Der grössere Teil der Welt

Jennifer Egan

Der grössere Teil der Welt

Roman

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Zeltmann

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Jennifer Egan

Jennifer Egan wurde 1962 in Chicago geboren und wuchs in San Francisco auf. Sie lebt heute mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Brooklyn, New York. Neben ihren Romanen und Kurzgeschichten schreibt sie für den New Yorker sowie das New York Times Magazine und lehrt an der Columbia University Creative Writing. Für ihren Roman »Der größere Teil der Welt« erhielt sie 2011 den Pulitzer Prize, den National Book Critics Circle Award und den Los Angeles Times Book Prize. Zuletzt erschien ihr Roman »Manhattan Beach« (2017), der wochenlang auf der New York Times-Bestsellerliste stand.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

»Ich wollte ein Buch schreiben, bei dem man den Lauf der Zeit spürt.«

 

Damals in den 1970er Jahren traten sie zusammen auf, Scotty der Gitarrist, und Bennie, der Bassist der Punk-Band Flaming Dildos. Zwanzig Jahre später ist Bennie ein Musikproduzent mit Visionen, der vom Schreibtisch seines Büros einen atemberaubenden Blick über New York hat. Scotty aber schlägt sich mit Nebenjobs durchs Leben und die Zeit tot, indem er Fische aus dem stinkenden Hudson angelt. Die Vergangenheit holt beide ein, als Scotty plötzlich im Büro seines alten Freundes auftaucht und wissen will, was zwischen einst und jetzt passiert ist.

 

In einem schwindelerregenden Kaleidoskop aus Raum und Zeit, in Sprüngen und Wendungen, erzählt Jennifer Egan von Freundschaft, Liebe und Verrat. Von den 1970er Jahren in San Francisco über die 1990er in New York, von der Halbwelt Neapels über eine Safari nach Afrika, bis hinein in eine ungewisse Zukunft, die von den digitalen Medien und ökologischen Katastrophen beherrscht wird. Und am Ende steht ein verblüffendes Konzert am Ground Zero.

 

Das eigentliche Thema dieses »tollkühnen Buches« (Neue Zürcher Zeitung) ist das Vergehen der Zeit. Mit Wärme, Witz, Empathie und Melancholie erzählt Jennifer Egan von der Vergänglichkeit unserer Träume und entwirft ein Porträt vom Ende der Utopien und dem Auftauchen eines neuen Zeitalters, das ins digitale Nirwana führt.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »A Visit from the Goon Squad« bei Alfred A. Knopf, a division of Random House, Inc., New York

 

© 2010 by Jennifer Egan

Alle Rechte vorbehalten

 

© der deutschen Übersetzung: Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2012

 

Für diese Ausgabe:

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Barbara deWilde

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491605-7

Fußnoten

Meine Andeutung, verschränkte Teilchen könnten irgendetwas erklären, ist natürlich etwas spitzfindig, zumal die Wirkung von Quantenteilchen bis heute nicht zufriedenstellend erklärt worden ist. Verschränkte Teilchen sind subatomische »Zwillinge«: Photonen, die entstehen, wenn ein einzelnes Photon mit einem Kristall gespalten wird, und sie reagieren außerdem, selbst wenn sie kilometerweit voneinander entfernt sind, identisch auf Impulse, die nur einem von beiden gegeben werden.

Wie kann, fragt der verdutzte Physiker, ein Teilchen jedoch »wissen«, was dem anderen widerfährt? Zwar erkennen die Leute, die an Tischen in der Nähe von Kitty Jackson sitzen, sie unvermeidlich, aber wie können Leute jenseits des Blickfelds von Kitty Jackson, die unmöglich die Erfahrung gemacht haben können, Kitty Jackson zu sehen, sie im selben Augenblick erkennen?

Theoretische Erklärungen lauten:

1. Die Teilchen kommunzieren miteinander:

Unmöglich, denn das müssten sie dann schneller als mit Lichtgeschwindigkeit tun und damit gegen die Relativitätstheorie verstoßen. Mit anderen Worten, damit die Erkenntnis von Kittys Anwesenheit im selben Moment das ganze Restaurant erfüllt, müssten die Gäste an den nächststehenden Tischen die Tatsache ihrer Anwesenheit den weiter entfernt sitzenden Gästen, die sie nicht sehen können, durch Worte oder Gesten übermitteln – und das alles schneller als mit Lichtgeschwindigkeit. Und das ist unmöglich.

2. Die beiden Photonen reagieren auf Umgebungsfaktoren, die aus ihremfrüherenStatusalseinzelnesPhotonherrühren.DaswarEinsteinsErklärung für das Phänomen der verschränkten Teilchen, das er als »spukhafte Fernwirkung« bezeichnete. Nichts da. Wir haben ja schließlich schon festgestellt, dass sie nicht aufeinander reagieren, sondern alle reagieren im selben Moment auf Kitty Jackson, die nur ein winziger Teil von ihnen wirklich sehen kann.

3. Es ist offensichtlich eins dieser Rätsel der Quantenmechanik.
Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass wir anderen in Kitty Jacksons Gegenwart durch unsere pure Erkenntnis, dass wir selbst nicht Kitty Jackson sind, miteinander verschränkt sind, eine Erkenntnis, die uns so unmittelbar vereint, dass sie für einen Moment alle Unterschiede zwischen uns auswischt – ob wir manchmal bei Paraden ohne erklärlichen Grund weinen müssen oder ob wir niemals Französisch gelernt haben oder ob wir uns vor Insekten fürchten und uns alle Mühe geben, das vor Frauen zu verheimlichen, oder ob wir als Kind gern Bastelpapier gegessen haben – in Kitty Jacksons Gegenwart besitzen wir diese Eigenschaften nicht mehr, wir sind vielmehr von allen anderen Nicht-Kitty-Jacksons in unserer Nachbarschaft so unmöglich zu unterscheiden, dass, wenn nur einer von uns sie sieht, der Rest im selben Moment reagiert.

Manchmal gönnt dir das Leben die Zeit, die Muße, das dolce far niente, um alle die Fragen zu stellen, die im Sauseschritt des täglichen Leben meistens nicht auf den Prüfstand kommen: Wie gut kannst du dich an den Ablauf der Photosynthese erinnern? Hast du es je geschafft, mitten in einer Konversation das Wort »Ontologie« zu verwenden? In welchem Moment genau bist du in dem relativ normalen Leben, das du bisher geführt hast, vom Kurs abgekommen, bist haarscharf nach rechts oder links abgedriftet und damit auf den Weg geraten, der dich am Ende in dein derzeitiges

Domizil geführt hat – in meinem Fall, Rikers Island?

Nachdem ich einige Monate lang jede Faser und jede Nanosekunde meines Essens mit Kitty Jackson einem Grad der Analyse unterzogen hatte, neben dem Talmudgelehrte bei der Beurteilung des Sabbat übereilt wirken würden, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass meine eigene haarfeine und doch entscheidende Neuausrichtung genau in dem Moment passiert ist, als Kitty Jackson ihren Finger in die Schüssel mit dem separaten Salatdressing tunkte und ihn ableckte.

