JILL LEPORE
DIE GEHEIME GESCHICHTE VON
Aus dem Englischen übersetzt
von Werner Roller
C.H.Beck
Jill Lepores berühmtes, nun endlich auch auf Deutsch vorliegendes Buch ist ein Kabinettstück. Es erzählt die Geschichte von Wonder Woman und dechiffriert zugleich in einer brillanten Spurensuche die darin versteckte Geschichte des Feminismus. So witzig und geistreich hat noch selten jemand Popkultur und Frauenbewegung miteinander verknüpft.
Jill Lepore ist Professorin für amerikanische Geschichte an der Harvard Universität und staff writer des New Yorker. Sie hat mehr als ein halbes Dutzend Preise für ihre Bücher erhalten. Ihr Buch «Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika» war auf Platz 1 der Sachbuchbestenliste und auch in Deutschland ein Bestseller. 2021 wurde sie mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet.
DIE SPLASH PAGE
★ ERSTER TEIL ★: VERITAS
1: HAT HARVARD ANGST VOR MRS. PANKHURST?
2: DIE AMAZONISCHE UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG
3: DR. PSYCHO
4: JACK KENNARD, FEIGLING
5: MR. UND MRS. MARSTON
6: DAS EXPERIMENTELLE LEBEN
7: MASCHINE ENTDECKT LÜGNER, SCHNAPPT GAUNER
8: STUDIEN ZU ZEUGENAUSSAGEN
9: FRYE UND DIE FOLGEN
★ ZWEITER TEIL ★: FAMILIENKREIS
10: HERLAND
11: DIE REBELLIN
12: DIE FRAU UND DER NEUE MENSCH
13: DIE BOYETTE
14: DIE BABY-PARTY
15: EHEGLÜCK
16: DIE GEFÜHLE NORMALER MENSCHEN
17: DER SCHARLATAN
18: VENUS MIT UNS
19: FICTION HOUSE
20: DER DUKE OF DECEPTION
21: HERRSCHAFT DER FRAU ZUR TATSACHE ERKLÄRT
★ DRITTER TEIL ★: PARADIESINSEL
22: SUPREMA
23: SO SCHÖN WIE APHRODITE
24: DIE JUSTICE SOCIETY OF AMERICA
25: DER MILCH-SCHWINDEL
26: DIE WONDER WOMEN DER GESCHICHTE
27: LEIDENDE SAPPHO!
28: SUPERPROF
29: DIE COMIC-GEFAHR
30: LIEBE FÜR ALLE
★ EPILOG ★: GROSSE HERA! ICH BIN WIEDER DA!
★ NACHWORT ★: DER HYDE-DETEKTOR
Bildteil
ANHANG
QUELLEN
MANUSKRIPTE IN PRIVATBESITZ
MANUSKRIPTE IN ARCHIVEN UND BIBLIOTHEKEN
ANMERKUNGEN
IN DEN ANMERKUNGEN VERWENDETE ABKÜRZUNGEN
ZU DEN ABKÜRZUNGEN VON FRAUENNAMEN
ZUR VERWENDUNG VON DC COMICS ALS ABKÜRZUNG
1 HAT HARVARD ANGST VOR MRS. PANKHURST?
2 DIE AMAZONISCHE UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG
3 DR. PSYCHO
4 JACK KENNARD, FEIGLING
5 MR. UND MRS. MARSTON
6 DAS EXPERIMENTELLE LEBEN
7 MASCHINE ENTDECKT LÜGNER, SCHNAPPT GAUNER
8 STUDIEN ZU ZEUGENAUSSAGEN
9 FRYE UND DIE FOLGEN
10 HERLAND
11 DIE REBELLIN
12 DIE FRAU UND DER NEUE MENSCH
13 DIE BOYETTE
14 DIE BABY-PARTY
15 Eheglück
16 Die Gefühle normaler Menschen
17 Der Scharlatan
18 VENUS MIT UNS
19 FICTION HOUSE
20 Der Duke of Deception
21 HERRSCHAFT DER FRAU ZUR TATSACHE ERKLÄRT
22 SUPREMA
23 SO SCHÖN WIE APHRODITE
24 DIE JUSTICE SOCIETY OF AMERICA
25 DER MILCH-SCHWINDEL
26 DIE WONDER WOMEN DER GESCHICHTE
27 LEIDENDE SAPPHO!
28 SUPERPROF
29 DIE COMIC-GEFAHR
30 LIEBE FÜR ALLE
EPILOG GROSSE HERA! ICH BIN WIEDER DA!
