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GUDRUN KRÄMER

DER ARCHITEKT DES ISLAMISMUS

Hasan al-Banna und die Muslimbrüder

Eine Biographie

C.H.BECK

Historische Bibliothek der GERDA HENKEL STIFTUNG

Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung wurde gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck gegründet. Ihr Ziel ist es, ausgewiesenen Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften einer interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Stiftung unterstreicht damit ihr Anliegen, herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistungen zu fördern – in diesem Fall in Form eines Buches, das höchsten Ansprüchen genügt und eine große Leserschaft findet.

Zuletzt erschienen:

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt
Geschichte der Renaissance

Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik
Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters

Hartmut Leppin: Die frühen Christen
Von den Anfängen bis Konstantin

Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer
Europas Kriege in der Moderne

Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung
Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.

Jill Lepore: Diese Wahrheiten
Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika

Klaus Mühlhahn: Geschichte des modernen China
Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart

Thomas O. Höllmann: China und die SeidenstraßeKultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart

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Zum Buch

Die Muslimbrüder gehören seit ihrer Gründung im Jahr 1928 zu den einflussreichsten islamischen Bewegungen der Gegenwart, auf die sich islamische Aktivisten von der palästinensischen Hamas bis zur türkischen AKP beziehen. Auf der Grundlage vielfältiger, bislang kaum ausgeschöpfter arabischer Quellen zeigt Gudrun Krämer, wie Hasan al-Banna (1906–1949) aus einem sufisch inspirierten Bildungs- und Wohltätigkeitsverein eine Massenorganisation mit Hunderttausenden von Anhängern schuf, die unter Berufung auf die Religion Politik machte. Neben einem eigenen Zweig der Muslimschwestern entstand im Schatten des Zweiten Weltkriegs auch ein Geheimapparat. Ende 1948 wurde die Muslimbruderschaft verboten, wenig später fiel al-Banna einem Attentat zum Opfer. Noch heute dient er nicht-jihadistischen Islamisten als Referenz. Gudrun Krämer erhellt die ideengeschichtlichen Grundlagen, das soziale Umfeld und den politischen Kontext der Bewegung, porträtiert Mitstreiter und Gegner und erschließt anhand der Biographie Hasan al-Bannas eindrucksvoll ein Schlüsselkapitel in der Geschichte des modernen Islam.

Über die Autorin

Gudrun Krämer war bis zu ihrem Ruhestand Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktorin der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, des Wissenschaftsrats und Mitherausgeberin der Encyclopaedia of Islam Three. 2010 wurde sie mit dem Gerda-Henkel-Preis ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihr u.a. die Standardwerke «Geschichte Palästinas» (6. Aufl. 2015) und «Geschichte des Islam» (Neuausgabe in Vorbereitung).

Inhalt

Vorwort

1. Bildung und Frömmigkeit im ländlichen Raum

Ahmad al-Banna as-Saʿati: Der gelehrte Uhrmacher

Kulturelle Renaissance und religiöse Reform

Korrektur und Mahnung

Patriotismus

Das Lehrerseminar in Damanhur

Die Begegnung mit dem Sufismus

2. Die Zeit der Orientierung

Brüche und Übergänge

Das Dar al-ʿUlum

Der Turbanstreit

Das islamische Milieu

Die Wiederentdeckung der islamischen Klassiker

Ahmad as-Saʿati und der «Musnad» des Ahmad b. Hanbal

Islamische Vereinigungen

«Männer machen Nationen, Mütter machen Männer»

Die Zeitschrift «al-Fath» und der Verein Muslimischer Junger Männer

3. Baupläne: Die Muslimbrüder in Ismailiyya

Sondierungen

Die Gründung der Muslimbruderschaft

Erste Erfolge

Erste Zweifel

4. Grundmauern: Die Muslimbrüder in Kairo

Neue Räume, neue Formen

Heirat und Familie

Die Achse der Bewegung

Medien der Daʿwa

Der Kampf gegen die Unmoral

Der Kampf gegen die christliche Mission

Der Kampf gegen den Zionismus

5. Ausbau: Sport, Scouts und Studenten

Körperkultur und Pfadfindertum

Jawwala und Kataʾib

Rekrutierung und soziale Basis

Schulen und Hochschulen

Mitglieder und Zweigstellen

6. Design: Der Islam der Muslimbrüder

Der Volksschullehrer als Lehrer des Volkes

Wahrheit, Wandel, Einheit

Salafis und Sufis

Salafis und Wahhabis

Erwachen, Macht und Ohnmacht

Glaube, Wissen, Handeln

Die Islamisierung von Staat und Gesellschaft

7. Umbauten: Die Phase der Gestaltung

Die Politik der Muslimbrüder

Palast und politische Parteien

Die Erste Fitna und die Shabab Muhammad

Dienstagsansprachen und «al-Manar»

Der Zweite Weltkrieg

8. Ein Haus mit vielen Wohnungen

Expansion

Die Muslimschwestern

Der Spezialapparat

Einhegung

Führungskrise

9. Einsturzgefahr: Das Ende einer Epoche

Nationale Frage und Palästinakonflikt

Eskalation

Auflösung

Anhang

Anmerkungen

1. Bildung und Frömmigkeit im ländlichen Raum

2. Die Zeit der Orientierung

3. Baupläne: Die Muslimbrüder in Ismailiyya

4. Grundmauern: Die Muslimbrüder in Kairo

5. Ausbau: Sport, Scouts und Studenten

6. Design: Der Islam der Muslimbrüder

7. Umbauten: Die Phase der Gestaltung

8. Ein Haus mit vielen Wohnungen

9. Einsturzgefahr: Das Ende einer Epoche

Literatur

Abkürzungen

Rundschreiben, Memoranden und publizierte Vorträge Hasan al-Bannas

Dokumente der Muslimbrüder

Literatur von Muslimbrüdern und Muslimschwestern

Unveröffentlichte Arbeiten

Sonstige Primär- und Sekundärliteratur

Bildnachweis

Register

Vorwort

Der Islamismus ist in so gut wie jeder seiner Facetten umstritten, aber dass er ein modernes Phänomen darstellt, wird weithin anerkannt. Man könnte sogar von seiner Erfindung in der Moderne sprechen, allerdings keiner Erfindung durch westlich-koloniale, sondern durch lokale Kräfte, die sich einer westlich-kolonialen Überwältigung entgegenstellten. Passender als»Erfindung«ist ohnehin der Begriff der «Konstruktion» im doppelten Sinn des gedanklichen Konstrukts und des physischen Aufbaus. Architekt und Baumeister des Islamismus war der Ägypter Hasan al-Banna (1906–1949), ein Grundschullehrer für Arabisch, der mit der Muslimbruderschaft die erste islamische Organisation schuf, die nach heutigem Verständnis als islamistisch eingestuft wird.

