Luise Reinhardt

Der Major

Inhaltsverzeichnis
Der Major
1.
2.
Impressum

Der Major

Criminal-Novelle

 

1.

Es war ein heiterer, warmer Sommertag, als vom Dorfe Gorwisch querfeldein nach dem Biederitzer Busche ein sonderbares Paar durch die wallenden Kornfelder schritt. Ihr Aussehen ließ zweifelhaft, ob sie Beide den bessern oder den gemeinen Ständen angehörten. Betrachtete man ihre Kleidung, so neigte man sich der Meinung zu, einen Arbeiter mit seiner Frau vor sich zu sehen, die auf Tagelohn zu gehen beabsichtigten. Dem widersprach aber wieder die Haltung, die feine Gesichtsbildung und das intelligente Mienenspiel der beiden stumm dahinschreitenden Wanderer. Voran ging der Mann auf dem schmalen, von hohen Getreidehalmen umgrenzten Wege. Es war ein Mann nahe den Sechzigern; die breiten, rothen Streifen an den Beinkleidern, sowie der rothe Rand an der Mütze ließen errathen, daß er Soldat gewesen war, und dafür sprach auch seine feste, martialische Haltung und der regelrechte, gleichmäßige Gang. Außerdem trug er aber Civilkleider von unzweifelhaft ärmlicher Beschaffenheit.

Seine Begleiterin war jünger, auch stärker und kräftiger gebaut, als der Mann, dessen bleiches Gesicht von einem unregelmäßigen und wüsten Leben erzählte. Sie trug einen breitkrämpigen Hut, der ihr blühendes, aber nicht gerade übermäßig schönes Gesicht vor den brennenden Sonnenstrahlen schützte, und schritt mit kräftiger, nicht ungraziöser Behendigkeit dem Manne nach, trotzdem ihre Schultern mit einem Bündel beladen waren, das durch Riemen wie ein Tornister auf dem Rücken festgehalten wurde.

Stumm und eilig verfolgte das Paar seinen einsamen Weg. Ueber ihnen sang die Lerche und der Kuckuk rief; vor ihnen rauschte eine Taubenschaar aus dem reifen Korne auf, wo sie sich satt genascht hatte. Beide achteten alles dessen nicht, sie eilten vorwärts, als gelte es ein lang ersehntes Ziel zu erreichen.

Die Sonne stand noch hoch am Himmel, sie hatte den Fußpfad, worauf sie wanderten, stark erhitzt, aber auch dessen achteten die Beiden nicht, obwohl sie mit bloßen Füßen wanderten, um das Schuhwerk zu schonen, was der Mann, in ein Taschentuch geknüpft, auf dem Stocke trug. Endlich näherten sie sich dem Walde, der schon lange sichtbar vor ihnen gelegen hatte. Noch eine kleine, kurze Strecke Sand mußten sie durchschreiten, dann traten sie in den kühlen Schatten des Busches und eilten auf rasigem Wege am Ufer der Ihle dahin, bis ein Steg sich fand, der sie über den kleinen Fluß hinweg tiefer in's Gebüsch leitete.

Rascher noch, weil es kühl und frisch hier war, verfolgte der Mann seinen Weg. Es fiel ihm nicht ein, seine Begleiterin zu fragen, ob ihre Kräfte es zuließen, ihm nachzukommen. Sie blieb wirklich ein wenig zurück, weil der Weg hier unebener war und knorrige Wurzeln das Erdreich durchzogen, die ihre Fußsohlen zu verletzen drohten. Rastlos hatte indessen der Mann die Waldspitze durchschnitten und sich tief athmend auf einer Rasenerhöhung niedergeworfen, welche den Wald von den daranstoßenden Feldern abgrenzte. Mechanisch fuhr seine Hand in eine Seitentasche seines schäbigen grünen Rockes und kam mit einer flachen, ziemlich großen Flasche bewaffnet wieder zum Vorschein, die er an seine Lippen führte, um seine Lebensgeister durch einen mächtigen Schluck Rum zu stärken.

Dann erst hielt er es der Mühe werth, sich nach seiner Gefährtin umzusehen. Lachend schaute er ihr entgegen, während sie vorsichtig auf dem ungleichen Wege näher schritt, und hielt ihr die Rumflasche hin, als sie ihn erreicht hatte.

»Dies Parquet de Bois gefällt der gnädigen Frau nicht,« scherzte er mit dem Ausdruck einer rohen Güte, »dero Füßchen sind anderes Getäfel gewohnt! Nun, du bist am Ziel deiner Reise, mein Täubchen – da sieh mal grad' aus – das ist Magdeburg – das ist der Dom – das ist die Johanniskirche – das ist die Jacobikirche &c. Bei letzterer wirst du wohnen und heut' Abend dein müdes Haupt in weiche Kissen legen. Hier ruhe dich aus. Stärke dich, iß ein Butterbrod und vollführe dann im Gebüsch die nothwendige Metamorphose. Die Haselsträucher dort bilden ein schönes Boudoir und Umkleidezimmer für die Frau Majorin. Hast du noch ein Butterbrod übrig, so gieb mir auch eins, wo nicht, so schadet es auch nicht.«

Die Frau hatte sich während seiner Rede ebenfalls niedergelassen, hatte die Riemen, welche das Bündel auf ihrem Rücken festhielten, gelöst und ihre Last herunterrutschen lassen. Sie zog die Schnuren eines großen Pompadours, den sie am Arme getragen, hastig auf und nahm ein großes Butterbrod aus demselben. Indem sie das Papier davon abwickelte, sprach der Mann:

»Laß nur, mein Täubchen, du hast nur noch eins; ich habe deinem Vorrath zu stark zugesprochen.«

»Nimm nur, Major – wir theilen,« erwiederte die Frau mit einem freundlichen Blicke.

»Nun ja! du bist in einer Stunde bei der Frau Meisterin Kühne, die dich nicht hungern lassen wird; ich aber habe noch sechs Stunden Wegs vor mir, ohne die Gewißheit, ob meine Tochter einen Bissen Brod für den armen Vater haben wird. Hölle und Teufel! Wenn unsere ganze Reise vergeblich wäre, Lutka!«

»Ach nicht doch, Major,« beschwichtigte ihn die Frau. »Deine Tochter wird dir zahlen, was du verlangen kannst, und wenn es nur einige tausend Thaler sind, so können wir schon zufrieden sein.«

»Hölle und Teufel, was verstehst du davon!« fuhr der Mann sie wild an.