Im Folgenden finden Sie sorgfältig auseinanderdividiert und in eine chronologische Folge zurückversetzt eine Rekonstruktion des Strudels von Gedanken und Impulsen, der, wie ich jetzt glaube, im entscheidenden Moment durch mein Gehirn gewirbelt ist:

1. Gedanke (beim Anblick von Kitty, die ihren Finger eintunkt und ableckt): Kann es denn möglich sein, dass dieses umwerfende junge Mädchen auf mich abfährt?

2. Gedanke: Nein, das ist absolut unmöglich.

3. Gedanke: Aber warum ist es unmöglich?

4. Gedanke: Weil sie ein berühmter neunzehn Jahre alter Filmstar ist, und dubist »auf einmal dicker geworden – oder fällt es mir einfach nur stärker auf?« (wie Janet Green bei unserer letzten, fehlgeschlagenen sexuellen Begegnung meinte) und hast ein Hautproblem und machst im Leben einfach nichts her.

5. Gedanke: Aber sie hat soeben ihren Finger in eine Schüssel mitSalatdressing getunkt und ihn vor meinen Augen abgeleckt. Was soll es denn sonst bedeuten?

6. Gedanke: Es bedeutet, dass du so weit außerhalb des Feldes von Kittyssexuellen Absichten liegst, dass ihre inneren Alarmglocken, die normalerweise ein Verhalten unterdrücken würden, das möglicherweise als offen ermutigend oder möglicherweise erregend wirken könnte, wie den Finger in Salatdressing zu tunken und ihn vor den Augen eines Mannes abzulecken, in diesem Fall nicht angehen.

7. Gedanke: Warum nicht?

8. Gedanke: Weil du für Kitty Jackson nicht als »Mann« zählst, und deshalbist sie in deiner Gegenwart auch nicht befangener, als sie es in Anwesenheit eines Dackels wäre.

Für alle, die diese Anwandlungen zweifellos als weiteren Beweis dafür betrachtenwerden,dassichwirklich»einarmerIrrer«bin,ein»Kinderschänder« oder ein »geiler Pavian« (wie es in Auszügen aus Briefen, die ich während der Haft von Fremden erhalten habe, heißt), kann ich nur folgende Rechtfertigung anbieten: An einem Frühlingstag vor fast vier Jahren habe ich einmal beobachtet, wie ein Mädchen mit kurzen dicken Beinen und langem schmalen Rumpf in einem rosa Batik-T-Shirt mit einer Tüte von Duane Reade Hundekacke aufhob. Sie war eins von diesen muskulösen Mädchen, die zu Highschoolzeiten offenbar Schwimmerinnen oder Taucherinnen waren (obwohl ich später erfuhr, dass bei ihr keins von beidem der Fall war), und ihr Hund war ein räudiger, durchnässt aussehender kleiner Terrier von der Sorte, die man selbst nach neutralsten und objektivsten Maßstäben nicht liebenswert nennen kann. Aber sie liebte ihn. »Hier, Whiskers«, säuselte sie. »Na komm schon, mein Mädchen.« Während ich ihr mit meinen Blicken folgte, sah ich alles vor mir: die kleine, überhitzte Wohnung, in der überall Laufschuhe und Sportklamotten herumlagen, das Essen bei ihren Eltern alle zwei Wochen, den weichen dunklen Flaum auf ihrer Oberlippe, den sie jede Woche mit einer scharf riechenden weißen Creme bleichte. Und was ich dabei empfand, hatte nichts mit Begehren zu tun, sondern eher, dass ich von ihr umgeben war, dass ich in ihr Leben gestolpert war, ohne mich bewegt zu haben.

»Darf ich dir dabei helfen?«, fragte ich. Dabei trat ich ins Sonnenlicht, wo sie und Whiskers standen, und nahm ihr die Duane Reade-Tüte voller Hundekacke aus der Hand.

Janet grinste. Es sah aus, als winke jemand mit einer Flagge. »Spinnst du?«, fragte sie.

An den Chefredakteur:

Lassen Sie mich an den ernsthaften Geist Ihres kürzlich erschienenen Leitartikels (»Die Bedrohung unserer öffentlichen Räume«, vom 9. August) anknüpfen, und gestatten Sie mir gewissermaßen als Verkörperung der »geistig labilen oder auf andere Weise gefährlichen Personen«, die Sie als Folge meines »brutalen Überfalls« auf diesen »allzu vertrauensseligen jungen Star« so gern aus der Gesellschaft ausschließen möchten, einen Vorschlag, der doch zumindest Bürgermeister Giuliani gefallen muss: Warum nicht einfach Kontrollpunkte an den Eingängen zum Central Park einrichten und von allen, die hineinwollen, einen Ausweis verlangen?

Dann könnten Sie die persönlichen Daten dieser Personen aufrufen und abschätzen, wie gelungen oder misslungen ihr Leben ist. Ob jemand verheiratet ist oder nicht, Kinder hat oder nicht, beruflichen Erfolg oder nicht, ein ausgeglichenes Bankkonto oder nicht, Kontakt zu Jugendfreunden oder nicht, die Fähigkeit, nachts friedlich zu schlafen, oder nicht, ob er sich seine kühnen, hochfliegenden jugendlichen Träume erfüllt hat oder nicht, ob er Anfälle von Entsetzen und Verzweiflung abwehren kann oder nicht – und diese Daten können Sie dann verwenden, um zu beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass der Betreffende »seine persönlichen Misserfolge zu eifersüchtigen Explosionen ausarten lässt, die sich gegen diejenigen richten, die mehr im Leben erreicht haben«.

Der Rest ist ganz simpel. Geben Sie einfach die Position jeder Person in Ihrer Rangliste in ein elektronisches Armband ein und befestigen Sie dieses an ihrem Handgelenk, wenn sie den Park betritt, dann verfolgen Sie die einkodierten Lichtpunkte auf einem Radarschirm, während genügend Angestellte bereitstehen, um einzugreifen, sollten die Bewegungen der weiter unten eingestuften, nicht berühmten Leute anfangen, »Sicherheit und Seelenfrieden, die Berühmtheiten ebenso verdienen wie alle anderen auch«, zu gefährden.

Ich bitte nur um eins: Dass Sie im Einklang mit unserer geheiligten kulturellen Tradition berühmt und berüchtigt gleichsetzen, so dass mir dann, wenn mein Ruf endgültig ruiniert ist – wenn die Reporterin von Vanity Fair, die ich vor zwei Tagen hier im Gefängnis empfangen habe (nachdem sie zuerst meinen Chiropraktiker und meinen Hausmeister befragt hat), ihr Schlechtestes getan hat wie all die »Nachrichten«-Magazine im Fernsehen auch, wenn mein Prozess und meine Haftstrafe beendet sind und ich endlich in die Welt zurückkehren darf, um unter einem öffentlichen Baum zu stehen und seine knorrige Rinde zu berühren –, so dass mir dann, wie Kitty, ein wenig Schutz zukommen möge.

Wer weiß? Vielleicht sehe ich sie ja eines Tages für einen Moment, während wir beide im Central Park spazieren gehen. Ich glaube nicht, dass wir miteinander reden werden. Ich würde beim nächsten Mal lieber aus der Entfernung winken.

