Cover

Craig Brown

ONE TWO THREE FOUR

Die fabelhaften Jahre der Beatles

Aus dem Englischen
von Conny Lösch

C.H.Beck

Zum Buch

John Updike verglich sie mit der «Sonne, die an einem Ostermorgen aufgeht», Bob Dylan machte sie mit Drogen bekannt. Leonard Bernstein bewunderte sie, Muhammad Ali nannte sie «kleine Weicheier», J. R. R. Tolkien ließ sie abblitzen, und die Rolling Stones kopierten sie. Die Beatles haben niemanden unberührt gelassen. Craig Brown erzählt das Leben der «Fab Four» mit literarischer Finesse, mitreißendem Schwung und unwiderstehlichem Witz.

One Two Three Four ist eine brillante Mischung von Anekdoten, Geschichten und Reflexionen. Aus Partylisten, Tagebucheinträgen und Fanbriefen schlägt Craig Brown Funken, und auch skurrile Details nutzt er, um ins Herz seiner Geschichte vorzustoßen: der eigentlich zufälligen Verbindung von John, Paul, George und Ringo zur erfolgreichsten Band aller Zeiten. Die «Fab Four» eroberten die Welt, schufen Songs, in denen jeder sich auf seine Weise wiederfinden konnte, und trennten sich, als sie alle noch keine dreißig Jahre alt waren. Craig Brown lässt die verschiedensten Gestalten aus dem Orbit der Beatles auftreten mit ihren manchmal bizarren, manchmal unglücklichen Geschichten: von Fred Lennon und Yoko Ono über den legendären Brian Epstein bis hin zu dem psychedelischen Zahnarzt John Riley und dem berüchtigten Kriminalbeamten Norman Pilcher. Alle diese Geschichten funkeln für sich – zusammen erzählen sie fesselnd und bewegend von einer Band, die die Welt veränderte, und einer fieberhaften, unbändigen Zeit.

Gewinner des Baillie Gifford Prize 2020, des wichtigsten britischen Preises für Non-Fiction.

«Dieses geistreiche, schnelle, witzige Buch über die Beatles ist fast unvernünftig unterhaltsam.» The Times

«One Two Three Four ist das bei weitem beste Buch, das je über die Beatles geschrieben wurde.» Dominic Green, Literary Review

«Das perfekte Gegengift für diese Zeiten.» Julian Barnes

Über den Autor

Craig Brown ist Journalist, preisgekrönter Buchautor und Kolumnist bei der Daily Mail und der Mail on Sunday. Seit dreißig Jahren schreibt er für das Satiremagazin Private Eye. Im Laufe der Jahre hat er für eine große Bandbreite von Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet, von der Vanity Fair über den Guardian und die Sunday Times bis zur New York Review of Books.

Inhalt

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Dank

Quellen

Zitierte Übersetzungen

Bildnachweis

Personenregister

Für Frances, Silas, Tallulah und Tom

In five-score summers! All new eyes,
New minds, new modes, new fools, new wise;
New woes to weep, new joys to prize;
With nothing left of me and you
In that live century’s vivid view
Beyond a pinch of dust or two;
A century which, if not sublime,
Will show, I doubt not, at its prime,
A scope above this blinkered time.

Aus 1967 von Thomas Hardy (verfasst 1867)

Wie bemerkenswert diese fünfzig Jahre für
die Welt doch waren … Denken Sie nur,
was hätten wir verpasst, hätten wir die Beatles
nie gehört.

Königin Elizabeth II. im November 1997
bei einer Feier anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit

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One.

Two.

Three.

Four.

Brian Epstein steigt in einem eleganten schwarzen Anzug mit Krawatte, begleitet von seinem persönlichen Assistenten Alistair Taylor, achtzehn Stufen hinunter in einen verschwitzten Keller in der Mathew Street. Brian findet ihn «düster wie ein Grab, nasskalt, feucht und stinkend». Er bereut bereits, hergekommen zu sein. Sowohl Taylor wie auch er hätten sehr viel lieber ein klassisches Konzert in der Philharmonic Hall besucht, aber die Neugierde war doch stärker gewesen. Vier junge Musiker trotten auf die Bühne. Brian kennt sie aus dem Plattenladen, der zum Familienunternehmen gehört und dessen Geschäftsführer er ist: Dort hängen sie stundenlang in den Hörkabinen herum, lauschen den neuesten Scheiben und quatschen Mädchen an, ganz offensichtlich ohne die geringste Absicht, eine Platte zu kaufen.

Zwischen den Songs schreien und fluchen die drei Rowdys mit den Gitarren, kehren dem Publikum den Rücken und tun scherzhaft so, als wollten sie einander verprügeln. Taylor bemerkt, dass Brian vor lauter Staunen große Augen bekommt. Er selbst macht eine der schockierendsten Erfahrungen seines Lebens – «wie ein Schlag ins Gesicht» – er ist sicher, dass Brian ebenso empfindet.

Nach dem Konzert sagt Taylor: «Die sind ja GRAUENHAFT

«Ja, grauenhaft», pflichtet Brian ihm bei. «Aber auch ganz fabelhaft, finde ich. Komm, wir sagen Hallo.»

George ist der erste der Beatles, der den Mann aus dem Plattenladen auf die Band zukommen sieht.

«Na sowas», sagt er. «Was will denn Mr Epstein hier?»

2

Bei anderen Bands gab es einen Frontmann – wer dein Liebling wurde, war bereits entschieden. Niemand hätte Hank Marvin Cliff Richard vorgezogen, oder sagen wir mal Mike Smith Dave Clark.

Bei den Beatles dagegen hatte man die Wahl, man musste selbst entscheiden, welchen man am liebsten mochte, und das sagte dann einiges über einen aus. Carolyn See, ein amerikanischer Fan, hat einmal erklärt: «Wer androgyne Schönheit mochte, nahm Paul; John war für diejenigen, die Witz und Intellekt schätzten; George liebte man aufgrund einer schwer fassbaren Eigenschaft, die wir später als Spiritualität erkannten; und Ringo war weltweit der Schutzheilige aller Versager.»