Es schien dieser Zornesausbruch nicht den geringsten Eindruck auf die Frau zu machen, Sie brach das dicke Butterbrod durch, reichte ihrem Begleiter die größere Hälfte, nahm einen Schluck Rum aus der Flasche und kauete dann gemüthlich darauf los.

»Mir gehört das Gut, und nicht meiner Frau Tochter,« murrte der Mann nach einer Weile, während er sich wahrscheinlich in die Situation der Verhältnisse vertieft hatte, »ich habe Bedingungen vorzuschreiben, denn ich bin der Herr. Verstehst du, Lutka? Merke dir's.«

»Schon gut!« antwortete die Frau sehr gleichmüthig und kauete weiter.

»Daß meine Frau Tochter Böses im Sinne hat, liegt klar zu Tage,« fuhr der Mann fort, »sonst hätte sie mir den Tod ihrer Mutter wohl vor drei Jahren schon angezeigt.«

»Hat denn deine Tochter gewußt, wo du bist, Major?« fragte die Frau lächelnd und schnippte leichtfertig mit den Fingern. »Seit dreizehn Jahren reisen wir zusammen – aber so viel ich weiß, hast du seitdem keine Nachricht in deine Heimath gelangen lassen.« –

Der Mann hatte eine Erwiederung auf den Lippen. Lachend wehrte sie die Frau ab.

»Lüge Andern so viel vor, wie du willst, Major, bei mir spare die Lügen jedoch, denn ich glaube sie nicht. Hättest du nicht zufällig die Nachricht vom Tode deiner Frau Gemahlin erhalten, so wäre es zufällig nicht sehr schlecht gegangen und säßen wir nicht hier angesichts Magdeburgs und verzehrten unser letztes Butterbrot, ohne zu wissen, wovon ein weiteres zu kaufen sein möchte.«

»Hast du wirklich kein Geld mehr, Lutka?« fragte der Mann besorgt.

Die Frau streckte ihm beide flachen Hände entgegen.

»In Burg habe ich den letzten Thaler gewechselt, um unser brillantes Strohlager und – und das kostbare Souper zu bezahlen. Darauf bin ich mit dem Reste zum Bäcker gegangen, um Brot, und zum Kaufmann, um Butter und Rum zu kaufen.«

Sie schlug leichtfertig die Hände zusammen, sprang auf und schüttelte den Staub aus ihren Kleidern.

»Nun will ich Toilette machen, Major,« fügte sie hinzu, »je länger hier, je später dort; ich denke, das Elend dieser jämmerlichen Reise wird nun ein Ende haben.«

»Gebe es Gott!« sprach der Mann mit stillem Grimm. »Ich bin in der Laune, das Aeußerste zu thun, um diesem Elend ein Ende zu machen.«

»Sei kein Narr, Major!« rief sie verweisend. »Gieb mir nur meine Schuhe und Strümpfe!« Der Mann knüpfte sein Tuch auf und reichte ihr ein Paar schneeweiße Strümpfe und ein Paar saubere Schuhe, die sie schnell über ihre gut geformten Beine zog.

Während dessen öffnete der Mann die Riemen des Bündels und holte eine Schachtel hervor. Mit dieser Schachtel verschwand die Frau hinter dem Haselgesträuch und der Mann rollte das übrige Zeug auseinander, um seinen eigenen Anzug auf offener Heerstraße zu vervollständigen. Er warf den schäbigen Rock ab und zog einen andern an, der nach dem Schnitte der Militärröcke gemacht war. Er nahm ein paar Sporen heraus und befestigte sie an seine sauber geputzten Stiefeln, die er über seine nackten Beine zog. Strümpfe schienen ihm Luxus zu sein, den er entbehren zu können glaubte. Dahingegen zeigte sich sein Hemd sehr elegant, als er die schwarze Tuchweste aufknöpfte und die Klappen zurücklegte. Ein vollendeter Gentleman stand er da und wartete des Augenblicks, der seine Gefährtin ebenfalls im veränderten Kostüm erscheinen lassen würde.

Diese Verwandlung war aber weit auffallender. Wie eine Juno schritt die Frau, die im kurzen Flanellrock und im Kattunüberwurf verschwunden war, aus dem Gebüsch hervor. Ein schwarzes, in blau schillerndes Seidenkleid umfloß ihre schöne Figur, um die vollen Schultern legte sich ein bunter, schmaler Shawl, kunstgerecht ihre Büste drapirend, den Kopf zierte ein hübscher Strohhut mit einer langen weißen Straußfeder geschmückt, tadellose Handschuhe von dänischem Leder bedeckten ihre Hände, und ein Sonnenschirm kleinster Façon vervollständigte ihre Erscheinung als Weltdame.

Mit einem musternden Blicke überflog der Mann die Gestalt seiner Gefährtin.

»Gut, Lutka, gut. Ganz fein! Wo hast du deinen Pompadour, Täubchen – ich will dir deine Wäsche hineinstecken – leider wird dieser Strickbeutel von kolossaler Größe die Harmonie deines Anzuges stören,« sagte er spottend.

»O, wie einfältig du bist, Major,« erwiederte die Dame heiter und hob ihr Seidenkleid graziös in die Höhe. Der große Pompadour war höchst zweckmäßig hinten an der Taille festgemacht und bildete somit eine damals sehr gebräuchliche Draperie, die man cul de Paris zu nennen pflegte.

»Vortrefflich!« rief der Mann lachend. »Halt still, Lutka, ich werde dort Alles hineinstecken, was dir gehört.«

Er zog die Schnuren etwas auf und vollführte mit Geschicklichkeit das Packgeschäft.

