Jonas Grethlein
Mein Jahr mit Achill
Die Ilias, der Tod und das Leben
C.H.Beck
Rachsüchtig, zornig und gewalttätig – so erscheint Achill in der Ilias des Homer. Schwerlich eine Gestalt, der man sich in tiefer Verzweiflung auf der Suche nach Trost und Orientierung zuwendet. Und doch ist es ebendieser düstere Held, mit dem der Altphilologe Jonas Grethlein die Auseinandersetzung sucht, als er im Alter von 27 Jahren schwer erkrankt. Die Diagnose wischt mit einer schnellen Bewegung den Erwartungshorizont weg, der, über Jahre aufgebaut, seinen hoffnungsfrohen Lebensentwurf grundiert hatte – und sie lässt ihn zugleich die eisige Luft spüren, in der sich auch Achill in der Ilias bewegt. Im «Besten der Achaier», der, den eigenen Tod vor Augen, in die Schlacht um Troja zurückkehrt, erkennt der Autor das aus seiner Krankheitserfahrung erwachsende Bewusstsein existentieller Verletzlichkeit wieder.
So kommt es zu einer Lektüre der Ilias, wie es sie noch nie gegeben hat. Auf zutiefst berührende Art und Weise verwebt Grethlein sein Schicksal mit den großen Fragen, die Homers Epos seit Jahrtausenden den Menschen stellt. Dabei zwingt die unhintergehbare Ernsthaftigkeit seiner Situation den Autor zu einer mitunter verstörenden Offenheit und Ehrlichkeit sich selbst und seinen Leserinnen und Lesern gegenüber. Aber sie lässt ihn auch ein tiefes Verständnis der Ilias als einer heute noch relevanten Reflexion über die Kontingenz allen menschlichen Lebens gewinnen.
Jonas Grethlein lehrt an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Klassische Philologie; er ist zudem Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Im Verlag C.H.Beck ist von demselben Autor lieferbar: Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens (2017).
1: AM STRAND
2: ACHILL
3: IM WARTEZIMMER
4: KÖRPER UND SCHMERZ
5: GÖTTER
6: HEIDEGGER UND HOMER
7: EROS UND THANATOS
8: DINGE
9: VÄTER UND SÖHNE
10: WIEDER AM MEER
LITERATURVERZEICHNIS
BILDNACHWEIS
Für Tobias Janowitz
1
Die Sonne war weitergewandert und blendete mich. Ich legte das Buch in den warmen Sand, richtete mich auf und griff nach der Sonnenbrille. Ein Stück weit draußen auf dem Meer wendete eine Surferin ihr rotes Longboard und glitt mit ein paar schnellen Armzügen auf eine Welle. Hoch waren die Wellen nicht am Marconi Beach, aber sie brachen gleichmäßig. Die Surferin konnte fast bis zum Strand fahren, bevor sie sich ins Wasser fallen ließ. Unablässig rauschte die Brandung, ansonsten war nur das Schreien der Möwen zu hören. Es war ein Dienstag, die Sommerferien in Massachusetts hatten noch nicht begonnen. Wie angenehm die Wärme am Strand doch war! Die Schwüle in der Stadt war kaum zu ertragen, aber hier wehte eine angenehme Brise. Mein letzter Ausflug nach Cape Cod, ein Abschied vom Meer.
Andere Strände waren näher an Boston, einige sogar mit der Bahn zu erreichen. Aber seitdem ich im vergangenen Sommer einmal die zweieinhalbstündige Autofahrt auf mich genommen hatte, war ich immer wieder hierhergekommen. Schotterstraßen führten durch Pinienwälder, vorbei an kleinen Häusern mit verwilderten Gärten. Nach der Fahrt über die Sagamore Bridge tauchte man ein in üppiges Grün, aus dem Blüten in allen Farben hervorleuchteten. Neben gelben Taglilien und roten Kamelien wuchsen weiße Dahlien und violette Hortensien. Der Duft der Rosen mischte sich mit Salzgeruch, der vom Meer herüberwehte. Dünen liefen in breite Sandstrände aus und erinnerten mich an Dänemarkurlaube meiner Kindheit.
In genau einer Woche würde ich im Flugzeug sitzen; meine zwei Jahre als Postdoktorand im Classics Department von Harvard waren um. Erst vor ein paar Wochen war ich das letzte Mal in Deutschland gewesen, aber nur für zwei Tage, um in Freiburg meinen Habilitationsvortrag zu halten. Einer meiner Mentoren hatte mir danach auf die Schulter geklopft und – das mochte sein Sinn für Humor sein – zur Menschwerdung gratuliert.
Wohlig schob ich meine Füße in den warmen Sand und streckte die Arme aus. Den Tag am Strand hatte ich mir verdient. Mit nur 27 Jahren Privatdozent – das sollte mir in meiner Zunft erst mal einer nachmachen. In Deutschland warteten schon die nächsten Aufgaben: Zurück in Freiburg würde ich eine Forschergruppe einrichten und drei Doktoranden betreuen. Vor allem aber würde ich meine Habilitationsschrift über das Geschichtsbild der Ilias für die Veröffentlichung überarbeiten.
Ich nahm die Flasche und trank einen Schluck Wasser. Ein Stechen im Unterleib – nur kurz, aber so schmerzhaft, dass ich zusammenzuckte. Musste ich schon wieder pinkeln? Ich war doch gerade erst, ja, seit meiner Ankunft am Strand mittags schon dreimal auf die Toilette gegangen. Unwillig stand ich auf und schlüpfte in die Flip-Flops. Vielleicht war das Pensum der letzten zwei Jahre doch zu groß gewesen: das emsige Schreiben an der Habilitationsschrift, für die ich mich jeden Morgen um halb sieben an den Schreibtisch gezwungen, dann die Partys, in die ich mich am Wochenende gestürzt hatte, um am Montag wieder in das Korsett der Arbeitswoche zu schlüpfen. In der Strandtoilette war es dunkel, ich nahm die Sonnenbrille ab. Es roch unangenehm nach Urin, aber Gott sei Dank war ich allein. Ich stellte mich ans Urinal, es kamen nur ein paar Tropfen, die brannten. Ob ich die Reizblase, die ein Urologe während meines Studiums in Göttingen diagnostiziert hatte, jemals loswerden würde? Dafür müsste ich wohl Stress reduzieren, dachte ich, und mir kam der Rilkevers in den Sinn: «Du musst dein Leben ändern.»
