SUDHIR HAZAREESINGH
BLACK SPARTACUS
Das große Leben des Toussaint Louverture
Aus dem Englischen übersetzt
von Andreas Nohl
unter Mitwirkung von Nastasja S. Dresler
C.H.BECK
«Ich wurde als Sklave geboren, aber die Natur
gab mir die Seele eines freien Menschen.»
Toussaint Louverture ist der Ahnherr von «Black Lives Matter». Sein Name ist untrennbar verbunden mit dem Kampf gegen koloniale Unterdrückung, Sklaverei und Rassismus. Ende des 18. Jahrhunderts organisiert er auf Haiti erfolgreich einen großen Sklavenaufstand, und von da an führt ihn sein Weg immer weiter empor, bis er schließlich Gouverneur der Insel wird und ihr eine eigene Verfassung gibt. 1802 gerät er in die Hände Napoleons und wird nach Frankreich deportiert, wo er elendig in einem Kerker sein Leben aushaucht. Doch Toussaints Botschaft der Befreiung hallt durch die Jahrhunderte. Es ist längst an der Zeit, ihm den Platz unter den großen Gestalten der Weltgeschichte einzuräumen, der ihm gebührt. Sudhir Hazareesingh hat es getan und auf der Grundlage jahrelanger Forschungen die faszinierende Biografie des Mannes geschrieben, mit dem der Anfang vom Ende der weißen Vorherrschaft begann.
«Das atemberaubend draufgängerische, blutbespritzte, inspirierende Leben von Toussaint Louverture in einer brillanten Darstellung.»
Simon Sebag Montefiore
Ausgezeichnet mit dem Wolfson-Preis
für das beste historische Buch des Jahres.
Sudhir Hazareesingh wurde in Mauritius geboren. Er ist Fellow der British Academy und seit 1990 Fellow und Tutor am Balliol College in Oxford. Alle seine Bücher sind preisgekrönt, darunter zuletzt «How the French think», für das er den Grand Prix du Livre d’Idées erhielt.
– Wolfson-Preis für das beste historische Buch
des Jahres
– Shortlisted für den Baillie Gifford Prize für
das beste Sachbuch
– Shortlisted für den Elizabeth Longford Prize
für historische Biografien
– Finalist für den American Library in Paris
Book Award
– Shortlisted für den James Tait Black Prize
für Biografie
– Shortlisted für den Slightly Foxed beste erste
Biografie Preis
– Finalist für den Pen/Jacqueline Bogard Weld
Award für Biografie
– Shortlisted für den Prix Château de Versailles
du Livre d’Histoire
– Shortlisted für den Prix Jean d’Ormesson
EINLEITUNG: TOUSSAINT LOUVERTURES
HISTORISCHE ORIGINALITÄT
ERSTER TEIL: EIN REVOLUTIONÄR
WIRD GEBOREN
1: DIE SEELE EINES FREIEN MENSCHEN
2: DIE PFORTEN DES SCHICKSALS
3: TAPFERE REPUBLIKANISCHE KRIEGER
ZWEITER TEIL: DIE ENTSTEHUNG
VON LOUVERTURES ORDNUNG
4: EINE EINZIGE FAMILIE VON FREUNDEN
UND BRÜDERN
5: DER BEVOLLMÄCHTIGTE TAUGT NICHTS
6: TUGENDHAFTE BÜRGER
DRITTER TEIL: TOUSSAINT AN DER MACHT
7: EIN GROSSER SPIELRAUM
8: KEINE ZEIT VERLIEREN
9: IN DER REGION DER ADLER
VIERTER TEIL: DER ANFÜHRER
UND SEIN MYTHOS
10: RASCHE UND UNSICHERE BEWEGUNGEN
11: DER BAUM DER SCHWARZEN FREIHEIT
12: EIN UNIVERSELLER HELD
EPILOG: EINE INSPIRATION FÜR UNSERE ZEIT
DANKSAGUNG
GLOSSAR
CHRONIK
ANHANG
ANMERKUNGEN
EINLEITUNG
TOUSSAINT LOUVERTURES HISTORISCHE ORIGINALITÄT
1
DIE SEELE EINES FREIEN MENSCHEN
2
DIE PFORTEN DES SCHICKSALS
3