»So, nun fort, mein Täubchen! Du hier auf der Heerstraße entlang – ich durch die Kornfelder dort querfeldein nach Wederstedt.«

Die Dame Lutka wendete sich mit einem graziösen Knix zu ihm herum. Er erwiederte die Begrüßung mit sarkastischer Ehrerbietung, führte ihre Hand an seine Lippen und sagte:

»Viel Glück auf den Weg, meine Gnädige!«

» Merci, Major! Willst du mir aber nicht gefälligst meine Reiseroute näher bezeichnen?«

»Ja so! Freilich, das ist ja die Hauptsache. Frage so wenig wie möglich in der Stadt nach dem Wege – merke dir genau, was ich dir sage! Du gehst gerade aus bis zum Thore und passirst es mit der Unbefangenheit einer Spaziergängerin; – Niemand wird dich dann mit Fragen incommodiren. Nachdem du dies Thor passirt hast, befindest du dich erst in der Vorstadt, die Friedrichsstadt genannt. Du durchschreitest dieselbe bis zur Brücke, gehst über diese und über eine zweite hinweg, wendest dich dann rechts, gehst an den Holzhäusern entlang, denen gerade gegenüber die unförmliche Citadelle sich erhebt, bis zur Elbe, verfolgst den Weg am Kai bis zur Strombrücke, und bist nach der Ueberschreitung derselben in Magdeburg. Hast du es vollständig verstanden?«

»Vollständig verstanden und behalten, Major.«

»Weiter! Vom Brückenthore an schreitest du gerade aus, steigst rechts die Straße, die etwas bergan geht, hinauf, immer gerade aus, bis zu dem Platze, der mit Buden dicht besetzt ist. Ueber diesen Marktplatz gelangst du zum Breitenwege, schlägst dich rechts ab und gehst abwärts, bis zu einer Straße, an deren Eckhause ›Steinerne Tischstraße‹ steht. Dort biegst du ein, schreitest immer gerade aus, bis du eine Kirche erreichst. Dies ist die Jakobikirche, dort findest du die Jakobsstraße und an der Ecke die Nummer 26. Du steigst eine Treppe hinauf und klopfst an die erste Thür links. Die Frau Kühne erwartet dich. Ich kann mich auf diese Dame verlassen. Ihr Mann ist Tischler; sie führt aber das Regiment im Hause, wie ich aus ihrem Briefe ersehen, den sie mir als Antwort auf meine Erkundigungen nach dem Tode meiner Frau Gemahlin zukommen ließ. Tritt fest und dreist auf. Solchen Weibern muß man zu imponiren suchen.«

»Sei ohne Sorgen, Major. Du hast mich natürlich als deine Frau angemeldet – seit wann sind wir verheirathet?« fragte Madame Lutka mit komischem Ernst.

»Seit vorigem Herbst,« antwortete der Major in demselben Tone.

»Gut. Was weiß sie sonst von mir?«

»Gar nichts!«

»Um so größer ist das Feld meiner Erfindungskunst.«

»Das Weib ist nicht dumm!« warnte der Mann.

»Um so besser! denn dummen Leuten etwas aufzubinden bringt eben keine Ehre.«

»Madame Kühne kennt die Verhältnisse im Wederstedt'schen Herrenhause auf's Genaueste. Richte dein Augenmerk darauf, von ihr alles zu erfahren, was uns dient.«

Die Dame Lutka nickte mit einem malitiösen Lächeln und spannte ihren kleinen Knickschirm auf.

»Wozu ginge ich denn sonst nach Magdeburg, Major? Nicht wahr, Madame Kühne hat im Hause deiner Frau Gemahlin gedient?«

»Ja wohl!« war die rasche Antwort des Mannes.

»Als was? als Köchin oder Kammerzofe?«

»Bis zu einer Kammerzofe hat sich die gnädige Frau von Wederstedt nicht verstiegen,« spottete der Mann und ein Blitz innern Zornes fuhr dabei über sein Gesicht hinweg. »Als ich diese Erbin von Wederstedt heirathete, hatte sie für nichts Sinn, als Gänse und Puter fett zu machen, um sie zu verkaufen. Und dieser Geiz trieb mich fort von ihr. Nach meiner Meinung paßte es sich für die Gemahlin eines ehemaligen preußischen Officiers nicht, sich mit der Erziehung von Gänsen und Truthennen zu befassen.«

»Ganz richtig, Major! Was würde der selige alte Fritz gesagt haben, wenn sein ehemaliger Kammerpage mit fetten Gänsen gehandelt hätte!« lachte die Frau.

»Ich hielt das Hundeleben auf Wederstedt nicht aus,« eiferte der Mann. »Ich ging fort und ließ mich in Magdeburg als westfälischer Officier anwerben.«

»Machtest aber den Feldzug nach Rußland nicht mit, sondern bliebst im Hause meiner Eltern, während die große Armee nach Moskau vordrang,« spöttelte die Frau gutmüthig. »Ich kann es dir nicht verdenken, daß du dich nicht für Napoleons Pläne hast opfern wollen, – bei uns war's hübsch dazumal, – Rehe und Hasen gab's genug für dein gespartes Pulver, und das Kartenspiel hast du dabei gründlich erlernt.«

»Ach laß doch die alten Geschichten ruhen, Lutka. Was deine Eltern mir Anno 12 Gutes gethan, habe ich längst dir vergolten.«

»Mir, Major? Spaße doch nicht!« rief die Frau und lachte ausgelassen.

»Nun, wen hättest du denn, wenn ich mich nicht um dich gesorgt und gekümmert?« fragte er trotzig und richtete einen wilden Blick auf sie. »Wer hat dich denn aus deiner russisch-preußisch-polnischen Wildniß hervorgezogen und ein menschlich Wesen aus dir gemacht?«

»Schon gut, Major!« beschwichtigte sie ihn kalt und besonnen. »Du spieltest nachher den Ueberläufer und meldetest dich beim General York als gut preußisch gesinnt.«

»Nun ja« – antwortete der Mann sehr verdrießlich und kleinlaut.

»Damals war ich ein Kind von zwölf Jahren. Ich glaubte dir, was du uns erzähltest. Jetzt möchte ich die Wahrheit wissen.«

»Es ist die Wahrheit!« rief der Mann ärgerlich. »Aber statt meine edelmüthige Vaterlandsliebe zu belohnen, zeigte man mir Mißtrauen.«

»Und da hieltest du es für gerathen, statt gegen die Franzosen, nach Wederstedt zu ziehen. Deine Frau Gemahlin scheint sich nicht stark gefreut zu haben, als sie ihren Ulysses wieder von seinen Irrfahrten heimkommen sah. Hatte sie ihren Sinn geändert.«

»Sie war noch geiziger geworden in den sechs Jahren unserer Trennung,« fuhr der Mann fast hämisch lachend auf. »Ich hatte aber im Kriege etwas gelernt. Was sie nicht gutwillig geben wollte, nahm ich mir. Um mich los zu werden, schenkte sie mir zweitausend Thaler unter der Bedingung, sie nie wieder mit meinem Besuche zu belästigen. Nun sie aber todt ist, fällt diese Bedingung weg, und ich werde fortan Besitz von Wederstedt nehmen.«

»Wenn's geht!« sprach die Frau kaltblütig.

»Verlaß dich darauf, es geht!« erwiederte der Mann mit einem fürchterlichen Blicke.

