Eckhard Lange
Lübeck - ausgeplaudert
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Der Anfang: Das deutsche Liubice
2. Zu Besuch in Lubeke
3. Lübeck und die hohe Politik
4. Lübeck – Stadt der Kaufleute
5. Lübeck – Stadt der sieben Türme
6. Dänenherrschaft – Fremdherrschaft?
7. Lübeck – Boomtown des 13. Jahrhunderts
8. Noch einmal: Lübeck als Stadt des Reiches
9. Lübeck – Zentrum des Fernhandels
10. Lübeck und die Hanse der Städte
11. Lübeck und seine Geistlichkeit
12. Lübeck und der „tolle Bischof“
13. Die Hanse und die Dänen
14. Frieden nach außen, Eintracht im Innern?
15. Von Höllenangst und Seelenheil
16. Hinter Lübecks Türen
17. Widrige Zeiten für die Stadt
18. Auf Lübecks Baustellen
19. An der Wende zu einer neuen Zeit
20. Non vi sed verbo – ohne Gewalt, nur durch das Wort
21. Sehnsucht nach verlorener Größe
22. Auf dem Weg durch schwierige Zeiten
23. Und täglich grüßt der Streit ums Geld
24. Den rechten Glauben, Herr, ich mein...
25. Außen hui und innen pfui? Lübeck schminkt sich
26. Das 18. Jahrhundert - Zeit des Wandels
27. Frauenpower trifft Biedersinn
28. Die geschundene Stadt
29. Lübeck, Stadt des Reiches - aber des französischen
30. Kleine Stadt - was nun?
31. Die im Dunkeln sieht man nicht
32. Die Vorstädte: Gartenhäuser, Fabriken, Wohnsiedlungen
33. Im Schlepptau der großen Politik
34. ... Brüder, zur Sonne, zur Freiheit...
35. Herrlichen Zeiten entgegen: Von Hafen bis Hochofen
36. Ein Hoch auf den Fortschritt!
37. Lübecks berühmte Söhne
38. Lübeck und der große Krieg
39. Zwischen Hoffen und Hungern: die Jahre von Weimar
40. Rot gegen Braun, Braun gegen Rot
41. Höre Israel, Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein
42. Gott hat mit mächtiger Stimme gesprochen
43. Die Jahre nach der Stunde Null
44. Wiederaufbau - aber wie?
45. Die letzten Jahrzehnte
46. Was hätten wir eigentlich ebenfalls erzählen müssen?
47. Lübeck im Zeitraffer
Vom gleichen Verfasser sind erschienen:
Impressum neobooks
Der Anfang? Nun ja, das ist meist so eine Sache für die Historiker. Eigentlich hat ein Anfang stets zwei feste Größen: ein Datum und einen Ort. Dabei sind die Daten oft nur noch bloße Schätzungen beim Blick in das Dunkel vergangener Zeiten. Aber ein Ort sollte doch wenigstens lokalisierbar sein. Oder?
Lübeck jedoch hat gleich jeweils zwei davon, denn zwei Orte tragen diesen geschichtsträchtigen Namen: ein Hügel dort, wo die Schwartau in die Trave fließt. Und ein etwas größerer und höherer an jener Stelle, wo die Wakenitz dasselbe macht: in die Trave münden. Und die Daten? Wenigstens wissen wir das – nun, sagen wir etwas vereinfachend – das Sterbedatum des ersten, des alten Lübeck: 1138 nach Christi Geburt. Und wenn wir Helmhold von Bosau trauen dürfen, lautet das Geburtsjahr des zweiten, des neuen, des heutigen Lübeck 1143. Davon ist also zu berichten. Doch genau genommen ist das noch nicht alles. Denn eigentlich wurde Lübeck gleich viermal gegründet, und das an drei verschiedenen Plätzen. Das müssen wir noch erklären. Später!
Angefangen hat alles mit verwegenen Typen, Nobodys nach damaliger Rangordnung. Wagemutige Händler waren schon seit längerem über die Grenze des fränkischen Königreiches hinaus auf abenteuerliche Reisen gegangen. Auch wenn man im Reich weithin von dem lebte, was Ackerboden, Wald und eigene Geschicklichkeit erzeugten, es gab genug Herren im Land, die sich gerne mit exotischen Dingen schmückten. Und die galt es für die Kaufleute weiter im Norden zu erwerben. Schwert oder Spieß in der Hand und den Beutel mit den Silbermünzen am Gürtel, so zogen sie in verschworener Gemeinschaft über Land, Konkurrenten zwar, aber doch auf einander angewiesen in der Fremde. Das mit dem Schwören ist also durchaus wörtlich zu nehmen.
Ziel war die Ostsee, denn dort hausten nicht nur slawische Bauern und Fischer, sondern hier und da an der Küste hatten sich ebenso wagemutige Nordmänner niedergelassen, die mit ihren schlanken Schiffen allerlei Waren aus fernen Ländern herbeischafften – aus den Weiten Russlands, das damals noch nicht so hieß, aus dem reichen Konstantinopel, das heute Istanbul heißt, und sogar dem geheimnisvollen China. Rerik, irgendwo nahe der Insel Poel gelegen, war solch ein Hafen der Wikinger, ehe sie mit Hab und Gut nach Haithabu an der Schlei auswichen. Und vor allem auf Gotland lebten und handelten die Nordmänner. Da lohnte es sich, selber ein Schiff zu besteigen.