TAPFERE REPUBLIKANISCHE KRIEGER
4
EINE EINZIGE FAMILIE VON FREUNDEN UND BRÜDERN
5
DER BEVOLLMÄCHTIGTE TAUGT NICHTS
6
TUGENDHAFTE BÜRGER
7
EIN GROSSER SPIELRAUM
8
KEINE ZEIT VERLIEREN
9
IN DER REGION DER ADLER
10
RASCHE UND UNSICHERE BEWEGUNGEN
11
DER BAUM DER SCHWARZEN FREIHEIT
12
EIN UNIVERSELLER HELD
EPILOG
EINE INSPIRATION FÜR UNSERE ZEIT
BILDNACHWEIS
TAFELN
TEXTILLUSTRATIONEN
KARTEN
PERSONENREGISTER
Für Karma,
die alles über revolutionäre Helden weiß
Lithographie von Nicolas-Eustache Maurin, Frankreich, 1832. Laut dem haitianischen Historiker Joseph Saint-Rémy basiert sie auf einem Originalporträt Toussaints, das Louverture dem französischen Bevollmächtigten Roume schenkte, der es nach Frankreich mitnahm, als er Saint-Domingue verließ.
«Carte topographique du Nord de Saint-Domingue, 1760». Abgebildet ist die fruchtbare nördliche Hochebene von Saint-Domingue mit den größten und reichsten Plantagen der Kolonie. Direkt südlich vom Dorf Haut-du-Cap liegt die Bréda-Plantage, wo Toussaint geboren wurde und die ersten fünf Jahrzehnte seines Lebens vor der Revolution verbrachte.
Zwei etwas idealisierte Darstellungen des Plantagenlebens auf der Kolonie. Oben: In der Mitte befinden sich die Zuckerrohrpflanzungen, links die Zuckerfabrik und -raffinerie, rechts die Sklavenhütten; die Villa des Plantagenbesitzers liegt hinten rechts. Unten: Die Verarbeitung von Tabak und Maniok durch Sklaven; in der Mitte hinten das Haus des Besitzers.
Diese französische Landkarte von Daniel Dervaux vom Beginn des 20. Jahrhunderts basiert auf einem Original aus dem 18. Jahrhundert. Sie stellt vergangene Ereignisse aus dem Blickwinkel der Republikaner dar: Die Landung von Christoph Kolumbus, die Ankunft spanischer und französischer Siedler und die Sklavenemanzipation durch die Französische Revolution (unten Mitte). Unten links findet sich Toussaint Louverture als letzter Kolonialgouverneur von Saint-Domingue.
Toussaints wichtigste Gesprächspartner und Gegner: die französischen Kommissare Léger-Félicité Sonthonax (oben links) und Gabriel Hédouville (oben rechts), die er beide ausbootete; der britische Gesandte Thomas Maitland (unten links), der ihn gegenüber den britischen Behörden unterstützte; und der Kommandeur der französischen Expeditionsarmee, Victoire-Emmanuel Leclerc (unten rechts), der ihn 1802 gefangen nahm und nach Frankreich deportieren ließ.
Drei Porträts, ursprünglich aus dem Besitz von Toussaints Nachkommen, zeigen wichtige Mitglieder der Familie Louverture: oben links Toussaints Stiefsohn Placide, oben rechts sein Sohn Isaac, unten links Isaacs Frau Louise Chancy, die Tochter von Toussaints Halbschwester Geneviève. Unten rechts ein Porträt Toussaints von 1877 von dem haitianischen Maler Louis Rigaud.
Reiterporträt von Denis Volozan aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Dargestellt ist Toussaint auf seinem Pferd Bel-Argent in klassischer Kriegerpose; seine Gesichtszüge ähneln dem Porträt von Maurin; kompositorisch sticht die Ähnlichkeit mit Davids berühmtem Reiterporträt Bonapartes bei der Alpenüberquerung ins Auge.