Vom Äußeren her unscheinbar, war al-Banna als Typ neu und auffallend, und dies nicht allein im Vergleich zu seinem Vater, einem gelehrten Uhrmacher, der in seiner Studierstube asketisch-still Bemerkenswertes leistete. Neu und auffallend war al-Banna im Vergleich zu den sunnitischen Reformern der Jahrhundertwende, die als ausgebildete Religions- und Rechtsgelehrte den Islam für ihre Zeit neu zu denken versuchten. Al-Banna dagegen, ein Absolvent des säkularen staatlichen Schulwesens, war religiös zwar durchaus gebildet und möglicherweise frömmer als der eine oder andere Reformer, aber in erster Linie Aktivist. Seine Mission sah er darin, den von den Reformern propagierten zeitgemäßen Islam in alltägliches Handeln zu übertragen und als Richtschnur von Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft durchzusetzen. Die Muslimbruderschaft war die erste gesellschaftliche und politische Kraft Ägyptens, die nicht aus den Kreisen der Elite, sondern aus dem Volk heraus entstand. In einer Zeit, die die Jugend als Träger eines kollektiven Aufbruchs feierte, war sie tatsächlich jung und neben der sozial ungleich schwächer verankerten Linken zugleich die einzige politische Kraft des Landes, die nicht über Klientel- und Patronage-Netzwerke funktionierte.

Während über die frühe Muslimbruderschaft einiges geschrieben worden ist, liegt eine Biographie zu Hasan al-Banna in keiner europäischen Sprache vor; eine hoch komprimierte frühere Darstellung aus eigener Feder bildet die Ausnahme. Die arabische Literatur zu al-Banna ist zwar reichhaltig, aber entweder hagiographisch oder feindselig oder ganz auf die politischen Aspekte seines Wirkens zugespitzt. Dabei eignet er sich wie wenige andere für das Format der Biographie in der vertrauten Verbindung von Leben und Werk, so bruchlos klar und konsequent erscheint sein Leben – ein alles überwölbendes Leitmotiv, ein Beruf, eine Ehe, kaum Ortswechsel, keinerlei private Skandale –, und so dicht verband sich das Leben mit dem Werk. Konsequent und bruchlos heißt allerdings nicht spannungsfrei. Al-Banna verknüpfte Frömmigkeit, Gemeinsinn und Militanz in einer Weise, die bereits die Zeitgenossen aufhorchen ließ. Zwischen einer scharfen Rhetorik mit der steten Beschwörung des Jihads als Opfer, Kampf und Martyrium und einer vorsichtig-abwägenden Politik mit der ebenso steten Mahnung zu Geduld und Mäßigung, der Suche nach dem Verbindenden und der Absage an die Revolution taten sich Widersprüche auf, die er nicht auflöste.

Der Islamismus lässt sich ohne seinen Widerpart, den Westen, nicht denken, heute nicht und in seiner Entstehungszeit erst recht nicht. Ägypten war über vier Jahrzehnte kolonial beherrscht und auch über die formelle Entlassung in die Unabhängigkeit hinaus semikolonial verfasst. Kolonialismus und Antikolonialismus wirkten in alle gesellschaftlichen Felder hinein und färbten alle intellektuellen Strömungen. Die Muslimbruderschaft konzipierte al-Banna als Gegenkraft, verankert in Koran, Sunna und der vorbildlichen Praxis der frühen Muslime und in der Stoßrichtung antikolonial, antiliberal und antisäkular. Die genauere Betrachtung enthüllt aber doch mehr Schattierungen, als diese Selbstbeschreibung erkennen lässt. Sein Projekt der islamischen Erneuerung erschließt sich nicht unmittelbar aus Koran und Sunna und der großen islamischen Tradition, sondern aus seinem zeitgenössischen Kontext und den Bezügen auf die dort wirkenden Kräfte: den ägyptischen Patriotismus, die arabische Wiedererweckung und die islamische Reform, staatliche Modernisierungspolitik, Sufismus, Sport und Pfadfindertum. Das Idealbild zeitgemäßer islamischer Männlichkeit, das die Muslimbrüder realisieren sollten, zeigt es gut: Der Impuls kam unübersehbar aus der westlich dominierten Gegenwart; aktiviert wurden jedoch islamische (oder als islamisch verstandene) Traditionsbestände, die diesem Ideal Authentizität und Legitimität verleihen sollten. Es ist faszinierend zu sehen, wie dabei die liberalen Ideen der Charakterbildung, Selbsthilfe und moralischen Besserung mit sufischen Praktiken der Selbstkultivierung und Selbstdisziplinierung verbunden, die Hinwendung zum männlichen Körper in Sport und Spiel mit Bezug auf den Propheten Muhammad islamisch verankert und Sparsamkeit, Effizienz und ein achtsamer Umgang mit der Zeit islamisch begründet wurden. Nicht weniger faszinierend und vielleicht noch überraschender ist die Bedeutung, die al-Banna und die Muslimbrüder Musik und Gesang, Dichtung und Theater als Ausdrucksformen islamischer Frömmigkeit und zugleich als Medien der islamischen Mission, Daʿwa, zuwiesen. Auf diesen Feldern ist viel Neues zu entdecken.