So war es ein Segen für die deutschen Kaufleute, dass ein mächtiger Slawenfürst, der eine Burg an der Trave bewohnte, dort, wo die Schwartau in den Fluß mündete, sich dem Christenglauben zugewandt hatte, vorsichtig genug angesichts seiner heidnischen Untertanen. Sogar eine steinerne Kirche stand nun im Ringwall seiner Burg, und nicht nur Priester, sondern auch deutsche Händler ließ er ins Land. Sie bauten ihre Hütten aus Holz, Lehm und Reetdächern am anderen Ufer, gegenüber der slawischen Siedlung, und beide pro-fitierten voneinander. Aber der ständige Streit zwischen den Sachsen und ihren slawischen Nachbarn, die Überfälle durch andere wendische Fürsten brachten ebenso Gefahren mit sich wie Stürme und Seeräuber auf der Ostsee. Und das Jahr 1138 wurde dann zur Katastrophe: Ranen überfielen diese Siedlung, die sich Liubice nannte, plünderten sie und brannten sie nieder. Burg und Kirche blieben als Trümmerhaufen zurück.
Die Deutschen dort waren also wieder einmal auf der Flucht, die Mutigsten ließen sich weiter flussaufwärts nieder, da, wo statt der sumpfigen Uferzonen ein lehmiger Hügel ans Wasser stieß und der feste Strand es erlaubte, die Boote an Land zu ziehen. Zu den slawischen Fischern, die in der Nachbarschaft lebten, hielt man eher Abstand. Als Kunden kamen sie eh nicht in Frage, und das mühselige Missionieren sollten lieber fremde Priester übernehmen. Ihr eigener hatte sein hölzernes Kirchlein, dem heiligen Nikolaus geweiht, oben am Rande des Steilhangs gezimmert. Holz bot der Hügel genug, nicht umsonst hatten die Slawen ihn Bucu – also Buchenwald - genannt. Und der Priester las die Messe ebenfalls lieber seinen deutschen Schäflein als den unverständigen Heiden mit ihren Götzen.
Aber auch hier war wenig Frieden, so wie ihn doch ein Kaufmann braucht, um seinen Handel zu treiben. Zwar hatte schon der große Kaiser Karl einen weiten, unbewohnten Landstrich entlang der oberen Trave zur Grenze erklärt, und sowohl die Sächsischen als die Slawischen hatten jeweils Ringwälle aufgeworfen zum Schutz gegen die Nachbarn, doch Ruhe gab es selten an diesem Limes Saxoniae, wie ihn die Chronisten gerne nannten. Mal zogen die Deutschen gen Osten, um slawische Dörfer niederzubrennen, mal waren es die Slawen, die plündernd und mordend ins Reich eindrangen. Alle Vereinbarungen hielten nicht lange, und die Versuche, den heidnischen Nachbarn den wahren Glauben - und damit auch den Gehorsam gegen die christlichen Herrscher – beizubringen, scheiterten am Starrsinn der Götzendiener. Und wohl auch an ihrer Freiheitsliebe. Und nicht zuletzt daran, dass sie nicht begreifen wollten, dass diese Herrscher von ihnen Abgaben verlangten. Und ihre Priester ebenfalls. Wer teilt schon gerne!
Da erschien eines Tages ein junger Adliger im Grenzland: Adolf von Schauenburg, seines Zeichens Lehnsmann des ebenso jungen, aber energischen Sachsenherzogs Heinrich, der sich stolz 'der Löwe' nannte. Der hatte dem Schauenburger nicht nur die Grafschaft im Gau der Holsten und der Stormarner bestätigt, sondern ihm auch die slawischen Gebiete jenseits der alten Grenze übertragen, damit er endlich dort Ordnung schaffen sollte. Und Adolf erkannte, es würde nicht reichen, ständig Strafexpeditionen auszurichten, befriedet wäre dieses Land erst, wenn es auch von Siedlern aus dem Reich unter den Pflug genommen würde. Platz für beide, Deutsche und Slawen, gab es genug.
So kam der junge Graf an einem schönen Sommertag Anno Domini 1143 hoch zu Roß von Segeberg herüber, um das Slawenland zu erkunden. Und als er den Hügel Bucu entlang ritt, erkannte sein scharfer Blick, dass er einen strategisch hervorragenden Platz vor sich hatte. Denn der Höhenzug war eine langgestreckte Halbinsel, im Osten von der Wakenitz umflossen, ehe sie sich an seiner Südspitze in die Trave ergoß. Sumpfgebiete an beiden Seiten boten weiteren Schutz, und dort, wo eine schmale Landzunge den Zugang von Norden her ermöglichte, hatten ihn schon slawische Herrscher mit einer Burg gesichert. Allerdings: der ringförmige Erdwall bot kaum noch Schutz, die hölzernen Palisaden darauf waren längst vermodert. Aber der Platz war gut gewählt. Denn hier mußte der alte Handelsweg vorbei, der aus Bardowiek kam, der letzten Stadt auf dem Boden des Reiches südlich der Elbe. Von einer Furt über die Wakenitz führte er den Höhenrücken entlang nordwärts, war also an dieser Landenge leicht zu überwachen. Und auch die kleine Siedlung der deutschen Kaufleute bot einen besseren Hafenplatz als im alten Liubice, das dem Grafen wenig ausbaufähig erschien.
.......................................................................................................................................
Ein Trupp Reiter nähert sich von Norden her. Hinter dem jungen Mann an der Spitze trägt ein Knappe das Fähnlein mit dem Wappen des Grafen von Schauenburg, seit kurzem zum Grafen von Holstein ernannt. Eben hebt Graf Adolf die Hand, zügelt sein Pferd und schaut sich um. Der Hügel hat sich zu einem schmalen Grat verengt, zu beiden Seiten schimmert Waser herauf.
