Fünfte Auflage, 2022
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Fünfte Auflage, 2022
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1Einleitung
1.1Wozu Konflikttheorien nützen
1.2Warum Systemtheorie des Konflikts?
2Definitionen
2.1Konflikt
2.2Beobachten
2.3Entscheidung
2.4Aktive und passive Negation – Starke und schwache Konflikte
2.5Psychische Systeme und soziale Systeme als autopoietische Systeme
3Konfliktfelder
3.1Konstruktionen („Landkarten“, 2. Unterscheidung, Indication)
3.1.1Beschreiben
3.1.2Erklären
3.1.3Bewerten
3.2Wirklichkeiten („Landschaften“, 1. Unterscheidung, Distinction)
3.2.1Sachdimension
3.2.2Sozialdimension
3.2.3Zeitdimension
3.3Konfliktmatrix
4Psychische Konflikte
4.1Psychologische Modelle
4.2Fühlen und Denken
4.3Ambivalenzen
4.4Themen
4.5Die Selbstorganisation psychischer Konflikte
5Soziale Konflikte
5.1Kurzzeit-Konflikte
5.2Kollusion
5.3Strukturelle Konflikte
5.4Der Beginn von Konflikten – Die Störung der expressiven Ordnung
5.5Eskalation
5.6Paradoxe Konflikte
6Die Funktion von Konflikten
6.1Parasiten
6.2Veränderung des Beziehungsmusters
6.3Triangulation
7Lösungsmuster und Interventionsstrategien
7.1Differenzieren und Sortieren
7.1.1Beschreibung
7.1.2Zeithorizont
7.1.3Bewertung
7.1.4Erklärung
7.2Ausstiegsmöglichkeiten
7.3Einführung/Einmischung einer höheren Macht
7.4Der neutrale Dritte – Berater, Vermittler, Mediator, Schlichter, Konfliktmanager, Therapeut
7.4.1Setting
7.4.2Negative Zieldefinition
8Zehn praktische Tipps für die Lösung von Konflikten
Literatur
Über den Autor
Konflikte gehören zu den Phänomenen, die wahrscheinlich schon zu grauen Vorzeiten die Menschheit in Spannung versetzten. Zumindest erzählen die Mythen aller Kulturen von Konflikten, die bewältigt werden mussten. Und auch heute handeln die Geschichten, die unser Interesse finden, von Konflikten – psychischen Konflikten oder sozialen Konflikten. Sie werden in den großen Werken der Weltliteratur beschrieben wie in der Regenbogenpresse, auf den Seiten überregionaler Tageszeitungen und lokaler Käseblätter. Konflikte erlebt jeder fast jeden Tag, mal größere, mal kleinere – sei es in einer Paarbeziehung, der Familie, einer Organisation oder im öffentlichen Leben. Es gibt keine Bereiche gesellschaftlichen Lebens, in denen keine Konflikte zu beobachten sind. Und Individuen, die nie persönliche Konflikte durchleben, sind relativ selten. Über sie gibt es keine interessanten Geschichten zu erzählen (außer vielleicht psychiatrische Krankengeschichten).
Von Konflikten zu erzählen, ist etwas anderes, als Theorien über sie zu entwickeln. Ein wesentlicher Unterschied besteht in der Beobachterperspektive. Theorien erklären die Geschehnisse aus der Sicht des außenstehenden Zuschauers. Geschichten hingegen eröffnen den Zugang zur Innenperspektive, dem Erleben der beteiligten Akteure.