Die zwölfjährige Linda Grant aus Liverpool favorisierte Ringo, «aus unerklärlichen Gründen». In ihrer Schule gab es eine «brave Musterschülerin, die Paul am liebsten mochte. George war irgendwie gar nichts. Und John wirkte unnahbar, viel zu einschüchternd.»

Ringo war der Beatle für Mädchen, denen es an Ehrgeiz fehlte. Entschied man sich für ihn, bewies man eine gewisse Realitätsnähe. Es verstand sich von selbst, dass die anderen bereits vergeben waren, beim Schlagzeuger allerdings gab’s vielleicht noch eine kleine Chance.

«Wenn mich jemand fragte, wer mein Lieblingsbeatle sei, habe ich immer gesagt: ‹Ich mag Ringo›», erinnerte sich Fran Lebowitz, die in New Jersey aufwuchs. «Ringo Starr gefiel mir als Persönlichkeit. Und er tut es immer noch. Natürlich war er nicht der Favorit der Mädchen an meiner Schule. Das war Paul McCartney, mit Abstand. Er war der niedliche Beatle. Deshalb war es wahrscheinlich einfach eine Trotzreaktion, dass ich mich für Ringo entschied.»

Helen Shapiro war erst sechzehn Jahre alt, aber bereits ein großer Star, als die Beatles Anfang 1963 im Vorprogramm ihrer Tournee spielten. Wie jedes andere Mädchen hatte auch sie einen Lieblingsbeatle. «John war verheiratet, aber das wusste damals niemand, deshalb war ich genauso verknallt in ihn wie ein paar Tausend andere Mädchen … George war der ernsthafteste. Hin und wieder sprach er davon, was er machen würde, wenn er reich wäre, und fragte mich über finanzielle Angelegenheiten aus. Ich kann ihm keine große Hilfe gewesen sein. Ich interessierte mich noch gar nicht für Geld. Paul war der Wortführer. Ringo der Stille.»

Pattie Boyd lernte die vier Beatles kennen, nachdem sie ausgewählt worden war, um in A Hard Day’s Night ein Schulmädchen zu spielen. «Dem allerersten Eindruck nach wirkte John zynischer und dreister als die anderen, Ringo war der liebenswerteste. Paul war süß und George mit seinen samtbraunen Augen und dem dunklen kastanienbraunen Haar der bestaussehende Mann, dem ich je begegnet war.» Pattie gelang, wovon Millionen von Fans nur träumten. Ja, liebe Leser, sie hat ihn geheiratet.

Es gab einen Beatle für jeden Geschmack. Man verwirklichte sich selbst als Fan, indem man einen bestimmten den anderen dreien vorzog. Jeder personifizierte ein anderes Element: John war Feuer, Paul Wasser, George Luft und Ringo Erde. Selbst ihre Freunde zeichneten sie gerne in den Grundfarben als stark kontrastierende Charaktere, ähnlich wie in den Witzen über einen Engländer, einen Waliser, einen Iren und einen Schotten. Carolyn See fiel auf, dass die Beatles in A Hard Day’s Night perfekt auf ihre Persönlichkeiten zugeschnittene Rollen spielten: «den einnehmenden Paul, den geistreichen John, den nachdenklichen George, den trotteligen Ringo».

Der Schauspieler Victor Spinetti erzählte einmal folgende Geschichte: Bei den Dreharbeiten zu Help! in Salzburg bekam Spinetti die Grippe und musste das Bett hüten. «Die Beatles besuchten mich in meinem Hotelzimmer. George Harrison kam als Erster. Er klopfte, trat ein und sagte: ‹Ich wollte dir die Kissen aufschütteln. Wenn jemand krank im Bett liegt, muss man ihm die Kissen aufschütteln.› Er schüttelte mir die Kissen auf und ging. John Lennon war der Nächste, er marschierte auf mich zu und bellte: ‹Sieg Heil, Schweinhund! Die Ärzte sind hier. Sie werden an dir herumexperimentieren. Sieg Heil! Heil Hitler!› Und ging. Danach kam Ringo, setzte sich ans Bett, nahm die Hotel-Speisekarte und las sie laut vor, wie für ein Kind. ‹Es waren einmal drei Bären. Mami-Bär, Papa-Bär und Baby-Bär.› Dann ging er wieder. Paul öffnete die Tür nur wenige Zentimeter und fragte: ‹Ist es ansteckend?› Als ich dies bejahte, machte er die Tür wieder zu, und ich sah ihn nie wieder.» Paul war wie üblich der Pragmatische. Er wusste, wenn er oder die anderen die Grippe bekämen, müssten die Dreharbeiten verschoben werden.

Alistair Taylor fiel bei seiner Arbeit an der Seite von Brian Epstein auf, wie verschieden die Beatles mit ihren Einkünften umgingen. «Jeden Monat erhielten die Jungs jeweils eine Abrechnung von Brian, auf der alle einzelnen Posten übersichtlich und genau aufgeführt waren, sie steckte in einem verschlossenen weißen Briefumschlag. Alle reagierten sehr unterschiedlich. John stopfte den Umschlag zerknittert in die Tasche. George warf einen kurzen Blick auf die Abrechnung. Ringo verstand sie gar nicht und verschwendete auch keine Zeit auf den Versuch, doch noch durchzusteigen. Paul öffnete den Umschlag vorsichtig und verzog sich stundenlang in eine Ecke des Büros, um die Abrechnung in allen Einzelheiten zu studieren.»

Mit zunehmendem Alter zeichneten sich ihre Charakterunterschiede immer deutlicher ab. Als müssten alle weiter dieselbe Miene zu einem inzwischen ganz anderen Spiel machen. Alle vier waren aufgefordert, Vorschläge beizusteuern, wer auf das Cover von Sgt. Pepper sollte. George nannte ein paar indische Gurus, und Paul entschied sich für eine breitgefächerte Auswahl an Künstlern, von Stockhausen bis Fred Astaire. Johns Vorschläge waren makabrer oder unkonventioneller, er wollte den Marquis de Sade, Edgar Allan Poe, Jesus und Hitler auf dem Cover sehen. Ringo meinte schließlich nur, ihm seien alle recht, die die anderen vorgeschlagen hatten.