NACHWORT DER HYDE-DETEKTOR
ABBILDUNGSNACHWEIS
PERSONENREGISTER
Für Nancy F. Cott,
die Geschichte schrieb
★★★★★
So schön wie Aphrodite – so klug wie Athene – so schnell wie Merkur und so stark wie Herkules – man kennt sie nur als Wonder Woman, aber niemand weiß zu sagen, wer sie ist oder woher sie kam!
All-Star Comics, Dezember 1941
Bei der gestern erfolgten Ankündigung, dass der beliebten Comic-Heldin «Wonder Woman» ab dem 22. Juli ein ganzes eigenes Heft gewidmet sein wird, teilte M.C. Gaines, der Verleger der in der Lexington Avenue 480 ansässigen All-American Comics, erstmals offiziell mit, dass der Autor von «Wonder Woman» Dr. William Moulton Marston ist, ein Psychologe von internationalem Ruf.
Pressemitteilung,
All-American Comics, Frühjahr 1942
«Was ist der Grund dafür, mich mit Wonder Woman anzusprechen?»
Olive Byrne, in: Family Circle, August 1942
Wonder Woman war von Anfang an eine Figur, die auf Gelehrsamkeit beruhte.
The ΦBK Key Recorder, Herbst 1942
Wonder Woman ist, offen gesagt, psychologische Propaganda für den neuen Frauentyp, der meiner Ansicht nach die Welt beherrschen sollte.
William Moulton Marston, März 1945
MITTE: Unterdessen bindet Dr. Psycho seine Frau Marva in seinem psychologischen Labor auf eine sehr ähnliche Art, wie Hugo Münsterberg einst Radcliffe-Studentinnen mit den Maschinen in Harvards Psychologischem Labor verbunden hatte. Dr. Psycho verkündet: «Keiner Frau kann die Freiheit gewährt werden!»
UNTEN: Die Beteiligung der Frauen am Krieg nahm zu, und für Wonder Woman galt das auch. In «The Invisible Invader», in: Comic Cavalcade Nr. 3 (Sommer 1943), besiegt sie die deutschen Soldaten, mit denen sie es zu tun bekommt. Später wird sie zu «General Wonder Woman» befördert. «Frauen gewinnen an Macht in der Männerwelt!», berichtete Wonder Woman zum Jahresende 1943 ihrer Mutter Hippolyte.
OBEN RECHTS: In «The Amazon Bride», in: Comic Cavalcade Nr. 8 (Herbst 1944), stimmt Wonder Woman einer Heirat mit Steve zu – bis sie aufwacht und zu ihrer Erleichterung erkennt, dass es nur ein Alptraum war. Der Psychiater Fredric Wertham empfand den Feminismus in Wonder Woman als abstoßend: «Was nun die ‹fortschrittliche Weiblichkeit› anbelangt, wie sehen denn die Aktivitäten in den Comic-Heften aus, mit denen Frauen, ‹den Männern gleichgestellt, befasst sind›? Sie arbeiten nicht. Sie sind keine Hausfrauen. Sie ziehen keine Kinder groß. Mutterliebe ist völlig abwesend. Selbst wenn Wonder Woman ein Mädchen adoptiert, sind lesbische Untertöne im Spiel.» Werthams Rivalin, die Psychiaterin Lauretta Bender, widersprach. Die Wonder Woman-Hefte zeigten ihrer Ansicht nach «eine verblüffend fortschrittliche Vorstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit».
UNTEN LINKS: Marston hielt trotz des zunehmenden Drucks von Kritikerseite daran fest, Wonder Woman in Ketten zu legen, wie in diesem Beispiel in «Girls Under the Sea», in: Sensation Comics Nr. 35 (November 1944). Gaines bat Lauretta Bender, seinem Beratergremium beizutreten. Roubicek interviewte sie und berichtete an Gaines: «Sie ist nicht der Ansicht, dass Wonder Woman zu Masochismus oder Sadismus neigt. Außerdem glaubt sie, selbst wenn dem so wäre, dass man Kindern keine der beiden Perversionen beibringen kann (…)»
Aus: Wonder Woman Nr. 1, Sommer 1942
WONDER WOMAN ist die beliebteste Comic-Heft-Superheldin aller Zeiten. Mit Ausnahme von Superman und Batman hat keine andere Comic-Figur eine so lange Geschichte. Wie alle anderen Superhelden verfügt auch Wonder Woman über eine geheime Identität. Im Unterschied zu allen anderen Superhelden verbirgt sich hinter ihr auch eine geheime Geschichte.