»Sei kein Narr, Major, und belaste dein Gewissen nicht mit Verbrechen.«

»Wer den Krieg ausbrechen läßt, hat die Verantwortung des vergossenen Blutes, – der Beraubte vertheidige sein Gut und sein Recht!«

»Ich denke mir, die Frau Tochter wird es machen wie die Frau Mutter, – sie wird dir einige tausend Thaler auszahlen, um dich für immer abzufinden,« sagte die Frau, und ihr Blick schoß listig und lauernd auf ihren Gefährten.

»Damit lasse ich mich nicht abspeisen. Wederstedt ist meine Heimath, mein Eigenthum, – ich bin der rechtmäßige Besitzer, nachdem meine Frau gestorben ist, und nicht unser Kind. Was will der Mann meiner Tochter machen, wenn ich ihm die Thür weise? Das beabsichtige ich auch gar nicht. Zum Landwirth bin ich untauglich. Finde ich meinen Herrn Schwiegersohn gefügig und seinem Berufe gewachsen, so verpachte ich das Gut an ihn, und lebe von der Pacht wo es mir gefällt herrlich und in Freuden.«

»Schon gut – die Herrlichkeit und Freude würde bald ein Ende haben, denn Fortuna ist deinen Karten selten hold. Wenn du auf meinen Rath hörst, Major, so bleibst du in Wederstedt, richtest dich auf deine alten Tage bequem und elegant dort ein, und –«

»Und was wird aus dir, Lutka? Wo bleibst du?« fiel er rasch ein.

»Natürlich bei dir, als deine Gattin, als die Freifrau von Thurngau, nachdem ich beinahe zehn Jahre deine Majorin gespielt habe,« rief die Dame lustig.

Der Mann schaute sie unwirsch an, wagte jedoch nicht ein Wort des Widerspruches. Er mochte wohl fühlen, daß er unter dem Scepter dieser Frau noch weniger seinen Gelüsten folgen könne, als unter der Herrschaft seiner ruhigen und thätigen ersten Gattin. Ueberdies ärgerte es ihn, daß seine Reisegefährtin, die ihm als Begleiterin in seinem wüsten Spielerleben wohl genügt hatte, so dreist gewesen war, Pläne für ihre Zukunft auf ihn zu bauen.

»Das würde ein prächtiger Spektakel,« murmelte er erbittert. »Des Wildwärters Lutka, Frau von Thurngau! Wer das glaubt! Wer das glaubt!«

»Glaubst du etwa, daß Madame Kühne, deine gute Freundin von ehemals, mich für etwas anderes halten wird, als die Majorin von Thurngau?« fragte die Dame Lutka mit demselben listig lauernden Blicke wie vorhin.

»O nein,« antwortete er hastig. »Der Madame mußte ich dies Verhältniß vorschwindeln, – aber meiner Frau Tochter dürfte ich –«

Er hielt inne, denn Lutka legte ihre Hand sehr fest auf seinen Arm. Beide waren während ihrer Unterhaltung langsam den Rasenrain hinauf gewandelt und allmälig der Stelle nahe gekommen, wo sich, nach der Andeutung des Mannes, ihre Wege trennen sollten. Als die Frau dies gewahrte, beschloß sie dem Gespräche mit einer entscheidenden Wendung ein Ende zu machen. Sie ließ ihn deshalb nicht ausreden, sondern stand still, legte ihre Hand bedeutungsvoll auf seinen Arm und sagte bestimmt:

»Verstehe mich recht, Major, unser Verhältniß müßte von dem Augenblicke an, wo du mich als Gebieterin von Wederstedt in's Herrenhaus führtest, nach dem gewöhnlichen christlichen Gebrauche geheiligt werden, wozu dich überhaupt schon die Pflicht längst aufgefordert haben müßte.«

»Getraut – Lutka – ich mit dir, mit Wildwärter Wonsky's Lutka vor den Altar treten, – Hölle und Teufel, das ist viel verlangt!«

»Und ich verlange es, wenn unser Weg sich hier nicht auf ewig trennen soll!« sprach Dame Lutka hochmüthig und entschieden.

»Du – verlangst es, – verlangst es!« stammelte der Mann wüthend und ballte seine Fäuste gegen sie.

»Schon gut, Major, ich kenne deine Bravour!« entgegnete sie ruhig. »Ich verlange dein Ehrenwort, als Freiherr von Thurngau, daß du mich, die Lutka Wonsky, an dem Tage, wo du als Besitzer in Wederstedt einziehest, zu deiner Frau, nach christlichem Gebrauche, erheben, und mich in die Rechte einer Gebieterin von Wederstedt einsetzen willst, widrigenfalls ich, von dieser Minute ab, mich als deine Feindin betrachte und deinen Plänen mehr hinderlich als förderlich sein werde. Nun, Major?«

Der Mann stand und sah sie starr an. Sie hatte ihn in seinem eigenen Netze gefangen und bewies ihm jetzt ihre Ueberlegenheit. Sie kannte ihn gut genug, um seine drohende Wildheit nicht zu fürchten. Eine sonderbare Feigheit hemmte ihn gewöhnlich in dem Momente, wo er Miene machte, wüthend zu werden. Sie wußte das. Sie traute ihm weder Kraft zum Guten, noch Kraft zum Bösen zu, sondern hielt seine Zornausbrüche für schadlose Bravaden, womit er seine fast weibische Schwäche überpanzerte.

Als er sie lange genug mit seinen wuthsprühenden Blicken durchbohrt hatte, fing sie hell an zu lachen und sagte:

»Also wir scheiden. Major!«

»Aber nicht für ewig, Lutka. Ich willige ein, dich als Frau von Thurngau in Wederstedt einzuführen, denn ich weiß, daß du meine Pläne zerstören kannst, wenn du willst. Ich bequeme mich deinen Anforderungen, weil du, als ehemalige Bundesgenossin, mein Schicksal in deiner Hand hast. Außerdem hast du es um mich verdient, durch die Sicherstellung deines Geschickes belohnt zu werden.«

»Das ist vernünftig gesprochen, Major. Jeder Mensch sehnt sich nach einem ruhigen Daheim, also wirst du meine Forderungen natürlich finden. Gieb mir deine Hand, nicht als Major, sondern als Edelmann darauf, Wort zu halten, und ich will zu dir stehen in Noth und Tod, so wahr Gott lebt.«

»Ich halte Wort, Lutka Wonsky, so wahr ich Adolph von Thurngau heiße! Amen.«

Sie reichten sich die Hände und Lutka drückte ihre frischen, rothen Lippen mit Herzlichkeit auf seinen bärtigen Mund. Gleich darauf wendete sich der Major rechts, durcheilte den Wiesengrund und war bald den Augen seiner Gefährtin völlig entschwunden.