Natürlich drehte sich bei den Beatles alles meist um die gegensätzlichen Charaktere von Paul und John. Der Aufnahmetechniker Geoff Emerick beobachtete beide bei der Arbeit. «Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Paul war akribisch und organisiert, er hatte immer ein Notizbuch dabei, in das er mit seiner ordentlichen Handschrift systematisch alle Texte und Akkordwechsel notierte. John dagegen lebte im Chaos: Ständig suchte er Zettel, auf die er hastig Ideen kritzelte. Paul war der geborene Kommunikator, John konnte seine Ideen nicht gut in Worte fassen. Paul war ein Diplomat, John ein Agitator. Paul sprach ruhig, war fast ausnahmslos höflich, John konnte ein echtes Großmaul und ziemlich unverschämt sein. Paul war bereit, lange zu arbeiten, um einen Part richtig hinzubekommen, John war ungeduldig und wollte immer gleich zum nächsten Stück übergehen. Paul wusste meist ganz genau, was er wollte, und fühlte sich auf den Schlips getreten, wenn man ihn kritisierte, John hatte dagegen ein viel dickeres Fell und war offen gegenüber dem, was andere zu sagen hatten.»

John war spröde, anstrengend und bissig, Paul beschwichtigend, umgänglich und liebenswürdig. Aber es gab auch Leute, die unter der Oberfläche von Pauls Charme eine gewisse Sturheit, vielleicht sogar Eigennutz entdeckten. Tony Barrow hatte als Pressesprecher der Beatles den Eindruck, dass «John den meisten Krach schlug, besonders gegenüber Epstein. Wenn es einen echten Konflikt mit Brian gab, überließ Paul John die grobe Vorarbeit. Anschließend erledigte er mit Hilfe seiner Überredungskünste den Rest. John konnte Brian manchmal zum Weinen bringen, aber Paul, der eher ein Politiker war, bekam durch stille Beeinflussung stets seinen Willen. Johns Bellen war schlimmer als sein Biss. Damit überspielte er sein geringes Selbstwertgefühl … Paul dagegen versprach immer alles Mögliche, Tickets, Geschenke, überließ es dann aber Leuten wie mir, das Versprochene zu halten. Er wollte als Wohltäter dastehen und war gut im Versprechen, aber schlecht darin, es einzulösen. Er war ein Charmeur, ein Segen für die Pressearbeit, ein Meister der Imagebildung. Er war und ist ein reiner Showman, durch und durch, und er lebt von der Anerkennung seines Publikums.»

Paul hatte ein Babyface, war akribisch, heiter, diplomatisch, energisch, melodiös, einnehmend, optimistisch, kontaktfreudig, fröhlich, sentimental, beflissen. John war kantig, schludrig, larmoyant, schwierig, faul, gereizt, provokant, sarkastisch, pessimistisch, ichbezogen, launisch, cool, brutal. Paul hielt sich für liebenswert; John hielt sich nicht für liebenswert.

Paul hat einmal versucht zu erklären, wie die beiden wurden, was sie waren. «John musste wegen seiner Kindheit und der unsicheren Familienverhältnisse hart und schlagfertig sein, immer bereit, in Deckung zu gehen, immer bereit zum Gegenschlag, er hatte stets einen bissigen Scherz parat. Ich dagegen wuchs behütet auf, umgeben von einer großen Familie, von sehr vielen Menschen und sehr nordenglisch – ‹Tasse Tee, Liebes?› –, und das hat mich nach außen hin sehr gelassen gemacht. Man versucht, anderen ihre Befangenheit zu nehmen. Plaudert ein bisschen, ist freundlich, das ist viel netter … Bei mir gab’s nicht viel, womit man mich hätte verletzen können, ganz anders bei John: Sein Dad war nicht zu Hause, deshalb hieß es: ‹Wo ist dein Vater, du Bastard?› Seine Mutter wohnte mit einem anderen zusammen, was man damals ‹in Sünde leben› nannte, und das bot eine weitere leichte Angriffsfläche. John musste eine Menge abwehren, und das hat seine Persönlichkeit geprägt. Er war ständig auf der Hut … und hat viele Komplexe aus seiner Kindheit mitgenommen.»

Die einzigartige Macht der Musik der Beatles, ihre Magie und ihre Schönheit, liegt im Zusammenspiel dieser Gegensätze. Andere Gruppen waren laut oder besinnlich, progressiv oder traditionell, ernst oder fröhlich, folky, sexy oder aggressiv. Hört man jedoch ein Beatles-Album, spürt man, dass die gesamte Bandbreite des Menschseins darin steckt. John hat über das gemeinsame Komponieren gesagt: «Paul brachte Leichtigkeit mit, Optimismus, ich war immer auf das Traurige aus, auf Dissonanzen, eine gewisse bluesige Schärfe.» Diese fein ausbalancierte Spannung war es, die ihre Musik in ihren großartigsten Momenten so ausdrucksstark machte, dabei gleichzeitig allgemeingültig und einzigartig.

Schon als Teenager begaben sich beide mit einer gewissen Zielstrebigkeit ans Songwriting. Paul schwänzte die Schule, und John besuchte ihn zu Hause in der Forthlin Road. Paul schlug ein Schulheft mit blauen Linien auf weißem Papier auf, schrieb «Ein weiteres Original von Lennon-McCartney» auf die nächste freie Seite, und gemeinsam machten sie sich daran, einen neuen Song zu komponieren. Rückblickend fällt es Paul schwer, sich an einen fruchtlosen Nachmittag zu erinnern. «Wir hatten nie eine Session, bei der nichts herausgekommen ist … In all den Jahren sind wir nie auseinandergegangen und haben gesagt ‹Scheiß drauf, wir kriegen nichts hin›.»