Fragt man, wozu Konflikttheorien gut sein könnten, so lautet die Antwort: Sie ermöglichen es denen, die in Konflikte verwickelt sind, den Verlauf von Geschichte(n) zu verändern. Denn es sind – wenn man von impulsiven, unreflektierten Aktionen in der Hektik des Geschehens einmal absieht – unsere impliziten und expliziten Theorien, die bestimmen, wie wir uns in Konfliktsituationen verhalten. Ändern wir unsere Theorien, so ändert sich auch unser Verhalten. Je nachdem, an welchen Vorannahmen und Hypothesen wir uns orientieren, kommen wir zu unterschiedlichen Ideen darüber, wie Konflikte gelöst werden könnten. Theorien haben daher pragmatische Bedeutung, und man kann gar nicht sorgfältig genug bei ihrer Wahl sein. Denn sie können aufgrund ihrer Handlungskonsequenzen (buchstäblich) lebensgefährlich sein.
Ziel des vorliegenden Einführungstextes ist, eine Systemtheorie des Konflikts zu skizzieren. Das heißt, es werden Unterschiede zu anderen Konflikttheorien in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, die aus den spezifischen Eigenarten systemtheoretischer Modelle resultieren (wer einen nahezu enzyklopädischen Überblick über den Stand der Konfliktforschung und des Konfliktmanagements sucht, sei verwiesen auf Glasl 2010). Sie sollen demjenigen, der innere Konflikte durchlebt oder in Konflikte mit anderen verwickelt ist, eine Außenperspektive auf das Geschehen eröffnen und ihm die Logik von Konfliktdynamiken durchschaubar machen; dies nicht um der bloßen Erkenntnis „an sich“ willen, sondern um alternative Verhaltens- und Interaktionsstrategien sowie Prinzipien der Konfliktlösung ins Blickfeld zu rücken, die nicht immer dem Alltagsverständnis entsprechen (das ja oft genug zu destruktiven Konfliktverläufen führt).
Konfliktlösungen erfordern von den direkt Beteiligten manchmal antiintuitives Verhalten, d. h. ein bewusstes Entscheiden, das ihren spontanen, emotionalen Handlungsimpulsen zuwiderläuft. Und manchmal bedürfen sie der Intervention eines Dritten, der nicht direkt in den Konflikt involviert ist. Das kann ein neutraler Berater, Konfliktmanager, Therapeut, Organisationsberater, Mediator oder Schlichter sein, es kann aber auch eine übergeordnete Autorität sein, eine „höhere Macht“, die sich um ihrer eigenen Ziele willen in den Konflikt einmischt. Auch denen, die solche Funktionen ausüben, soll ein Interpretationsraster zur Verfügung gestellt werden, aus dem sich Lösungs- und Interventionsstrategien ableiten lassen – so ist zumindest die Hoffnung …
Systemtheorien – es gibt verschiedene Versionen – sind sehr abstrakt. Das hat den Vorteil, dass sie auf sehr unterschiedliche Phänomenbereiche angewandt werden können. Allerdings führt dieser hohe Abstraktionsgrad dazu, dass ihre praktische Nützlichkeit davon abhängt, ob die Füllung der abstrakten Formen mit konkreten Inhalten gelingt. Nur dann können alltäglich beobachtbare und erlebbare Prozesse auf eine neue, manchmal überraschende Weise zueinander in Beziehung gesetzt und bislang undurchschaubare Wechselbeziehungen rekonstruiert werden.
Wie der Begriff System nahelegt (griech. „Zusammengestelltes“), beschäftigen sich Systemtheorien mit zusammengesetzten Einheiten, d. h. im Einzelnen: (1) den Elementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, (2) internen Wechselbeziehungen und Strukturen sowie (3) den Umwelten, gegen die sie sich als Einheiten (Systeme) abgrenzen (lassen), und (4) den Wechselbeziehungen und Strukturen von Systemen und ihren Umwelten.
Die hier verwendete Variante der Systemtheorie wird im Allgemeinen „systemisch-konstruktivistisch“ genannt, weil sie einen Schritt weiter geht und – erkenntnistheoretisch wichtig – den Beobachter mit in ihre Konzepte einbezieht. Untersucht wird immer das Meta-System (= zusammengesetzte Einheit), das aus Beobachter und beobachtetem System gebildet wird. All die gerade angeschnittenen Fragen nach der Wechselbeziehung der Elemente eines Systems etc. richten sich daher auch auf die Beziehung zwischen Beobachter und beobachtetem System bzw. auf den Prozess des Beobachtens.
