Die einzelnen Handschriften werden oft nur von einem, vielfach aber auch von mehreren solcher losen oder zusammengesetzten Fragmente repräsentiert. Die Zusammensetzung erfolgt nach der Methode der materiellen Rekonstruktion, bei der anhand des erhaltenen Texts Höhe und Breite einer Kolumne sowie die Länge der Zeilen einer Schriftrolle berechnet und die Fragmente aufgrund von regelmäßig wiederkehrenden Zerstörungsmustern in der Rolle platziert werden. Die Methode hat Hartmut Stegemann in die Qumranforschung eingeführt, sie wurde von ihm und seinen Schülern an vielen Beispielen mit Erfolg praktiziert.[5]
Die Bezeichnung der Handschriften und Fragmente ist wenig einprägsam, aber praktisch. Sie besteht aus einem Sigel für den Fundort und einer der Handschrift verliehenen Nummer, bei den biblischen Büchern oder prominenten Werken gelegentlich auch einer Abkürzung für den Namen der Schrift. So bezeichnet 1Q8 die Handschrift 8 aus Höhle 1 von Qumran, wird aber auch als 1QJesb zitiert, da es sich um die zweite von insgesamt zwei Handschriften des Jesajabuches aus dieser Höhle handelt. Die erste, größere Handschrift wird 1QJesa abgekürzt; sie gehört zu den frühesten Funden und war von Anfang an so prominent, dass ihr nie eine Nummer zugewiesen wurde. 1Q28 bezeichnet die Handschrift 28 aus Höhle 1. Hierbei handelt es sich um ein bis dahin unbekanntes Werk, das den Titel Serekh Ha-Jachad, «Ordnung der Gemeinschaft» (hier «Gemeinschaftsregel» genannt), trägt und deshalb auch unter der Abkürzung 1QS geführt wird. In Höhle 4 haben sich weitere Handschriften desselben Werkes gefunden, die als 4Q255–264 oder 4QSa–j bezeichnet werden. Auf diese Weise wird mit allen elf Höhlen von Qumran verfahren sowie mit den anderen Fundorten, für die es eigene Abkürzungen gibt: «Mur» für Wadi Murabbaʿat, «Ḥev» für Naḥal Ḥever, «Mas» für Masada.
Die Handschriften sind, wie in der Antike üblich, in Kolumnen geschrieben. Auf die Bezeichnung der Handschrift folgt daher bei den mehr oder weniger intakten Rollen die Angabe von Kolumne (in großen römischen Ziffern) und Zeile, bei den anderen Handschriften die Angabe von Fragment, gegebenenfalls Kolumne (in kleinen römischen Ziffern) und Zeile. So bedeutet 1Q8 V 2,1–10: Handschrift 8 (Jesb) aus Höhle 1, Kolumne 5, Fragment 2, Zeilen 1–10, in denen sich Reste des Textes von Jesaja 12,3–13,8 finden. 1Q28 V,1 bedeutet: Handschrift 28 (auch mit «S» bezeichnet) aus Höhle 1, Kolumne 5 (der ganzen Handschrift), Zeile 1 – der Anfang eines neuen Abschnitts in dem Werk Serekh Ha-Jachad. Und 4Q258 1 i,1 heißt: Handschrift 258 (Sd) aus Höhle 4, Fragment 1, Kolumne 1 (auf diesem Fragment), Zeile 1, und hier findet sich derselbe Text wie in 1Q28 bzw. 1QS V,1, wenn auch mit einer interessanten textlichen Variante, über die unten noch zu reden sein wird.
Die Handschriften lassen sich, stark vereinfacht, in vier Kategorien unterteilen:
1) Biblische Bücher. Außer Ester sind sämtliche Bücher der (nachmaligen) Hebräischen Bibel belegt. Bei einigen Büchern, wie zum Beispiel Chronik, Esra und Nehemia, sind die Fragmente allerdings derart klein, dass man sich nicht sicher sein kann, ob es sich tatsächlich um das biblische Buch oder ein anderes Werk handelt, in dem das biblische Buch zitiert oder paraphrasiert wird. Außer hebräischen Handschriften wurden auch Übertragungen einzelner biblischer Schriften ins Aramäische (Targume) und ins Griechische (Septuaginta) gefunden. Zur Gruppe der biblischen Handschriften gehören in einem weiteren Sinne auch die sogenannten Phylakterien. Das sind kleine, in winziger Schrift geschriebene Textabschnitte mit Passagen aus den Büchern Exodus und Deuteronomium, die – der Anweisung in Deuteronomium 6,8–9 folgend – bis heute in kleinen Kapseln an Kopf oder Arm getragen (Tefillin) oder am Türpfosten angebracht werden (Mezuzot). Auch von ihnen haben sich etliche Exemplare in den Höhlen von Qumran und an anderen Orten in der judäischen Wüste erhalten.
Bemerkenswert ist der Umstand, dass die Handschriften dieser ersten Kategorie noch keinem standardisierten Bibeltext folgen, sondern verschiedene Texttypen belegen, und zwar die bekannten Typen des masoretischen Bibeltextes (MT), der Septuaginta (LXX) und des samaritanischen Pentateuchs (SP) sowie bis dahin unbekannte Texttypen.
2) Parabiblische Bücher