Manchmal unterschieden sich ihre jeweiligen Beiträge zu ein und demselben Song derart, dass es scheint, als hätten sie ihren eigenen Karikaturen gerecht werden wollen. Während Paul sich die Zeile «We can work it out» ausdenkt, unterläuft John sie sofort mit «Life is very short». Während Paul singt «It’s getting better», entgegnet John «Can’t get much worse». In A Day in the Life lacht John, ein obsessiver Zeitungsleser, über einen Mann, der bei einem Autounfall stirbt («He blew his mind out in a car»), während der unbeschwerte Paul aufwacht, aus dem Bett steigt und sich erstmal die Haare kämmt («Woke up, fell out of bed, dragged a comb across my head»).

Viele Songs klingen von der Melodie her fröhlich, doch die Texte sind düster, oder sie klingen düster, aber die Texte sind fröhlich. Help!, Run For Your Life, Misery und Maxwell’s Silver Hammer handeln von Depressionen und Psychosen, sind aber in beschwingte Melodien verpackt. Den Solo-Stücken von Lennon und McCartney fehlt dagegen, ohne das Tauziehen der beiden konkurrierenden Partner, häufig die Dimension des jeweils anderen, wobei John in Selbstmitleid verfällt und Paul seinen Schrullen nachgibt.[1]

Im Laufe der Zeit arbeiteten sie seltener zusammen und komponierten immer mehr Songs getrennt, wetteiferten aber nach wie vor miteinander: Jeder wollte die Anerkennung des anderen. «Sie waren ein ideales Team», schrieb der Kritiker Ian MacDonald. «Sie lachten über dieselben Dinge, dachten im selben Tempo, hatten großen Respekt vor der Begabung des anderen und wussten, dass ihr unausgesprochener Ehrgeiz, einander zu übertreffen und zu überraschen, für die anhaltende Vitalität ihrer Musik ganz entscheidend war.»

Fußnoten

Vierzehn Jahre nach der Trennung der Beatles sagte Paul zu Steve Grant von der Zeitschrift Time Out: «Ich weiß, dass ich meine Bissigkeit verloren habe … Ich brauche Anregung von außen, eine Provokation, die ich nicht mehr habe. Und man darf nicht vergessen, dass diese Bissigkeit von allen Beatles kam – wenn Ringo oder George etwas nicht gefiel, flog es raus. Ohne diese äußere Provokation sind meine Sachen poppiger geworden, auf der anderen Seite habe ich mich mit Liebesliedern und Hymnen immer schon wohler gefühlt.» John war dagegen frustriert darüber, dass seine Stücke relativ selten von anderen aufgegriffen wurden. «Manchmal hat es ihn geärgert, dass Pauls Songs häufiger gecovert wurden als seine», erklärte Yoko 2008 im Interview mit Philip Norman. «Er hat gesagt: ‹Immer covern die Pauls Songs – nie meine.›» 2019 erzählte Paul der BBC-Journalistin Emily Maitlis grinsend, wie sauer John werden konnte, wenn er eine Hotelbar betrat und der Pianist, um ihm zu gefallen, eine verschnörkelte Version von Yesterday anstimmte.

3

Ende November 1940

Mary Mohin ist dreißig Jahre alt und noch unverheiratet. Ihre Mutter starb 1919 bei der Geburt ihres fünften Kindes, das ebenfalls nicht überlebte. Damals war Mary zehn Jahre alt. Vielleicht geschah es unter dem Einfluss dieser frühen Tragödie, dass Mary den Wunsch fasste, Hebamme zu werden. Jetzt hat sie ihr Ziel erreicht, und noch mehr: Inzwischen ist sie nicht nur Hebamme, sondern sogar Stationsschwester.

Jim McCartney ist achtunddreißig Jahre alt und ebenso unverheiratet. Er ist das fünfte Kind seiner Mutter, aber erst das dritte, das älter als zwei Jahre wurde. Kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag verließ er die Schule und fand eine gute Anstellung bei einem Baumwollhändler. Jetzt ist er Baumwollverkäufer und bezieht einen anständigen Lohn. Seine große Leidenschaft aber gilt dem Trompeteblasen in seiner eigenen sechs- bis achtköpfigen Kapelle – Jim Mac’s Band. Sie spielen die allerneuesten Tanzmelodien, Jims Lieblingsstück ist I’ll Build a Stairway to Paradise.

Da er auf einem Ohr taub und deshalb vom Militärdienst befreit ist, wird Jim der Fazakerley Fire Unit zugeteilt. Seit August fallen deutsche Bomben auf Liverpool; nur in London richten sie noch größere Verwüstung an als hier.[1] Aber irgendwie überstehen es die Liverpooler mit dem für sie typischen trockenen Humor. Drüben in Arnold Grove zerspringen die Fenster im Haus der Familie Harrison, und ihr Ledersofa, auf dem selten jemand saß, weil es besonderen Anlässen vorbehalten sein sollte, wird von fliegenden Glasscherben zerfetzt. «Hätte ich das vorher gewusst, hätten wir uns all die Jahre auch draufsetzen können», meinte Mrs Harrison später.

Mary lebt zur Untermiete bei Jims Schwester Jin. Mary und Jim kennen sich bereits seit mehreren Jahren recht gut, haben einander aber nie romantisch in Erwägung gezogen.

(a)

Heute Abend fliegen Nazi-Bomber über der Stadt. Als die Sirenen losheulen, sind Jin und Mary zu Besuch bei Jims Mutter in der Scargreen Avenue, sie müssen über Nacht bleiben. Jim ist ebenfalls dort, er und Mary sitzen zusammen und unterhalten sich stundenlang, während über ihnen Bomben fallen. Als Entwarnung gegeben wird, sind sie überzeugt, füreinander bestimmt zu sein. Am 15. April 1941, nach einer kurzen Verlobungsphase, heiraten sie; kaum mehr als ein Jahr später bekommt Mary ihr erstes Kind, einen Jungen. Er wird auf den Namen James Paul McCartney getauft.