 

Wir werden ihm nicht folgen, sondern ihm nach dem Orte, wohin er wollte, vorauseilen, um die Familie kennen zu lernen, der er nach seiner Rückkehr aus der Fremde unsägliches Leid bereiten sollte.

Vor allen Dingen liegt uns jedoch ob, die Gefährtin dieses abenteuerlichen Mannes bis zum Ziele ihrer Wanderung zu geleiten, um mit nothwendiger Umständlichkeit ihre kleinen Begegnisse zur Sprache zu bringen.

 

Mit koketter Behendigkeit schritt Dame Lutka ihrem Ziele zu. Je näher sie der Stadt kam, desto lebhafter wurde die Chaussee, welcher sie jetzt bei ihrer einsamen Wanderung den Vorzug gegeben hatte. Einzelne Equipagen rollten an ihr vorüber, deren Insassen etwas befremdet die einsame Spaziergängerin betrachteten. Dame Lutka begegnete den neugierigen Blicken mit freimüthiger Unbefangenheit und erreichte glücklich die Friedrichstadt.

Obwohl etwas erschöpft, gönnte sie sich keine Rast, so einladend einige Restaurationen ihr auch winkten. Langsamer und ruhiger verfolgte sie ihren vorgezeichneten Weg in dieser fremden Stadt. Sie gelangte sehr bald an die beschriebenen Brücken und bog, der Anweisung zufolge, dann rechts ab, um an den hübschen kleinen Holzhäusern bis zur Elbe zu gehen.

Hier aber stieß sie auf Hindernisse, die sie in die Verlegenheit setzten, sich zurechtweisen lassen zu müssen. Der Weg an der Elbe war versperrt, und sie sah einige Männer in einer wunderlichen Bekleidung, halb gelb halb schwarz, beschäftigt, das Trottoir des Kai zierlich und kunstvoll zu pflastern. Erschreckt blieb die Dame stehen und betrachtete erstaunt die Männer, welche gefesselt mit Ketten einhergingen und selbst ihre Arbeit damit vollführten. Eine eigne Beklemmung, ein Gefühl der Angst überkam ihr leichtfertiges Herz. Sie stand regungslos, den Arbeitern zuschauend; sie vergaß ihre Maske als Weltdame, und war in diesem Augenblicke wieder das Kind der russisch-preußisch-polnischen Wildniß, das sich von dem Unerwarteten und Niegesehenen in Schrecken setzen ließ. Wie eine Ahnung zuckte es durch ihre erschreckte Phantasie, daß sie hier vor den Opfern der Gerechtigkeit stehe, und sie sah eine Warnung in dieser grausamen Strafe, gebrandmarkt vor den Augen der Welt arbeiten zu müssen.

Ein Herr in Uniform, der seitwärts innerhalb der Schranken stand, welche die Passage hemmte, beobachtete die Gemüthsbewegung, die sich in dem Gesichte der Fremden widerspiegelte. Seine Uniform kennzeichnete ihn jedem Straßenjungen als einen Polizeilieutenant, und es war auch wohl nur der Verwirrung der Dame Lutka zuzuschreiben, daß sie ihn nicht gleich als solchen erkannte, als sie sich schnell zu ihm wendete und von ihren aufgeregten Empfindungen hingerissen, fragte:

»Mein Herr, können Sie mir sagen, was das für Männer sind, die dort pflastern, und können Sie mich darüber belehren, weshalb sie die abscheuliche und auffallende Kleidung tragen, weshalb sie durch die Kette an den Füßen gequält werden?«

Der Polizeikommissar lächelte.

»Sie sind wohl fremd in Magdeburg, Madame,« erwiederte er artig, »sonst würden sie sicherlich die Baugefangenen schon öfter gesehen haben. Dies sind Verbrecher, welche ihrer schweren Vergehungen wegen lebenslänglich verurtheilt sind. Wollte man sie ungefesselt ihre Arbeiten verrichten lassen, so würden sie natürlich die erste Gelegenheit benutzen, um zu entfliehen. Aus demselben Grunde tragen sie auch die auffallende Kleidung, die sie jedem Menschen erkennbar macht.«

»Der große blasse Mensch hat einen Müller auf einer Mühle ermordet, um ihn zu berauben, – da dem Beweis an seiner Schuld die richtige Kraft fehlte, so konnte er nicht zum Tode, sondern nur zu lebenslänglicher Baugefangenschaft verurtheilt werden. Der Kleinere dort drüben am Geländer hat im Jähzorn einem Verwandten das Beil an den Kopf geworfen und büßt seine strafbare Uebereilung mit zwanzig Jahren, – der dritte ist ein notorisch unverbesserlicher Dieb, vor dem keine Thür, kein Schloß und kein Riegel schützt, – der vierte da drüben ist zu bedauern, denn er hat in dem furchtbaren Augenblicke, wo er die Entdeckung machte, durch einen falschen Spieler um seine Baarschaft betrogen zu sein diesem nichtswürdigen Spieler das Messer in's Herz gestoßen.«

Ein Schauder schien die Dame Lutka zu überlaufen. Sie zog ihren eleganten türkischen Shawl fester um die Schultern und flüsterte:

»Schrecklich! schrecklich! – der arme Mensch!«. –

Jetzt erst kehrte ihre Besonnenheit zurück, und sie zürnte mit sich selbst, den Lehren und Vorschriften des Majors untreu geworden zu sein. Dieser hatte ihr unzähligemal vorgepredigt, daß nichts sicherer die Aufmerksamkeit wecke, als die Fragen eines Fremden, – und er hatte es sich angelegen sein lassen, ihr praktisch zu beweisen, daß man auch ohne zu fragen klug werden könne. In der Aufregung des Augenblickes war dieser Grundsatz nicht gehörig von ihr beachtet, aber sie suchte ihren Fehler dadurch wieder gut zu machen, daß sie sich eiligst von dem Platze entfernte, wo sie sich eine Blöße gegeben.

Obwohl es der natürliche Weg gewesen wäre, bei diesem Herrn zugleich Erkundigungen einzuziehen, auf welche Weise sie zur Stadt gelangen könne, da der Weg dahin durch Balken versperrt worden war, so zog sie es doch vor, auf gut Glück wieder umzukehren, und indirect Forschungen darüber anzustellen. Ihre Klugheit trug Früchte. Sie sah, daß sich Wagen und Menschen von der letzten Brücke nach der Citadelle wendeten und schloß daraus auf einen freien Paß durch die sonst unzugänglichen Festungswerke.

