Schwesternmacht

 

 

 

 

 

 

Schwesternmacht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright: © by Rabea Blue, RabeaBlue@gmx.de
Lektorat: Anna Peter
Schlusslektorat und Korrektorat: Christina Löw


Coverdesign: saje design, www.saje-design.de

Unter Verwendung von vectorstock.com, 123rf.com, shutterstock.com

 Im Goldsteiner Park

 

 


»Schon wieder alle Felder voll, jammerte Rosalie und spielte mit der Hand an einer roten Holzperle, die auf eine ihrer hellblonden Dreadlocks gefädelt war. »Wo soll ich jetzt meine neue Rosensorte anpflanzen?« Ihr schmales Gesicht wurde von dem Handyspiel auf ihrem Smartphone erhellt, das sie auf ihre angezogenen Knie gestützt hatte.

»Bau sie einfach an, wenn du wieder etwas frei hast«, schlug ihre Zwillingsschwester Bianca vor, ohne den Blick von ihrem eigenen Handy abzuwenden. Auch sie hatte hellblonde Haare, doch im Gegensatz zu Rosalie waren ihre glatt. Heute hatte sie sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und eine Spange mit einer weißen Rose hineingesteckt.

Missmutig verzog Rosalie das Gesicht. »Aber sie sind so schön. Ich will nicht warten. Es dauert ewig, bis ich ein Level aufsteige und ein neues Feld bekomme.«

Bianca winkte ab. »Ich brauche im Moment Dünger für meinen Schneeball-Strauch. Aber Münzen habe ich keine mehr. Da muss ich wohl die ganzen zehn Stunden warten, bis das Silo wieder voll ist.«

»Ich habe leider auch keine Coins.« Rosalie zuckte die Achseln. »Vorhin erst habe ich mir davon eine neue Anbaufläche gekauft, damit ich meinen Garten vergrößern kann. Mama wird sich freuen, wenn ich ihr noch einen größeren Strauß meiner roten Rosen schicken kann.«

»Hey – aber nicht, dass du mich übertrumpfst. Meine weißen Rosen mag sie fast noch lieber.«

Die beiden kicherten. Es war elf Uhr abends und im Goldsteiner Park konnte man nur noch dank der Straßenlaternen etwas sehen. Wegen der sommerlichen Temperaturen merkten die Zwillinge gar nicht, dass es schon auf Mitternacht zuging.

Rosalie hob den Kopf. »Das ist so eine Geldmacherei mit diesen Handyspielen.«

»Viel schlimmer ist, dass wir darauf hereinfallen und unser Real Life deswegen verpassen. Warum machen die aber auch immer so viel Spaß?«

»Ach, es sind doch Ferien. Mama würde uns schon den Kopf waschen, wenn wir unsere Pflichten vernachlässigen würden.«

Aus der Dunkelheit tauchte eine Gruppe grölender Jugendlicher auf. Einer von ihnen kickte eine leere Getränkedose vor sich her, ein anderer trat im Vorbeigehen gegen einen Mülleimer, sodass dieser aus seiner Verankerung sprang. Rosalie und Bianca zuckten nicht einmal mit der Wimper, als würden sie die Gruppe gar nicht bemerken. Umgekehrt nahmen auch die jungen Männer keine Notiz von den beiden Mädchen. Sie zogen vorbei und machten auf einer nahegelegenen Wiese Halt.

Bianca und Rosalie spielten weiter ihr Garten-Simulations-Spiel. Hin und wieder wechselten sie ein paar Worte, waren abgesehen davon aber komplett in der virtuellen Welt versunken. Als es ganz in der Nähe auf einmal raschelte, zuckten beide zusammen.

»Hast du das auch gehört?«, fragte Rosalie.

Bianca nickte. »Das kam aus dem Busch dort drüben, oder?« Sie schüttelte sich.

Als Nächstes erklang ein Knurren. Es war für beide ganz deutlich.