Hochachtungsvoll,

Jules Jones

Für Peter M. in Dankbarkeit

»Die Dichter behaupten, wir finden für einen Augenblick wieder, was wir einst gewesen sind, wenn wir in ein bestimmtes Haus oder einen Garten eintreten, wo wir in jungen Tagen gelebt haben. Aber das sind sehr gewagte Pilgerfahrten, sie bringen ebensoviel Enttäuschungen wie glücklichen Erfolg mit sich. Die dauernden Stätten, Zeitgenossen verschiedener Jahre, finden wir besser in uns selbst.«

 

»Das Unbekannte im Leben anderer Menschen ist wie das in der Natur, dessen Grenzen durch jede wissenschaftliche Entdeckung etwas ferner gerückt, jedoch nicht aufgehoben werden.«

 

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

A

1 Fundstücke

Es fing an wie üblich, auf der Damentoilette des LassimoHotels. Sasha tupfte gerade vor dem Spiegel ihren gelben Lidschatten nach, als sie neben dem Waschbecken auf dem Boden eine Tasche bemerkte, sicher die der Frau, deren Pinkeln sie durch die massive Tür der Kabine vage hören konnte. Oben in der Tasche steckte, gerade noch erkennbar, eine Brieftasche aus verblasstem grünen Leder. Im Rückblick war es für Sasha sonnenklar, dass das blinde Vertrauen der Frau sie provoziert haben musste: Wir leben in einer Stadt, wo die Leute dir die Haare vom Kopf stehlen, wenn du ihnen auch nur die geringste Gelegenheit gibst, und du lässt deinen Kram in aller Öffentlichkeit herumliegen und glaubst, dass er bei deiner Rückkehr noch auf dich wartet? Dieses Verhalten löste in ihr den Drang aus, der Frau eine Lehre zu erteilen. Aber dieser Wunsch war nur ein Vorwand, hinter dem sich das Gefühl verbarg, das Sasha dabei immer überkam: diese pralle, zarte Brieftasche, die sich ihrer Hand darbot – es wäre zu langweilig, zu alltäglich, sie einfach liegen zu lassen, statt den Moment beim Schopf zu packen, die Herausforderung anzunehmen, den Sprung zu machen, den Wurf zu wagen, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen, gefährlich zu leben (»Schon verstanden«, sagte Coz, ihr Therapeut) und sich das Scheißteil endlich zu schnappen.

»Sie meinen, sie zu stehlen.«

Er versuchte, Sasha zur Verwendung dieses Wortes zu bewegen, und im Fall einer Brieftasche war es in der Tat schwerer zu vermeiden als bei vielen der Gegenstände, die sie im vergangenen Jahr hatte mitgehen lassen, als ihr Zustand (wie Coz es nannte) zunehmend aus dem Ruder lief: fünf Schlüsselbunde, vierzehn Sonnenbrillen, einen gestreiften Kinderschal, ein Fernglas, einen Käsehobel, ein Taschenmesser, achtundzwanzig Stück Seife und fünfundachtzig Kugelschreiber, von Billigkulis, mit denen sie Kreditkartenbelege unterschrieb, bis hin zu dem violetten Visconti, der im Internet zweihundertsechzig Dollar kostete und den sie dem Anwalt ihres Exchefs während einer Vertragsverhandlung gemopst hatte. Sasha nahm nichts mehr aus Läden mit – die kalten, leblosen Gegenstände dort stellten keine Verlockung dar. Sie stahl nur von Menschen.

»Meinetwegen«, sagte sie. »Dann eben stehlen.«

Sasha und Coz hatten dieses Gefühl, das sie dabei hatte, die »persönliche Herausforderung« getauft: Die Brieftasche zu stehlen, bot für Sasha eine Möglichkeit, sich als starkes Individuum zu behaupten. Also mussten sie die Verhaltensmuster in ihrem Kopf umpolen, damit die Herausforderung nicht mehr darin bestünde, die Brieftasche zu stehlen, sondern darin, sie liegen zu lassen. Nur so könnte sie Heilung finden, auch wenn Coz niemals Wörter wie »Heilung« in den Mund nahm. Er trug immer lässige Pullover und ließ sich von ihr Coz nennen, aber er war ein undurchschaubarer Typ der alten Schule, und das ging so weit, dass Sasha nicht wusste, ob er schwul oder hetero war, ob er berühmte Bücher geschrieben hatte oder ob (wie sie manchmal vermutete) er einer von diesen ausgebrochenen Häftlingen war, die sich als Chirurg ausgeben und anschließend die Operationsinstrumente im Kopf ihrer Patienten vergessen. Natürlich hätte sie die Antworten auf diese Fragen in weniger als einer Minute googeln können, aber es waren nützliche Fragen (meinte Coz), und bisher hatte Sasha dieser Versuchung widerstanden.

Die Couch in seinem Sprechzimmer, auf der sie immer lag, war aus blauem Leder und sehr weich. Coz mochte diese Couch, wie er ihr einmal sagte, weil sie ihnen beiden belastenden Blickkontakt ersparte. »Sie mögen keinen Blickkontakt?«, hatte Sasha gefragt. Für einen Therapeuten war das ein seltsames Geständnis.

»Ich finde ihn ermüdend«, sagte er. »Und so können wir beide hinschauen, wohin wir wollen.«

»Wohin soll man schon groß schauen?«

Er lächelte. »Sie sehen ja, welche Möglichkeiten ich habe.«

»Und wohin schauen Sie normalerweise? Wenn jemand auf der Couch liegt.«

»Ich schau mich im Zimmer um«, sagte Coz. »An die Decke. Ins All.«

»Schlafen Sie manchmal dabei ein?«

»Nein.«

Sasha betrachtete meistens das Fenster zur Straße. Als sie an diesem Abend mit ihrer Geschichte fortfuhr, lief Regen daran herunter. Sie hatte die Brieftasche gesehen, zart und überreif wie ein Pfirsich. Sie hatte sie aus der Tasche der Frau gepflückt und in ihre eigene kleine Handtasche fallen lassen, und sie hatte den Reißverschluss ihrer Handtasche zugezogen, ehe die Pinkelgeräusche verstummt waren. Sie hatte die Toilettentür mit Schwung aufgestoßen und war durch das Hotelfoyer in die Bar zurückgeschwebt. Sie und die Besitzerin der Brieftasche hatten einander gar nicht zu Gesicht bekommen.

Vor der Brieftasche war Sasha in den Fängen eines harten Abends gewesen: beim langweiligen Date (schon wieder einem) mit einem Typen, der sich hinter einem dunklen Pony versteckte und nur manchmal einen Blick hinüber zum Flachbildschirm warf, wo ein Spiel der Jets ihn mehr zu interessieren schien als Sashas zugegebenermaßen schon viel zu oft erzählte Anekdoten über Bennie Salazar, ihren ehemaligen Boss, der berühmte Gründer der Plattenfirma Sow’s Ear, der außerdem (wie Sasha zufällig wusste) Goldflocken in seinen Kaffee streute – als Aphrodisiakum, wie sie annahm – und sich Insektenvertilger in die Achselhöhlen sprühte.