Im Bereich der Humanwissenschaften erscheint diese Einbeziehung des Beobachters nahezu selbstverständlich. Denn hier haben wir es ja immer mit der doppelten Identität des Menschen zu tun: als beobachtetes System, z. B. in Biologie, Medizin, Psychologie oder Soziologie, und als beobachtendes System, das andere Menschen – sei es im Alltag, sei es in der Wissenschaft – beobachtet. Deswegen ist die Selbstbezüglichkeit der so gewonnenen Erkenntnisse nicht nur nicht zu vermeiden, sondern sie ist Zweck der Anstrengung. Man forscht, um neue Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen – nicht nur im Umgang mit Individuen, sondern auch für die Intervention in soziale Systeme –, das heißt, um im Idealfall nachher etwas anders machen zu können als vorher.
Die Nützlichkeit systemischen Denkens für die Konflikttheorie resultiert daher, dass es auf alle psychischen wie sozialen Phänomene anwendbar ist. Auf die Psychologie, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Erziehung, die Religion, den Sport etc. wie auch den Alltag des „Mannes auf der Straße“ – kurz gesagt: auf alle Bereiche, in denen Konflikte zu beobachten sind.
Auch wenn die im Folgenden verwendeten systemtheoretischen Modelle einen relativ hohen Abstraktionsgrad aufweisen, kann der Leser beruhigt sein: Alle begrifflichen Besonderheiten werden, wo nötig, im Laufe des Textes geklärt, sodass keine theoretischen Vorkenntnisse nötig sind (sie stören aber auch nicht …). (Wer hier etwas tiefer einsteigen will, sei verwiesen auf Simon 2006.)
Dass im Titel von einer Theorie des Konflikts die Rede ist, mag verwundern, denn jeder Konflikt erscheint ja denen, die in ihn verwickelt sind, einzigartig. Doch wenn man eine konstruktivistisch-systemtheoretische Perspektive anlegt, dann wird deutlich, dass alle Konflikte – so unterschiedlich sie sich im Einzelfall auch darstellen mögen – einem sie charakterisierenden und verbindenden Muster folgen. Es ist eine Prozesslogik, die unabhängig von den konkreten Akteuren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, ja, fast zwangsläufig, die Dynamik von Konflikten bestimmt – seien sie psychisch oder sozial. Doch diese Logik wirkt nur fast zwangsläufig, das heißt, wenn die beteiligten Akteure sich ihrer bewusst sind, dann können sie die vermeintliche Automatik dieser Muster unterbrechen und sich in einer Weise verhalten, die zur Beendigung – oder auch zur Verschärfung – des Konfliktes führt.
Dass Konflikte nicht nur nicht zu vermeiden sind, sondern gelegentlich vom Zaune gebrochen oder verstärkt werden sollten, muss hier zu Beginn ausdrücklich betont werden. Denn in der Regel wird immer nur thematisiert, wie sich Konflikte vermeiden, lösen oder schlichten lassen. Konflikte genießen einen ausgesprochen schlechten Ruf. Doch das haben sie nur zum (wenn auch ziemlich großen) Teil verdient. Denn dass es ohne Konflikte keine Veränderung und keine Entwicklung gibt – sei es psychisch, sei es gesellschaftlich –, darf als gesichert angesehen werden. Ob irgendwelche konkreten Konflikte positiv oder negativ zu bewerten sind, entscheidet der Beobachter. Dass es über diese Bewertung ebenfalls zum Konflikt kommen kann, sollte auch klar sein …
Der Gebrauch bestimmt die Bedeutung eines Begriffes. Im Lateinischen steht confligo transitiv für „ich schlage zusammen“, „vereinige“ bzw. vergleichend „halte zusammen“ oder intransitiv für „zusammenstoßen“, „aneinandergeraten“, „kämpfen“. Wenn wir auf den alltäglichen Gebrauch des Begriffs Konflikt schauen, so wird deutlich, dass er fast ausschließlich für soziale und psychische Prozesse benutzt wird. Wenn materielle Objekte zusammenstoßen (z. B. Autos), dann nennt man das nicht Konflikt, sondern Unfall. Es geht nicht um ein primär materielles Geschehen, sondern ein ideelles, genauer gesagt: um Prozesse, in denen mit Sinn operiert wird. Im Bereich psychischer Systeme haben wir es mit Gedanken und Gefühlen und schließlich deren Konsequenzen auf der Handlungsebene zu tun, im Bereich sozialer Systeme mit der Kommunikation von Gedanken und Gefühlen und deren Konsequenzen in der Interaktion bzw. bei der Fortsetzung der Kommunikation.