»Was um alles in der Welt ist das?«, zischte Bianca ihrer Schwester zu. »Klingt groß. Nicht nach einer Katze oder einem Marder.«

Rosalie erhob sich von der Bank. »Ich schaue mal nach.«

»Och nö«, murrte Bianca. »Mama hat gesagt, du sollst keine streunenden Tiere mehr mit nach Hause bringen.«

»Ach, ich will doch nur gucken.« Rosalie ließ ihr Smartphone in die Gesäßtasche gleiten und überquerte den Weg zu dem Busch. Als sie die Äste auseinanderschob, huschte ein dunkler Schatten davon.

»Da – es läuft weg«, rief sie und winkte ihre Schwester mit sich. »Definitiv ein Tier.« Sie wandte sich nach rechts und eilte hinterher.

Bianca sprang von der Bank auf und folgte ihr. »Gleich ist das Gebüsch zu Ende«, stellte sie fest. »Dann sehen wir, was es ist.«

Das schien das Tier ebenfalls zu bemerken, denn es wurde still im Geäst. Scheinbar hielt es inne und verharrte auf der Stelle. Ein paar Meter weiter saßen die Jugendlichen, die zuvor an den Zwillingen vorbeigelaufen waren. Etwas musste ihre Aufmerksamkeit erregt haben, denn die Mehrheit von ihnen wandte den Kopf in Richtung der Schwestern. Doch der Blick der jungen Männer verlief ins Leere. Schließlich widmeten sie sich wieder ihren Zigaretten und Bierflaschen.

»Ganz ruhig, liebes Tierchen«, säuselte Rosalie. »Wir wollen dir nichts tun.«

Die Schwestern teilten sich auf, umzingelten die Bepflanzung, sodass das Etwas im Inneren nirgendwohin entwischen konnte. Mit Handzeichen verständigten sie sich darauf, dass eine von ihnen in das Geäst hineingreifen sollte. Rosalie war die Mutigere und meldete sich freiwillig. Ruckartig schnellte ihr Arm hinab.

»Ah, hab ich dich!«, murmelte sie. Doch als sie ihre Beute heben wollte, ging das nicht.

»Meine Güte, was ist das? Es ist weich, aber extrem schwer. Und sehr groß.« Erschrocken ließ sie wieder los.

»Mist – wie soll ich aus dieser Zwickmühle wieder herauskommen?«, brummte es aus dem Busch. »Ich hatte es doch schon fast geschafft.«

Bianca riss die Augen auf. »Hat das Vieh etwa gerade gesprochen?«

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Von dem Tier war kein Mucks mehr zu hören. Nur das Lärmen der jungen Männer drang von Weitem zu den Schwestern. Im nächsten Moment hob sich ein dunkler Bärenkopf aus den Blättern. »Was? Ihr könnt mich verstehen?« Seine dunkelbraunen Augen sahen von der einen zur anderen.

Die Augen der Zwillinge weiteten sich vor Erstaunen. Doch schon nach einem kurzen Moment fasste sich Rosalie wieder.

»Allerdings«, bestätigte sie. »Auch wenn ich keine Ahnung habe, warum.«

Der Bär machte Anstalten, aus dem Gebüsch herauszukommen. Doch als sein Blick auf die Gang der Halbstarken fiel, kroch er wieder zurück.

»Wie kommt es, dass die dort hinten euch nichts antun? Ich kenne solche Typen aus dem Zoo … Uns Tiere haben sie nie so ignoriert wie euch.«

Rosalie warf einen Blick über ihre Schulter. »Ach die. Wir haben da unsere Methoden.« Verschwörerisch zwinkerte sie Bianca zu. Dann richtete sie wieder all ihre Aufmerksamkeit auf den flauschigen Ausreißer. »Möchtest du mit zu uns kommen? Du willst nicht wirklich hier draußen herumstromern, oder? Solange du in unserer Nähe bist, wird dir niemand etwas zuleide tun.«

»Aber wie –«, setzte das Tier an, unterbrach sich dann jedoch selbst: »Egal. Ich nehme das Angebot gerne an.«

»Dann komm raus da – in unserer Gegenwart wird dich niemand bemerken.« Rosalie stapfte voran.