„Wo sind wir?“ fragt er einen seiner Begleiter. „Vor dem Hügel, den die Slawen hier Buku nennen, Herr.“ - „Und dort vorne, ist das ein Burgwall?“ - „Ja, Herr, dort herrschte einst Fürst Kruto, der Feind Gottes. Er strafe seine Seele im ewigen Feuer.“
Der junge Graf lächelt: „Aber ein gutes Auge hatte dieser Kruto, mein Lieber. Wenn dieser Weg hier geradewegs über den Hügel hinweg nach Bardowiek führt, kommt niemand ungesehen vorbei. Und wohl auch ungeschoren. Ich will mir diesen Hügel einmal genauer anschauen.“
Der Trupp setzt sich in Bewegung, der kaum noch erkennbare Weg führt durch lichten Wald auf die Höhe des Hügels, dann zweigt ein Pfad zur Rechten ab. Der Graf schwenkt ein, reitet den Hang hinunter. Und stutzt: einige Holzhäuser stehen dort, und dahinter liegen Langschiffe, auf einen schmalen Strand gezogen.
Die Reiter haben das Ufer der Trave erreicht. Ein Mann in den Kleidern der Sachsen tritt aus einer Tür, schaut auf den Wimpel und zieht dann ehrerbietig die Kappe: „Seid uns willkommen, Graf Adolf!“ Der Graf springt vom Pferd: „Wer begrüßt mich hier so freundlich?“ will er wissen.
„Wir sind Kaufleute aus dem Reich,“ antwortet der Sachse, „wir hatten Siedlung und Hafen in Lubice, weiter flußabwärts, bis es überfallen und zerstört wurde. Nun haben wir uns hier niedergelassen. Und es ist ein viel besserer Hafen, wie Ihr seht, auch bietet der Hügel uns Schutz, wird er doch fast ganz von Wasser umflossen und von sumpfigen Ufern gesäumt. Ihr müßtet nur die Burg wieder aufbauen und mit Euren Mannen besetzen. Wenn es erlaubt ist, Euch einen Ratschlag zu geben.“ Adolf blickt ihn nachdenklich an: „Du hast recht, Freund. Und der Hügel ist groß, dorthin könnten wir Siedler holen aus dem Reich, Händler, Handwerker. Dann wird hier dein altes Lubice neu entstehen, größer und schöner - als Stadt des Reiches unter meinem Schutz. Und ihr Kaufleute werdet die ersten sein in dieser neuen Stadt!“
War es so? Oder war es so ähnlich? Vielleicht.
...................................................................................................................................
Adolf beschloß also, nicht nur bäuerliche Siedler ins Land zu rufen, sondern auch Stadtgründer zu werden. Einen Namen gab es ja schon: Die Händler hatten ihn gleich mitgenommen: Liubice. Das neue, das deutsche Liubice war geboren, zunächst nur im Kopf des jungen Grafen, aber bald auch auf dem buchenbestandenen Hügel.
Denn nicht nur die Fernkaufleute aus dem Reich ließen sich hier nieder, ebenso strömten Handwerker aus Sachsen und Westfalen, selbst aus dem fernen Flandern und Friesland in die neue Stadt, und die gräflichen Ministerialen steckten Straßenzüge und Grundstücke ab, verteilten Genehmigungen zum Holzeinschlag, ließen einen großzügigen Markt anlegen dort, wo der Hügel die größte Höhe erreichte, teilten dem Bischof aus dem entlegenen Oldenburg Land zu, damit neben dem Markt eine dem heiligen Petrus gewidmete Kirche errichtet werden konnte und bald auch auf dem Markt selbst eine zweite, die den Namen der Gottesmutter tragen sollte.
Die verfallene Burg wurde für den vom Grafen eingesetzten Stadtvogt ebenfalls wieder hergerichtet, die Wälle erhöht, neue Palisaden eingerammt, und ein Tor sperrte den Zugang über die schmale Landzunge. Noch aber war längst nicht der ganze Hügel bebaut, zwischen Burg und Siedlung dehnten sich Wald und Heideflächen, ebenso lag das alte Kirchlein des Heiligen Johannes einsam am Südende auf der Höhe.
Schauen wir uns im Geiste ein wenig um in dieser neuen Stadt. Nein – dabei nur nicht an das heutige Lübeck denken! Backsteingiebel? Fehlanzeige! Aus gebrannten Ziegeln hat man bislang nur ein paar Treppenstufen, die außen zu einem hölzernen Keller führten, gefunden aus diesen Anfangsjahren. Und letztens auch das Fundament eines Hauses, tief unten am Fußes des Hügels, auf dem die Petrikirche steht. Dennoch: Da stehen keine steinernen Häuser dicht gedrängt, sondern hier ein Gebäude aus Bohlen, dort eines mit hölzernen Ständern und Wänden aus lehmbeworfenem Weidengeflecht. Geflochten auch die Zäune, die die weitläufigen Grundstücke voneinander trennten, damit die Schweine und Ziegen nicht zum Nachbarn entliefen.
Die Straßen, die vom Hügel herab schnurgerade zum Hafen führten, waren meist schlammig und unangenehm riechend, weil allerlei Unrat dorthin entsorgt wurde, denn nicht jeder Neusiedler hatte sich eine Kloake auf dem Hof gegraben, mit Balken oder Feldsteinen versteift und sorgsam abgedeckt, damit niemand in der Dunkelheit hineinstürzen konnte. Ställe und Werkstätten auf den Gehöften ergänzten das Bild – und an manchen Stellen turmartige hölzerne Gebäude, die keine Wohnung enthielten, sondern gut gesicherte Speicher waren für die wertvollen Handelswaren, die nun aus aller Herren Ländern hierher gelangten.
Jenseits der hölzernen Palisade, die die neue Stadt schon bald umschließt, zur Trave hin, liegen auf das Ufer gezogen vor den Hütten der Schiffsleute: Langschiffe nach Wikingerart, aber breitbauchiger für den Transport der Güter, daneben sind Riemen und Masten sorgsam gelagert. Träger eilen hin und her, schleppen Stoffballen, vor allem aber unzählige Tonnen, jene Allzweck-Container des Mittelalters. Hier und dort auch ein Haus, in dem für die Hungrigen und Durstigen Bier oder Brei in hölzernen Gefäßen angeboten wird – und gelegentlich auch andere Dienste, begehrt nach Tagen der Enthaltsamkeit auf der See. Davor hocken Schifferknechte beim Spiel und verwürfeln ihren bescheidenen Lohn, statt ihn zu vertrinken.