Vorsichtig folgte sie einigen Damen, die von einem Spaziergange heimzukehren schienen und gelangte richtig durch ein gewölbtes Thor in das Innere der Citadelle, durchschritt, immer dicht hinter den Spaziergängerinnen sich haltend, dieselbe, und fand sich beim Ausgange unweit der Strombrücke. Jetzt wußte sie wieder Bescheid. Mit einem frohen Athemzug eilte sie auf die Brücke zu und schaute von dort über die rauschenden Wellen der Elbe, die sich an den Brückenpfeilern brachen, den Strom entlang.

Wieder traf ihr Auge auf die unseligen Verbrecher, die hier arbeiten mußten. Sonderbar beunruhigt, lehnte sie sich gegen die Brüstung der Brücke und überließ sich einem Nachdenken, das wenig Erquickliches bot. War es eine Vorahnung, daß sie an dem Wendepunkte ihres Lebens stand, wo sie zu ihrem Heile die Gemeinschaft mit einem verlorenen Manne lösen mußte? Dame Lutka hatte schon längst die Absicht, gehabt dies zu thun, und läugnete es sich in diesem Augenblicke auch keineswegs ab, daß sie mit dem Vorsatze die traurige Reise nach Magdeburg angetreten habe, hier den letzten Versuch zur gänzlichen Aenderung ihrer zweideutigen Lebensstellung zu machen.

Ohne sich sträflicher Handlungen bewußt zu sein, fühlte sie dennoch das ganze Grausen einer auf ewig Verdammten, von der Gesellschaft Ausgestoßenen und vom eigenen Gewissen Verfolgten, und der Vorsatz tauchte in ihr auf, jetzt gleich alle Gemeinschaft mit dem unseligen Spieler, dessen Helferin sie theilweise abgab, zu vernichten. Aber so leicht ging dies nicht, wie es erzählt wird. Sie hatte erst einen tüchtigen Kampf gegen die Gewohnheit zu bestehen. Ihr abenteuerliches Leben mit seinem erlogenen Glanz, seiner erborgten Stellung, wohinter oft demüthige Entbehrungen steckten, hatte immerhin einen gewissen Reiz für sie. Es gehörtem der That eine Selbstverleugnung, ein heroisches Rückschreiten dazu, um aus den leisen, schmeichelnden Hoffnungen, die sie in Betreff ihrer Zukunft auf Wederstedt gebaut, in die wenig verlockende Wirklichkeit zu treten.

Ihre Pläne waren freilich entworfen, ihre Vorbereitungen ausreichend getroffen, das Ziel, welches sie vor Augen gehabt, glücklich erreicht: dennoch aber würde sie ohne die eben stattgehabte Seelenerschütterung nicht zur Ausführung geschritten sein. Sie hatte ja in Aussicht auf eine mögliche Besitzergreifung des Majors schon wieder ihrer Unschlüssigkeit eine Frist gestattet. Mit der Idee vertraut geworden, in dieser fremden Gegend, wo Niemand ihre Vergangenheit kannte, zu verschwinden, verfiel sie angesichts ihres Zieles wiederum in Schwankungen und machte ihre Handlungen von dem Erfolge des Majors abhängig.

Aber die Gaukeleien ihrer Eitelkeit verschwanden allmählig vor den Gestaltungen der Wirklichkeit, als sie hier am Brückengeländer stand und tiefsinnig über das wallende Wasser hinwegschaute. Jetzt oder nie! flüsterte eine Stimme in ihr. Handle kräftig, reiße dich energisch aus den entsetzlichen Fesseln, die deine Moralität stark in Zweifel stellen, mahnte diese innere Stimme. – O es ahnte keiner der Vorübergehenden, daß diese elegante, hübsche Frau muthig eine Umkehr beschloß, während sie lächelnden Blickes in die rauschenden Wellen schaute; es fiel Niemand ein, dem wehmütigen Blicke, womit sie der sinkenden Sonne einen letzten Gruß an ihren alten Begleiter auftrug, eine tiefere Bedeutsamkeit, zu geben.

Dame Lutka richtete sich plötzlich auf und machte sich bereit in die Stadt zu wandern.

 

Die Stadt Magdeburg befand sich bekanntermaßen im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts noch keineswegs im Rausche einer Entwickelungsbegeisterung.

Man liebte zur Zeit, wo Dame Lutka die alte Strombrücke passirte, noch die Behaglichkeit eines angenehmen Schlendrians und die Gemüthlichkeit der engen und finstern Gassen. Die »gute alte Zeit« fand ungeheuer viel Vertreter bei der Einwohnerschaft, und was an günstiger Regung von der obersten Stadtbehörde herab belebend wirken sollte, das fiel in trockenes und unfruchtbares Land, wo es ohne Erfolg ersticken mußte. Die rasende Schnelligkeit seiner Entwickelungskraft datirt vom zweiten Viertel dieses Jahrhunderts, wo Magdeburg in dem Eisenbahnnetze Deutschlands eine Rolle zuertheilt wurde, die es haben mußte. Mit der Bedeutung des Ortes erhoben sich auch die geistigen Kräfte; das Phlegma der alten Einrichtungen erlosch und machte der Strebsamkeit und Verbesserungslust Platz; Alles, was im Verhältnisse zur Stadt stand, nahm einen andern Charakter an. Die Gemüthlichkeit des Lebens und des Lebenlassens verschwand etwas vor dem Ernste der Geschäftigkeit. Die Zahl der Einwohner mehrte sich, und die Klugheit, die Schlauheit, die List und das Verbrechen in jedweder Gestalt mehrte sich ebenfalls. Die Behörden mußten wachsamer werden, weil die Bevölkerung gewitzigter geworden war. Das galt besonders von der Polizeibehörde.

Damals aber gab es kaum zwei Beamte bei der Polizeibehörde, die eine große Wachsamkeit für sehr nothwendig gehalten hätten. Zu diesen Zweien gehörte der Polizeilieutenant mit dem impertinent blonden Lockenkopf, der Dame Lutka an der Barriere des Kai über die Schuldfrage der Baugefangenen belehrt hatte. Dieser Herr blickte der Dame, die er noch nie in Magdeburg gesehen zu haben sich erinnerte, mit einiger Besorgniß und Bedenklichkeit nach und folgte langsam ihrer Spur, als sie sich anschickte in die Stadt zu gehen.