Es gibt viele Briefmarken zum Gedenken an Toussaint und die haitianischen Revolutionäre. Oben links: zum 150. Jubiläum der Revolution eine Darstellung von Lamartinière und seiner Frau Marie-Jeanne bei der Schlacht von Crête-à-Pierrot; Mitte: der 200. Todestag Toussaints 2003 und eine Briefmarke aus Dahomey (1963) sowie ein französischer Stempel (1991 neben Charles de Gaulle), die beide Toussaint als Befreier Haitis beschreiben; unten: kubanische Gedenkmarke und Stempel zur Zweihundertjahrfeier der Sklavenrevolte in Saint-Domingue von 1991.
Die Legende lebt bis heute weiter. Diese Skulpturen zeigen Toussaint Louverture oben links in Kriegerpose in Allada in Benin (1989), oben rechts ungebrochen in seiner Zelle im Fort Joux, unten links in seine Verfassung von 1801 vertieft in La Rochelle (2014), modelliert vom preisgekrönten Bildhauer Ousmane Sow; und mit entschlossenem Ausdruck in Montreal (2017).
EINLEITUNG
Toussaint Louverture, ein freigelassener schwarzer Sklave, wurde zum emblematischen Helden der Haitianischen Revolution. Dieser grundlegende soziale und politische Umwälzungsprozess, der anderthalb Jahrzehnte andauerte, begann 1789 im Gefolge des Sturms auf die Bastille mit der Forderung nach Selbstbestimmung und gleichen Rechten für freie People of Color in der französisch-karibischen Kolonie Saint-Domingue. Im August 1791 nahm die Revolution dann mit einem gewaltsamen Sklavenaufstand eine radikale Wendung, der schließlich 1793 zur Abschaffung der Sklaverei durch die republikanische Verwaltung der Kolonie führte sowie zur Anerkenntnis, dass der schwarzen Bevölkerung die gleichen sozialen und politischen Rechte zustünden wie den weißen Einwohnern und denjenigen mit gemischter Abstammung. Wie Toussaint es in einer seiner frühen Proklamationen formulierte: «Freiheit ist ein naturgegebenes Recht.»[1]
Diese Ereignisse und der sich daran anschließende Verlauf der Haitianischen Revolution sind Gegenstand des vorliegenden Buchs.[2] Die Revolution von Saint-Domingue war Teil einer ganzen Serie von Transformationen in der atlantischen Welt, die in der zunehmenden Infragestellung von Monarchie und imperialer Herrschaft, in dem aufkommenden Prinzip der Volkssouveränität und in der Etablierung der amerikanischen und französischen Republik zum Ausdruck kommt.[3] Toussaints Aufstieg bündelt wie ein Brennglas die allgemeinen Züge jener Revolutionszeit: ihre globale Struktur (seine Eltern waren Sklaven, die man gewaltsam aus Afrika nach Saint-Domingue verschleppt hatte); ihren trotzigen Militarismus (er stieg vom einfachen Soldaten zum französischen General auf); ihre Erschütterung existierender sozialer Hierarchien (vom leibeigenen Viehhirten wurde er zum Gouverneur von Saint-Domingue); den Einfluss europäischer Ideale (er war im katholischen Glauben erzogen und glühender Bewunderer der Grande Nation); die Kultur der Aufklärung (er war Anhänger von Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen und fest überzeugt von der Wirkungsmacht der Wissenschaften); und ihren Glauben an eine bessere Gesellschaft und sogar an die Besserung der Menschheit als Ganzer. In Toussaints Worten: «Vernunft und Bildung werden sich über unser erneuertes Land verbreiten; einst niedergedrückt unter das Joch der Sklaverei, die ebenso abscheulich wie menschenunwürdig war, wird sich der Mensch auf den Flügeln der Freiheit erheben.»[4]