Mein Leben sollte sich drastisch ändern, aber anders als gedacht: Acht Wochen später, im August 2005, erfuhr ich, dass in meiner Blase ein Tumor wuchs. Meine Chance, die nächsten zehn Jahre zu überleben, lag laut Statistik bei 17 Prozent. Ich habe die zehn Jahre überlebt und werde in diesem Buch von dem ersten, dem schwersten Jahr erzählen. Dabei wird es vor allem um jenes Epos gehen, das mir half, dieses Jahr durchzustehen.
Während ich meine Habilitationsschrift verfasste, hatte ich mich intensiv mit der Ilias beschäftigt. Etliche Male hatte ich die gut 15.000 Verse im griechischen Original gelesen; einzelne Episoden hatte ich so eingehend analysiert, dass ich sie auswendig konnte. Immer wieder hatte ich zu antiken und modernen Kommentaren gegriffen, um den homerischen Text besser zu verstehen, und ungezählte Bücher und Aufsätze gelesen, um meine eigene Interpretation zu schärfen. Der Krebs aber gab der Ilias für mich eine neue Eindringlichkeit. Zugleich prägte das Epos meinen Blick auf die Krankheit.
Homer scheint weit entfernt von unserer Welt. Der archaische Charakter seiner Dichtung tritt uns bereits in der epischen Formelsprache entgegen – Wortverbindungen, die immer wieder auftauchen und den Ursprung des Epos in mündlicher Dichtung verraten. Nicht nur feste Attribute wie «die rosenfingrige Morgenröte», sondern auch längere, aus Wortblöcken zusammengefügte Beschreibungen erleichterten den Barden vor bald 3000 Jahren ihren Vortrag. Auf uns aber wirken sie befremdlich. Um etwa die Vorbereitungen eines Abendessens in Worte zu kleiden, bedient sich Homer stets der folgenden Verse:
Als aber die Schenkel verbrannt waren und sie von den inneren Teilen gekostet hatten,
Zerstückelten sie das andere und spießten es auf Bratspieße
Und brieten es sorgsam und zogen alles herunter.
In der Antike schätzte man die Ilias mehr als die Odyssee, das zweite homerische Epos; ein kaiserzeitlicher Rhetoriker vergleicht die Odyssee mit der untergehenden Sonne: Man spüre in ihr noch Homers Größe, aber nicht mehr so stark wie in der Ilias. Heute hingegen ist die Odyssee uns viel näher als die Ilias: Einzelne Abenteuer des Odysseus wie seine Begegnung mit den Sirenen, den Lotosessern und dem einäugigen Zyklopen sind auch denen bekannt, die Homer nie gelesen haben. Mit der Geschichte eines Helden, der in die Fremde aufbricht, zahlreiche Prüfungen besteht und schließlich glücklich heimkehrt, hat Homer der Literaturgeschichte eines der wichtigsten Erzählmuster geliefert. Auch in unseren Alltag hat das Epos Eingang gefunden: Wenn wir von einer «Odyssee» sprechen, erweist sich ein Weg als unerwartet lang und umständlich.
Aber die Ilias, das Epos vom Zorn des Achill, hat sie uns heute überhaupt noch etwas zu sagen? Sie handelt von einem Streit, der im Lager der Griechen vor Troja ausbricht: Seit neun Jahren belagern die Griechen Troja, um die schöne Helena zurückzuholen, die Gattin des Menelaos, die der trojanische Prinz Paris entführt hat. Die Stimmung im griechischen Heer ist ohnehin schon gereizt, da eskaliert unter den Anführern auch noch ein Streit. Agamemnon, der Oberbefehlshaber, muss eine Frau aus seiner Beute zurückgeben, da sie die Tochter eines Apollonpriesters ist; als Entschädigung nimmt er sich eine Frau aus der Beute des Achill, des «Besten der Achaier». Achill fühlt sich in seiner Ehre angegriffen und zieht sich grollend aus dem Kampf zurück. Zeus verspricht Achills Mutter Thetis, er werde ihrem Sohn Ehre verschaffen, indem er die Griechen in Bedrängnis geraten und dadurch ihre Abhängigkeit von Achill spüren lassen werde. Die Verwirklichung dieses Versprechens nimmt drei Viertel der Ilias ein: Auch wenn einzelne Götter, allen voran Athene und Poseidon, die Griechen unterstützen, drängen die Trojaner diese immer weiter zurück. Jedoch auch dann lässt sich Achill nicht durch die Bitten der Griechen erweichen; erst als Hektor, der größte Held der Trojaner, Achills Busenfreund Patroklos tötet, kehrt Achill in die Schlacht zurück. Er wütet wie ein Berserker unter den Trojanern und bringt schließlich Hektor um. Die Griechen bestatten Patroklos, die Trojaner Hektor, und damit endet die Ilias.