Nach der Brieftasche jedoch knisterte die Luft geradezu vor aufregenden Möglichkeiten. Sasha merkte, wie die Kellner sie musterten, als sie zum Tisch zurück schlenderte und dabei die Tasche mit ihrem geheimen Gewicht festhielt. Sie setzte sich und trank einen Schluck von ihrem Melon Madness Cocktail und sah Alex mit schräggelegtem Kopf an. Sie lächelte ihr Wie-wär’s-Lächeln.

»Hallo«, sagte sie.

Das Wie-wär’s-Lächeln hatte eine erstaunliche Wirkung.

»Du bist gut drauf«, sagte Alex.

»Ich bin immer gut drauf«, sagte Sasha. »Nur vergesse ich das manchmal.«

Alex hatte bezahlt, während sie auf der Toilette gewesen war – ein klarer Beweis dafür, dass er kurz davor gewesen war, ihr Date frühzeitig zu beenden. Jetzt betrachtete er sie auf einmal interessiert. »Möchtest du irgendwoanders hingehen?«

Sie standen auf. Alex trug eine schwarze Cordhose und ein weißes Oberhemd. Er arbeitete in einer Anwaltskanzlei. Per E-Mail war er fantasievoll gewesen, fast cool, aber bei der persönlichen Begegnung wirkte er nervös und gelangweilt. Sie konnte sehen, dass er durchtrainiert war, nicht weil er ins Fitnessstudio ging, sondern weil er so jung war, dass der während Highschool und College betriebene Sport sich noch immer an seinem Körper abzeichnete. Sasha, mit fünfunddreißig, hatte diesen Punkt hinter sich gelassen. Aber nicht einmal Coz kannte ihr wahres Alter. Nie wurde sie für älter als einunddreißig gehalten, und die meisten schätzten sie auf Mitte zwanzig. Sie machte jeden Tag Sport und mied die Sonne. Ihre Onlineprofile führten sie alle als achtundzwanzig.

Als sie Alex aus der Bar folgte, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihre Handtasche zu öffnen und für eine Sekunde die pralle grüne Brieftasche anzufassen, um zu spüren, wie sich dabei ihr Herz zusammenzog.

»Sie wissen genau, was für ein Gefühl der Diebstahl Ihnen gibt«, sagte Coz. »Es muntert Sie sogar auf, sich daran zu erinnern. Aber denken Sie je daran, wie es der bestohlenen Person dabei geht?«

Sasha legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Sie machte das ab und zu, einfach um Coz daran zu erinnern, dass sie keine Idiotin war – sie wusste, wie die richtige Antwort auf die Frage lautete. Sie und Coz schrieben zusammen an einer Geschichte, deren Ende bereits feststand: Es würde gut ausgehen. Sasha würde aufhören, andere zu bestehlen, und sich wieder um die Dinge kümmern, die früher einmal ihr Leben geprägt hatten: Musik, der Freundeskreis, den sie sich seit ihrer Ankunft in New York aufgebaut hatte, die Ziele, die sie auf ein großes Blatt Papier geschrieben und an die Wände ihrer ersten Wohnungen geklebt hatte:

Eine Band zum Managen finden.

Die Nachrichten verfolgen.

Japanisch lernen. Harfe üben.

»Ich denke dabei nicht an die Leute«, sagte Sasha.

»Aber es ist doch nicht so, dass Sie kein Mitgefühl hätten«, sagte Coz. »Das wissen wir seit dem Klempner.«

Sasha seufzte. Sie hatte Coz die Klempnergeschichte einen Monat zuvor erzählt, und er ließ bei kaum einer Sitzung die Gelegenheit aus, sie zur Sprache zu bringen. Der Klempner war ein alter Mann, und Sashas Vermieter hatte ihn geschickt, um einer feuchten Stelle in der Wohnung unter ihrer auf den Grund zu gehen. Er war in Sashas Türöffnung erschienen, mit grauen Haarbüscheln auf dem Kopf, und nach weniger als einer Minute – rums! – lag er auf dem Boden und kroch unter Sashas Badewanne, wie ein Tier, das sich den Weg in seinen vertrauten Bau sucht. Die Finger, mit denen er nach den Schrauben hinter der Wanne tastete, waren zu Zigarrenstumpen verrußt, und als er die Arme ausstreckte, schob sich sein Sweatshirt hoch und entblößte einen weichen weißen Rücken. Sasha wandte sich ab, bestürzt über die Erniedrigung des alten Mannes, sie wollte jetzt unbedingt zu ihrem Vertretungsjob aufbrechen, aber der Klempner redete mit ihr, wollte wissen, wie oft und wie lange sie duschte. »Gar nicht«, teilte sie ihm kurz angebunden mit. »Ich dusche im Fitnessstudio.« Er nickte, ohne auf ihre Grobheit zu reagieren, offenbar war er an Grobheit gewöhnt. Sashas Nase fing an zu kribbeln. Sie schloss die Augen und presste die Hände gegen die Schläfen.

Als sie sie wieder aufmachte, sah sie zu ihren Füßen den Werkzeuggürtel des Klempners liegen. Darin steckte ein wunderschöner Schraubenzieher, sein durchscheinender, orangefarbener Griff leuchtete in seiner abgenutzten Lederschlinge wie ein Lolli, der silberne Schaft eine funkelnde Skulptur. Sasha warf sich mit einem einzigen gähnenden Verlangen auf diesen Gegenstand, sie musste den Schraubenzieher einfach in die Hand nehmen, und sei es nur für eine Minute. Sie kniete sich hin und zog ihn lautlos aus dem Gürtel. Nicht das kleinste Klirren eines Armreifs, ihre knochigen Hände waren bei den meisten Tätigkeiten hoffnungslos ungeschickt, aber hierbei waren sie geschmeidig – wie dafür geschaffen, dachte sie oft in den ersten berauschenden Momenten, nachdem sie etwas gestohlen hatte. Und kaum lag der Schraubenzieher in ihrer Hand, verspürte sie sofort die Erlösung von dem Schmerz, den es bedeutete, dass ein alter Mann mit verletzlichem Rücken unter ihrer Badewanne herumschnaufte, und dann noch mehr als Erlösung: eine wunderbare Gleichgültigkeit, als sei allein die Vorstellung, so etwas könnte wehtun, schon absurd.

»Und was war, nachdem er gegangen war?«, hatte Coz gefragt, als Sasha ihm die Geschichte erzählte. »Wie sah der Schraubenzieher dann für Sie aus?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Normal«, sagte sie dann.

»Wirklich? Nicht mehr besonders?«

»Wie jeder andere Schraubenzieher auch.«

Sasha hörte, wie Coz sich hinter ihr anders hinsetzte, und sie spürte, dass im Zimmer etwas passierte: Der Schraubenzieher, den sie auf den Tisch gelegt hatte (der erst kürzlich um einen zweiten Tisch erweitert worden war), auf dem sie die gestohlenen Gegenstände ablegte und den sie seither so gut wie nie mehr angeschaut hatte, schien in Coz' Sprechzimmer in der Luft zu hängen. Er schwebte zwischen ihnen: ein Symbol.