Ganz langsam traute sich der Bär aus dem Geäst. Er war ausgewachsen, auf allen vieren ging er den Schwestern bis zur Hüfte. Auf den Hinterbeinen stehend würde er sie mit Sicherheit deutlich überragen. Sein braunes Fell glänzte im Schein der Straßenlaternen. Scheu sah er zwischen den beiden Schwestern hin und her. »Danke.«

»Keine Ursache«, sagte Bianca. »Hier entlang.«

So gingen sie gemeinsam durch die Nacht: Ein Bär und zwei junge Frauen. Wenn ihnen jemand entgegenkam, hatten die Passanten einen starren Blick auf dem Gesicht und beachteten die Drei nicht. Auch vorbeifahrende Menschen in Autos oder auf Rollern und Fahrrädern schenkten ihnen keine Aufmerksamkeit, ganz gleich, was für ein seltsames Bild sie bieten mussten.

Je weiter der Bär die Mädchen begleitete, desto mehr fragte er sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, ihnen zu folgen. Er schalt sich selbst dafür, dass er ohne Zögern zugestimmt hatte, anstatt zu überlegen, welche Hintergründe die beiden Mädchen haben könnten. Sie kannten ihn doch gar nicht. Immerhin gehörte seine Art zu den gefährlichen Tieren. Wohin brachten sie ihn? Und wieso hatten sie offensichtlich keine Angst vor ihm? Sollte er vielleicht lieber davonlaufen?

Im Vorbeigehen betrachtete er die Goldstein-Siedlung. So traumhaft der Stadtteil Schwanheim sich auch anhörte, mit solch einem Anblick hatte er nicht gerechnet: Meter für Meter wurde die Umgebung schäbiger. Gewaltige Plattenbauten ließen sich in der Dunkelheit erkennen. Müll auf der Straße, Reste abgerissener Plakate auf dem Boden. Von Weitem erblickte er eine Gruppe leuchtender Punkte in einem Häusereingang. Zu allem Überfluss steuerten seine Retterinnen ausgerechnet auf eines dieser heruntergekommenen Hochhäuser zu.

»So, einmal kurz durch den Mund atmen.« Bianca lächelte verlegen, als sie dem Bären und ihrer Schwester die Flügeltür aufhielt. Das Sicherheitsglas war an mehreren Stellen gesprungen.

»Sind das … Einschusslöcher?«, brach der Bär das erste Mal seit Verlassen des Parks sein Schweigen, wenn auch nur im Flüsterton. Doch von Bianca und Rosalie bekam er keine Antwort.

Kaum hatten sie das Foyer betreten, wusste der Bär, was das Mädchen mit ihrer Anmerkung zum Atmen gemeint hatte: Es roch bestialisch nach Erbrochenem und Urin.

»Psst«, machte Rosalie, als der Bär ein Brummen nicht unterdrücken konnte. »Schnell in den Aufzug rein. Oben wird es besser.«

Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich geräuschvoll und das große Tier hätte am liebsten Reißaus genommen bei dem Anblick, der sich ihm bot. Eine benutzte Spritze lag in der Ecke, neben einer kleinen gelben Pfütze.

»Du Armer.« Bianca strich ihm liebevoll über den pelzigen Kopf, als sie sich in die spärlich beleuchtete Kabine zwängten. »Für deine feine Nase muss dieser Gestank eine unglaubliche Qual sein.«

Der Bär wollte erneut brummen, als Bianca zu seinem Entsetzen auf den Knopf für das oberste Stockwerk drückte. Durch die Enge in dem Fahrstuhl musste er aufrecht stehen und versuchte sich einzureden, dass der Gestank schwächer wurde, wenn er seine Nase so weit wie möglich gen Decke reckte. Mit Müh und Not schaffte er es, die Fahrt leise zu überstehen. Als sich die Aufzugtür erneut öffnete, fiel er mehr heraus, als dass er ging. Glücklicherweise hatte Rosalie nicht zu viel versprochen: Hier war keine Spur mehr von dem widerlichen Geruch des Erdgeschosses.