Peter Sloterdijk beruft sich zwar auf Achill, um die Austreibung der «thymotischen Energien» – der Kraft aus tiefen Gefühlsaufwallungen – in der Gegenwart zu beklagen, aber sein Plädoyer für den Zorn als ein wichtiges Element der Politik unterstreicht, dass die Ilias weit auf der Schattenseite der gegenwärtigen Interessen liegt. Der archaische Konflikt zwischen Achill und Agamemnon hilft Sloterdijk, die Provokation seiner Thesen zu steigern. Vom unbedingten Ehrstreben der iliadischen Helden sind wir befremdet, von den ganze Bücher füllenden Schlachtbeschreibungen schnell gelangweilt. Während der umherirrende, listenreiche Odysseus sofort unsere Sympathie gewinnt und nicht nur bei Sloterdijk, sondern auch in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung zum Prototypen des modernen Menschen avanciert, lässt Achill heutige Leserinnen und Leser mit seiner Sturheit und körperlichen Gewalt erst einmal kalt oder stößt sie sogar ab: «Achill das Vieh», so nennt ihn Christa Wolf in ihrer Kassandra.
Auch zwei jüngere Adaptionen des Trojanischen Kriegs zeigen, wie fremd uns die Ilias ist. Pat Barker in The Silence of the Girls (2018) und Natalie Haynes in A Thousand Ships (2019) geben beide die Geschichte des Trojanischen Kriegs aus weiblicher Perspektive wieder: Barker aus dem Blickwinkel von Briseis, der Sklavin, die Agamemnon Achill wegnimmt, Haynes, indem sie die einzelnen Kapitel von verschiedenen Frauen erzählen lässt. The Silence of the Girls und A Thousand Ships unterscheiden sich in vielen Punkten – Barker erzählt zum Beispiel linear, Haynes verflicht mehrere Handlungsstränge miteinander – und doch stellen beide Bücher Homers gewalttätigen Helden die leidenden Frauen entgegen. Ihre Nacherzählungen sind zugleich Gegenerzählungen zu Homer. Man kann sich heute, so scheint es, der Ilias nur nähern, wenn man sie von Grund auf umschreibt.
Aber die Ilias ist nicht nur eine Erzählung von ehrsüchtigen Helden und ihren Gewaltexzessen, sie ist auch und vor allem eine Reflexion über das menschliche Leben. Die condicio heroica ist eine gesteigerte Form der condicio humana. Odysseus mag uns mit seinen Tricks verzücken; Achill lässt uns über das nachdenken, was Friedrich Schleiermacher als das «Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit» bezeichnet. Nachdem ich meine Dissertation über die attische Tragödie geschrieben hatte, begann mich Homers Bewusstsein der menschlichen Fragilität zu faszinieren und führte mich zur Ilias. In meiner Habilitation versuchte ich herauszuarbeiten, dass Kontingenz im Zentrum des Geschichtsbilds der Ilias steht und sowohl ihre erzählerische Form als auch den Umgang ihrer Helden mit der Vergangenheit bestimmt. Die Tiefe der homerischen Einsicht in das menschliche Leben konnte ich jedoch erst ermessen, als ich Kontingenz am eigenen Leib erfuhr. Meine Krebserkrankung veränderte meinen Blick auf die Ilias; ich hatte ihre existentielle Dimension bereits zuvor geahnt, aber erst in meinem Jahr mit Achill habe ich sie empfunden.
Wir schätzen Literatur nicht zuletzt, weil sie unsere Phantasie anregt. Die Romantiker haben das nachdrücklich betont. Friedrich Schlegel etwa notiert: «Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.» Als Leser können wir den Alltag zurücklassen, unsere Grenzen übersteigen und in andere Welten eintauchen. Aber erst wenn Literatur auf unser Leben trifft, fängt sie an uns zu berühren. Bücher gewinnen Bedeutung durch Themen, die uns beschäftigen, durch Probleme, die uns betreffen, durch Erfahrungen, die auch wir gemacht haben. Dafür müssen ihre Geschichten keineswegs in unserer eigenen Welt angesiedelt sein. Gerade der Abstand der erzählten Welt und die Andersartigkeit der Figuren lassen uns unser Leben in neuem Licht sehen. Nicht als Spiegel schlägt uns Literatur in ihren Bann, ihre Geschichten sind vielmehr Prismen, durch die wir unsere eigenen Erfahrungen betrachten können. Die Ilias handelt nicht von Krankheit, die Skamanderebene ist weiter als die 2000 Kilometer Luftlinie von Freiburg entfernt, und Homers Helden atmen eine andere Luft. Trotzdem konnte ich durch den feinen Schliff der Ilias bis auf den Grund meiner Krebserfahrung sehen.
2
Im Juli 2005 zog ich von Boston zurück nach Freiburg. Ich schickte zwei Pakete mit Büchern nach Deutschland und packte mein sonstiges Hab und Gut in einen Überseekoffer. Den Flug hatte ich gemeinsam mit einem Freund gebucht. C. war Chemiker und hatte ebenfalls als Postdoktorand zwei Jahre in Boston verbracht. Zum Flughafen fuhr uns ein deutscher Mediziner, der sich in eine Italienerin verliebt und deswegen seine Postdoktorandenzeit verlängert hatte. M. wusste zu leben: Er hatte eine schöne Wohnung im Bostoner Bilderbuchbezirk Beacon Hill, und die rosa und hellblauen Hemden, von denen sich eine beachtliche Sammlung in seinem Einbauschrank stapelte, holte er in der Reinigung nicht wie wir am Bügel, sondern fein säuberlich gefaltet ab. Vor allem aber hatte M. sich ein grünes Saab Cabrio gekauft, ein Auto, das mit seinen Ecken und Kanten signalisierte, dass sein Besitzer sich wohl kein Porsche Cabrio leisten konnte, dafür aber vielleicht mehr Geschmack hatte und seinen Individualismus pflegte.