Aber auch Kaufleute gehen gemessenen Schrittes zum Tor in der Palisade, vielleicht in eifrigem Gespräch mit einem Schiffsführer oder einem anderen Händler.
.......................................................................................................................................
Hinrich, seines Zeichens lübischer Kaufmann, trat aus seinem breiten Hallenhaus, oben gleich unterhalb der hölzernen Kirche, die der Heiligen Jungfrau geweiht war. Es hatte wieder einmal tagelang geregnet, und der Weg hinab zum Hafen war schlammig. Da nützten auch die hölzernen Trippen mit ihren Stelzen nicht viel, die er unter seine Lederschuhe gebunden hatte.
Doch als er seinen Nachbarn Johann von Soest traf, der ebenfalls zu den Schiffen hinab wollte, hatte er andere Sorgen: „Dieser Morast hier ist höchst unerfreulich,“ sagte er, kaum dass die beiden einen Gruß gewechselt hatten. „Es ist schon bei trockenem Wetter mühevoll genug, wenn unsere Männer die Waren mit dem vollbeladenen Karren den Weg hinaufziehen müssen. Aber heute scheint es ganz unmöglich zu sein.“
„Ja, Hinrich, das mag wohl sein. Doch muß es so bleiben?“ Der Kaufmann blickte den anderen fragend an. „In meiner Heimat Soest gibt es viele Moore rings herum, und dennoch kann man sie überqueren. Die Leute dort haben mit Stämmen und Knüppeln einen festen Damm errichtet und etwas Erde darauf geschüttet. Da kannst du trockenen Fußes den Morast überqueren. Sollte das nicht auch auf unseren Straßen möglich sein?“
Hinrich schlug dem Freund kräftig auf die Schulter. „Du hast recht. Doch das geht nur, wenn alle hier in der Straße mitmachen. Ich werde deinen Vorschlag gleich in der nächsten Versammlung der Verschworenen vortragen. Sie haben das Recht, solche Arbeiten anzuordnen, wenn sie dem Wohl der ganzen Gemeinde dienen.“ Und so geschah es auch.
War es so? Oder war es so ähnlich? Vielleicht.
....................................................................................................................................
Sie haben dafür gesorgt, dass statt des schlammigen Weges ein fester Knüppeldamm hergerichtet wurde, um darauf bis zum Markt zu gelangen mit den zweirädrigen Karren. Angeboten wurden dort oben all die Dinge des täglichen Bedarfs, weil die Stadt inzwischen Marktrecht hatte, die kostbaren Waren der Fernhändler dagegen lagerten sicher verwahrt in den Kellern, Speichern und auf den Böden.
Noch fuhren die meisten Kaufleute selber hinaus auf den Schiffen, an deren Besitz sie beteiligt waren, die aber auch Waren anderer Händler beförderten. So teilte man das Risiko; denn die Gewinnspannen waren zwar gewaltig, aber die Gefahren, Schiff und Ladung zu verlieren, nicht minder.
Besonders die Tuche mussten in einer besonderen Halle neben dem offenen Markt angeboten werden, zu kostbar waren die Stoffe, und vor allem brachte ihr Handel Steuern ein, die es zu kontrollieren galt. Zugleich aber treffen sich in dieser Halle jene Männer, die vom Stadtvogt ausgewählt waren, all das zu kontrollieren: die Ordnung auf dem Markt, den Einzug der Abgaben, den Zustand der Palisaden und Tore, die Ausstattung der Kirchen. Noch gilt diesseits und jenseits der Stadtgrenzen das gleiche Landrecht des Fürsten, aber bald ringen jene ersten Vertreter der Bürgerschaft ihrem Stadtherrn, zunächst Graf Adolf und dann Herzog Heinrich, mancherlei Befugnisse ab, um selbst über die Stadt zu bestimmen. Und im Jahre 1160 verleiht der Herzog seiner Stadt Lubeke auch ganz offiziell das Stadtrecht, wie es in Soest schon galt und den Bürgern Selbstverwaltung zugestand. Aus den beauftragten Bürgern, Fernhändler zumal, waren jetzt Ratmänner geworden: Männer, die für die Geschicke der Stadt im Inneren wie im Äußeren Verantwortung trugen, auch wenn der Herzog Stadtherr blieb und allerlei Abgaben verlangte. Aber die Mitglieder des Rats wählten sich nun ihre Bürgermeister selbst, und aus der Tuchhalle wurde so etwas wie ein erstes Rathaus, wo sich ein ehrbarer Rat versammelte.
Lubeke – so nannte man übrigens die Stadt an der Trave inzwischen im Reich. Wer will schon gerne einen slawischen Namen tragen, der für die deutsche Zunge zudem nur schwer auszusprechen war!
Neben all den Luxuswaren gab es seit langem ein Handelsgut, das nicht nur bei den Reichen begehrt war im Reich: Getrockneter oder gesalzener Fisch. Denn er konnte jene Nahrungsmittel aus dem Fleisch von Tieren ersetzen, deren Genuß allen Christenmenschen an den Fastentagen untersagt war – und davon gab es viele, nicht nur die vierzig Tagen vor dem Osterfest, sondern auch zu anderen Zeiten und an jedem Freitag ohnehin, weil er an die Kreuzigung des Herrn erinnerte. Schon lange war auf dem Handelsweg von Bardowiek, der letzten großen Stadt des Frankenreiches, über Liubice und die Ostsee Hering in großen Mengen nach Süden verbracht worden. Aber er wollte zunächst einmal gesalzen werden, und dieses wichtige Produkt mussten die Skandinavier aus dem Reich, genauer: aus Lüneburg einführen. So wanderten tausende Salztonnen hin und her – mit dem weißen Gold nach Norden und den gut gesalzenen Fischen zurück nach Süden. Und bald lief Lübeck dem sächsischen Bardowiek den Rang ab: Denn hier trafen nun Land- und Seeweg zusammen, hier wurde umgeschlagen und entsprechend Gewinn gemacht.