»Und was war das für ein Gefühl?«, fragte Coz gelassen. »Den Klempner zu bestehlen, der Ihnen leidgetan hatte?« Was das für ein Gefühl war? Was das für ein Gefühl war? Natürlich gab es darauf eine richtige Antwort. Manchmal hätte Sasha am liebsten gelogen, schlicht, um sie Coz vorzuenthalten.

»Mirging’sschlecht«,sagte sie.»Okay?Eswareinschlechtes Gefühl. Verdammt, ich mach mich arm, um Sie zu bezahlen – klar hab ich kapiert, dass das kein tolles Leben ist.«

Coz hatte mehr als einmal versucht, den Klempner mit Sashas Vater in Verbindung zu bringen, der verschwand, als sie sechs war. Sie gab sich alle Mühe, sich auf solche Überlegungen nicht mehr einzulassen. »Ich kann mich nicht an ihn erinnern«, sagte sie zu Coz. »Ich habe nichts zu sagen.« Sie tat das, um Coz zu beschützen und sich selbst – sie schrieben an einer Geschichte über Erlösung, neue Anfänge und zweite Chancen. Von der anderen Richtung war nur Kummer zu erwarten.

 

Sasha und Alex durchquerten das Foyer des Lassimo-Hotels in Richtung Straße. Sasha klemmte sich ihre Handtasche unter den Arm, die warme Brieftasche schmiegte sich in ihre Achselhöhle. Als sie an den mit eckigen Knospen besetzten Zweigen neben den riesigen Glastüren vorbeikamen, lief ihnen eine Frau über den Weg. »Halt«, sagte sie. »Sie haben nicht zufällig gesehen – ich bin verzweifelt.«

Sasha zuckte entsetzt zusammen. Das war die Frau, deren Brieftasche sie genommen hatte – das wusste sie sofort, obwohl die Person hier vor ihr keinerlei Gemeinsamkeiten mit der munteren, schwarzhaarigen Brieftaschenbesitzerin aufwies, die sie sich vorgestellt hatte. Diese Frau hier hatte verletzliche braune Augen und flache spitze Schuhe, die zu laut über den Marmorboden klapperten. Ihr krauses braunes Haar war schon deutlich ergraut.

Sasha nahm Alex am Arm und versuchte ihn durch den Ausgang zu bugsieren. Sie spürte, wie sein Puls bei dieser Berührung vor Überraschung schneller schlug, aber er blieb stehen. »Was sollen wir gesehen haben?«, fragte er.

»Meine Brieftasche ist gestohlen worden. Mein Ausweis war darin, und ich muss morgen früh mein Flugzeug kriegen. Ich bin völlig verzweifelt!« Sie starrte die beiden flehend an. Es war die Art von offener Not, die New Yorker schnell zu verbergen lernen, und Sasha wich zurück. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass die Frau nicht aus der Stadt sein könnte.

»Haben Sie die Polizei verständigt?«, fragte Alex.

»Der Mann an der Rezeption will das übernehmen, aber dann dachte ich – könnte sie irgendwo rausgefallen sein?« Sie schaute hilflos den Marmorboden um ihre Füße an. Sasha entspannte sich ein wenig. Diese Frau war eine von denen, die anderen auf die Nerven ging, ohne es zu wollen; sogar jetzt, während sie Alex zur Rezeption folgte, baten ihre Bewegungen um Entschuldigung. Sasha trödelte hinterher.

»Hilft schon jemand dieser Dame?«, hörte sie Alex fragen. Der Hotelangestellte war jung und hatte eine Stachelfrisur.

»Wir haben bei der Polizei angerufen«, sagte er abwehrend.

Alex wandte sich an die Frau.

»Wo ist das passiert?«

»Auf der Damentoilette. Glaube ich.«

»Wer war sonst noch dort?«

»Niemand.«

»War sie leer?«

»Es kann jemand dort gewesen sein, aber ich habe sie nicht gesehen.«

Alex fuhr zu Sasha herum. »Du warst doch eben noch auf

der Toilette«, sagte er. »Hast du jemanden gesehen?«

»Nein«, brachte sie heraus. Sie hatte Tafil dabei, aber sie konnte ja die Handtasche nicht aufmachen. Obwohl der Reißverschluss zu war, hatte sie Angst, die Brieftasche könnte auf unkontrollierbare Weise zum Vorschein kommen und eine Sturzflut von Schrecken auslösen: Verhaftung, Schande, Armut, Tod.

Alex wandte sich dem Mann an der Rezeption zu. »Wieso stelle ich eigentlich diese Fragen und nicht Sie?«, fragte er. »In Ihrem Hotel ist soeben ein Gast ausgeraubt worden. Haben Sie denn keine, na ja, Sicherheitsmaßnahmen?«

Die Wörter »ausgeraubt« und »Sicherheitsmaßnahmen« durchdrangen die beruhigende Hintergrundmusik, die nicht nur im Lassimo, sondern in allen vergleichbaren Hotels in New York City dudelte. Durch die Lobby ging ein leises Raunen.

»Ich habe die Sicherheitsleute verständigt«, sagte der Empfangsmitarbeiter und reckte den Hals. »Ich rufe sie noch einmal an.«

Sasha schaute verstohlen zu Alex hinüber. Er war empört, und diese Empörung enthüllte sein Wesen in einer Weise, wie es in einer Stunde voll oberflächlichem Geplauder (um ehrlich zu sein, vor allem ihrem) nicht gelungen war: Er war neu in New York. Er kam aus einem kleineren Ort. Er musste hier klarstellen, wie man miteinander umgehen sollte.

Zwei Sicherheitsleute tauchten auf, im Fernsehen wie im wirklichen Leben muskulöse Kerle, deren ausgesuchte Höflichkeit mit ihrer Bereitschaft, Schädel einzuschlagen, zusammenzuhängen schien. Sie schwärmten aus, um die Bar zu durchsuchen. Sasha wünschte sich fieberhaft, sie hätte die Brieftasche dort gelassen, als wäre es ein Impuls gewesen, dem sie mit Mühe widerstanden hatte.

»Ich seh mal auf der Toilette nach«, sagte sie zu Alex und zwang sich, langsam an den Fahrstühlen vorbeizuwandern. Die Toilette war leer. Sasha öffnete ihre Handtasche, nahm die Brieftasche heraus, fand ihr Röhrchen mit Tafil und schob sich eins zwischen die Zähne. Die wirkten schneller, wenn man sie zerkaute. Während der ätzende Geschmack durch ihren Mund spülte, sah sie sich um und versuchte, zu entscheiden, wo sie die Brieftasche ablegen sollte: in einer der Kabinen? Unter dem Waschbecken? Die Entscheidung treffen zu müssen lähmte sie. Sie musste das Richtige tun, um ungeschoren davonzukommen, und wenn sie das schaffte, wenn sie davonkam – sie hatte das panische Gefühl, Coz etwas zu versprechen.

Die Tür zur Toilette ging auf, und die Frau kam herein. Ihre ängstlichen Augen begegneten Sashas im Spiegel über den Waschbecken: zusammengekniffen, grün, ebenso ängstlich. Einen Moment war es still, und Sasha war klar, dass sie zur Rede gestellt werden würde; die Frau wusste Bescheid, sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Sasha reichte ihr die Brieftasche. Sie sah der verdutzten Miene der Frau an, dass sie sich geirrt hatte.