In diesem Auto fuhren wir zum Flughafen. Ein Photo, das ich vor kurzem in meinen Unterlagen fand, zeigt uns eingezwängt von großen Koffern, sonnengebräunt und lachend, eitel und gelöst. Der Blick in die Kamera verrät Siegesgewissheit und ein Selbstbewusstsein, das immens ist, aber doch auf die Bestätigung von außen schielt. Ich vermute, dass wir mehrmals hupten und laut Robbie Williams hörten. Erst kurz vor der Schließung des Schalters kamen wir am Flughafen an – absichtlich, da uns im Laufe der zwei Jahre aufgefallen war, dass Lufthansa die Flüge von Boston nach Frankfurt grundsätzlich überbuchte und Passagieren, die spät kamen und seriös aussahen, ein Upgrade in die Business-Class gab. Auch dieses Mal durfte ich in die Business-Class, C. hingegen aus logistischen Gründen nicht – er hatte vegetarisches Essen bestellt. Dass ich den Komfort seiner Gesellschaft vorzog, nahm er mir übel und beendete nach dem Flug unsere Freundschaft, die er unter ganz anderen Vorzeichen wieder aufnehmen sollte.
Die Rückkehr nach Freiburg erfüllte mich mit gemischten Gefühlen. Dort hatte ich von 2000 bis 2003 gelebt und mich zunehmend beengt gefühlt. Man konnte im Schwarzwald herrlich wandern und dann in einer Besenwirtschaft einkehren, um Brägele zu essen und Gutedel vom Kaiserstuhl zu trinken; Basel und sein Kulturleben waren weniger als eine Autostunde entfernt, und auch das Elsass lockte zu Ausflügen. Aber innerhalb Deutschlands war man doch ziemlich ab vom Schuss – die Zugfahrt nach Berlin dauerte über sechs Stunden –, und mich nervte die Selbstgefälligkeit vieler Freiburger, die im Biosupermarkt einkauften, gewissenhaft ihren Müll trennten, bei Rot an der Ampel stehen blieben und noch mehr darauf achteten, dass ihre Mitbürger es genauso machten. Ich hatte in Freiburg den Eindruck gewonnen, dass Linke viel spießiger als Konservative sein konnten. Die meisten meiner alten Freunde hatten die Stadt verlassen: Die Juristen waren zum Referendariat nach Hamburg, Frankfurt und Düsseldorf gegangen, die angehenden Lehrer machten ihre Unterrichtsproben in badischen Provinzstädten oder, wenn das Schicksal sie hart getroffen hatte, auf der Schwäbischen Alb.
Freiburg war die Stadt, in der ich studiert hatte und promoviert worden war. Nun würde ich als Privatdozent zurückkehren und Vorlesungen halten. Mein neuer Status zeigte sich darin, dass ein Philosophieprofessor, der mich davor keines Blickes gewürdigt hatte, nun auf der Straße meinen Gruß erwiderte – herablassend, aber immerhin. In der südwestdeutschen Ordinarienrepublik, mit ihren standesbewussten Zentren in Heidelberg und Tübingen und den liberaleren Stützpunkten in Freiburg und Konstanz, galt die Habilitation etwas; die Gratulation zur Menschwerdung, selbst wenn sie ironisch gemeint gewesen sein sollte, erfasste etwas, das auch mir damals wichtig war. Als Sohn eines Theologieprofessors war ich in der Welt der deutschen Geisteswissenschaften aufgewachsen und hatte ihre Hierarchien zu sehr verinnerlicht, um mich nicht auch auf mein Leben als Privatdozent zu freuen.
Nachdem ich als Student in einer kleinen Einzimmerwohnung am Flückinger See gewohnt hatte, hoffte ich jetzt, eine Altbauwohnung in der Wiehre oder im Stadtteil Herdern zu finden. Als Übergangsquartier, das mir eine Suche in Ruhe ermöglichen sollte, bezog ich die Wohnung einer Assistentin, die ein Forschungsstipendium dazu nutzte, um mit ihrem Mann zusammen in Berlin zu leben. Die Wohnung in der Salzstraße lag zwar direkt an den Straßenbahnschienen, war aber dennoch erfreulich ruhig. Obwohl die drei Zimmer spärlich möbliert waren und mir nicht das Leben ihrer Bewohnerin aufdrängten, fühlte ich mich fremd. Nur der Blick von der Terrasse auf das Münster begeisterte mich; die Kirche war so nah, dass die Türme steil vor mir in den Himmel schossen und das Läuten ihrer Glocken den Boden beben ließ. Hier wollte ich laue Sommerabende mit einem kühlen Glas Pimms verbringen, vielleicht in der Gesellschaft interessanter Frauen, die, so hoffte ich, mich über den Wegzug meiner alten Freunde hinwegtrösten würden.
Vorerst trat aber keine neue Frau in mein Leben, vielmehr musste ich feststellen, dass auch alle meine alten Tennispartner Freiburg den Rücken gekehrt hatten. Deswegen fing ich an, regelmäßig zu joggen, was ich in Boston nur gelegentlich getan hatte. An einem Montagabend im August lief ich den Weg, der in den vergangenen Wochen zu meiner Stammstrecke geworden war – an der Dreisam entlang, vorbei an der Brauerei Ganter mit ihrem Hopfendunst, die ersten Ausläufer des Schwarzwalds vor Augen, nach Ebnet ins Tal. Es war wie sooft in den Freiburger Sommern unerträglich schwül. Trat man aus dem Haus, war man sofort in Schweiß gebadet. Schon nach wenigen Minuten Laufen war ich knallrot, das Atmen fiel mir schwer.
Auf dem Rückweg – ich hatte gerade das Stadion des SC Freiburg passiert – spürte ich Harndrang. Weiter! Nur noch anderthalb oder zwei Kilometer, dann wäre ich in meiner Wohnung. Ich versuchte an etwas anderes zu denken, aber das Brennen in der Blase nahm zu. Jetzt auch noch ein Stechen. Es war nicht mehr auszuhalten; wie ein Hund schlug ich mich in die Büsche. Zumindest konnte mich hier niemand sehen. Schnell zog ich die Hose hinunter. Es kam Blut, zuerst ein paar Tropfen, dann ein schwacher Strahl, rot. Die Knie wurden mir weich; wie konnte es sein, dass ich Blut pinkelte? Benommen zog ich die Hose hoch, zwängte mich durch die Büsche zurück auf den Weg und lief nach Hause. Als ich ankam, brannte die Blase schon wieder. Auf der Toilette traute ich mich erst nicht, nach unten zu sehen – hell leuchtete das Rot in der weißen Keramikschüssel.