Superman sprang erstmals 1938 über hohe Gebäude. Batman lag seit 1939 im Schatten auf der Lauer. Wonder Woman landete 1941 mit ihrem unsichtbaren Flugzeug. Sie war eine Amazone von einer Insel der Frauen, die seit den Zeiten des antiken Griechenland von Männern getrennt gelebt hatten. Sie kam in die Vereinigten Staaten, um für Frieden, Gerechtigkeit und Frauenrechte zu kämpfen. Sie trug goldene Armbänder; mit ihnen konnte sie Kugeln abwehren. Sie besaß ein magisches Lasso; wer mit diesem Lasso eingefangen wurde, musste die Wahrheit sagen. Um ihre wahre Identität zu verbergen, verkleidete sie sich als Sekretärin namens Diana Prince; sie arbeitete für den US-Militärgeheimdienst. Ihre Götter waren weiblich, und das waren auch ihre Ausrufe. «Große Hera!», rief sie. «Leidende Sappho!», fluchte sie. Sie sollte die stärkste, klügste, tapferste Frau sein, die die Welt je gesehen hatte. Sie sah aus wie ein Pin-up-Girl. 1942 wurde sie in die Justice Society of America aufgenommen und schloss sich Superman, Batman, The Flash und Green Lantern an; sie war die einzige Frau. Sie trug ein goldenes Diadem, ein rotes Bustier, blaue Shorts und kniehohe, rote Lederstiefel. Sie war ein bisschen verführerisch; sie war ziemlich speziell.
Über einen Zeitraum von sieben Jahrzehnten, über Kontinente und Meere hinweg waren Wonder-Woman-Geschichten immer im Handel. Die Zahl ihrer Fans geht in die Millionen. Generationen von Mädchen trugen ihre Pausenbrote in Wonder-Woman-Lunchboxes zur Schule. Aber nicht einmal die leidenschaftlichsten Anhänger von Wonder Woman kennen die wahre Geschichte ihres Ursprungs. Sie ist ein Herzensgeheimnis.
In einer Episode aus dem Jahr 1944 setzt ein Zeitungsredakteur namens Brown, der unbedingt Wonder Womans geheime Vorgeschichte aufdecken will, ein Team von Reportern auf sie an. Sie entkommt ihnen mühelos, rennt mit ihren hochhackigen Stiefeln schneller, als das Reporter-Auto fährt, und springt wie eine Antilope. Brown, vor Enthüllungseifer halb verrückt geworden, erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Wonder Woman, die Mitleid für ihn empfindet, verkleidet sich als Krankenschwester und bringt ihm eine Schriftrolle. «Dieses Pergament scheint die Geschichte der jungen Frau zu erzählen, die Sie ‹Wonder Woman› nennen!», sagt sie ihm. «Eine fremde, verschleierte Frau gab es mir.» Brown springt aus dem Bett und rennt im Patientenkittel zurück an seinen Lokalchef-Schreibtisch, wo er, die Schriftrolle schwenkend, brüllt: «Haltet die Druckerpressen an! Ich habe die Geschichte von Wonder Woman!»
Brown ist übergeschnappt; er hält nicht die wirkliche Geschichte von Wonder Woman in Händen. Alles, was er hat, ist ihre Amazonen-Legende.