Ihr Sinnen an der Brücke frappirte ihn von Neuem. Es erhob sich in ihm die Furcht, sie gehe mit Selbstmordgedanken um. Aus diesem Irrthum wurde er geweckt, als die Dame sich plötzlich aufrichtete und behenden Schrittes weiter ging. Was konnte der Herr jetzt, als Polizeilieutenant, wohl Besseres thun, als ihr folgen, um zu sehen, wer und was sie eigentlich sei?

Dame Lutka dachte gar nicht an die Möglichkeit, der Gegenstand einer speciellen Aufmerksamkeit zu sein. Nachdem sie ihren Verstoß gegen des Majors Sicherheitsprincipien durch eine schnelle, gleichgültige Entfernung wieder gut gemacht zu haben meinte, verschwand der kleine Auftritt aus ihrem Gedächtnisse und wurde bei gelegentlicher Erinnerung als höchst unwesentlich betrachtet. Sie hatte Wichtigeres zu bedenken. Es war Größeres ins Werk zu setzen.

Unter Entwürfen, die darauf Bezug hatten, wandelte sie ihres Weges, verfolgt von den Blicken des Polizeilieutenants Georgi, der mit Diskretion ihren Schritten nachspürte. Sein Urtheil über die Dame Lutka verbesserte sich mit jedem Momente. Es giebt eine Anmuth, welche angeboren und welche ganz unabhängig von jeder weltlichen Stellung ist. Ein Gleiches galt von dieser Frau. Ihr äußeres Wesen trug das Gepräge einer noblen Geburt und ihre kunstgerechte, vom Major geleitete Ausbildung vervollständigte die angeborenen Vorzüge desselben. Selbst die leichtfertigen Ausbrüche einer guten Laune beeinträchtigen nicht die Harmonie ihrer ganzen Erscheinung, sondern vermehrten nur das Interessante derselben.

Der Herr Polizeilieutenant Georgi war Menschenkenner genug dies einzusehen. Er wurde immer neugieriger, den Namen und Stand der Dame kennen zu lernen. Für heute mußte er jedoch seine Forschungen aufgeben. Die fremde Dame schritt mit der Sicherheit einer Eingeborenen über den Markt, wendete sich am Ausgange desselben links – nicht rechts, wie die Vorschrift des Majors lautete – und kam ihm dann aus den Augen, weil sich ein unabsehbares Publikum soeben das Vergnügen machte, einen glänzenden Leichenzug den Breitenweg hinab zu begleiten.

Es war dieses Begräbniß von historischer Bedeutung und regte die Schaulust der ohnehin sehr neugierigen Magdeburger um so mehr an, als sich damit ein wunderbarer Zufall verknüpfte. Man weihte mit dieser Feierlichkeit den neuen Kirchhof, der nach vielen Schwierigkeiten endlich eingerichtet war, ein und wunderbar fügte es sich, daß ein geachtetes Ehepaar aus dem Bürgerstande zu gleicher Zeit Todes verblich und nun zusammen in die Erde des neuen Friedhofs gesenkt werden sollte. Neugier und Theilnahme zugleich lockten eine Menge Menschen herbei, und in diesem Gewühl verschwand Dame Lutka. Der Polizeilieutenant glaubte sie späterhin zwar oftmals wiedergefunden zu haben; allein wenn er sich Bahn zu der vermeintlichen Dame gebrochen hatte, so fand er sich getäuscht. Trotz aller Bemühungen sah er sie nicht wieder, und da er sie unbedingt nur in höheren Kreisen finden zu können glaubte, so erstreckten sich seine gelegentlichen Nachforschungen, die er stets mit einer detailirten Beschreibung ihres Anzuges begleitete, auch nur auf diese gesellschaftlichen Regionen.

Der gute Mann würde weit glücklicher in seinen Bestrebungen gewesen sein, hätte er sein Augenmerk auf niedrige Sphären gerichtet. Sein Erfolg würde ihn belehrt haben, daß diese Dame zwar alle Mittel besaß, sich auf legalem Wege zur Einwohnerin von Magdeburg zu machen, daß sie indeß keineswegs zu der Klasse von Damen zählte, welche unbedingt auf Ehrerbietung und Achtung Anspruch zu machen berechtigt sind. Dame Lutka war durchaus nicht unerfahren im Maskenspiel des Lebens. Sie hatte bei ihren abenteuerlichen Herumzügen gelernt, unter dem Deckmantel der Ehrbarkeit ihre Rolle durchzuführen. Um so weniger schwer wurde es ihr – als sie damit umging, ihrem Schicksale eine Wendung zu geben – durch ihre Bühnenfertigkeit eine vertrauenerweckende Unbefangenheit zur Schau zu tragen.

 

Wir müssen Dame Lutka jetzt ihrem Schicksale überlassen und uns nach dem Dorfe Wederstedt wenden, damit es uns gelingt, die Ankunft des Majors in seiner Heimath, die ihm fremd geworden war, zu belauschen.

Bei dieser Gelegenheit will es der Verfasser nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß es Grundsatz von ihm ist, die Namen der betheiligten Personen, sowie die richtige Bezeichnung der Oerter, die mit diesen Persönlichkeiten in wahrheitsmäßigem Zusammenhange stehen, der Willkür seiner Phantasie preis zu geben.

Bei vorliegenden Thatsachen ist es nöthig, jede Rücksichtslosigkeit in dieser Hinsicht zu vermeiden, da noch lebende Personen kompromittirt werden würden.

 

Das Herrenhaus Wederstedt war ein Gebäude, welches nach den Regeln der Aesthetik keineswegs für schön, elegant und zierlich gelten konnte, das aber den Ansprüchen eines zufriedenen Landbewohners vollkommen genügte. Es lag mit der Front dem Hofe zugewendet, der mit feinen Ställen und Scheunen das ganze Besitzthum zu einem sehr unregelmäßigen Viereck machte. Es bestand aus einem Stockwerk, mit einem kolossalen Giebelausbau, worin mehrere Zimmer Platz gefunden. Die Hausthür lag in der Mitte, rechts vom Flure waren drei ganz gleiche Zimmer, mehrere Kammern und ein schmaler Korridor, der sein Licht von einigen hochangebrachten kleinen Fenstern erhielt, die nach der Dorfstraße hinausgingen. Links war ein Eßzimmer, einige Gesindestuben, die Küche und die Vorrathskammer. Die Giebelstuben dienten theils zu Absteigezimmern für Besucher, theils zu Schlafzimmern. Außer den Zimmern befanden sich aber auch noch Dachkammern zu beiden Seiten, die zur Aufbewahrung von Flachs, Heede, Bettfedern und sonstigen Dingen verwendet wurden, wie sie sich eben in einer Laudwirthschaft vorfinden.