Herzog Heinrich sah es mit wachsendem Unmut, denn die entsprechenden Steuern kassierte jetzt nicht mehr der herzogliche Vogt in Bardowiek, sondern Graf Adolf als Stadtherr von Lübeck. Nun war der Schauenburger zwar Lehnsmann des Herzogs, doch teilen wollte er den Gewinn nicht, im Gegenteil: Im nahen Oldesloe fanden sich Salzquellen, so wurde auch Lüneburg und damit wiederum der Herzog geschädigt. Aber Heinrich hatte ein wirksames Mittel in der Hand, ohne dass er zur Waffe greifen mußte: die Privilegien Lübecks. Er hatte sie ausgestellt in Vertretung des Kaisers, also konnte er sie auch wieder zurücknehmen. So verbot er 1156 der Stadt den Fernhandel, ob auf dem Markt oder am Hafen. Der Graf verlor viel Geld, die Lübecker aber noch mehr: nämlich die Grundlage ihrer Existenz. Als dann im Jahr darauf eine gewaltige Feuersbrunst die gesamte Stadt niederbrannte, schien ihr Ende nach nur wenigen Jahren besiegelt.
Die Häuser hätte man wieder aufbauen können, aber was ist ein Kaufmann, wenn er nicht handeln darf? Also schickten die Lübischen zum Herzog: Wenn er etwas gegen den Grafen habe, dann würden sie ja bitte schön auch da ihre Stadt anlegen, wo er das Sagen habe. Heinrich wies ihnen einen Platz an der Wakenitz zu, dort, wo ihre Schiffe allerdings nicht mehr hin segeln konnten angesichts der Wasserstände, und wir dürfen vermuten, genau das war auch gewollt.
Denn weder Herzog noch Graf hätten dabei letztlich etwas gewonnen. Verhandlungen folgten, die beiden feilschten, aber endlich trat Graf Adolf seine Rechte an Lübeck, jetzt nur noch ein wertloser Trümmerhaufen, an seinen Herzog ab, gegen gutes Geld, versteht sich, und der Löwe gründete die Stadt von neuem, jetzt also zum vierten Mal, eben dort, wo sie hingehörte: auf dem Hügel Buku. Das war im Jahre 1159. Nun saß also ein herzoglicher Vogt in der Burg von Lubeke. Aber wichtiger war, dass alle alten Privilegien bestätigt wurden, dass der Handel wieder florierte. Und dass man jetzt einen weitaus mächtigeren Schutzherren hatte.
Doch der wurde irgendwann zu mächtig – zunächst in den Augen vielen Fürsten des Reiches und vor allem der sächsischen Adligen, endlich jedoch auch seines Kaisers Friedrich I, genannt Barbarossa. Die beiden waren zwar Vettern, und der Rotbart hatte den Löwen lange Zeit gewähren lassen, sicherte er doch das Heilige Römische Reich gegen die Dänen und die slawischen Obotriten. Aber als der Herzog ihm die Heerfolge verweigerte bei seinen Kämpfen in Oberitalien, war der Bogen überspannt: Der Kaiser ließ den Unbotmäßigen auf dem Hoftag in Gelnhausen 1180 verurteilen und ächten, sein Herrschaftsgebiet wurde aufgeteilt und anderen übertragen. Doch noch gab der Löwe sich nicht geschlagen, also mußte der Kaiser ihn mit Waffengewalt vertreiben.
Und so war Lübeck plötzlich hineingezogen in die große Politik: 1181 erschien Barbarossa mit Heeresmacht vor den kürzlich errichteten Mauern der Stadt und ließ schon einmal einige Bliden heranschaffen, um große Steine gegen die Mauern und darüber hinweg auch in die Stadt zu schleudern - damals eine gefürchtete Waffe. Nicht jede Stadt ließ sich schließlich mit einem trojanischen Pferd erobern.
.......................................................................................................................................
Im Saal über der Tuchhalle am Markt versammelten sich die Ratsherren, allesamt Fernkaufleute. Man war besorgt, sehr besorgt sogar. „In wenigen Tagen wird der Kaiser mit seinen Truppen vor dem Burgtor stehen,“ sagte Herr Gerhard und nahm auf dem Stuhl des Bürgermeisters Platz. „Graf Simon wird die Tore nicht freiwillig öffnen, schließlich vertritt er den Herzog.“
„Dem wir einen feierlichen Treueid geschworen haben,“ ergänzte Herr Albrecht, der Älteste unter den Ratsherren. „Wir werden wohl oder übel unsere Stadt verteidigen müssen.“ - „Um dann von den Kaiserlichen erstürmt zu werden! Nein, Albrecht, das wird nicht gut ausgehen. Wir sollten die Sächsischen samt dem Grafen in der Burg einschließen und den Kaiser würdig empfangen,“ schlug ein anderer vor. „Die römische Majestät ist schließlich Lehnsherr auch des Herzogs, und sie hat ihn in die Acht getan.“
„Und wie wollt Ihr einst vor den himmlischen Richter treten - als Eidbrüchige?“ erregte sich Albrecht, der wahrscheinlich als erster diesen Gang anzutreten hatte.