Verblüfft sah er sich um. An der Decke flackerte eine dreckige Halogenleuchte. Im Halbdunkel konnte der Bär erkennen, dass etwas über ihm durch die Luft flog. Zuerst erschrak er, doch im nächsten Moment erkannte er, dass es sich dabei um unzählige Schmetterlinge handelte. Ziemlich große Exemplare sogar. Wenn sie in die Nähe des Lichtes kamen, konnte er ihre schillernden Farben erkennen. Ausgestattet mit unterschiedlichen Flügelformen schwirrten sie überall umher, doch keiner von ihnen flog durch das gekippte Fenster in die Nacht hinaus. Es war, als wären sie zufrieden damit, in diesem schäbigen Gebäude zu leben.

Der Bär riss seinen Blick von ihnen los und betrachtete die zwei Wohnungstüren auf der Etage. Die Tür zu seiner Rechten sah aus wie Tausend andere. Doch die auf der linken Seite war vollkommen anders. Regelrecht exotisch. Schon die Farbe war undefinierbar. Am Rand schien es, als wäre sie von einer dicken Schicht aus Flechten und Moos überzogen. Zur Mitte hin schimmerte sie in einem Lila-Ton. Das Ungewöhnlichste war allerdings, dass der Rahmen an zwei Stellen gebrochen war. Dicke Ranken wuchsen aus der Wohnung und zogen sich an der Wand seitlich der Tür entlang. Der Bär kannte die Pflanzenart nicht, doch sie wirkte definitiv nicht, als würde sie aus Europa stammen. Die Farbe der Äste ging ins Türkisfarbene und die Blätter und Blüten daran waren beinahe fluoreszierend. Mit ihrem Rosa und Gelb machten sie den ansonsten schäbigen Flur ein wenig farbenfroher.

»Was zur –?«, setzte der Bär an.

»Ach, das ist noch gar nichts«, unterbrach ihn Rosalie und kramte grinsend ihren Wohnungsschlüssel hervor. »Warte nur ab, bis du drinnen bist.«

Kaum schob sie die Tür auf, wusste der Bär, dass sie nicht übertrieben hatte.

»Also, ich kann dir das gerne ein bisschen erklären, wenn du magst«, begann Bianca. »Dann fällt es dir vielleicht leichter, diesen ganzen Zirkus hier zu verarbeiten.«

Schritt für Schritt führten die Schwestern den Bären tiefer in die Wohnung hinein, während er seinen Blick zur Zimmerdecke gerichtet hielt.

»Ich habe in den letzten Jahren schon so einiges erlebt. Ich würde behaupten, mich kann nichts schockieren. Aber was das hier alles soll, wüsste ich trotzdem gerne.«

»Aber natürlich.« Bianca freute sich offensichtlich über sein Interesse. Dann deutete sie rechts den Flur entlang. »Vorher lernst du allerdings noch unsere Mutter kennen.«

In der Wohnung brannten keine Lampen, aber dunkel war es nicht. Denn dort wuchsen noch viel mehr der fluoreszierenden Pflanzen und diese tauchten den schmalen Gang, in den der Bär nun trat, in ein faszinierendes Licht. Es flogen nicht nur Schmetterlinge, sondern auch andere Insekten und sogar exotisch anmutende Vögel über ihren Köpfen hinweg. Der Flur erstreckte sich noch einige Meter nach links, bis er einen Knick machte. Aus dieser Richtung hörte der Bär Tiergeräusche, die sich schwer zuordnen ließen. Und er war sicher, dass er eine Art Affe an den Ästen der bunten Ranken erkannt hatte.

Die Zwillinge wandten sich nach rechts und bedeuteten ihm, ihnen zu folgen.

»Mama?«, rief Bianca. »Wir haben Besuch mitgebracht.«

»Und zwar einen, der dich faszinieren wird«, fügte Rosalie halblaut hinzu und strich dem Bären über den Rücken. »Keine Angst. Hier bist du absolut sicher.«

»Das ist nicht, warum ich zögere. Vielmehr weiß ich nicht … Was ist das alles?«

Bianca drehte sich zu ihm um und kicherte. »Es sieht aus, wie man sich das Paradies vorstellt, nicht wahr? Wir werden dir alles erklären, sobald du uns deine Geschichte erzählt hast.«