»Es tut mir leid«, sagte Sasha eilig. »Ich habe eben dieses Problem.«

Die Frau öffnete die Brieftasche. Ihre physische Erleichterung darüber, sie wiederzuhaben, überkam Sasha wie eine warme Flut, als wären ihre Körper miteinander verschmolzen. »Alles ist noch drin, das schwöre ich«, sagte sie. »Ich habe sie nicht einmal aufgemacht. Ich habe einfach dieses Problem, aber ich bin in Behandlung. Ich wollte nur – bitte, sagen Sie es niemandem. Es hängt für mich alles davon ab.«

Die Frau sah sie mit ihren sanften braunen Augen an und ließ ihren Blick über Sashas Gesicht wandern. Was entdeckte sie darin wohl? Sasha wünschte, sie könnte sich umdrehen und wieder in den Spiegel blicken, als würde dort endlich etwas über sie zum Vorschein kommen – etwas, das ihr abhandengekommen war. Aber sie drehte sich nicht um. Sie hielt still und überließ sich den Blicken der Frau. Ihr ging auf, dass sie ungefähr in ihrem Alter war – ihrem wahren Alter. Vermutlich hatte sie zu Hause Kinder.

»Na gut«, sagte die Frau und schlug die Augen nieder.

»Das bleibt unter uns.«

»Danke«, sagte Sasha. »Danke, danke.« Erleichterung und die ersten sanften Tafil-Wellen machten sie schwindelig, und sie lehnte sich an die Wand. Sie spürte, dass die Frau dringend fortwollte. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden sinken lassen.

Jemand klopfte an die Tür, und eine Männerstimme fragte: »Irgendwas gefunden?«

 

Sasha und Alex verließen das Hotel und traten hinaus in das trostlose windige Tribeca. Sasha hatte das Lassimo aus alter Gewohnheit vorgeschlagen, es lag in der Nähe von Sow’s Ear Records, wo sie zwölf Jahre lang als Assistentin von Bennie Salazar gearbeitet hatte. Aber ohne das World Trade Center, dessen glühende Lichtstraßen sie immer optimistisch gestimmt hatten, hasste sie die Gegend bei Nacht. Sie hatte Alex satt. In nur zwanzig Minuten hatten sie den ersehnten Punkt des Bedeutsame-Übereinstimmungen-durch-geteilteErlebnisse-Feststellens überschritten und den weniger wünschenswerten Zustand des Einander-nur-zu-gut-Kennens erreicht. Alex hatte sich eine Strickmütze über die Stirn gezogen. Seine Wimpern waren lang und schwarz. »Das war seltsam«, sagte er endlich.

»Ja«, sagte Sasha. Dann, nach einer Pause: »Du meinst, dass wir sie gefunden haben?«

»Alles. Aber, ja.« Er drehte sich zu ihr um. »War die, na ja, irgendwie versteckt?«

»Sie lag auf dem Boden. In der Ecke. Hinter so einem Blumentopf.«

Diese Lüge ließ Schweißtropfen auf Sashas vom Tafil beruhigte Stirn treten. Sie hätte fast gesagt: Oder eigentlich war da gar kein Blumentopf, aber sie konnte gerade noch an sich halten.

»Es war fast so, als ob sie das absichtlich getan hätte«, sagte Alex. »Um Aufmerksamkeit zu bekommen oder so.«

»Dazu schien sie aber nicht der Typ zu sein.«

»Das kann man nie wissen. Das lerne ich gerade, hier im verdammten nyc, du hast ja keine Ahnung, wie die Leute wirklich sind. Sie haben nicht einfach zwei Gesichter, sie sind, naja, multiple Persönlichkeiten.«

»Sie war nicht aus New York«, sagte Sasha und ärgerte sich über seine Vergesslichkeit, obwohl ihr daran doch gerade gelegen war. »Weißt du nicht mehr? Sie muss ihr Flugzeug morgen kriegen.«

»Stimmt«, sagte Alex. Er blieb stehen und legte den Kopf schräg, musterte Sasha über den trübe beleuchteten Bürgersteig hinweg. »Aber du weißt doch, was ich meine? Das mit den Leuten?«

»Ich weiß schon«, sagte sie vorsichtig. »Aber ich glaube, du gewöhnst dich daran.«

»Ich würde jetzt wirklich lieber woandershin gehen.«

Sasha brauchte einen Moment, um zu verstehen. »Es gibt hier sonst nichts«, sagte sie.

Alex drehte sich zu ihr um, verwirrt. Dann grinste er. Sasha grinste zurück – nicht das Wie-wär’s-Lächeln, aber etwas Ähnliches.

»Das ist ja zu dumm«, sagte Alex.

Sie nahmen ein Taxi und stiegen die vier Treppen zu Sashas Wohnung in der Lower East Side hoch. Sie lebte seit sechs Jahren in diesem Haus ohne Fahrstuhl. Es roch nach Duftkerzen, und auf ihrem Schlafsofa gab es einen Überwurf aus Samt und jede Menge Kissen, und sie hatte einen alten Farbfernseher mit sehr gutem Bild und eine Auswahl von Andenken von ihren Reisen auf den Fensterbänken; eine weiße Muschel, zwei rote Würfel, eine kleine Büchse mit Tigerbalsam aus China, inzwischen zur Konsistenz von Gummi eingetrocknet, und einen winzigen Bonsai, den sie getreulich goss.

»Wow«, sagte Alex. »Du hast eine Badewanne in der Küche! Ich hab davon gehört – ich meine, ich habe darüber gelesen, aber ich war mir nicht sicher, ob es noch welche gibt. Die Duschvorrichtung ist neu, nicht? Das ist eine Wannenküchenwohnung, ja!?«

»Genau«, sagte Sasha. »Aber ich benutze sie fast nie. Ich dusche im Fitnessstudio.«

Die Wanne hatte einen Deckel, auf dem Sasha ihre Teller stapelte. Alex fuhr mit den Händen am Rand der Badewanne entlang und untersuchte die Löwenfüße. Sasha zündete die Kerzen an, nahm eine Flasche Grappa aus dem Küchenschrank und füllte zwei kleine Gläser.

»Ich finde es wunderschön hier«, sagte Alex. »Man spürt die Atmosphäre des alten New York. Man weiß, dass es das irgendwo gibt, aber wie findet man es?«

Sasha lehnte sich neben ihn an die Wanne und trank einen winzigen Schluck Grappa. Er schmeckte wie Tafil. Sie versuchte sich an Alex' Alter in seinem Profil zu erinnern. Achtundzwanzig, dachte sie, aber er kam ihr jünger vor, vielleicht sehr viel jünger. Sie sah ihre Wohnung so, wie er sie sicher sah – ein Stück Lokalkolorit, das im Wirbel der Abenteuer, den alle Neuankömmlinge in New York erleben, bald verschwinden würde. Es ärgerte Sasha, sich als einen Schimmer in dem Erinnerungsnebel zu sehen, in dem Alex in ein oder zwei Jahren stochern würde: Wo war noch die Wohnung mit der Badewanne? Wer war die Frau?