Bürgermeister Gerhard hob beide Hände: „Das mit dem Schwur bei allen Heiligen ist eine Sache, da mag jeder sein Gewissen befragen. Aber wir sollten auch etwas anderes bedenken in dieser Stunde: Wir alle sind Kaufleute, jeden Tag schließen wir Verträge mit Käufern und Kunden, und nicht nur mit Händlern, sondern auch mit Städten und Fürsten, leisten einen Eid, um uns für den Vertrag zu verbürgen. Ich frage Euch, ihr Herren: Wer wird uns noch trauen, uns für ehrbare Kaufherren halten, wenn wir einen so wichtigen Eid leichtfertig brechen? Und wissen wir, ob der Herzog nicht einmal zurückkehren wird? Was wird er dann mit dieser Stadt tun? Denkt nur an Halberstadt! Das hat er grausam niederbrennen lassen, als er mit Bischof Ulrich in Streit geraten war.“
Nun mischte sich Herr Johann ein. Er war weit herumgekommen mit seinen Schiffen, war welterfahren und klug: „Gerhard hat recht,“ sagte er, „aber es gibt einen Weg: Wir sollten Herzog Heinrich bitten, uns von diesem Eid zu entbinden. Bitte, haltet das nicht für einfältig! Er wird einwilligen, eine vom Rotbart zerstörte Stadt nützt ihm wenig. Noch hofft er ja, gegen die kaiserliche Majestät zu gewinnen. Und wir sollten den Kaiser um Waffenruhe bitten - und um Erlaubnis, dass wir Boten nach Stade zum Herzog schicken mit diesem Anliegen. Sind sie zurück, würden wir ihn mit allen Ehren in unserer Stadt begrüßen.“
War es so? Oder war es so ähnlich? Vielleicht.
.......................................................................................................................................
Zum ersten Mal war also hohe Diplomatie gefragt. Und die übernahm ein anderer Heinrich: Lübecks Bischof, aus dem fernen Oldenburg inzwischen an die Trave übergesiedelt und mit dem Herzog seit langem freundschaftlich verbunden. Er handelte mit dem Kaiser eine Waffenpause aus, damit der Lübecker Rat nach Stade schicken konnte. Der Kaiser mag gerührt gewesen sein über so viel Biederkeit - da war er aus den eigenen Kreisen anderes gewohnt - Heinrich war da das beste Beispiel. Doch der geschasste Herzog gewährte gnädigst das Erbetene.
So empfingen nun die Bürger Lubekes den hohen kaiserlichen Herrn mit aller Ehrerbietung: Feierlich wurde er in die Stadt geleitet, mit Hymnen und Lobgesängen, wie die Chronik vermeldet, und das nicht ohne Grund: Denn was würde mit all den wichtigen Privilegien geschehen, die Heinrich gewährt hatte, wenn es nun keinen Sachsenherzog mehr gab? Wer würde Stadtherr werden, Schutzherr in gefährlichen Zeiten? Und der Kaiser gab sich großzügig: Nicht nur all diese Rechte gewährte er, sondern auch manches mehr. Vor allem Land rings um die Stadt und Besitzrechte auf dem Wasser übertrug er den Bürgern Lübecks – ein unschätzbarer Gewinn im Dauerstreit mit den Holsteiner Grafen.
Und 1188 legten ihm Lübecks Gesandte dann noch einmal eine schöne Urkunde vor, die man eigens für ihn aufgeschrieben hatte, mit alledem, was er zugesagt hatte – und vielleicht noch ein bisschen mehr? Schaden könnte das ja nicht, und das Original wäre schließlich nur in Lübeck einzusehen. Jedenfalls bestätigte Friedrich Barbarossa feierlich, dass Lübeck nicht etwa den Grafen von Holstein, sondern allein dem Kaiser unterstellt sei. Die Verwaltung aber blieb dem Rat vorbehalten, er konnte ordnen, was es zu ordnen gab, zum Besten der Stadt und ihrer Bürger. Lübeck war eine freie Stadt des Reiches geworden – aber nur, wenn das Reich stark genug und willens war, das auch durchzusetzen.
In jeder Stadt des Heiligen Römischen Reiches, gleich ob schon aus römischen Zeiten herübergerettet oder neu gegründet, gab es eine ständische Ordnung: Es gab Krämer und Großkaufleute, es gab Handwerker unterschiedlichster Art und Bedeutung, organisiert in Zünften, Gilden oder Ämtern, es gab Mägde, Knechte, Gesellen, Lehrlinge, Tagelöhner und „unehrliche“ Berufe wie den Abdecker oder den Henker, aber auch den Spielmann oder den Barbier. Und es gab eine Hierarchie im System der Mitbestimmung am Schicksal der Stadt: Da waren die herrschenden Familien, „ratsfähig“ nannte man sie in Lübeck, Patriziat in anderen Städten, da war die gar nicht so große Zahl der einfachen Bürger, also im Besitz des Bürgerrechts und damit in meist recht geringem Maße mitbeteiligt an manchen Entscheidungen, und da war die große Menge bloßer Einwohner, weil sie die Bedingungen für einen Bürgereid nicht erfüllten: Grundbesitz, bestimmte Einkünfte, freie und 'ehrliche' Geburt. Und männlich mussten sie auch sein! Demokratisch sieht anders aus. Aber dieser Begriff stammt schließlich aus einer anderen Zeit. Heute würde man das eine Oligarchie nennen.
Lübeck war da keine Ausnahme, im Gegenteil: Seit dem ersten Tag waren es die Fernhändler, die hier schon vor der Gründung lebten und handelten, Männer, die sich um des Handels willen zusammentun mussten und dann wohl auch als eine Art Schwurgemeinschaft dem Stadtgründer gegenüberstanden. Jedenfalls stellten sie die Verhandlungspartner des Stadtherrn, aber auch die ersten Männer, die Verantwortung übernahmen für gemeinnützige Aufgaben. Schließlich ging es bei allem um ihre Existenzgrundlage, den freien Handel. Aber auch adlige oder (obwohl das im Grunde dasselbe war) geistliche Stadtherren anderweitig förderten die Kaufleute in ihren Städten nach Kräften, denn ihre Tätigkeit war auf Gewinn ausgerichtet, während das Handwerk sich mit Selbstversorgung zufriedengab. Und Gewinn lässt sich abschöpfen – durch Zölle, Abgaben, Steuern. Daher der Boom der Stadtgründungen im 11. und 12. Jahrhundert!