Unter der Dusche beschloss ich, zum Arzt zu gehen. Seit meiner Rückkehr nach Deutschland hatte mich nachts immer wieder der Harndrang geweckt, und jetzt der blutige Urin. Meine Reizblase war schlimmer geworden; vielleicht half ja schon ein einfaches Mittel, ein Pflanzenextrakt oder so etwas. Gleich am nächsten Morgen wollte ich einen Termin vereinbaren. Die beiden Telephonbücher lagen fein säuberlich im Zeitungsständer neben dem Sofa. Ich blätterte im Branchenbuch … Ärzte … Urologen – da, eine ganze Liste; welche Nummer sollte ich wählen? Ich entschied mich für eine Gemeinschaftspraxis von Ärzten, deren Namen etwas größer gedruckt waren. Besetzt. Ich wählte noch einmal. Immer noch besetzt. Dann sah ich, dass es eine Praxis gleich bei mir um die Ecke gab. Ich wählte, kam durch und bekam einen Termin zwei Tage später. In den Jahren, die folgten, habe ich immer wieder überlegt, was passiert wäre, wenn mein erster Anruf durchgekommen wäre. Wäre ich dann noch am Leben?
Am Donnerstagvormittag ging ich in die Praxis von Dr. B. Es war immer noch heiß, das Wartezimmer überfüllt. Hier würde ich wohl lange warten müssen. Ich setzte mich auf den einzigen freien Stuhl, der bedenklich knarzte. Der Schweißgestank eines Patienten mischte sich mit dem Geruch alter Männer. An der Wand hingen Bilder aus Leder, die Frauen in anzüglichen Posen zeigten. Nun gut, hier waren ja nur Männer. Niemand sprach, lediglich das Rascheln der Zeitschriften und das Schnaufen der überwiegend betagten Patienten waren zu hören. Die Genitalien all dieser Männer sollte der Arzt betrachten und betasten? Der Alte mir gegenüber trug eine verdreckte Jogginghose. Wann er wohl das letzte Mal geduscht hatte?
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich an diesem Vormittag warten musste, bis ich aufgerufen wurde. Es waren sicher anderthalb Stunden, vielleicht mehr. In den folgenden Jahren sollte ich noch viele Stunden mehr in diesem Wartezimmer verbringen. Ich lernte meine Ungeduld zu meistern und nahm sogar, obwohl ich meist schmerzhafte Prozeduren vor mir hatte, das Warten gern in Kauf. Die Zeit im Wartezimmer gewann für mich einen rituellen, fast religiösen Charakter; wie ein Gläubiger vor der Eucharistie war ich andächtig angespannt. Der Grund dafür war neben der Bedeutung der bevorstehenden Behandlungen der Arzt, den ich auch heute noch «meinen» Arzt nenne. Er wird damals um die 50 gewesen sein, der volle Haarschopf, der sich in den kommenden Jahren grau und ansatzweise weiß färben sollte, war noch dunkel. Sein Kopf war markant, passend zu seiner kräftigen Statur, hatte aber durch den spöttisch geschwungenen Mund etwas Feines.
Er musterte mich eingehend, als ich von meinen Beschwerden berichtete. «Blut im Urin kann verschiedene Ursachen haben. Es kann sich einfach um ein geplatztes Äderchen handeln. Bereits kleinste Mengen färben den Urin rot. Aber es kann auch Indikator für eine Krankheit sein.» Er bemerkte meinen unruhigen Blick und fügte hinzu: «Damit Sie unbesorgt sein können, klären wir das ab.» Eine leicht süddeutsche Sprachfärbung, die ich aber nicht als Badisch identifizieren konnte, gab seiner Stimme etwas Volkstümliches, Vertrauenerweckendes. «Wie machen Sie das?» – «Wir schauen in die Blase hinein.» Ich schluckte. «Wir machen eine Blasenspiegelung.» Ich zuckte zusammen; vom Bericht eines Freunds wusste ich, dass bei so einer Zystoskopie ein Metallstab durch die Harnröhre geschoben wurde. Schon allein beim Gedanken daran wurde mir schwarz vor Augen.
«Ist das wirklich notwendig? Kann man das nicht auch anders untersuchen?» Für mich stand fest, dass ich keine Zystoskopie machen würde. Ich würde einfach nicht wiederkommen. «Eine Blutung wie die Ihre kann harmlos sein, sie kann aber auch von einem Tumor in der Blase ausgelöst werden. Das wollen wir ausschließen. Sie können gleich in die Zysto, zweite Tür rechts.» Jetzt sofort? Auf keinen Fall! Ich stammelte: «Aber muss das jetzt sein? Ich habe gleich einen Termin …» Wie Dr. B. mir später bestätigte, spürte er, dass ich nicht wiederkommen würde. Er rückte seine Brille auf die Nasenspitze, eine Bewegung, die ich noch oft sehen sollte, blickte mich durchdringend von unten an und sagte freundlich, aber bestimmt: «Wollen Sie mit der Unsicherheit nach Hause gehen? Wir klären das jetzt, es dauert nicht lang.»
Mehrere Dutzend Blasenspiegelungen liegen hinter mir, und auch wenn sich die Bilder und Eindrücke überlagern, kann ich mich noch an meine Panik damals erinnern. Als ich die Zystoskopie überstanden hatte, war ich unendlich erleichtert. Aber Dr. B. sah mich ernst an: «An der hinteren Blasenwand gibt es eine Rötung. Das kann harmlos sein, eine einfache Entzündung, es kann aber auch bösartig sein. Ich schicke Sie ins Loretto-Krankenhaus für eine Quadrantenbiopsie. Die entnehmen eine Gewebeprobe und untersuchen sie.» Ich war fassungslos; gerade noch hatte ich gedacht, dass es mit der grässlichen Spiegelung geschafft sei. Und nun drohte eine Operation? «Heißt das, ich könnte einen Tumor haben?», fragte ich ungläubig. «Genau das müssen wir ausschließen. Es ist nicht wahrscheinlich, derartige Rötungen tauchen dann und wann auf, aber ohne Biopsie können wir nicht sicher sein.» – «Geht das ambulant?» – «Nein, da gehen Sie am Abend vorher hin und bleiben danach ein paar Tage.»