Dieses Buch bietet etwas anderes. Die geheime Geschichte von Wonder Woman ist das Ergebnis von jahrelangen Recherchen in Dutzenden von Bibliotheken, Archiven und Sammlungen, einschließlich des Nachlasses von Wonder Womans Schöpfer William Moulton Marston, von Dokumenten, die bis dahin nur Familienangehörige zu sehen bekommen hatten. Ich las zunächst das bereits veröffentlichte Material: Zeitungen und Zeitschriften, Fach- und wissenschaftliche Zeitschriften, Comicstrips und Comic-Hefte. Dann ging ich in die Archive. Dort fand ich nichts, was auf Pergament festgehalten war; ich fand etwas Besseres: Tausende Seiten von Dokumenten, Manuskripte und Typoskripte, Fotografien und Zeichnungen, Briefe und Postkarten, Gerichtsakten aus Strafprozessen, auf Buchränder gekritzelte Notizen, Anwaltsschriftsätze, medizinische Dokumente, unveröffentlichte Memoiren, Storyentwürfe, Skizzen, Studienbücher, Geburtsurkunden, Adoptionsunterlagen, militärische Dokumente, Familienalben, Sammelalben, Vorlesungsmitschriften, FBI-Akten, Filmdrehbücher, die sorgfältig getippten Protokolle von Treffen eines Sexkults und winzige, in einem Geheimcode verfasste Tagebücher. Haltet die Druckerpressen an. Ich habe die Geschichte von Wonder Woman.
Wonder Woman ist nicht nur die Geschichte einer Amazonenprinzessin mit ausgefallenen Stiefeln. Sie ist das fehlende Glied in einer Kette von Ereignissen, die mit den Kampagnen für das Frauenwahlrecht in den 1910er Jahren beginnen und mit dem unruhigen Standort des Feminismus ein volles Jahrhundert später enden. Der Feminismus schuf Wonder Woman. Und dann sorgte Wonder Woman für ein Remake des Feminismus, was für den Feminismus nicht vorbehaltlos gut war. Superhelden, die vermeintlich besser sind als alle anderen Lebewesen, sind hervorragend, wenn es darum geht, Widersacher zusammenzuschlagen; im Kampf um Gleichberechtigung haben sie eine miserable Bilanz.
Aber Wonder Woman ist keine gewöhnliche Comic-Heft-Superheldin. Die Geheimnisse, die dieses Buch enthüllt, und die Geschichte, die es erzählt, verschaffen Wonder Woman nicht nur einen Platz in der Geschichte der Comic-Hefte und Superhelden, sondern rücken sie auch ins Zentrum der Geschichte von Wissenschaft, Recht und Politik. Superman macht Anleihen beim Science-Fiction-Genre, Batman steht in der Tradition des abgebrühten, nüchtern-sachlichen Detektivs. Wonder Woman hat Bezüge zum fiktionalen feministischen Utopia und zum Kampf für Frauenrechte. Ihre Ursprünge liegen in der Vergangenheit von William Moulton Marston und in den Lebensläufen der Frauen, die er liebte; auch sie schufen Wonder Woman. Wonder Woman ist keine gewöhnliche Comic-Heft-Figur, weil Marston kein gewöhnlicher Mann und seine Familie keine gewöhnliche Familie war. Marston war ein Universalgenie. Er war ein Experte für Täuschungen: Er erfand den Lügendetektor-Test. Er führte ein ungewöhnliches Privatleben: Er hatte vier Kinder von zwei Frauen; sie lebten zusammen unter einem Dach. Sie waren Meister in der Kunst der Verheimlichung.
Ihr Lieblingsversteck waren die Comics, die sie produzierten. Marston war Gelehrter, Professor und Wissenschaftler; Wonder Woman begann auf einem College-Campus, in einem Vorlesungssaal und in einem Labor. Marston war Rechtsanwalt und Filmemacher; Wonder Woman begann in einem Gerichtsgebäude und in einem Kino. Die Frauen, die Marston liebte, waren Suffragetten, Feministinnen und Befürworterinnen von Verhütungsmitteln. Wonder Woman begann bei einem Protestmarsch, in einem Schlafzimmer und in einer Klinik für Empfängnisverhütung. Das rote Bustier ist noch nicht einmal die Hälfte der Geschichte. Margaret Sanger, eine der einflussreichsten Feministinnen des 20. Jahrhunderts, war, ohne dass die Welt davon gewusst hätte, ein Teil von Marstons Familie.
Wonder Woman hat sehr lange für Frauenrechte gekämpft. Es waren hart geführte, aber nie gewonnene Kämpfe. Dies ist die Geschichte ihres Ursprungs – der Stoff, aus dem Wunder und auch Lügen sind.
★ ERSTER TEIL ★