Er löste sich von der Wanne, um die restliche Wohnung zu erforschen. Auf der einen Seite der Küche lag Sashas Schlafzimmer. Auf der anderen, zur Straße hin, war ein Raum, der gemütliches Wohnzimmer und Büro in einem war, mit zwei Polstersesseln und dem Schreibtisch, den sie Projekten außerhalb ihres Jobs vorbehielt – pr-Arbeit für Bands, an die sie glaubte, kurze Rezensionen für Vibe und Spin –, obwohl die in den letzten Jahren sehr viel weniger geworden waren. Überhaupt hatte die ganze Wohnung, die vor sechs Jahren wie eine Zwischenstation auf dem Weg zu etwas Besserem gewirkt hatte, sich um Sasha herum verfestigt, hatte an Masse und Gewicht zugelegt, bis sie sich darin gefangen fühlte und es dennoch für ein Glück hielt, dass sie sie hatte – als ob sie nicht nur feststeckte, sondern auch gar nicht weiterziehen wollte.

Alex beugte sich vor, um sich die winzige Sammlung auf den Fensterbänken anzusehen. Er verharrte bei dem Bild von Rob, Sashas Freund, der zu ihrer Collegezeit ertrunken war, sagte aber nichts dazu. Er hatte die Tische nicht bemerkt, auf denen sie alles aufstapelte, was sie gestohlen hatte; die Kugelschreiber, das Fernglas, die Schlüssel, den Kinderschal, den sie einfach nicht zurückgegeben hatte, als er einem kleinen Mädchen heruntergefallen war, das an der Hand seiner Mutter gerade aus einem Starbucks ging. Sasha ging damals schon zu Coz, deshalb erkannte sie die Litanei der Vorwände, die ihr durch den Kopf jagten: Der Winter ist fast vorüber, Kinder wachsen so schnell, Kinder hassen Schals, es ist zu spät, sie sind schon auf der Straße; es wäre mir peinlich, ihn zurückzugeben, ich hätte ihn ganz leicht nicht herunterfallen sehen können, ich habe ihn ja nicht einmal herunterfallen sehen, ich bemerke ihn jetzt erst: Sieh an, ein Schal! Ein leuchtend gelber Kinderschal mit rosa Streifen – so ein Pech, wem der wohl gehört? Na, ich hebe ihn einfach auf und halte ihn nur kurz fest … Zu Hause hatte sie den Schal mit der Hand gewaschen und nach dem Trocknen sorgfältig zusammengefaltet. Er gehörte zu den Dingen, die sie am liebsten mochte.

»Was ist das alles?«, fragte Alex.

Er hatte die Tische jetzt entdeckt und starrte die Haufen an.

Es sah aus wie das Werk eines minimalistischen Bibers: ein Haufen Gegenstände, der unverständlich war, aber eindeutig nicht zufällig zusammengetragen. Für Sasha bebte der Tisch nahezu unter der Last von Peinlichkeiten, den Momenten des Beinahe-Erwischtwerdens, den kleinen Triumphen und den Momenten schieren Glücks. Er enthielt in komprimierter Form Jahre ihres Lebens. Der Schraubenzieher lag am Rand. Sasha trat dichter zu Alex, sein Anblick, wie er alles in sich aufnahm, zog sie an.

»Und was war das für ein Gefühl, als du mit Alex vor all dem standest, was du gestohlen hattest?«, fragte Coz.

Sasha wandte ihr Gesicht der blauen Couch zu, denn ihre Wangen wurden heiß, und das fand sie schrecklich. Sie wollte Coz nicht den Gefühlswirrwarr erklären, den sie empfunden hatte, als sie dort mit Alex stand: ihren Stolz auf diese Gegenstände, eine Zärtlichkeit, die durch die schändliche Art, wie sie zu ihnen gekommen war, noch gesteigert wurde. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt, und das war das Resultat: das deformierte, entblößte Innerste ihres Lebens. Zu sehen, wie Alex' Blick über die Haufen von Gegenständen wanderte, wühlte Sasha auf. Sie legte von hinten die Arme um ihn, und er drehte sich um, überrascht, aber bereitwillig. Sie küsste ihn auf den Mund, dann öffnete sie seinen Reißverschluss und streifte sich die Stiefel ab. Alex versuchte, sie ins andere Zimmer zu führen, wo sie sich auf das Schlafsofa legen könnten, aber Sasha fiel neben den Tischen auf die Knie und zog ihn mit nach unten, der Perserteppich kratzte an ihrem Rücken, das Licht der Straße fiel durch das Fenster auf sein hungriges, hoffnungsvolles Gesicht, seine nackten weißen Oberschenkel.

Danach blieben sie noch lange auf dem Teppich liegen. Die Kerzen fingen an zu flackern. Sasha sah den stacheligen Umriss des Bonsais, der sich dicht neben ihrem Kopf vor dem Fenster abzeichnete. All ihre Erregung war gewichen, und übrig geblieben war nur eine schreckliche Traurigkeit, eine brutale Leere, als sei sie bis ins Innerste ausgehöhlt worden. Sie kam mühsam auf die Beine und hoffte, Alex werde bald gehen. Er trug noch immer sein Oberhemd.

»Weißt du, was ich gern tun würde?«, fragte er und richtete sich auf. »In dieser Wanne ein Bad nehmen.«

»Kannst du«, sagte Sasha tonlos. »Sie funktioniert. Der Klempner war gerade erst da.«

Sie zog ihre Jeans über und ließ sich in einen Sessel fallen. Alex ging zur Badewanne, entfernte vorsichtig die Teller von dem hölzernen Deckel und nahm ihn ab. Wasser schoss aus dem Hahn. Die Wucht des Wassers hatte Sasha, bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sie den Hahn aufgedreht hatte, immer überrascht.

Alex' schwarze Hose lag zerknüllt zu Sashas Füßen. Seine viereckige Brieftasche hatte den Cord an der einen Gesäßtasche abgewetzt, als trage er diese Hose oft und immer mit der Brieftasche an derselben Stelle. Sasha schaute verstohlen zu ihm hinüber. Dampf stieg aus der Badewanne auf, während er prüfend eine Hand ins Wasser hielt. Dann wendete er sich wieder den vielen Gegenständen zu und beugte sich darüber, wie auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Sasha sah ihm zu und hoffte auf ein Flackern der Erregung von vorhin, aber die war verschwunden.

»Kann ich etwas davon nehmen?« Er hob eine Packung Badesalz hoch, die Sasha einige Jahre zuvor, als sie noch miteinander sprachen, ihrer besten Freundin Lizzie geklaut hatte. Das Salz steckte noch immer in seiner getüpfelten Verpackung. Es hatte weit unten in der Mitte des Haufens gelegen, der bei der Entnahme ein wenig in sich zusammensank. Wie hatte Alex es überhaupt entdecken können?

Sasha zögerte. Sie und Coz hatten lange darüber gesprochen, warum sie die gestohlenen Gegenstände getrennt von ihrem restlichen Leben aufbewahrte; weil es nach Gier oder Eigennutz ausgesehen hätte, sie zu benutzen, weil sie sich sagen konnte, sie werde sie eines Tages zurückgeben, wenn sie sie nicht anrührte, weil ihre Macht nicht versickern konnte, solange sie zu einem Haufen aufgetürmt waren.