Aber ich wollte doch in der nächsten Woche das Kapitel zur Begegnung von Achill und Priamos, dem unglücklichen König der Trojaner, im letzten Buch der Ilias überarbeiten und den Aufsatz zu Gegenständen und Erinnerung bei Homer fertigstellen! Der Sommer mit meinen Planungen begann mir zu entgleiten. «Und warum ins Loretto-Krankenhaus? Wäre es nicht besser, ins Uniklinikum zu gehen?» Dr. B. erklärte mir, die Urologie sei am besten im Loretto-Krankenhaus; er würde den Oberarzt anrufen, damit man sich gut um mich kümmere. Das Uniklinikum sei ein Moloch, und so mancher Arzt, die Habilitation und einen Chefarztposten vor Augen, sei mehr an der eigenen Studie als am Patientenwohl interessiert.
Der nächste freie Operationstermin im Loretto-Krankenhaus war eine Woche später. Am Nachmittag zuvor – dem Geburtstag meines Vaters – packte ich eine Tasche und machte mich auf den Weg. Die Hitze hatte nachgelassen, es war ein wunderschöner Tag, an dem der Sommer noch einmal seine Pracht aufscheinen ließ, in der Luft aber schon ein Hauch Herbst lag. Die Gründerzeithäuser und Jugendstilvillen in der Wiehre leuchteten im warmen Licht, das ihre Umrisse schärfer hervortreten ließ, während es den Wäldern in der Ferne einen weicheren Zug verlieh. Ich hatte Zeit, lief am Holbeinpferd vorbei, das damals gerade rot gestrichen war und blaue Punkte trug, und setzte mich schließlich auf eine Bank am Rand der Schrebergärten. Vor mir öffnete sich das Günterstal, begrenzt von den ersten Bergketten, die zum Schauinsland führten. Wind strich durch die Baumkronen, Vögel zwitscherten, im Hintergrund rauschte die Stadt. Ich konnte die Äpfel riechen, die an einem Baum vor mir hingen.
Noch nie hatte ich die Fülle des Spätsommers so tief eingesogen wie an diesem Tag. War es der letzte Sommer, den ich erleben durfte? Alles schien vollkommen, nur ich war auf dem Weg in die Klinik und hatte vielleicht, wahrscheinlich Krebs … Mit Tränen in den Augen ging ich am stolzen Hercynenhaus vorbei; als Student hatte ich dort eine Party mitgefeiert, deren Ausgelassenheit weder die vielen Juristen unter den Gästen noch die streng von den Bildern an den Wänden herabblickenden Alten Herren hatten verhindern können. Vom Lorettobad wehte Kindergeschrei herüber und begleitete mich auf den letzten Metern zur Pforte des Krankenhauses.
Ein junger, sympathischer Arzt, vielleicht fünf Jahre älter als ich, führte die Resektion durch. Wir hätten uns auf einer Feier kennenlernen können. Dann hätten wir uns über Filme, über unsere Jahre im Ausland und die Vorzüge des Lebens in Süddeutschland unterhalten; jetzt schnitt er mir mit einer Elektroschlinge drei Stücke aus dem Gewebe meiner Blase. Ich musste eine weitere Nacht in der Klinik verbringen mit einem Katheter, der eine Lösung in die Blase spülte. Im Abschlussgespräch teilte mir der Arzt mit, wir müssten den histologischen Befund abwarten, aber er glaube nicht, dass es ein Tumor sei.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus kehrte ich in den Alltag zurück. Die Einschätzung des Arztes hatte mich beruhigt. Beim Aufwachen spürte ich zwar etwas auf mir lasten, ohne im ersten Moment zu wissen, was es war, und auch tagsüber beschlich mich bisweilen ein vages dunkles Gefühl. Aber es gelang mir in den folgenden Tagen, den ausstehenden histologischen Befund zu verdrängen und mich in das letzte Buch der Ilias zu vertiefen. Außerdem fand ich eine Altbauwohnung, die zwar etwas zu teuer, aber charmant war – mit alten Öfen in den beiden Zimmern und einem Balkon vor der Wohnküche. Endlich würde ich meine Möbel und Bücherkisten abholen können, die ich während meiner Zeit in Boston in einem Keller zwischengelagert hatte. Es hatte mich überrascht, wie wenig sie mir fehlten, aber jetzt freute ich mich auf die vertrauten Gegenstände und meine kleine Bibliothek.
Doch bevor ich in die Wohnung in der Egonstraße zog, ging ich zu Dr. B. Er hatte mich für Mittwochnachmittag einbestellt – eine Zeit, die Ärzte meines Wissens nach ihren Abrechnungen vorbehielten. Aber wenn ich die hohen Stapel Krankenakten im Sprechzimmer richtig interpretierte, dann schätzte Dr. B. die Verwaltungsarbeit nicht besonders. Die Tür zur Praxis war nur angelehnt, niemand war an der Rezeption. Ich wartete. Hinter mir öffnete sich die Tür des Sprechzimmers. Nachdem ich mich gesetzt hatte, schaute Dr. B. mich durchdringend an: «Ich habe keine guten Nachrichten.» Der histologische Befund war positiv. Ich hatte Krebs. Die Tumorzellen waren recht aggressiv und standen kurz davor, den Muskel zu befallen. Ich spürte, wie die Diagnose mir den Boden unter den Füßen wegzog. Alles, was mich beschäftigt hatte, verlor schlagartig seine Bedeutung: das Ilias-Buch, meine erste Vorlesung, die neue Wohnung, die Bücher, die ich lesen, das Leben, das ich hatte leben wollen.