Als Konflikt soll ein Kommunikationsprozess (= sozialer Prozess) oder Denk- und Fühlprozess (= psychischer Prozess) definiert werden, bei dem eine Position (z. B. ein Wunsch, eine Handlungsanweisung, -option oder -wirkung, eine Sichtweise, eine Bewertung etc.) verneint wird und diese Negation ihrerseits verneint wird. Auf diese Weise kommt es zu einer mal länger, mal kürzer dauernden Oszillation zwischen den Positionen, die sich gegenseitig negieren, ohne dass es zu einer Entscheidung käme. Dieser Typus von Sinnsystem, der durch einen Prozess fortgesetzter Negation der Negation gekennzeichnet ist, soll „Konflikt“ genannt werden. Sein Resultat ist ein Zustand der Unentschiedenheit. Er währt, solange der Konflikt dauert. Und er kommt zum Schluss (im doppelten Sinn) durch eine Entscheidung. Allerdings muss nicht jeder Konflikt mit einer bewussten Entscheidung sein Ende finden, sondern er kann auch erlöschen, weil keiner mehr Freude an ihm findet, er irrelevant oder einfach vergessen wird.
Zum eigenständigen System wird der Konflikt dadurch, dass er von anderen Prozessen im selben Phänomenbereich unterschieden und gegen sie abgegrenzt werden kann. Das gilt sowohl für psychische Konflikte wie für soziale. Wenn ein Individuum z. B. nicht an ein konfliktbesetztes Thema denkt und es nicht in sein Bewusstsein tritt, so erlebt es aktuell auch keinen Konflikt. Dasselbe gilt für die Kommunikation: Solange ein strittiger Punkt nicht in die Kommunikation gebracht wird, findet aktuell kein Konflikt (= keine Konfliktkommunikation) statt.
Um dies zu illustrieren, ein banales Alltagsbeispiel: Nehmen wir ein Paar, das überlegt, wie es den gemeinsamen Abend verbringen soll. Er sagt: „Lass uns ins Kino gehen!“, und sie sagt: „Nein.“ Wenn er sich damit zufriedengibt und die Ablehnung seines Vorschlags akzeptiert, kommt es zu keinem Konflikt. Tut er das aber nicht, sondern besteht darauf, dass sie beide miteinander ins Kino gehen, dann entsteht ein Konflikt. Sie hat seinen Vorschlag abgelehnt (negiert), und er negiert nun ihre Negation: „Doch, wir gehen ins Kino. Ich bestehe darauf!“
Beim Kino-Gehen mag der Streit ein paar Minuten dauern und dann beendet sein, denn er kann sie nicht wirklich ins Kino zwingen (an den Haaren hinzerren). Wenn sie nicht will, ist die Entscheidung klar, der Konflikt endet, auch wenn er „Rabattmarken sammeln“ und bei Gelegenheit auf den Vorfall zurückkommen mag.