Die Material- und Quellenlage ist allerdings modisch gesprochen eine Herausforderung: Die Geschichte al-Bannas und der Muslimbrüder wird man nicht auf der Grundlage kolonialer Archive schreiben wollen. Die ägyptischen Archive sind für dieses Thema verschlossen, zumal die Muslimbrüder nach dem Sturz der Mursi-Regierung als terroristische Vereinigung eingestuft wurden. Die Historikerin ist daher im Wesentlichen auf Quellen der Muslimbrüder selbst angewiesen, wobei sich nicht allein die bekannten methodischen Probleme auftun, sondern wiederum ganz praktische. Die Presse der Muslimbrüder ist nicht digitalisiert und ihre wichtigste Zeitschrift allenfalls in einigen amerikanischen Hochschulen einsehbar. Private Papiere und interne Unterlagen sind zum größten Teil entweder nicht erhalten oder nicht zugänglich. Viel Material dürfte bei den Polizeiaktionen der 1940er Jahre, der Auflösung der Muslimbruderschaft 1948 und dem Brand des Hauptquartiers 1954 beschlagnahmt oder vernichtet worden sein. Immerhin ist seit den ausgehenden 1970er Jahren eine wachsende Zahl an Memoiren und Monographien erschienen, die unter anderem den Geheimapparat, die Studentensektion und die Gruppe der Muslimschwestern behandeln. Bis 2013 veröffentlichten die Muslimbrüder die meisten Texte al-Bannas, viele mit einem Anmerkungsapparat, den man zwar nicht kritisch nennen wird, der aber Datierungen bietet und Belege ausweist. Al-Bannas jüngster Bruder Jamal publizierte neben Hasans Briefen an den Vater in mehreren Bänden auch interne Dokumente der Muslimbruderschaft. Eine Quelle wurde von der Forschung bislang nicht genutzt: die auf der arabischen Wiki-Plattform der Muslimbrüder publizierte Offizielle Historische Enzyklopädie der Gemeinschaft der Muslimbrüder. Sie erlaubt mit ihren Hunderten von Kurzviten einzelner Muslimbrüder und Muslimschwestern und mit ihren Artikeln zu wichtigen Orten, einzelnen Zweigstellen und ganzen Provinzen, vielfach angereichert durch Photos und Dokumente, einen Blick von innen und von unten, wie man ihn zuvor nicht erhalten hat.

Jedes Buch braucht seine Zeit. Dieses hat besonders lange gebraucht, und ob es ohne die freundliche Ermunterung durch Ulrich Nolte, Wolfgang Beck und Jonathan Beck mittlerweile vorläge, sei dahingestellt. Sehr profitiert habe ich von der konstruktiven Begleitung und dem Lektorat, die der Verlag C.H.Beck seinen Autorinnen und Autoren gewährt. Überhaupt haben sich über die Jahre intellektuelle Schulden angehäuft, resultierend aus Lektüre, Gesprächen und Korrespondenzen, Unterricht und kollegialem Disput. Namentlich nennen möchte ich das Berliner Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script, dessen Fragestellungen nicht nur in die Abschnitte zu self-help und den Umgang mit der Zeit eingeflossen sind. Exzellenzcluster sind eben doch mehr als Drittmittelbeschaffungsmaschinen. Ganz besonders freut mich, dass die Gerda Henkel Stiftung, die so große Verdienste um die Förderung einer historisch verankerten Islamwissenschaft hat und der ich selbst einiges verdanke, den Band in ihre Historische Bibliothek aufgenommen hat.

Berlin, den 28. November 2021

Gudrun Krämer

1. Bildung und Frömmigkeit im ländlichen Raum

Hasan al-Banna wurde kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert in einer kleinen Provinzstadt am Rand des Nildeltas geboren. Der Vater entstammte einem bäuerlichen Milieu, die Mutter einem kaufmännischen, und religiöse Bildung wurde vor allem in ihrer Linie gepflegt. Die ländliche Herkunft teilte al-Banna mit zahllosen Gelehrten, Intellektuellen und politischen Aktivisten seiner Zeit, und schon aus demographischen Gründen konnte es kaum anders sein: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten noch immer mehr als vier Fünftel aller Ägypter auf dem Land, sei es in Dörfern, sei es in dörflich geprägten Kleinstädten. Hunderttausende strömten von den 1860er Jahren an in die größeren Zentren des Nildeltas wie Tanta, Damanhur, Mansura und in die Metropolen Kairo und Alexandria.[1] Hunderttausende mussten mit den Umständen der Migration zurechtkommen, sich einfügen in ungewohnte Verhältnisse, die zwar neue Möglichkeiten schufen, aber auch Unsicherheit und nicht selten tiefe Verunsicherung. Hasan al-Banna und seine Familie waren Teil dieses Stroms, besaßen aber doch ihr ganz eigenes Profil. Das galt nicht nur für Hasan al-Banna, der mit der Muslimbruderschaft grundlegend Neues schaffen sollte, sondern auch für seinen Vater, dessen Lebenswerk für weniger Aufsehen sorgte.

Sowohl der Vater als auch der Sohn reagierten auf die Verwandlung der ägyptischen Gesellschaft, die in den 1820er Jahren unter dem weitgehend eigenmächtig agierenden osmanischen Gouverneur Muhammad ʿAli eingesetzt hatte, unter seinen Nachfolgern fortgesetzt wurde und zumindest im Umfeld der großen Städte auf alle Lebensbereiche ausgriff. Die Verwandlung, die von einer osmanisch-ägyptischen Elite mit dem Ziel in Gang gesetzt worden war, Herrschaft, Recht und Verwaltung durch Modernisierung zu stärken und zu straffen, erfuhr einen Riss, als die Briten 1882 Ägypten besetzten und in ihr Empire eingliederten, wenngleich das Land völkerrechtlich bis 1914 Teil des Osmanischen Reichs blieb. Der Begriff Riss soll die Konsequenzen der britischen Okkupation und des «verschleierten Protektorats» nicht verharmlosen, die in der Agrarökonomie so deutlich hervortraten, sondern vielmehr darauf hinweisen, dass sie keinen völligen Bruch in der modernen Geschichte des Landes bedeuteten: Der Strukturwandel setzte in Ägypten nicht 1882 ein, sondern mehrere Jahrzehnte früher, und die Verantwortlichen wollten in ihrer Mehrzahl keine koloniale, sondern eine lokale Moderne schaffen. Wenn Khedive Ismaʿil 1878 erklärte, Ägypten sei nun nicht länger ein Teil Afrikas, sondern Europas, so war Europa für ihn nicht koloniale Bedrohung, sondern Vorbild und Maßstab. Und damit war Wichtiges gesagt: Wie ein Magnet lenkte Europa die Energien auf sich, immer häufiger wurde der verstohlene Blick über die Schulter, der prüfen sollte, wie die Europäer die eigenen Verhältnisse bewerteten, gleichgültig ob Alltagsgebräuche, religiöse Riten, Geschlechterrollen oder politische Prozesse.[2]