Daher auch die Bereitschaft der adligen Herren, dieser neuen Schicht neue Rechte einzuräumen. Denn eigentlich waren im christlichen Weltbild Handeltreibende gar nicht vorgesehen. Die Gesellschaft bestand, so wusste man, aus drei tragenden Säulen: demAdel, dem Klerus und der – arbeitenden – Landbevölkerung, oder, wie man es formuliert hat: bellatores, der Wehrstand, oratores, der Lehrstand und laboratores, der Nährstand. Konnte man zum letzteren notfalls auch die Handwerker rechnen, der frei herumreisende Händler passte dort nicht hinein. Er war zwar Untertan und Bürger, aber zugleich auch Abenteurer und Weltbürger; er besaß Haus und Grund und erwirtschaftete doch sein Vermögen durch Kauf und Verkauf; er war reich nicht wegen der Hufen in seinem Besitz, der Abgaben seiner Hörigen, sondern weil sich in seiner Truhe gemünztes Silber ansammelte. Und er trat Adel und Klerus zunehmend selbstbewusster gegenüber.
Nehmen wir also ein wenig Anteil an einem lübischen Kaufmann! Nennen wir ihn Johann Bardewick, unseren erdachten Handelsmann. Denn er war von dort – aus der damals noch florierenden Metropole Bardowiek – ins aufstrebende Lubeke gekommen, mit Sack und Pack sozusagen. Er war also neu in der Stadt an der Trave, aber kein Unbekannter, hatte er doch schon seit Jahren erfolgreich im Salzhandel mitgemischt. Seitdem aber die Ilmenau jetzt auch bis Lüneburg schiffbar wurde, fiel Bardowiek als Umschlagplatz fort; und außerdem hatte Herzog Heinrich seine Gunst ganz der neuen Hafenstadt zugewandt. Da war es lohnender, seine Geschäfte gleich von dort aus abzuwickeln. So erwarb Johann ein noch unbebautes Grundstück in der Mengstraße, dicht am Hafen, errichtete dort ein Hallenhaus, wie es in seiner sächsischen Heimat üblich war – dreischiffig mit kräftigen Hölzern als Pfeiler, um auch den weiten Boden unter dem Reetdach gut nutzen zu können.
Das nötige Vermögen hatte er aus Bardowiek mitgebracht, und es half ihm auch, möglichst rasch den Eid auf den Rat abzulegen, um die Bürgerrechte zu erhalten. Sein Weib, die zwei Söhne und drei Töchter waren ihm gefolgt, und für Trineke, die jüngste, hatte er schon einen Vertrag mit der Oberin des gerade erst geweihten Johannesklosters geschlossen, falls er sie nicht unter die Haube bringen konnte. Hinrich, sein Ältester, war schon fast erwachsen und würde ihn bald auch auf seinen Fahrten begleiten können. Denn Johann hatte vor, seine Geschäfte auszuweiten: Schon aus Bardowick hatte er Anteile an drei lübischen Schiffen erworben, und auf einem wollte er sich zum ersten Mal in seinem Leben auf die stürmische See begeben.
Vorsorglich hatte er beim Rat ein Testament hinterlegt, bezeugt von zwei Ratsherren, und außerdem dem Altar des Heiligen Nikolaus als Schutzpatron der Schiffer zwei große Wachskerzen gestiftet. Übrigens war Nikolaus gleichsam umgezogen: Der Herzog hatte dem Wunsch des Oldenburger Bischofs stattgegeben, den Sitz des Bistums nach Lubeke verlegen zu dürfen, hatte ihm Grund und Boden im Süden des Stadthügels geschenkt und dort ein erstes, noch recht bescheidenes Oratorium errichten lassen, damit Bischof und Domherren die Messe feiern konnten.
Vor allem aber hatte er einige Jahre später feierlich den Bau eines steinernen Domes begonnen, einer Basilika von beträchtlichem Ausmaß, wie sie einem Bischof gebührte. Selbst der Erzbischof aus dem fernen Bremen war angereist, um der Weihe des Grundsteins die nötige Würde zu geben.
Und der Backstein imponierte anscheinend dem Herzog als Baumaterial, so dass er ihn nicht nur für seine Burg im Norden der Halbinsel verwendet, wo diese Ziegel bis auf den heutigen Tag das Fundament am Burgtor bilden. Er nutze sie einige Zeit später, als er schon den Zorn seines kaiserlichen Vetters zu spüren bekam, auch für die bürgerliche Civitas, also den besiedelten Teil auf der Mitte des Hügels, die er nun mit einer Backsteinmauer gegen einen befürchteten Angriff sicherte.
Um auf Johann zurückzukommen: Er plante also, die Insel Gotland anzusteuern, denn der Herzog hatte nicht nur den Gotländern zollfreien Handel in seinen Territorien zugesichert, sondern im Gegenzug auch die Rechte seiner lübischen Kaufleute dort auf der Insel gefestigt – ein weitsichtiges Abkommen war so 1160 zustande gekommen. Wir berichteten bereits davon, Die Schwurgemeinschaft der deutschen Gotlandfahrer hatte nun feste Häuser und einen ständigen Vertreter dort auf der Insel, gleichsam einen zollfreien Hafen und eine exterritoriale Siedlung. Auf Gotland landeten die Nordmänner schließlich alle Waren an, die sie aus Nowgorod und von den Häfen der Esten und Kuren herbeibrachten.