Benommen verließ ich die Praxis. Die Menschen strömten durch die Gassen, eine Straßenbahn ratterte über die Schienen und klingelte, doch ich nahm die Welt nur noch schattenhaft wahr. Wie in Trance lief ich in mein Büro in der Belfortstraße. Kaum hatte ich die Tür geschlossen, überkam mich ein Heulkrampf. Ich war 27 und hatte Krebs.
*
In den Wochen, in denen ich versuchte, meine Diagnose zu begreifen, blieben meine Gedanken immer wieder bei Achill hängen. Seit meiner Kindheit war Achill für mich eine feste Größe. Bei der Lektüre von Gustav Schwabs Die schönsten Sagen des klassischen Altertums hatte er mich fasziniert: der jugendliche Held, der sich mit der Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt, nicht abfindet und vom Sterben seines Freunds so erschüttert wird, dass er selbst in den Tod geht. Den Sommer vor meiner Einschulung verbrachten meine Eltern mit meiner Schwester und mir auf der Peloponnes – ein Urlaub, der sogar noch viele Jahre später die Wahl meiner Studienfächer nicht unmaßgeblich beeinflusste. Ich weiß nicht mehr, wo es war – vielleicht in Olympia, vielleicht in Epidauros –, jedenfalls durfte ich mir eines jener braunen Lederportemonnaies aussuchen, die neben T-Shirts, Postkarten und Tongefäßen die Auslagen der Touristengeschäfte schmückten. Ohne zu zögern, entschied ich mich für ein Portemonnaie, auf dem Achill eingeprägt war.
Nicht zuletzt Achills Streben danach, «immer Bester zu sein und überlegen zu sein den anderen», beeindruckte mich. Dieses Motto passte zum überbordenden Ehrgeiz meiner Jugend, der mich zu Höchstleistungen in Schule, Sport und Studium trieb. Die Krebserfahrung änderte jedoch meinen Blick aufs Leben grundlegend und ließ mich auch den Helden der Ilias neu verstehen. Durch sie fühlte ich mich mit Achill auf eine besondere Weise verbunden und sah in seinem Schicksal sogar meine Situation reflektiert. Dass ein Geisteswissenschaftler sich im «Besten der Achaier» wiederfindet, mag ähnlich lächerlich klingen, wie wenn ehemalige Zivildienstleistende für Ernst Jüngers Marmorklippen schwärmen oder Bürgerskinder aus Zehlendorf und Winterhude sich für Gangsterrap begeistern … Achill ist so stark, dass nur er und kein anderer Held die Tür zu seinem Zelt öffnen und die Lanze des Pelops schwingen kann, während all meine Versuche, mir im Fitnessstudio Muskeln anzutrainieren, ich muss es gestehen, kläglich gescheitert sind. Bereits die ersten Verse der Ilias betonen Achills herausragende Stellung (1.1–7):
Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus,
Den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte
Und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf
Von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden
Und den Vögeln zum Mahl, und es erfüllte sich des Zeus Ratschluss –
Von da beginnend, wo sich zuerst im Streit entzweiten
Der Atreus-Sohn, der Herr der Männer, und der göttliche Achilleus.
Mit dem Proöm führt Homer uns in die Handlung ein: Achill ist der Held des Epos, sein Zorn und die Folgen der Inhalt. Das erste Wort, von Wolfgang Schadewaldt mit «Zorn», von Kurt Steinmann mit «Ingrimm» übersetzt, lässt bereits Achills exzeptionellen Charakter erahnen. Mēnis bezeichnet in der Ilias ansonsten die Gefühlsaufwallung vor allem von Göttern. Die Folgen von Achills Zorn sind nur kurz skizziert, aber furchtbar: Achills Streik bringt dem griechischen Heer unzählige Schmerzen und vielen Helden den Tod. Der Notstand zeigt sich nicht zuletzt im Schicksal der Leichname, die nicht mehr bestattet werden. Mit dem Ausbleiben der Bestattung ist eine elementare zivilisatorische Errungenschaft außer Kraft gesetzt, außerdem kehrt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Tier um: An sich verzehren die Menschen Tiere, jetzt aber werden ihre Leichname von Vögeln und Hunden gefressen.
Der zivilisatorische Bruch wird hervorgehoben durch eine Konjektur, einen Eingriff in den überlieferten Text, den Schadewaldt seiner Übersetzung zugrunde legt. Die mittelalterlichen Handschriften, denen wir den Text der Ilias verdanken, geben uns einen anderen Wortlaut: «[…] sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden/Und allen Vögeln». Zenodot jedoch, einer der bedeutendsten Homerphilologen der Antike und 284 v. Chr. zum Direktor der berühmten Bibliothek von Alexandria ernannt, las stattdessen: «[…] sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden/Und den Vögeln zum Mahl». Das griechische Wort dais, hier mit «Mahl» übersetzt, leitet sich ab vom Verbum daiomai («teilen») und bezeichnet das ritualisierte Festessen. Dem Essen geht ein Opfer voraus, in dem die Menschen den Göttern Tiere darbringen und damit selbst ihren Platz im Kosmos zwischen diesen und jenen einnehmen. Die folgende Verteilung des Fleisches spiegelt und befestigt die soziale Hierarchie unter den anwesenden Helden. Immer wieder erzählt Homer, dass ein Held ein saftiges Rückenstück erhält und dadurch ausgezeichnet wird. Sowohl die kosmologische als auch die soziale Ordnung ist auf den Kopf gestellt, wenn wilde Tiere eine dais abhalten.