Unter britischer Herrschaft wurde die lokale Moderne kolonial überformt. Kritik an den herrschenden Verhältnissen – und hier zeigte die koloniale Situation einschneidende Wirkung – äußerte sich zunehmend als Kritik am kolonialen Regime und an den von diesem protegierten Eliten. Der Kolonialismus legte sich gewissermaßen auf alle Felder, alte und neue Ideen wurden durch die Linse des Antikolonialismus gefiltert und gebrochen. Wirkung zeigte dies unter anderem bei der Konstruktion von Freund- und Feindbildern. Im Folgenden war es jederzeit möglich, missliebige Gedanken, Individuen und Gruppen zu diskreditieren, indem man sie als kolonial beeinflusst oder gesteuert bezeichnete und ihre Träger als Agenten des Imperialismus brandmarkte. Islamischen Reformern wie Muhammad ʿAbduh ging es so, säkularen Intellektuellen und Künstlern erst recht. Kopten gerieten immer wieder in den Verdacht, als Protégés der Kolonialherren deren Spiel zu spielen, und auch Hasan al-Banna und die Muslimbrüder sollten später vom Vorwurf der Kollaboration nicht verschont bleiben. Kulturelle, religiöse und sprachliche Reformen erhielten auf diese Weise eine ganz andere Färbung als vergleichbare Bestrebungen in der vorkolonialen Ära. In diesem Rahmen standen unausweichlich die großen intellektuellen, religiösen und politischen Strömungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die auf Vater und Sohn al-Banna einwirkten: Sufismus, arabische Renaissance und islamische Reform, ägyptischer Patriotismus und arabischer Nationalismus.

Ahmad al-Banna as-Saʿati: Der gelehrte Uhrmacher

Die großen Linien der Entwicklung kennen wir für die Metropolen Kairo und Alexandria und vielleicht noch für Tanta, den rasch wachsenden Handels- und Eisenbahnknotenpunkt im Zentrum des Nildeltas; vom flachen Land und den kleineren Städten Unter- und Oberägyptens wissen wir wenig. Hasan al-Bannas Vater verdient nicht allein Aufmerksamkeit, weil er in dieses ländliche Milieu führt, sondern weil er eine religiöse Gelehrsamkeit entfaltete, für die wir in dieser Zeit kaum Entsprechungen kennen. Ahmad b. ʿAbd ar-Rahman b. Muhammad al-Banna wurde 1881 oder 1882, also unmittelbar vor oder im Jahr der britischen Besetzung Ägyptens, geboren. Sein Geburtsort Shimshira, ein Dorf am westlichsten Arm des Nils, nicht weit entfernt von seiner Mündung ins Mittelmeer bei Rosetta, lag im Distrikt Fuwwa, der noch Jahrzehnte später als eher rückständig galt. Die Eltern besaßen einige Hektar Land, das sie selbst bestellten, und bewegten sich damit im Spektrum zwischen kleinem und mittlerem Grundbesitz.[3] Ob der Familienname al-Banna daher stammte, dass einer der Vorfahren Maurer oder Baumeister (bannaʾ) gewesen war, vermochte auch der an Familiengeschichte interessierte jüngste Sohn Jamal später nicht zu klären. Ahmads Mutter kam aus einer Familie mit einer gewissen religiösen Bildung; einer ihrer Brüder war Koranrezitator (faqih) im Nachbardorf Sindiyun. Später berichtete Jamal al-Banna, seine Großmutter habe, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war, geträumt, dieses werde Ahmad heißen («der Gepriesene», sprachlich nah verwandt mit Muhammad, dem Namen des Propheten) und den Koran auswendig lernen.[4] Das war für sich genommen nicht aufregend, war Ahmad doch ein Allerweltsname, und gerade im dörflichen Milieu lernten nicht wenige muslimische Knaben den Koran auswendig. Dafür musste man nicht einmal lesen und schreiben können, entscheidend war das gute Gedächtnis. Interessanter ist der Hinweis auf den Glauben an Träume, dem auch Hasan al-Banna anhing, der von reformerischen Kräften jedoch mit Argwohn verfolgt wurde. Ob nun tatsächlich erlebt oder nachträglich ersonnen, der Traum wurde wahr. Bereits mit vier Jahren besuchte Ahmad eine Koranschule (kuttab), lernte zügig den Koran auswendig, erhielt zugleich Unterricht in Koranrezitation und entwickelte eine lebenslange Leidenschaft für religiöses Wissen.

Ahmad ʿAbd ar-Rahman al-Banna as-Saʿati (1881 oder 1882 bis 1958). Personalausweis aus dem Jahr 1924

Die Koranschule war zu dieser Zeit der einzige Schultyp, den man in einem ägyptischen Dorf besuchen konnte, und dies nicht erst seit der britischen Besetzung des Landes. Aber die Briten hielten diesen Zustand aufrecht. Wie viele Angehörige der britischen Oberschicht glaubte Lord Cromer (Sir Evelyn Baring, seit 1901 Earl of Cromer), der Ägypten von 1893 bis 1907 als britischer Generalkonsul faktisch regierte, durchaus an den Wert von Bildung, sofern sie nützliches, im Kern europäisches Wissen vermittelte und, mindestens ebenso wichtig, den Charakter formte. «Rectitude, virility, and moral equipoise» bildeten dessen Pfeiler. Bauern sollten keine akademische Bildung, sondern praktische Fähigkeiten erwerben, um sie, wie es ein britischer Verwaltungsbeamter im benachbarten Palästina später ausdrücken sollte, nützlich und zufrieden zu machen. Staatliche Schulen, die diese Prinzipien nicht berücksichtigten, brachten, so gesehen, lediglich Demagogen und malcontents hervor, die sich mit ihrem Platz im Leben nicht zufriedengeben mochten. Viele Vertreter der lokalen Mittel- und Oberschicht teilten diese Überzeugung.[5] Unter britischer Besatzung folgte die staatliche Schul- und Bildungspolitik allerdings nicht allein politischem Kalkül, sondern auch finanziellen Überlegungen. Schulen kosteten Geld, und Cromer verstand als Angehöriger des Bankhauses Baring und früheres Mitglied der internationalen Schuldenkommission für Ägypten einiges von Geld. Sein vorrangiges Ziel war es, das hoch verschuldete Ägypten finanziell so weit zu sanieren, dass die Schuldenrückzahlung an die europäischen Gläubiger sichergestellt wurde.