(b)

Heute Abend bleibt es ruhig. Es heulen keine Sirenen. Erst am Morgen, als Jin und Mary schon zu Hause sind, geht es los. Zwischen Jim und Mary entsteht kein vertrauliches Gespräch, und sie gehen weiterhin getrennte Wege. James Paul McCartney erblickt niemals das Licht der Welt.

Fußnoten

Über 4000 Einwohner Liverpools kommen bei den Fliegerangriffen ums Leben.

4

Der Treffpunkt sei ein Stückchen außerhalb der Liverpooler Innenstadt, hatte man uns mitgeteilt, an Speke Hall, das der National Trust als «seltenes Holzfachwerkhaus aus der Tudorzeit, in höchst ungewöhnlicher Umgebung am Ufer des River Mersey gelegen» beschreibt. Das Anwesen hat, wie der Broschüre zu entnehmen ist, «über 400 Jahre turbulente Geschichte» hinter sich.

Ich bin früh dran, bleibe aber in der Nähe des «Besucher-Komplexes» – ein Gebäude, kein Gemütszustand –, betrachte Becher, Schals, Seifen und Bücher mit Tudor-Themen. «Sind Sie ein Bücherwurm? Werfen Sie einen Blick in unsere Sammlung von Werken für Erwachsene und Kinder, Sie werden tolle neue Lektüre-Erlebnisse finden!»

Es dauert nicht lange, dann führt uns ein fröhlicher Fahrer namens Joe zu einem Minibus und fragt, woher wir kommen. Drei aus Spanien, zwei aus Italien, vier aus Australien, zwei aus Österreich, vier aus England. Zwei weitere Personen haben Tickets gekauft, fehlen aber noch, und so warten wir, bis zwei junge Frauen wild winkend auf den Bus zurennen. «Los, wir jagen ihnen einen Schrecken ein», sagt Joe, lässt den Motor an und fährt los. Die beiden fuchteln noch wilder mit den Armen. «Mal sehen, wie groß die Erleichterung gleich ist», sagt Joe, hält an und lässt sie einsteigen.

Kaum hat der Minibus Speke Hall verlassen, drückt Joe auf einen Knopf und Love Me Do dringt aus den Lautsprechern. «Was is’n das für’n Mist?», ruft ein Australier ganz hinten.

«Ich weiß schon, wer zu Fuß zurücklaufen muss!», erwidert Joe. «Wenn er aussteigt, fahren wir ihm davon!» Die Stimmung im Bus ist sehr vergnügt.

Schon bald stehen wir in der Forthlin Road vor unscheinbaren Reihenhäusern, an denen Mitglieder des National Trust normalerweise vorbeifahren würden.

Die Stiftung hat das Haus mit der Nummer 20 auf Vorschlag des damaligen Generaldirektors der BBC, eines Liverpoolers namens John Birt,[1] 1995 erstanden, nachdem ihm aufgefallen war, dass es zum Verkauf stand. Sieben Jahre später gelangte auch «Mendips» in der Menlove Avenue, das Haus, in dem John Lennon aufgewachsen war, in den Besitz des National Trust. Yoko Ono hat es für die Stiftung gekauft. In einem Statement erklärte sie: «Als ich erfuhr, dass Mendips verkauft werden sollte, machte ich mir Sorgen, es könnte in die falschen Hände gelangen und kommerziell ausgeschlachtet werden. Daher beschloss ich, das Haus zu kaufen und dem National Trust zur Verfügung zu stellen, der es instand halten wird, damit Menschen es besuchen und betrachten können. Ich freue mich sehr, dass der National Trust bereit war, es zu übernehmen.»

Allerdings wurde die Entscheidung nicht von jedermann dort begrüßt. Tim Knox, der damalige Chefkurator des National Trust,[2] erklärte, er sei «außer sich vor Zorn». Man sei zugunsten eines billigen Populismus von den üblichen Kriterien abgewichen, ein Gebäude nur dann zu übernehmen, wenn es von wesentlicher, künstlerischer Bedeutung sei. «Das sind öffentlichkeitswirksame Coups – aber keine seriösen Anschaffungen», sagte er und setzte nur halb scherzhaft hinzu: «Außerdem werden wir jetzt vier Häuser übernehmen müssen, damit Ringo sich nicht ausgeschlossen fühlt.»

Andere pflichteten ihm bei. «Architektonisch betrachtet ist das Haus nicht interessanter als jede andere rauverputzte Doppelhaushälfte an einer Durchfahrtsstraße in einem x-beliebigen von der Mittelschicht geprägten Vorort», äußerte sich der Designkritiker Stephen Bayley[3] über Mendips. «Sein besonderer Wert entsteht durch den stellvertretenden mystischen Kontakt zum Genie. Die Architekturhistoriker beim Trust hatten aber das Problem, dass das Haus seines Inhalts entleert und es nicht mehr möglich war, stellvertretenden mystischen Kontakt über den Fernseher, den Küchenschrank oder andere Gegenstände aufzunehmen, die Einblick hätten geben können, was einen solchen Strom von genialen Texten und genialer Musik ausgelöst hatte. Also hat man ihn simuliert.

Der National Trust … brüstet sich mit dem Fachwissen, aus dem man dort schöpft. Zu seinen Mitarbeitern zählen einige der weltweit führenden Architekturhistoriker, die nun losgezogen sind und Sachen gekauft haben, um Lennons Zuhause zu rekonstruieren. Wenn sich aber Experten mit all ihrem Fachwissen auf eine Magical Mystery Tour durch die Läden zwielichtiger Liverpooler Händler begeben und sich auf Trödel konzentrieren, wirkt das albern. Ein alter Medizinschrank wird für seine Authentizität bewundert. Der Linoleumboden so eindringlich begutachtet wie ein Relief von Donatello. Sie finden die kegelförmigen Beine des Fernsehtischchens, nicht aber das Fernsehgerät selbst … Begibt man sich auf die lange, gewundene Straße der Nachbildung, wo landet man dann? Die Antwort lautet: in einer Traumwelt der mündlichen Überlieferung und Fantasie.»