Gleichzeitig verkörpert Toussaint die Einzigartigkeit der Revolution von Saint-Domingue. Sie war das umfassendste Beispiel eines radikalen Wandels, in dem sich demokratische und republikanische Ziele mit dem vorrangigen Anspruch auf Rassengleichheit verbanden, und sie führte zu einem gerechten Befreiungskrieg, der auf die antikolonialistischen Freiheitskämpfe der modernen Zeit vorausdeutete. Saint-Domingue war auch insofern außergewöhnlich, als die treibenden Kräfte der Revolution nicht weiße, liberal gesonnene Bürger waren, sondern schwarze Sklaven, die sich zum Teil gegen Sklavenhalter auflehnten, die die Französische Revolution unterstützten – wie zum Beispiel die Kaufleute in Bordeaux oder Nantes. Es war zugleich eine Revolution, die französische Eliten auf der Insel und in Paris zwang, sich mit dem Problem der Sklaverei auseinanderzusetzen und sie schließlich im Jahre 1794 abzuschaffen. Diese Revolution entmachtete die alte kolonialistische Herrenschicht, erfand den Guerillakrieg und wies die militärische Macht des europäischen Imperialismus erfolgreich in ihre Schranken. Sie erschütterte den von der Aufklärung kultivierten Glauben an die grundsätzliche Überlegenheit alles Europäischen – ihre Protagonisten beriefen sich auf spirituelle Praktiken der amerikanischen Ureinwohner und auf Gesellschaftsformen Afrikas. Sie verkörperten den aufbegehrenden Geist der afroamerikanischen Rebellen, die Ende des 18. Jahrhunderts im gesamten Schwarzen Atlantik die koloniale Vormacht brachen.[5]
Kurzum: Toussaint vereinigte in sich die vielen Facetten der Revolution von Saint-Domingue, indem er die herrschenden Machtstrukturen seiner Zeit – Sklaverei, kolonialistisches Siedlerwesen, imperiale Dominanz, Rassenhierarchie und europäische Kultursuprematie – attackierte und seinem Willen unterwarf. Durch sein Handeln erwarb er sich einige bemerkenswerte Beinamen. Seine republikanischen Anhänger sahen in ihm den «Schwarzen Spartakus», die moderne Inkarnation des legendären Gladiators, der seine Mitsklaven im Kampf gegen die Römische Republik anführte; sein wundersames Erscheinen in Saint-Domingue hatte, in den Worten eines seiner Bewunderer, «das Chaos der Zerstörung in die Saat des neuen Lebens verwandelt».[6] Er wurde auch als «father of the blacks» beschrieben, als schwarzer Sohn der Französischen Revolution, als schwarzer George Washington, als Bonaparte der Karibik, als «African hero», als Hannibal von Saint-Domingue und als Zentaur der Savanne (eine Hommage an seine Reitkunst; sein weißes Streitross Bel Argent war von seinem Mythos nicht zu trennen). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bezeichneten Zeitungen in Philadelphia ihn als «den gefeierten afrikanischen Häuptling».[7] Selbst die liberale Öffentlichkeit in England blieb angesichts eines so ungewöhnlichen Helden nicht ungerührt: Ein Artikel in der London Gazette von 1798 nannte ihn einen «Negerkönig» (Negro King), einen stolzen Repräsentanten der «schwarzen Rasse, die die christliche Welt zu ihrer Schande schon zu lange herabsetzt».[8] 1802 beschrieb ihn das Londoner Annual Register als «die wichtigste öffentliche Person des Jahres und einen großen Mann».[9]