Bis zur Jahrhundertwende investierte die ägyptische Regierung zwar in beschränktem Umfang in das städtische Schulwesen, aber kaum in das ländliche.[6] Dementsprechend niedrig blieben die Alphabetisierungsraten. Shimshira ist ein gutes Beispiel: Für die 1880er Jahre, in denen Ahmad al-Banna im schulfähigen Alter war, liegen keine verlässlichen Zahlen vor. 1907, rund eine Generation später, als neben den staatlichen eine wachsende Zahl privater Initiativen zur Förderung des Schulwesens auf den Plan getreten war, verzeichnete der ägyptische Zensus 192 bewohnte Häuser mit 1226 Bewohnern, von denen 13 – alle von ihnen männlich – lesen und schreiben konnten. Das war etwas mehr als ein Prozent. Im benachbarten Sindiyun und in der Distrikthauptstadt Fuwwa lag der Anteil bei weniger als drei bzw. fünf Prozent (144 von 3065 Einwohnern bzw. 644 von 14.515) und damit noch unter dem Landesdurchschnitt. Ohnehin war die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, eine dehnbare Größe, die vieles umfassen konnte, vom Buchstabieren des eigenen Namens bis zur Beherrschung der arabischen Hochsprache, fusha, in der arabischen Welt noch immer die wichtigste Quelle kulturellen Kapitals. Manche konnten einfache Texte lesen, aber nicht schreiben.[7]

Ein geistig reges Kind, fasste Ahmad al-Banna früh den Entschluss, nicht wie sein Vater und sein älterer Bruder Bauer zu werden, weil ihm dies, so hieß es, zu wenig Zeit gelassen hätte, Wissen zu erwerben. Vielmehr entschloss er sich, durchaus ungewöhnlich für seine Zeit und sein Milieu, das Handwerk des Uhrmachers zu erlernen. Angeblich kam ihm dieser Gedanke, als er auf einem Wochenmarkt einem Uhrmacher bei der Arbeit zusah. Ein erster Anlauf in Rosetta verlief glücklos; ermutigender fiel die Begegnung mit einigen der dortigen Religionsgelehrten aus. Der Imam seiner Moschee empfahl ihm einen angesehenen Lehrmeister in Alexandria, dessen Werkstatt und Laden überdies religiös Interessierten als Treffpunkt diente. Mit Unterstützung der Eltern, die beide großen Wert auf religiöse Bildung legten, besuchte Ahmad zugleich die Ibrahim-Pascha-Madrasa, eine der bedeutendsten islamischen Hochschulen des Landes.[8] In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Muhammad ʿAli deren Stellung zwar durch die Enteignung der frommen Stiftungen (Waqfs) geschwächt, über die sie ihren Unterhalt, die Gehälter der Professoren und bescheidene Stipendien für die Studenten finanzierten. Doch auch im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es in Ägypten noch eine Reihe von Madrasen, in denen muslimische Religions- und Rechtsgelehrte ausgebildet wurden, die anschließend in offizieller oder inoffizieller Funktion als faqih (in Ägypten auch fiqi, eigentlich Rechtsexperte, auf dem Land zu dieser Zeit aber gewöhnlich ein Koranrezitator oder Koranschullehrer), imam (Vorbeter), khatib (Freitagsprediger) oder ma’dhun (Heirats- und Scheidungsnotar) wirkten.[9]

Die großen Madrasen hatten zu dieser Zeit Hunderte, wenn nicht Tausende von Studenten, wobei die Zahlenangaben zum Teil weit auseinandergehen: An der Spitze stand um 1900 die Azhar in Kairo mit 200–300 Professoren und rund 10.000 Studenten, gefolgt von der al-Ahmadi-Moschee in Tanta mit knapp 70 Professoren und zwischen 2000 und 4000 Studenten. Die Ibrahim-Pascha-Madrasa in Alexandria lag mit gut 40 Professoren und 770 Studenten an dritter Stelle, während Damietta und Disuq jeweils nur einige Hundert Studenten hatten.[10] Die Zahl der Studierenden in Kairo, Alexandria und Tanta war auch deswegen so hoch, weil im Laufe des 19. Jahrhunderts viele kleinere Madrasen schließen mussten, deren Angehörige in die großen Anstalten wechselten – und weil der Besuch einer höheren islamischen Lehranstalt von dem gefürchteten Militärdienst befreite. Zwischen den 1890er Jahren und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verloren auch die großen Madrasen in Alexandria, Tanta, Damietta und Disuq ihre Eigenständigkeit und wurden der Azhar als Religiöse Institute (maʿahid diniyya) angegliedert. Erst zu dieser Zeit gewann die Azhar das Monopol auf die höhere religiöse Ausbildung der sunnitischen Muslime im Land, das sie noch heute besitzt.[11]