Doch beim National Trust bleibt man unverdrossen. «Stellen Sie sich vor, Sie treten durch die Hintertür in die Küche ein, in der John Lennons Tante Mimi das Abendessen für ihn zubereitete», steht ehrfürchtig in der Einführung zu Mendips. Das Haus wird dargestellt wie ein religiöser Schrein, eine Pilgerstätte. «Begleiten Sie unseren Mitarbeiter auf einer faszinierenden Reise in die Vergangenheit … Johns Zimmer ist ein atmosphärisch aufgeladener Ort, an dem Sie sich einen Augenblick lang Zeit nehmen und bei Ihren Gedanken über diesen unglaublichen Menschen verweilen dürfen …»

Pilger müssen in Mendips strengere Regeln und Vorschriften beachten als in der Sixtinischen Kapelle. «Fotografieren sowie die Vervielfältigung des Audiomaterials sind streng verboten. Sie werden gebeten, sämtliche Handtaschen, Kameras und Aufnahmegeräte am Eingang des Hauses abzugeben.»

Sicher wird es nicht lange dauern, bis in Mendips ein Getreuer Zeuge eines Wunders wird – bis ein Blinder sieht, ein Krüppel aufsteht oder Johns Mutter Julia einem kleinen Mädchen als Vision erscheint –, woraufhin nur noch größere Scharen an Pilgern in die Menlove Avenue eilen und brav anstehen, um genau die Stelle zu betrachten, an der Julia überfahren wurde.

Als unser Minibus seine Passagiere entlässt, steigen gleichzeitig Leute aus einem «Magical Mystery Tour»-Reisebus und, ein Stück dahinter, vier Deutsche aus einem schwarzen Taxi. In der Einfahrt zur Forthlin Road wimmelt es vor Besuchern aus aller Welt, die in Beatles-T-Shirts Selfies schießen. Auf einem am Haus angebrachten Schild steht «Das Heim der Familie McCartney, Jim, Mary, Paul und Mike. Zugang nur über den National Trust.»

Ich schiebe mich langsam in der Schlange nach vorne. Ich habe lange im Voraus gebucht, einunddreißig Pfund für eine offizielle Führung durch beide Beatles-Häuser bezahlt (inklusive der beiden Broschüren) und fürchte nun, Teilnehmer der inoffiziellen Touren könnten sich an mir vorbeistehlen und sich mit ausgefahrenen Ellbogen statt meiner Zugang zu Pauls ehemaligem Zuhause verschaffen. Zum Glück steht Joe, unser Fahrer, daneben und überwacht die wenigen Auserwählten. Wichtigtuerisch marschiert unsere kleine Gruppe in den Vorgarten der Forthlin Road 20, danach schließen sich die Tore.

Die Mitarbeiterin, die uns durchs Haus führen soll, stellt sich als Sylvia vor. Sie lotst jedes Jahr 12.000 Personen durch das Haus, in dem Paul seine Jugend verbrachte, jeweils zwanzig pro Rundgang, vier Mal täglich. In ihrer Stimme liegt ein Anflug von Hyacinth Bucket. Sie heißt uns im Garten der Forthlin Road 20 willkommen. Hier, sagt sie, lebte Paul acht Jahre lang: «Musikalisch sehr bedeutende Jahre. George Harrison kam früh zu Besuch. Und George brachte seine Gitarre mit.»

Ein Raunen macht die Runde. Stephen Bayleys Aussicht auf mystischen Kontakt scheint sich zu materialisieren. «Als dann John Lennon herkam, nahm er mit seinem Fahrrad immer die Abkürzung über den Golfplatz, so dass er weniger als zehn Minuten brauchte. In dem Raum dort hinter Ihnen» – sie zeigt darauf – «saßen John und Paul und schrieben gemeinsam Songs. Als Paul Ende 1963 hier auszog, hatten die Beatles Hits in den Charts und traten im Fernsehen auf. Aber Paul kam trotzdem weiter hierher, hatte bis Ende 1963 noch sein Zimmer da oben. Er war der letzte Beatle, der nach London zog. Als also die McCartneys – Verzeihung, aber nehmen Sie das auf?»

Ich erstarre. Heimlich nehme ich Sylvias Ausführungen mit meinem Handy auf, aber wie sich herausstellt, meint sie einen der Australier, die näher bei ihr stehen. Er versichert ihr, er würde ganz bestimmt nichts aufnehmen. «Nein?», erwidert sie misstrauisch. «Tut mir leid, aber ich mag das einfach nicht», brummt sie und versucht, ihren Faden wiederzufinden. «Äh. Also, äh. Die McCartneys. Also. Äh. Als die McCartneys hier einzogen, äh, waren dies alles Sozialwohnungen, das bedeutet, den McCartneys gehörte das Haus nicht, es war Teil des sozialen Wohnungsbaus, man musste Miete zahlen.»

Von Sylvia unbemerkt schneide ich weiter mit, halte mein Handy verstohlen in einem bestimmten Winkel, damit sie es nicht bemerkt. Ich bin so aufgeregt, als wollte ich in unmittelbarer Nähe des Kaufhausdetektivs Haushaltswaren einstecken.

«Sie können sich vorstellen, was über die Jahre passiert ist. Leute haben die Häuser gekauft und Türen und Fenster ausgetauscht. Als der National Trust dieses Haus vor zweiundzwanzig Jahren erwarb, waren vorne neue Fenster angebracht, aber der Trust sah, dass im Haus gegenüber noch die Originalfenster waren, und so hat man einen Tausch vereinbart, die drüben haben die neuen bekommen und wir haben die alten wiedereingesetzt. Jetzt sieht es hier wieder genauso aus wie damals, als Paul mit seiner Familie hier gelebt hat.»

Pflichtschuldigst betrachten wir die Fenster zur Straßenseite und staunen darüber, dass sie nun wieder genauso aussehen wie vorher, obwohl sie zwischendurch anders ausgesehen haben. Währenddessen nimmt mein Handy weiter auf, und meine Besorgnis wächst, dass Sylvia etwas merken und mich öffentlich anprangern könnte.