Ganz anders sieht es aus, wenn er sie nicht auffordert, mit ihm ins Kino, sondern mit ihm ins Bett zu gehen. Denn hier kann die Entscheidung möglicherweise tatsächlich durch Gewalt herbeigeführt werden: Vergewaltigung. Der Konflikt ist durch diese Entscheidung mit ziemlicher Sicherheit nicht beendet, sondern er ändert seinen Charakter: Es geht nunmehr um die Frage, welche Art der Beziehung die beiden miteinander haben und welche Verhaltensweisen von wem zu erwarten sind.
Geht die Auseinandersetzung darum, wer in Bezug auf ein Thema („Welches ist die fortschrittlichere Partei, deine oder meine?“) recht hat, so kann der Konflikt auch dadurch ein Ende finden, dass beide das Thema vermeiden, um des lieben Friedens willen. Im Hintergrund mag der Konflikt im Bewusstsein beider dann weiterlaufen, aber auf der Ebene der beobachtbaren Kommunikation findet er nicht statt. Nach einiger Zeit hat das Thema seine Relevanz eingebüßt, oder es wird bewusst vermieden, sodass es nie wieder zum offenen Konflikt darüber kommt. Tabuisierung ist dann ein Lerneffekt des sozialen Systems Zweierbeziehung.
Analoges kann für psychische Konflikte gesagt werden: Ein Mensch steht vor der Frage, ob er den einen oder anderen Partner wählen soll. Der/die eine ist reich und schön, aber untreu, der/die andere ist arm, intelligent und treu (eine durchaus willkürliche Eigenschaftskombination, die jederzeit durch Alternativen ersetzt werden kann): Mit welchem der beiden potenziellen Partner soll er sein weiteres Leben verbringen? Immer, wenn er oder sie sich die Zukunft mit dem/der einen vorstellt, wird deutlich, wie groß der Verlust wäre, der mit dieser Wahl verbunden ist. Und da das bei der Wahl des/der einen wie des/der anderen der Fall ist, bleibt die Frage ambivalent, d. h. unentscheidbar. Ein psychischer Konflikt.
Konstituierend für die Emergenz eines Konflikts ist in beiden Fällen, dem psychischen wie dem sozialen Konflikt, die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das konfliktträchtige Thema. Beim psychischen Konflikt muss das Bewusstsein darauf gerichtet sein, damit die „zwei Seelen“ in der Brust des Betreffenden in Widerstreit miteinander geraten können und er sich hin und her gerissen fühlt. Und beim sozialen Konflikt muss der Fokus der Aufmerksamkeit in der Kommunikation darauf gerichtet sein, damit die widerstreitenden Positionen vertreten werden können, zwischen denen die Kommunikation dann mal hin-, mal hergerissen wird.
Bezogen auf soziale Systeme, entspricht die hier skizzierte Definition von Konflikt weitgehend der von Niklas Luhmann gegebenen Definition. Er bewertet Konflikte negativ und sieht in ihnen Störungen der Kommunikation:
„Es ist ebenfalls ganz normal, dass es […] zu Äußerungen kommt, die vorausgesetzten oder (und das wird schon heikler) geäußerten Erwartungen widersprechen. Zur Störung der Kommunikation wachsen sich solche Bagatellvorfälle aus, wenn auf ein Nein mit einem Gegennein geantwortet wird; denn das bringt die Versuchung mit sich, beim Nein zu bleiben und das Nein auf beiden Seiten durch weitere Kommunikation zu verstärken. In einem solchen Falle wollen wir von Konflikt sprechen (Ein anderes passendes Wort wäre ‚Streit‘)“ (Luhmann 1993, S. 565).