«Höhere Bildung» oder gar «Hochschule» vermittelt womöglich ein falsches Bild dieser Einrichtungen, die den Fortgeschrittenen zwar tatsächlich eine Bildung boten, die auf ihrem Gebiet einer Universität ebenbürtig war, nicht jedoch den Anfängern: Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nahmen die meisten Knaben das Studium im Alter zwischen 10 und 14 Jahren auf, so dass sie anderswo als Schüler gegolten hätten. Ahmad al-Banna kam, wie viele seiner Mitstudenten, ohne Zwischenstufe von einer Koranschule auf die Madrasa und beherrschte daher vermutlich selbst die arabische Grammatik nur unzureichend, andere relevante Fächer gar nicht. Der Anfang war daher nicht nur wegen der Trennung von Heimatdorf und Familie hart. Die Verhältnisse an der Ibrahim-Pascha-Madrasa, an der in den 1860er Jahren der ägyptische Nationalist, Publizist und Dichter ʿAbdallah an-Nadim (1842–1896) studiert hatte, sind für die 1890er Jahre, in denen Ahmad al-Banna sie besuchte, schlecht dokumentiert. Die Zustände an der al-Ahmadi-Moschee in Tanta hingegen, die nach Ansehen und Größe vor der Ibrahim-Pascha-Madrasa rangierte, schilderten mehrere ihrer Absolventen sehr kritisch; ihre Beobachtungen sind nicht nur für die islamische Reform im Allgemeinen von Bedeutung, sondern auch für das spätere Wirken Hasan al-Bannas. In Tanta fand der Unterricht in der Moschee selbst statt, unmittelbar neben dem Grabmal des Ahmad al-Badawi (gest. 1276), des bekanntesten muslimischen Heiligen Ägyptens, zu dessen Fest (maulid, äg. mulid) Jahr für Jahr Hunderttausende nach Tanta pilgerten. Getragen wurde der Komplex von einer frommen Stiftung, die 700 Professoren und Studenten unterhalten sollte, und renommiert war sie vor allem für ihre Ausbildung in Koranrezitation. Im Unterricht scharten sich die Studenten auf Matten sitzend um einen Lehrer, der an einer Säule lehnte, sofern die Zahl der Zuhörer ihn nicht dazu zwang, im Stehen zu lehren. Der Tagesablauf war durch die Gebetszeiten gegliedert und das Schuljahr durch die religiösen Feste, in Tanta also neben dem Ramadan vor allem durch den großen Mulid des Ahmad al-Badawi, für den ein ganzer Monat freigegeben wurde.[12]

Text, Kommentar und Superkommentar: Die «Alfiyya» des Ibn Malik mit dem Kommentar des Ibn ʿAqil, ein Grammatikwerk aus dem 13./14. Jahrhundert, das nach seiner Drucklegung auch al-Banna auswendig lernte

Die Auswahl der gelehrten Texte war begrenzt. Unterrichtet wurden neben dem Koran und der Prophetentradition (Sunna) Kommentare, Glossen und Superkommentare zu ausgewählten Sekundärtexten (matn, Pl. mutun), die in der Regel bestimmte theologische oder juristische Lehrmeinungen zusammenfassten. Dabei konnten die Kommentare durchaus eigenständige, ja originelle Leistungen darstellen, mussten sich also nicht in der sterilen Wiederholung und sprachlichen Ausschmückung des Bekannten erschöpfen.[13] Aber sie führten die Studierenden nicht an die Schriften der Gründer der großen theologischen und juristischen Schulen heran, die vor Ort vielfach gar nicht greifbar waren. Die meisten Unterrichtstexte stammten aus der «nachklassischen» Periode des 15.–17. Jahrhunderts, wobei in Tanta unter anderem Hasan al-ʿAttar (1766–1835) gelesen wurde, der als Azhar-Scheich mit Wissenschaftlern der sogenannten Französischen Expedition der Jahre 1798–1801 verkehrt hatte und vielen als einer der Vordenker der islamischen Reform, wenn nicht sogar als Aufklärer galt.[14] Die Lehrtexte lagen in Manuskriptform vor, erklärende Randnotizen, Kommentare und Kommentare zu den Kommentaren erleichterten die Lektüre der in Hocharabisch gehaltenen, unvokalisierten Texte, die ein frisch von der Koranschule gekommener Student in der Regel ohne Anleitung gar nicht verstand, ja, nicht einmal korrekt lesen konnte. Gedruckte Bücher, die nur den unkommentierten, unvokalisierten Text enthielten, waren vor dem Ersten Weltkrieg selbst in Tanta rar. Im Übrigen bedeutete lesen – und das ist natürlich wichtig – in vielen Fällen auswendig lernen. Rechnen, Kalligraphie und Geographie wurden, wenn überhaupt, außerhalb der regulären Stunden und des Moscheegebäudes angeboten, und zwar nicht unbedingt, weil diese Fächer als religiös bedenklich galten, sondern weil sie nicht mit eigenen, durch Stiftungen alimentierten Professuren ausgestattet waren.[15] Nur ein verschwindend kleiner Teil der Studenten erreichte den Grad der ʿalimiyya, der in etwa der Habilitation entsprach und sie nach acht bis zehn Jahren Studium befähigte, selbst an einer islamischen Hochschule zu unterrichten. In Tanta war das eine Handvoll Studenten pro Jahr.[16]

Muhammad ʿAbduh (1849–1905), der prominenteste Vertreter einer islamischen Reform in Ägypten, wurde 1862 als Dreizehnjähriger an die al-Ahmadi-Moschee geschickt, war aber sehr unglücklich über die Lehrmethoden. Wie er später schrieb, dozierten die Professoren sozusagen im Fachchinesisch, ohne jede Rücksicht darauf, ob ihre Zuhörer die Materie mitsamt der Fachtermini überhaupt verstanden. Die Folge war, dass er mehrfach weglief und 1866 an die Azhar in Kairo wechselte, wo es ihm ebenso wenig gefiel.[17] Muhammad ʿAbd al-Jawwad (1878–1952), dem wir die Beschreibung mehrerer islamischer Bildungseinrichtungen verdanken, kam mit elfeinhalb Jahren an die al-Ahmadi-Moschee und blieb dort zehn Jahre, ohne die begehrte ʿalimiyya zu erlangen. Eindringlich schilderte er die Armut, den Hunger, die miserablen Unterkünfte und die rauen Sitten der Studenten, wobei die Jungen aus Hasan al-Bannas Heimatprovinz Buhaira als besonders rüde galten. Mehr als einmal flüchtete er vor seinen Schulkameraden nach Hause, der Vater aber schickte ihn unbarmherzig nach Tanta zurück. Auch ʿAbd al-Jawwad kritisierte die Unterrichtsmethoden, das völlige Desinteresse der Professoren an Didaktik, den Schmutz und die Unordnung – nicht jedoch die religiösen Studien als solche, die er nur zu gern zu einem krönenden Abschluss geführt hätte. Im Weg stand ihm vermutlich sein kritischer Geist, der ihm auch den Zugang zur Azhar versperrte. Schließlich wechselte er an das Kairener Dar al-ʿUlum, das etliche Jahre später auch Hasan al-Banna besuchte.[18] Der dritte Augenzeuge war Muhammad al-Ahmadi az-Zawahiri (1878–1944), der jüngste Sohn des damals amtierenden Rektors der al-Ahmadi-Moschee. Nach Stationen als Rektor der Religiösen Institute in Tanta und in Asyut übernahm er von 1929 bis 1935 die Leitung der al-Azhar. Az-Zawahiri veröffentlichte 1904 eine derart scharfe Kritik an den Lehrmethoden der islamischen Hochschulen im Allgemeinen und der Azhar im Besonderen, dass das Buch aus dem Verkehr gezogen wurde. Aus Sorge um die eigene Position und die Zukunft seines Sohnes verbrannte sein Vater öffentlich fünfzig Exemplare, um den Khediven und den amtierenden Rektor der Azhar zu besänftigen, die in seinem Sohn einen Anhänger Muhammad ʿAbduhs sahen.[19]