«Okay, also wenn jemand ein Foto von sich und dem Haus machen möchte, dann geben Sie mir einfach Ihr Handy oder Ihre Kamera. Stellen Sie sich neben das Fenster, dann passen alle drauf, rücken Sie noch ein bisschen enger zusammen.» Die Besucher stehen freudig strahlend vor Pauls alter Haustür, oder besser der Tür, die Pauls alte Haustür wäre, wäre sie noch die alte Tür, die sie aber nicht ist.

«Sind das alle? War’s das?»

Sylvia ermahnt uns, es sei nicht erlaubt, im Haus oder im Garten dahinter zu fotografieren. «Das hat hier einen besonderen Grund. Sehen Sie, wir haben im ganzen Haus verteilt Fotos von Mike McCartney, Pauls jüngerem Bruder, und die sind urheberrechtlich geschützt. Ist sehr schön, dass wir sie haben. Und sie werden Ihnen Freude machen. Aber er würde sie entfernen, wenn Besucher sie abfotografieren dürften.»

Wir gehen in den Garten hinter dem Haus. Der National Trust schlägt vor, man solle vor allem auf «fünf Dinge in der Forthlin Road 20» achten. Erstens: «Das Abflussrohr hinter dem Haus: Nachdem Pauls Mutter gestorben war, bestand sein Vater darauf, dass die beiden Jungs rechtzeitig zum Essen nach Hause kamen, wenn nicht, wurden sie ausgesperrt. Wenn das passierte, rannten Paul und Mike hinters Haus und kletterten am Abflussrohr hinauf und durch das Badezimmerfenster hinein, das sie für den Fall der Fälle immer ein Stück offen ließen.» Sylvia wiederholt die Anekdote, fast Wort für Wort, während wir das Abflussrohr anstarren – oder genauer gesagt, das nachgebaute Abflussrohr.

«Wenn Sie mir also bitte beim Eintreten Ihre Taschen und Kameras aushändigen und die Handys ausgeschaltet übergeben würden, so dass bitte niemand mehr ein Handy in der Tasche hat.»

Damit führt Sylvia uns hinein. Alle stellen sich in eine Schlange, um ihr Handys und Kameras zu übergeben, als wollten wir über eine Grenze in ein besonders unsicheres Land. Sie schließt alles in die Kammer unter der Treppe ein. Unerlaubterweise behalte ich mein Handy in der Tasche und bereue es sofort. Während der gesamten restlichen Dauer meines Besuchs fürchte ich, dass mich jemand anruft und das Klingeln mich verrät, dass ich enttarnt und gescholten würde.

Wir zwängen uns ins Wohnzimmer, das mit drei unterschiedlichen Tapeten dekoriert ist – «die McCartneys kauften Tapetenreste» –, von diesen hier ist keine mehr das Original. Der braune Sessel, der klobige Fünfziger-Jahre-Fernseher und der Ecktisch sind ebenfalls keine Originale, ebensowenig die Teppichläufer. «Das ist der Raum, den die McCartneys als ihre gute Stube betrachteten. Der National Trust hat ihn mit Hilfe von Fotos und Familienerinnerungen wieder hergerichtet», meint Sylvia und erklärt auf Nachfrage, nein, das Klavier ist auch nicht das Original. «Paul besitzt es aber noch, es steht im Haus seines Vaters, wo er übernachtet, wenn er nach Liverpool kommt. Dort befindet sich das Originalklavier. Jim hat immer The Entertainer gespielt. Kennen Sie den, den Song von Scott Joplin? Wenn man an Scott Joplin denkt und an When I’m 64, versteht man, dass er davon beeinflusst wurde … Vater Jim war ein guter musikalischer Autodidakt. Und Paul ist seinem Vater in dessen Fußstapfen gefolgt. Nach nur wenigen Unterrichtsstunden sagte er: ‹Ich mache das wie mein Dad. Ich bring’s mir selbst bei.› … Hier hat er World Without Love komponiert und auch den Anfang von Michelle und Love Me Do – hier haben sie gesessen, als sie es geschrieben haben … Paul saß hier und schrieb I’ll Follow the Sun.» Sylvia zeigt auf ein Foto von John und Paul an der Wand. «Der Song, den sie auf diesem Bild gerade fertigschreiben, ist I Saw Her Standing There … Auch Please Please Me haben sie hier beendet.»

Hin und wieder gibt Sylvia ihrem Vortrag eine persönliche Note, indem sie ihre Sätze mit «Paul hat mir gesagt» einleitet – zum Beispiel «Paul hat mir gesagt, ‹wir hatten einige traurige Jahre hier, aber größtenteils waren wir sehr glücklich›.» Oder «hier befand sich das Esszimmer. Paul hat mir gesagt, ‹nachdem Mum gestorben war, haben wir nie mehr hier gegessen›.» Und sie setzt hinzu: «Paul hat mir gesagt, ‹viele denken, Let It Be handelt von der Jungfrau Maria, aber es geht um meine Mutter, die immer gesagt hat ‹let it be›.» Diese Geschichten habe ich im Lauf der Jahre unzählige Male gehört oder gelesen,[4] aber offensichtlich erfüllt es Sylvia mit großer Zufriedenheit, berichten zu können, dass sie all das direkt von Paul erfahren hat. Und vielleicht wird es ja auch uns in kommenden Jahren Befriedigung verschaffen, sagen zu können, dass wir die Geschichten von jemandem gehört haben, der sie von Paul gehört hat.

Wir schlurfen in die Küche. «Die Bodenfliesen wurden nicht verändert. Alle Beatles haben auf diesen Fliesen gestanden – Ringo allerdings nur zweimal, da er erst spät dazustieß.» Wir betrachten die heiligen Fliesen unter unseren Füßen. «Der Trust fand das ursprüngliche weiße Spülbecken zum Pflanzenkübel umfunktioniert im Garten und hat es wieder an seinen rechtmäßigen Platz zurückgebracht.» Ehrfürchtig betrachten wir die Küchenspüle und stellen uns vor, wie sich der junge Paul mit schmutzigem Geschirr plagte.