»Glaub schon«, sagte sie. »Sicher darfst du.« Ihr war klar, dass sie jetzt Bewegung in die Geschichte brachte, die sie und Coz schrieben, dass sie einen symbolischen Schritt gemacht hatte. Aber einen Schritt auf das Happy End zu oder von ihm fort?

Sie spürte Alex' Hand an ihrem Hinterkopf, er streichelte ihr übers Haar. »Magst du es heiß?«, fragte er. »Oder lauwarm?«

»Heiß«, sagte sie. »Richtig, richtig heiß.«

»Ich auch.« Er ging zurück zur Wanne, machte sich an den Armaturen zu schaffen und schüttete ein wenig Salz hinein, und sofort füllte sich der Raum mit einem dampfigen pflanzlichen Geruch, der Sasha zutiefst vertraut war; der Geruch von Lizzies Badezimmer aus den Tagen, als Sasha dort geduscht hatte, nachdem sie und Lizzie im Central Park laufen gewesen waren.

»Wo hast du Handtücher?«

Sie lagen zusammengefaltet in einem Korb neben der Toilette. Alex holte sich eins, dann machte er die Klotür hinter sich zu. Sasha hörte, wie er anfing zu pinkeln. Sie kniete auf dem Boden nieder, zog die Brieftasche aus seiner Hose und öffnete sie, ihr Herz glühte unter einem plötzlichen Druck. Es war eine schlichte schwarze Brieftasche, das Leder an den Kanten zu Grau abgewetzt. In aller Eile sah sie den Inhalt durch: eine Kreditkarte, ein Ausweis von seiner Arbeitsstelle, ein Mitgliedsausweis fürs Fitnessstudio. In einem Seitenfach fand sie ein verblasstes Foto von zwei Jungen und einem Mädchen mit Zahnspange an einem Strand. Ein Sportsteam in gelben Trikots mit so kleinen Köpfen, dass sie nicht sehen konnte, ob einer davon Alex war. Aus dem Bündel dieser eselsohrigen Fotos fiel Sasha ein Stück von einer Karteikarte in den Schoß. Sie sah sehr alt aus, mit rissigen Kanten und einer fast völlig verblassten blauen Linierung. Sasha faltete sie auseinander und las die mit stumpfem Bleistift geschriebene Mitteilung ich glaube an dich. Sie erstarrte, als sie diese Wörter ansah. Sie schienen sich von dem elenden Papierfetzen auf sie zu stürzen und eine Welle des Fremdschämens für Alex mitzubringen, der diese sich auflösende Anerkennung in seiner sich auflösenden Brieftasche aufbewahrt hatte, dann überwältigte sie das Schuldgefühl, weil sie den Fetzen angesehen hatte. Sie nahm entfernt wahr, dass die Wasserhähne des Waschbeckens aufgedreht wurden und sie schnell handeln musste. Eilig, mechanisch, schob sie alles wieder in die Brieftasche und behielt das Stück Papier in der Hand. Ich werde es nur in der Hand halten – sie war sich im Klaren darüber, dass sie sich das nur einredete, als sie das Portemonnaie wieder in Alex' Hosentasche verstaute. Ich lege den Zettel später zurück, vermutlich erinnert er sich nicht einmal daran, dass es ihn gibt, ich tue ihm sogar einen Gefallen, wenn ich ihn aus dem Weg schaffe, ehe ihn jemand findet. Ich werde sagen, Hey, das lag hier auf dem Boden, gehört das dir? Und er wird sagen: Das da? Das hab ich noch nie gesehen – es muss dir gehören, Sasha. Und das stimmt vielleicht sogar. Vielleicht hat ihn mir vor Jahren irgendwer gegeben, und ich habe es vergessen.

»Und? Haben Sie ihn zurückgelegt?«, fragte Coz.

»Dazu gab es keine Gelegenheit. Er kam gerade vom Klo.«

»Und später? Nach dem Bad. Oder bei Ihrem nächsten Treffen.«

Es entstand eine Pause, in der Sasha deutlich spürte, wie Coz hinter ihr saß und wartete. Sie wollte ihm so gern einen Gefallen tun, wollte etwas sagen wie Das war ein Wendepunkt, mir kommt jetzt alles anders vor, oder Ich habe Lizzie angerufen, und wir haben uns endlich wieder versöhnt, oder Ich habe wieder angefangen, Harfe zu üben, oder einfach Ich ändere mich ich ändere mich ich habe mich geändert! Erlösung, Verwandlung – Gott, wie sehr sie sich danach sehnte. Jeden Tag, jede Minute. Ging das nicht allen so?

»Bitte«, sagte sie zu Coz. »Fragen Sie nicht, wie mir zumute ist.«

»Na gut«, sagte er gelassen.

Sie blieben schweigend sitzen, das längste Schweigen, das es je zwischen ihnen gegeben hatte. Sasha schaute die Fensterscheibe an, die immer wieder vom Regen überspült wurde und hinter der die Lichter in der anbrechenden Dämmerung zerliefen. Sie lag mit angespanntem Körper da und beanspruchte die Couch, ihr Fleckchen in diesem Raum, ihre Aussicht auf das Fenster und die Wände, das leise Summen, das immer da war, wenn sie lauschte, und diese Minuten von Coz' Zeit, eine, dann noch eine und immer wieder noch eine.

2 Die Goldkur

Die peinlichen Erinnerungen setzten bei Bennie an diesem Tag früh ein, gleich bei der Morgenbesprechung, als er sich anhören musste, wie eine seiner wichtigsten Mitarbeiterinnen dafür plädierte, Stop/Go fallen zu lassen, eine Band, mit der Bennie drei Jahre zuvor einen Vertrag über drei Alben gemacht hatte; die Schwestern waren jung und hinreißend, ihr Sound war rau, schlicht und eingängig (»Cyndi Lauper meets Chrissie Hynde« war Bennies ursprünglicher Slogan gewesen), mit einem lauten, dröhnenden Bass und witzigen Schlaginstrumenten – er erinnerte sich an eine Kuhglocke. Außerdem hatten sie brauchbare Lieder geschrieben; verdammt, sie hatten von der Bühne weg zwölftausend cds verkauft, ehe Bennie sie auch nur hatte spielen hören. Etwas Zeit, um erfolgversprechende Singles zu entwickeln, etwas cleveres Marketing und ein brauchbares Video hätten den Durchbruch bringen können.

Aber die Schwestern gingen auf die dreißig zu, wie Bennies Produzentin Collette ihm jetzt mitteilte, und waren als kürzlich erst von der Highschool abgegangene Mädels nicht mehr zu verwerten, zumal die eine eine neun Jahre alte Tochter hatte. Die Mitglieder der Band studierten jetzt Jura. Sie hatten zwei Produzenten gefeuert, ein dritter war ausgestiegen. Und noch immer kein Album.

»Wer managt sie?«, fragte Bennie.

»Ihr Vater. Ich hab die neuen Sachen in abgemischter Fassung«, sagte Collette. »Der Gesang ist unter sieben Tonspuren Gitarre begraben.«