Über Ahmad al-Bannas Erfahrungen an der Ibrahim-Pascha-Madrasa und seine allgemeinen Lebensumstände, die ebenfalls bescheiden gewesen sein dürften, erfahren wir nichts. Wir hören lediglich, dass er nach Beendigung seiner Studien in sein Heimatdorf zurückkehrte. Die Kenntnis des klassischen Arabischen und das religiöse Wissen, das er in Alexandria erworben hatte, brachten ihm, obwohl er keinen formalen Abschluss (und schon gar nicht die ʿalimiyya) vorweisen konnte, gleichwohl Ansehen und die Anrede als «Scheich». Hier bestätigte sich die Beobachtung von Zeitgenossen, nach der die muslimischen Religionsgelehrten in der Stadt zwar mittlerweile oft verlacht, auf dem Land jedoch weiterhin geachtet wurden.[20] Ansehen und eine respektvolle Anrede bedeuteten freilich noch kein geregeltes Einkommen. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, reparierte Scheich Ahmad Uhren, weshalb er den Beinamen «as-Saʿati» (der Uhrmacher oder genauer: der Uhrenmechaniker) trug, den er über viele Jahre benutzte und erst in den 1940er Jahren zugunsten des Familiennamens al-Banna ablegte. 1902 bestand er vor dem staatlichen Rekrutierungsbüro die Koranprüfung, die ihn vom Militärdienst befreite.[21] Zwei Jahre später heiratete er die Tochter eines örtlichen Geschäftsmannes aus der vergleichsweise wohlhabenden Saqr-Familie, der mit gefärbten und bestickten Stoffen handelte. Die Braut mit dem ungewöhnlichen Namen Umm as-Saʿd («Mutter des Glücks») war bei ihrer Heirat fünfzehn Jahre alt, klein, zartgliedrig und von heller Gesichtsfarbe – in Ägypten nicht nur zu dieser Zeit hoch geschätzt. Eine formale Schulbildung besaß sie nicht, war nach Aussage ihres jüngsten Sohnes Jamal aber wach, intelligent und ausgesprochen willensstark (er nannte sie stur).[22]

Wenig später verließ Ahmad as-Saʿati Shimshira, um sich in dem etwas südlicher am anderen Nilufer gelegenen al-Mahmudiyya niederzulassen. Der Ort war Ausgangspunkt des Mahmudiyya-Kanals, den Muhammad ʿAli hatte graben lassen, um Alexandria mit Nilwasser (also Süßwasser) zu versorgen, und den er nach seinem Souverän, Sultan Mahmud II., benannt hatte. Mahmudiyya verdankte seine bescheidene Bedeutung den staatlichen Modernisierungsmaßnahmen und war deutlich besser mit dem Umland verbunden als Shimshira. Der Kanal spielte eine wichtige Rolle im Güterverkehr zwischen Oberägypten, Kairo und Alexandria. Wer wissen wollte, was die Integration der ägyptischen Landwirtschaft in den Welthandel bedeutete, konnte es hier mit eigenen Augen sehen. Die Verbindung zwischen dem an dieser Stelle sehr breiten Nil und dem höher gelegenen Kanal sicherte das Schleusen- und Pumpwerk von al-ʿAtf, und auf Grund der geographischen Nähe wurde Mahmudiyya oft unter al-ʿAtf subsumiert. Die Arbeiter der Pumpstation waren gewerkschaftlich organisiert. Wie viele andere Ortschaften auf dem Land ließ sich Mahmudiyya entweder als großes Dorf oder als Kleinstadt bezeichnen. Die unter Muhammad ʿAli erbaute Große Moschee war tatsächlich recht stattlich, aber selbst als Mahmudiyya zum Distriktzentrum (bandar) aufgewertet wurde, war in historischen Quellen und Selbstzeugnissen immer noch von «Dorf» die Rede. Der Bildungsstand war typisch für das ländliche Milieu: 1907 zählte der Ort etwa 1000 Häuser mit etwas mehr als 6000 Einwohnern, von denen gut sechs Prozent (375) lesen und schreiben konnten; in al-ʿAtf mit seinen rund 250 Häuser und 1500 Einwohnern konnten gut vier Prozent (66) lesen und schreiben, unter ihnen keine einzige Frau. Dennoch besaß Mahmudiyya ein kulturelles Leben, das auf die Vorlieben der örtlichen Geschäftsleute und Grundbesitzer zugeschnitten war. Theater- und Musiktruppen machten in Mahmudiyya bzw. al-ʿAtf Halt, wenn sie durch das Land tourten.[23]