Nur die Fliesen und das Spülbecken sind in der Küche noch original erhalten, aber die Experten des National Trust fanden selbstverständlich geeigneten Ersatz für alles andere: ein Paket Lux-Seifenflocken, Margarine von Stork, die Teedose, die Keksdose, das Radio, den Wäscheständer. Fotos all dieser Gegenstände – so etwas wie die Coverbands unter den Haushaltswaren – können auf der Website des National Trust erstanden werden: Fotos von einem Plattenspieler aus den fünfziger Jahren, einem Staubsauger, einem Brotkasten, einer Wäschezange, einer Bratpfanne, einem Teekessel, von Wäscheklammern und einem Nudelholz. Alles wurde sorgfältig katalogisiert, wie die Gegenstände im Tower von London. Ein Holzlöffel (datiert 1960–1962, 260 mm; Material: Holz) wird beschrieben als «historischer Haushaltsgegenstand/Essenszubereitung, Zusammenfassung: Holzlöffel, aufbewahrt in Rührschüssel auf Kommode».

Alternativ kann man auch das Foto eines Teesiebs oder einer Fußmatte, einer Bratpfanne, eines Garderobenhakens oder auch eines «Emaille-Eimers mit schwarzem Rand und Griff mit Holzeinsatz, Datum unbekannt» kaufen.

Stolz der Sammlung ist aber sicherlich der «Mülleimer: Metall, 1940–1960, Zusammenfassung: Mülleimer aus Blech mit separatem Deckel (außerdem Ersatzdeckel im Kohlenschuppen)». Stellen Sie sich vor, wie stolz Sie als zerdellter alter Mülleimer Jahrgang 1940–1960 wären, wenn Sie als zentrales Ausstellungsstück in einem Haus des National Trust gelandet wären und von 12.000 Besuchern im Jahr dafür bewundert würden, dass Sie ganz genauso aussehen wie der Mülleimer, in den die Familie McCartney einst ihren Müll warf!

Während wir uns noch im Erdgeschoss drängeln, ist meine Angst, mein Handy könnte klingeln, so groß, dass ich es heimlich ausschalte und mir stattdessen handschriftliche Notizen mache. «Der Bodenbelag ist genau richtig», erklärt Sylvia, «wir haben ihn gefunden, und in die Kammer, in der sich Ihre Taschen befinden, hat Paul früher seine Jacke gehängt, manchmal auch seine Lederhose. Verzeihung, Sie machen sich Notizen. Warum machen Sie sich Notizen?» Erschrocken merke ich, dass Sylvia mich meint.

«Für wen sind die?»

«Für mich», sage ich.

«Ich will nur sicher sein, dass Sie kein Journalist sind.»

«Bin ich aber. Ich schreibe ein Buch.»

«Also, ich möchte nicht, dass Sie sich Notizen machen.»

«Warum nicht?»

«Nun, also einfach, weil ich das, was ich Ihnen erzähle, größtenteils von Mike erfahren habe und das sind private Informationen.»

«Aber Sie haben gesagt, Sie erzählen das alles 12.000 Besuchern im Jahr. Da kann es doch so privat nicht sein.»

«Tut mir leid, aber das ist mir unangenehm. Was haben Sie gesagt, wie Sie heißen?»

Und da stehen wir also an einem sehr heißen Tag im August und streiten im Wohnzimmer der McCartneys. Schließlich gelangen wir zu der Vereinbarung, dass ich nichts schreibe, was Sylvia für streng privat hält. Trotzdem wirft sie mir immer wieder misstrauische Blicke zu. Ich spüre, dass die anderen Besucher auf Abstand zu mir gehen, als hätte ich einen fahren lassen.

Endlich dürfen wir nach oben. Sylvia führt uns in Pauls Zimmer. Auf dem Bett liegt eine akustische Gitarre, die Saiten sind für einen Linkshänder aufgezogen. Natürlich ist es nicht die echte Gitarre. Außerdem liegen auf dem Bett ein paar Schallplatten, daneben ein Skizzenblock und eine Ausgabe des New Musical Express. «Wir haben ein paar Dinge gesammelt, die er in diesem Zimmer hatte. Zum Beispiel Vogelbücher – Paul war immer ein eifriger Vogelbeobachter.»

«Das ist streng privat», setzt sie hinzu und wirft mir pfeilartige Blicke zu, «Paul hat mir gesagt, er habe immer gerne auf die Felder hinter dem Haus geschaut, die zur Polizeischule gehörten. Dort hat er die Polizeipferde auf der Koppel beobachtet.»

Erst später, als ich die farbige Broschüre des National Trust über die Forthlin Road 20 durchblättere, stoße ich zufällig auf folgende Passage in Pauls Einleitung: «Vom Haus aus blickt man hinten auf eine Polizeischule, wir konnten uns auf das Dach unseres Schuppens setzen und uns die einmal jährlich stattfindende Polizeivorführung ansehen, ohne dafür zu bezahlen.»

Fußnoten

Generaldirektor der BBC

Inzwischen Direktor der Royal Collection.

Zufällig handelt es sich um denselben Stephen Bayley, der John Lennon fünfzehnjährig schrieb, woraufhin dieser sich angespornt fühlte, I Am the Walrus zu komponieren (vgl. Seite 427).

Zuletzt 2018 in der Sendung Carpool Karaoke (50.000.000 Clicks und 70.000 Kommentare auf YouTube), in der Paul sagt: «In den sechziger Jahren hatte ich einen Traum. Meine Mutter, die gestorben war, kam zu mir und machte mir Mut, indem sie sagte: ‹Es wird alles gut, lass es einfach sein.› Und ich hab mich so großartig gefühlt, alles wird gut … Also schrieb ich den Song. Das war ihre positive Einstellung.»Im Februar 2020 berichtete James Corden, der mit Paul für die Sendung durch Liverpool gefahren war, im New Yorker, Paul habe zunächst gezögert, das Haus seiner Familie zu besuchen. «Er sagte: ‹Ich war nicht mehr dort, seit ich mit Anfang zwanzig ausgezogen bin. Ich hab einfach ein komisches Gefühl dabei.›»