Die Kommunikation wird zwar durch die Beantwortung des Neins durch ein Nein auf eine spezifische Weise verändert, aber sie wird fortgeführt. Was durch den Konflikt verhindert oder verzögert wird, ist eine Entscheidung. Das kann als gut oder schlecht angesehen werden, denn so kommt es, beispielsweise, nicht zu vorschnellen Entscheidungen. Sie können allerdings wegen des Konfliktes auch zu spät erfolgen. Aufgrund der Auseinandersetzung können aber auch vollkommen neue Entscheidungen getroffen werden, die inhaltlich anders gestaltet sind, als wenn nicht das Hin und Her der Argumente erfolgt wäre. Aber dies sind immer Bewertungen, die von Beobachtern vollzogen werden.
Der Prozess des Beobachtens spielt eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Konflikten. Denn Streit – Synonym für Konflikt – gibt es immer nur über Beobachtungen. Ohne Beobachtung kein Konflikt, weder psychisch noch sozial.
Dies spricht dafür, die Wurzeln jedes Konflikts in den Prinzipien menschlichen Beobachtens zu suchen. Beginnen wir also mit der Frage, was unter „Beobachten“ zu verstehen ist.
In Anlehnung an die „Gesetze der Form“ von George Spencer-Brown (1969) soll unter Beobachten die Operation des „Unterscheidens und Bezeichnens“ („Distinction“/„Indication“) verstanden werden. Es handelt sich dabei um den kognitiven Akt (= Operation) eines Beobachters, der eine doppelte Unterscheidung vollzieht, wie er in Abb. 1 illustriert ist.
Der Welt der Phänomene – hier symbolisiert durch das bekannte Kippbild der jungen/alten Frau – ist der Beobachter bzw. die Operation des Beobachtens gegenübergestellt. Beim Beobachten wird, so soll die Grafik verstanden werden, immer eine Auswahl aus der Menge aller potenziell beobachtbaren Phänomene getroffen (selektive Wahrnehmung). Der Begriff Selektion wird hier verwendet, weil dies in der Regel kein bewusster Auswahlprozess ist und die Kriterien dafür auch nicht einheitlich oder vorbestimmt sind. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit spielt eine zentrale Rolle dabei, denn was keine Aufmerksamkeit findet, bleibt unbeachtet. Auf diese Weise werden Phänomene unterschieden und implizit als zusammengehörig definiert. Dieses Abgrenzen von Merkmalen gegen den Rest der Welt (1. Unterscheidung) wird von einer 2. Unterscheidung begleitet, der Benennung der so konstruierten Einheit („Junge Frau“).
Abb. 1: Beobachten = Unterscheiden + Bezeichnen
Dieses Grundprinzip jeder Wirklichkeitskonstruktion ist einfach: Wann immer ein Beobachter unterscheidet, schafft er Einheiten mit einer Innen- und einer Außenseite. Im dreidimensionalen Raum entsteht durch solch eine Grenzziehung ein Körper (ein Ding, ein Objekt), und in der Dimension Zeit entspricht dem irgendeine Zeiteinheit.
Jeder derartigen Beobachtung liegt die Einheit von Innenseite und Außenseite der Unterscheidung zugrunde. Der einen Seite wird dabei ein definierendes Merkmal der Unterscheidung (oder eine Menge/ Kombination solcher Merkmale) zugeschrieben und der anderen nicht. Das heißt, die Außenseite bildet implizit oder explizit die Negation der Innenseite in Bezug auf die jeweiligen Merkmale der Unterscheidung: die Wurzel aller Konflikte.
Die Tücke, die aus diesem doppelten Unterscheiden resultiert, liegt darin, dass wir manchmal über keine Namen, Zeichen oder Symbole verfügen, um die wahrgenommenen Phänomene zu bezeichnen, und manchmal Namen, Zeichen und Symbole verwenden, wo es eigentlich gar keine wahrnehmbaren Phänomene zu beobachten gibt (Imaginäres oder Virtuelles). So kann man zum Beispiel die Bezeichnung „der gegenwärtige König von Frankreich“ bilden, was aber nicht heißt, dass es tatsächlich noch oder schon wieder einen König von Frankreich gibt.