Aber der Schiffsführer, dem sich Johann anvertraut hatte, wollte mehr: selbst von Gotland aus die ferne Küste ansteuern, hinter der dieses sagenhafte Nowgorod lag – ein großes Abenteuer, aber eine ebenso große Chance, den Gewinn ohne den Zwischenhandel um ein vielfaches zu steigern. So konnten die mitgeführten flandrischen Tuche und die Schwerter und Helme westfälischer Werkstätten direkt gegen Zobel und Marder, aber auch gegen Teer und Wachs getauscht werden.
Lassen wir es also dahingestellt, ob unser guter Johann gesund und mit reichem Gewinn seine Reise beendet hat oder doch in Visby von einem rauflustigen Gotländer erschlagen wurde oder gar in den Tiefen der Ostsee inmitten eines Schiffswracks auf die Auferstehung des Leibes wartet, an die er sicher fest geglaubt hat. Vielleicht aber begegnen wir seinem Sohn oder Enkel ja noch einmal im Laufe der Geschichte.
Zugegeben, Köln hatte im Mittelalter weitaus mehr Kirchen als Lübeck, aber Köln war auch jahrhundertlang die größte Stadt des Reiches nördlich der Alpen – und übrigens auch der Ursprungsort der Hanse. Aber davon später. Doch mit seinem Dom, den vier Pfarrkirchen, vier Klöstern, einem Spital und einigen Kapellen konnte die ja erst viel später entstandene Stadt an der Trave sich schon sehen lassen. Sieben Türme, ihr heutiges Markenzeichen, hatte sie damals allerdings noch nicht. Und wir hatten es schon gesehen: Die Anfänge des Kirchbaus waren noch äußerst bescheiden: Hölzerne Kirchlein, wohin man blickte. Aber schon bald – anders als die ersten Feldsteinkirchen in Wagrien – entdeckte man (wieder) ein solides Baumaterial: den Ziegel, oder, wie man gemeinhin hier entlang der Ostsee sagt: den Backstein.
Steine hatten die Eiszeiten zwar hier und da zurückgelassen, aber nur hartes Felsgestein statt der weiter südlich üblichen und leichter zu bearbeitenden Sand- oder Kalksteine. Ton dagegen gab es in großen Lagern, längs der Trave gleich vor der Stadt, und bald wurden die Holzbauten durch Backsteinkirchen ersetzt. Noch waren es romanische Basiliken, eintürmig und massiv. Aber Herzog Heinrich plante für das Lübecker Bistum schon eine Kathedrale, zweitürmig, wie es sich für eine Bischofskirche gehörte, ähnlich dem Dom seiner Residenzstadt Braunschweig. 1173 hatte er gemeinsam mit Bischof Gerold den Grundstein gelegt – wir wissen es schon - und zugleich für den Bau eine jährliche Gabe von 100 Mark gestiftet – damals eine beträchtliche Summe, zumal der Löwe ja auch andere Bistümer im slawischen Missionsgebiet förderte: Ratzeburg und Schwerin.
Es war mit den 92 Metern in der Länge der erste Großbau, den man allein mit den kleinen Ziegelsteinen aufführen wollte, und entsprechend mächtig mussten Wände und Pfeiler werden. Der Bau zog sich hin, nicht nur, weil die vielen Backsteine mühsam genug produziert werden mussten, sondern auch wegen der unsicheren politischen Verhältnisse, nachdem der Löwe gestürzt und das Herzogtum zerschlagen war. Erst 1247 konnte der Dom geweiht werden - fast hundert Jahre später. Knapp zwei Jahrzehnte danach jedoch reichte er den Bischöfen nicht mehr, denn sie unterlagen einem ständigen Konkurrenzdruck im Vergleich mit der Kirche des Rates, St. Marien.
...................................................................................................................................
Vor jeder Sitzung versammelte sich der Rat in der Marienkirche, um der heiligen Messe zu lauschen, bevor er ins Rathaus hinüberging. Doch heute ist es anders: Statt schweigend in den Ratssaal zu schreiten, hält Wilhelm Witte seinen Ratskollegen Heinrich von Bockholt zurück: „Auf ein Wort, Heinrich! Habt Ihr bemerkt, wie düster unsere Kirche heute wieder gewirkt hat?“ - „Es ist neblig, da mag es wohl so scheinen,“ erhält er zur Antwort.
„Nein, das ist es nicht: Die kleinen Fenster, dieser ganze Bau - das ist doch nicht mehr unserer Zeit angemessen. Da baut man im fernen Frankreich längst anders.“ - „Wilhelm, haben wir nicht die alte Basilika gerade erst zu einer weiten Halle umgebaut, wie man es in Westfalen getan hat? Und unser Werkmeister mit seinen Leuten ist noch lange nicht fertig. Wie sollen wir seine Pläne da noch einmal ändern?“ Herr Wilhelm schaut den anderen mit geheimnisvoller Miene an: „Wir müssen jetzt eilen, die anderen sind schon durchs Tor. Aber ich bitte Euch heute nach dem Angelusläuten zu mir, da möchte ich Euch zeigen, was ich von der letzten Reise nach Flandern mitgebracht habe.“
Heinrich von Bockholt ist neugierig geworden, so schreitet er eilig die Alfstraße hinunter, um Wilhelm Witte zu besuchen, kaum, dass die Glocken im Turm von St. Marien verklungen sind. Der Ratsherr erwartet ihn schon, führt ihn in seine Dornse und öffnet eine Truhe, um eine große Rolle zu entnehmen. Er breitet sie auf dem Pult aus und wartet schweigend, dass sein Gast die Zeichnung betrachtet.
Dann blickt Heinrich auf: „Das ist gewaltig,“ sagt er ehrfürchtig, „aber glaubt Ihr wirklich, eine solche Kirche kann man bauen? Die riesigen Fenster in den Wänden, dieser ganze Zierat! Und dann diese Türme, als ob sie den Himmel berühren! Das kann kein Werkmeister zustande bringen.“