Das Rittergut Wederstedt war unbestrittenes Eigenthum eines Herrn von Bohlberg, der die einzige Tochter der Besitzerin geheirathet hatte. Seine Gattin war ihm durch den Willen ihrer Mutter bestimmt gewesen und da es sich traf, daß eine stille herzliche Neigung die beiden Leutchen diesem Willen gefügig machte, so konnte man sagen, die Mutter habe das Glück ihrer Kinder durch weise Umsicht begründet. Seit drei Jahren war sie heimgegangen zu ihren Vätern. Ihre Augen schlossen sich unter der Überzeugung, daß das Glück ihrer Tochter gesichert sei und, ihren Anordnungen zufolge, von keiner Seite erschüttert werden könne.

Wie wenig auf menschliche Berechnung zu trauen ist, sollte sich jetzt herausstellen. Ein schöner frischer Sommermorgen hatte Herrn von Bohlberg frühzeitig zu einem Gange ins Feld gelockt, um Revisionen anzustellen. Er gehörte zu der Klasse von Landwirthen, die arbeitsam, überlegend und sparsam, stets darauf aus sind, ihre Einrichtungen genau so zu treffen, daß die Geschäfte harmonisch in einander greifen. Bohlberg war trotz seiner vierzig Jahre noch ein junger, hübscher Mann zu nennen, dessen stattliches Wesen ganz zu der Würde eines Gebieters paßte.

Als er von seinem Geschäftsgange ins Feld heimkehrte, traf er mit dem Briefboten aus der nächsten Landstadt zusammen, der ihm einen Brief an seine Gattin einhändigte. Etwas verwundert betrachtete der Herr diese Epistel und studirte die schlecht geschriebene, bombastische Aufschrift: »An die gnädige Frau von Bohlberg, geborene Freiin von Thurgau-Wederstedt auf Wederstedt.«

Kopfschüttelnd trat Herr von Bohlberg in's Haus und lauschte in das Wohnzimmer rechter Hand um zu sehen, ob seine Frau dort sei. Sie saß am letzten Fenster eifrig mit Nähen beschäftigt, während am nächsten Fenster zwei junge Mädchen verschiedenen Alters an einem großen Teppich stickten. Die ältere der beiden Künstlerinnen war blond, hatte ein weiches, freundliches Gesicht und zählte ungefähr zweiundzwanzig Jahre. Ihr Anzug verrieth, daß sie nicht gerade zur Familie gehöre, aber doch eine höhere Stellung bekleide, als ein dienstbarer Geist. Sie war als Waise von der früheren Eigenthümerin des Gutes, der Frau von Thurngau, erzogen und man behandelte sie deshalb als Pflegekind des Hauses, wofür sie sich überall nützlich zu machen suchte.

Die zweite junge Dame war ganz augenscheinlich die Tochter vom Hause, die sich ihrer Stellung und ihrer Rechte vollkommen bewußt schien. Sie verhielt sich bei ihrer Beschäftigung keineswegs ernsthaft und ruhig, sondern störte durch ihr übermüthiges Wesen oftmals die nothwendige Besonnenheit des andern Mädchens, wofür sie denn jedesmal durch einen leichten Klapps auf die Hand bestraft wurde.

Diese junge Dame stand auf der Grenze der Kindheit und hatte ihr vierzehntes Jahr eben erst erreicht. Sie war ein frisches blühendes Mädchen, mit sehr gewecktem Geiste, frühreifem Verstande, mit seltener Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit und mit einer merkwürdigen Beobachtungsgabe ausgestattet. Solche Charakteranlagen bilden sich in den früheren Jugendjahren zu einem vorlauten Wesen aus und müssen erst durch die Schule des Lebens die nöthige Politur erhalten, um sich zu einer schätzenswerthen Liebenswürdigkeit umzuwandeln.

Für jetzt laborirte Fräulein Helene von Bohlberg noch stark an den Fehlern ihrer Jugendzeit und trieb ihre Wahrheitsliebe außerordentlich leicht bis zur Naseweisheit. Sie fand in ihrer Pflegeschwester Henriette leider eine viel zu nachsichtige Gefährtin, eine viel zu gütige Vertreterin aller dummen Streiche, die sie sich in Bezug darauf zu schulden kommen ließ, als daß zu hoffen war, ihre Selbstbeherrschung werde alsbald dergestalt erstarken, daß sie ihre Meinung so lange für sich behielte, bis sie gefragt werden würde.

Herr von Bohlberg trat lachend in's Zimmer und durchschritt das weite Gemach bis zum Platze seiner Gattin mit den Worten:

»Was ist denn das für ein Correspondent, der es für nothwendig hält, deinen ganzen Stammbaum auf die Adresse zu setzen, liebe Bertha?«

Frau von Bohlberg blickte überrascht von ihrer Näherei auf.

»Ein Correspondent? Ich wüßte nicht, daß ich mit irgend Jemand in Briefwechsel stände, der so viel Umstände zu machen nöthig hätte.«

Helene war sogleich mit dem vollen Uebermuthe der Jugend aufgesprungen hatte ihre Arbeit zur Erde fallen lassen und rief:

»Zeig mal, Papa, zeig mal!«

»An die gnädige Frau von Bohlberg, geborene Freiin von Thurngau-Wederstedt auf Wederstedt,« las sie, mit komischem Pathos, den Brief hoch emporhaltend.

Alle lachten. Aber diese harmlose Heiterkeit sollte rasch ersterben, als Frau von Bohlberg das schlechte Siegel löste und einen Blick auf die Unterschrift warf. Wie gelähmt sank ihre Hand mit dem Briefe auf den Schooß und noch ehe sie den Inhalt desselben kannte, stammelte sie erschreckt:

»Von meinem Vater, Oswald.«

»Von deinem Vater?« fragte Helene ungeheuer verwundert, »lebt denn dein Vater noch, Mama Bertha?«

»Es scheint so,« sprach die Dame tonlos und reichte dem Gatten den Brief zum Lesen.

»Somit hätte ich einen Großpapa auf Erden und davon erfuhr ich nichts?« fragte Helene weiter. »Das muß eine absonderliche Bewandniß haben!«