«Des Zeus Ratschluss» bezeichnet erst einmal das Versprechen, das Achills Mutter Thetis Zeus abringt. Als Ausgleich dafür, dass Agamemnon Achill eine Sklavin weggenommen und damit dessen Ehre verletzt hat, solle Zeus den Trojanern gutes Gelingen in der Schlacht schenken; auf diese Weise in Not gebracht, würden die Griechen ihre Abhängigkeit von Achill spüren und ihm besondere Ehren erweisen. Aber der Tod vieler Helden, den Homer ausdrücklich erwähnt, erlaubt auch eine weitergehende Interpretation. Die Kyprien, ein uns leider nicht überliefertes Epos über die Ereignisse, die zum Trojanischen Krieg führten, erwähnten den Plan des Zeus, die Überbevölkerung auf der Erde durch diesen Krieg zu verringern. Antike Hörer, die den epischen Zyklus zur Trojasage kannten, werden vielleicht nicht nur an die Folgen von Achills Zorn, sondern auch an diesen Plan des Zeus gedacht und die Ilias-Handlung als Teil davon verstanden haben. Aber auch in diesem Fall unterstreicht der Ratschluss des Zeus erst einmal Achills Exzeptionalität – seine Ehre ist dem Göttervater ein Anliegen!
Achill zieht sich mit seinen Truppen, den Myrmidonen, aus der Schlacht zurück und isoliert sich damit im griechischen Heer. Auch von einer geschickt zusammengestellten Gesandtschaft, die ihm die Not der Griechen schildert, lässt er sich nicht erweichen: Phoinix ist sein alter Lehrer; Odysseus ein eloquenter Redner; Ajax schließlich von ähnlichem Naturell wie Achill. Sieben Frauen aus Lesbos, zwölf preisgekrönte Pferde, Güter in Hülle und Fülle sowie nach der Rückkehr in die Heimat sieben Städte und die Hand einer seiner Töchter verspricht Agamemnon – vergeblich, Achill lehnt ab. Sein Starrsinn wird von anderen Helden kritisiert, ist aber dem heroischen Ethos verpflichtet (9.386–7): «Auch so würde er nicht mehr meinen Mut bereden, Agamemnon,/Bis er mir nicht die ganze hat abgebüßt, die herzkränkende Beschimpfung!» So großzügig Agamemnons Angebot auch ist, die materielle Kompensation hat nicht dieselbe Währung wie die persönliche Schmach, die Achill zugefügt wurde. Pat Barker bringt das in The Silence of the Girls, ihrer Nacherzählung der Ilias, auf den Punkt: Achill «könnte es nicht klarer ausgedrückt haben: Es geht hier nicht um Dinge, Dinge spielen jetzt keine Rolle.» (2018: 210). Paradoxerweise schert Achill aus der heroischen Gemeinschaft aus, indem er konsequent ihrem zentralen Wert, der Ehre, anhängt.
Die Sonderstellung des «Besten der Achaier» manifestiert sich in seiner Nähe zu Göttern und wilden Tieren zugleich. Nach Patroklos’ Tod fastet Achill. Um ihm Kraft zu geben, flößt Athene ihm Ambrosia und Nektar ein, Speisen, die ansonsten den Göttern vorbehalten sind (19.352–4). Schließlich wieder in die Schlacht zurückgekehrt, wütet Achill unter den Trojanern wie eine Bestie. Der Kampf ist ihm zur Jagd geworden. Wiederholt und mit großer Eindringlichkeit wird Achill mit wilden Tieren verglichen. Apollon prangert Achills bestialisches Verhalten an, um die anderen Götter davon abzuhalten, ihm zu helfen (24.39–45):
Doch dem heillosen Achilleus, Götter, wollt ihr beistehen,
Dem nicht die Sinne gebührlich sind, noch auch das Denken
Biegsam ist in der Brust, und wie ein Löwe weiß er Wildes,
Der, seiner großen Kraft und dem mannhaften Mute nachgebend,
Ausgeht nach den Schafen der Sterblichen, sich ein Mahl zu holen:
So hat Achilleus das Erbarmen verloren, und es fehlt ihm die Scheu,
Die den Männern großen Schaden bringt wie auch Nutzen.
Achill selbst weist Hektors Bitte, seinen Leichnam den Trojanern zu übergeben, zurück (22.345–7):
Nicht bei den Knien, Hund! bitte mich kniefällig, noch bei den Eltern!
Könnte doch Ungestüm und Mut mich selber treiben,
Roh heruntergeschnitten dein Fleisch zu essen, für das, was du mir
getan hast!
Auch Vasenmaler nutzen das Thema des Essens, um Achills Grenzüberschreitung mit den Mitteln des Bilds auszudrücken. Auf einer Reihe schwarz- und rotfiguriger Vasenbilder sehen wir Achill auf einer Liege, unter ihm der tote Hektor, daneben ein Tisch mit großen Fleischstücken, während Priamos herantritt, um von Achill den Leichnam seines Sohns zu erbitten. Ein schönes Exemplar findet sich im Wiener Kunsthistorischen Museum: Auf dem Skyphos des Brygos-Malers reichen die Fleischstücke so weit herab, dass sie über den Leichnam mit seinen klaffenden Wunden hängen (Abb. 1). Achill hält in der Rechten ein Messer, in der Linken ein Stück Fleisch. Er ist hier von «hinreißende[r] Schönheit», ja, der «Inbegriff jugendlicher, strahlender Schönheit» (Giuliani 2003: 156), doch das unmittelbare Nebeneinander von Menschen- und Tierfleisch im einsamen Gelage drückt ikonographisch die Perversion aus, mit der sich Achill im Epos wünscht, Hektors Fleisch roh zu essen.
Achill ist der Sohn einer Göttin, wie Hera betont, wenn sie seine und Hektors Ansprüche gegeneinander abwiegt (24.58–61):
Hektor war sterblich und hat an der Brust eines Weibes gesogen;
Aber Achilleus ist einer Göttin Sohn, welche ich selber