Der Mahmudiyya-Kanal 1892

In Mahmudiyya erwarb Scheich Ahmad ein Haus und eröffnete einen Laden, in dem er nicht nur Uhren reparierte, sondern auch Grammophonplatten verkaufte. Damit bewegte er sich auf der Höhe der Zeit: Das Grammophon wurde in den ausgehenden 1870er Jahren erfunden, und knapp zwei Jahrzehnte später entstanden in den USA die ersten Grammophongesellschaften, die in kurzer Zeit einen globalen Markt schufen und eroberten. 1903 kamen in Ägypten die ersten Platten der US-amerikanischen Gramophone Company auf den Markt, 1904 wurden die ersten kommerziellen Aufnahmen gemacht, und innerhalb eines Jahrzehnts produzierte allein die Gramophone Company hier über 1000 Schallplatten. Neben arabischer Musik umfasste die ägyptische Produktion Koranrezitation, den Gebetsruf, klassische arabische Dichtung und religiöse Lieder, insbesondere Lobgesänge zu Ehren des Propheten Muhammad.[24] Kommerziell tat sich daher ein vielversprechendes Feld auf, das in konservativen Kreisen allerdings misstrauisch beobachtet wurde. Dahinter stand nicht allein eine kritische Haltung gegenüber einer mechanischen Entleerung und Kommerzialisierung von Kultur und Gottesdienst, wie sie in Europa ein Walter Benjamin und viele andere später artikulieren sollten. Kritik an einem entseelten Kommerz gab es zwar auch in Ägypten, die Vorbehalte galten in erster Linie jedoch der religiösen Bewertung von Musik und Gesang. Beides wurde – gerade im sufischen Milieu – seit jeher gepflegt. Zwischen Koranrezitation, religiösem Gesang und sufischen «Hymnen» (anashid, Sing. nashid), die alle eine gute Stimme verlangten, bestand eine enge Verbindung; die Rezitatoren und «Sänger» wurden mit dem Ehrentitel eines Scheichs angesprochen. ʿAbduh al-Hamuli, der vielleicht bekannteste Vertreter des «hohen Stils» des arabischen Gesangs, der zu dieser Zeit in Ägypten geschätzt wurde, starb 1901 und erlebte das Zeitalter der Schallplatte nicht mehr. Anders Scheich Salama Hijazi, ein als Koranrezitator ausgebildeter Pionier des arabischen Musiktheaters, der bis zu seinem Tod im Jahr 1917 zahlreiche Platten aufnahm. Anders vor allem Umm Kulthum (1898–1975) – später die Ikone der arabischen Musik schlechthin –, die als junges Mädchen auf Hochzeiten und religiösen Festen ihre ersten öffentlichen Auftritte hatte.[25]

Ungeachtet dieser Entwicklungen stritten muslimische Religions- und Rechtsgelehrte weiterhin über die Zulässigkeit von Musik und Gesang. Manche nahmen Anstoß an bestimmten Instrumenten, deren Gebrauch angeblich bereits der Prophet Muhammad verurteilt hatte, andere an belebten Rhythmen oder einer aus ihrer Sicht allzu sinnlichen Stimmführung. Als besonders problematisch galt die weibliche Stimme. Im Fall des Grammophons verbanden sich die alten Auseinandersetzungen um Musik und Gesang mit dem neuen Streit um die Bewertung technischer Innovationen von der Eisenbahn und dem Dampfschiff bis zum Telegraphen.[26] Einen guten Einblick in die Diskussionen bieten die Rechtsgutachten (Fatwas), die fromme Muslime zwischen Java, Singapur und Marokko bei Rechtsgelehrten einholten, auf deren Urteil sie vertrauten – sie spiegeln also in erster Linie die Sorgen dieser Muslime, die von den befragten Muftis in unterschiedlicher Weise beantwortet wurden. Den Ratsuchenden ging es nicht allein um den Umgang mit technischen Neuerungen, sondern auch um Fragen der rituellen Reinheit und Unreinheit, wenn Kreti und Pleti eine Schallplatte mit Koranrezitation oder dem Gebetsruf in Händen halten, in beliebiger Umgebung abspielen, mit ihr handeln und Geld verdienen konnten. Hinzu kam, ganz unabhängig von Musik und Gesang, die Vorstellung einer Segenskraft (baraka), die der Rezitation des Korans, aber auch bestimmter Hadith-Sammlungen wie des Sahih des Bukhari innewohnte und gleichfalls bei der mechanischen Reproduktion in Frage stand. Während eine Minderheit Musik und Gesang in Bausch und Bogen ablehnte und die weibliche Stimme als anstößige «Nacktheit» (ʿaura) bewertete, die der physischen Nacktheit kaum nachstand, befürworteten die meisten Musik unter der Voraussetzung, dass sie in geziemender Form vorgetragen wurde und der Religion förderliche Gefühle weckte. Entscheidend waren demnach weniger das Objekt an sich als vielmehr Absicht, Zweck und Nützlichkeit seines Gebrauchs.[27]

Der prominente Azhar-Scheich Muhammad Bakhit folgte 1906 der klassischen Maxime, gemäß derer Taten nach ihren Absichten zu beurteilen sind, und erklärte Koranrezitation per Phonograph für zulässig, sofern dies in frommer Absicht geschah. Der Azhar-kritische Rashid Rida, von dem im Folgenden noch viel die Rede sein wird, ging einen Schritt weiter, indem er im Einklang mit einem etablierten Grundsatz des islamischen Rechts, den gerade die als besonders streng geltende hanbalitische Rechtsschule hochhielt, Handlungen und Einrichtungen grundsätzlich für zulässig erklärte, solange sie nicht durch eine bindende Aussage in Koran und Sunna ausdrücklich verboten waren. Hasan al-Banna sollte diese Linie später übernehmen, die etwas vereinfacht zwischen (feststehenden) Werten und (wertneutralen) Techniken unterschied, guthieß, was der religiösen Erbauung diente, und ablehnte, was pure Unterhaltung war.[28] Wie immer aber die Diskussionen in Singapur, Damaskus oder Kairo geführt wurden – in Mahmudiyya scheint Scheich Ahmads Ruf als frommer Mann durch den Verkauf von Grammophonplatten nicht gelitten zu haben.

Auch ohne formalen akademischen Abschluss war al-Bannas Vater in Mahmudiyya eine Respektsperson, die mit dem Bürgermeister, örtlichen Scheichs und Honoratioren verkehrte. Bald wurden ihm Aufgaben anvertraut, die seinen Status bekräftigten: In einer Moschee diente er unentgeltlich als Vorbeter und Freitagsprediger, und 1914 – da lebte er immerhin schon fast ein Jahrzehnt in Mahmudiyya – wurde er zum zweiten Heirats- und Scheidungsnotar (ma’dhun) ernannt, ein nicht unbedeutendes staatliches Amt, das allerdings nur gering vergütet war.[29] Finanziell ging es Scheich Ahmad insgesamt nicht sonderlich gut. Als Uhrmacher hatte er vor Ort zwar wenig Konkurrenz zu fürchten: So gab es in Mahmudiyya nur ein weiteres Uhrengeschäft und im ganzen Distrikt von Fuwwa laut dem Zensus von 1907 lediglich drei Uhrmacher.[30ʿʿ3132