Toussaint spielte auch im kollektiven Bewusstsein des 19. Jahrhunderts eine bedeutsame Rolle. Es wurde darauf hingewiesen, dass die revolutionären Vorgänge in Saint-Domingue unmittelbaren Einfluss auf Hegels Dialektik von Herr und Knecht ausübten, in welcher der Knecht schließlich seine Entfremdung überwindet und Selbstbewusstsein erlangt.[10] Genau wegen dieses subversiven Potenzials löste seine Herrschaft unter den Sklavenbesitzern jenseits des Atlantiks Panik aus. Thomas Jefferson verunglimpfte Toussaint und seine revolutionären Mitstreiter als «Kannibalen der schrecklichen Republik» und warnte davor, dass ihre «Missionare» einen Flächenbrand in Amerika provozieren könnten,[11] während der britische Kriegsminister Lord Hobart 1801 beim Gedanken an die «Macht eines Schwarzen Imperiums unter Toussaint» erschauerte.[12] Plantagenbesitzer und Kaufleute, sei es in London oder Paris, Virginia oder Louisiana, in Jamaica, Kuba, Brasilien oder Venezuela, teilten diese Ängste und hetzten gegen den Mann, in dem sie den «Robespierre von Saint-Domingue» sahen. Simon Taylor, der reichste Zuckerbaron in Jamaica, «wälzte sich schlaflos in seiner luxuriösen Bettwäsche und erlitt wiederholte Fieberanfälle», als er sich vorstellte, Toussaint und seine Revolutionäre kämen auf seine Plantage, um ihm die Kehle aufzuschlitzen.[13] Ihre Sklaven wiederum bewunderten ihn als Lichtgestalt und bejubelten seine militärischen Erfolge gegen die französischen, spanischen und britischen Truppen. Vom späten 18. Jahrhundert an waren Toussaint und die haitianischen Revolutionäre in den Vereinigten Staaten mächtige Symbole: Berichte über ihre zivilen und militärischen Erfolge kursierten in den amerikanischen Zeitungen, namentlich in Philadelphia und Washington;[14] ihre Heldentaten inspirierten Aufstände wie die von Nat Turner und Denmark Vesey, förderten eine positive Einstellung zur Sklavenbefreiung und verkörperten das Ideal eines spezifisch schwarzen Heldentums.[15] Der Abolitionist Frederick Douglass, der einflussreichste Afroamerikaner des 19. Jahrhunderts, war ein Verehrer von Toussaint und verbreitete dessen Legende in den Vereinigten Staaten, vor allem auch durch die Publikation einschlägiger Bilder in seiner Zeitung New National Era.[16] Toussaints außergewöhnliches Nachleben in Druckerzeugnissen, Musik, Gemälden und Legenden ist Gegenstand der letzten Kapitel in diesem Buch.
Ende des 18. Jahrhunderts bestand Saint-Domingue aus einem Territorium von rund 27.500 Quadratkilometern, die das westliche Drittel der Antillen-Insel Hispaniola ausmachten. Diese war nach der Entdeckung durch Christoph Kolumbus im Dezember 1492 zu spanischem Besitz erklärt worden. Von den Spaniern 1697 an Frankreich abgetreten, wurde die Kolonie in drei Provinzen aufgeteilt: Die bevölkerungsreichste nördliche beherbergte die Hauptstadt Cap Français, die in einer großen, geschützten Bucht lag und als erster Hafen von den Schiffen aus Europa und Amerika angelaufen wurde. Eine Reise von Frankreich aus dauerte etwa fünfundvierzig Tage, von der amerikanischen Ostküste zwanzig. Die Stadt war von einer weiten Tiefebene umgeben, dem fruchtbarsten Land in der Kolonie – auch dank regelmäßiger Niederschläge und der Bewässerung durch Flüsse und Bäche; Ende des 18. Jahrhunderts befanden sich hier die reichsten Plantagen der Kolonie.[17] Die beiden anderen Provinzen lagen im Westen und Süden, mit Port-au-Prince und Les Cayes als eigenen Hauptstädten. Port-au-Prince wurde 1750 zur Verwaltungshauptstadt und war umgeben von zwei Tiefebenen, dem Cul-de-Sac und der Artibonite, benannt nach dem größten Fluss des Landes. Ebenfalls in der westlichen Provinz lagen die wichtigen Häfen Gonaïves und Saint-Marc.[18] Die Urbanisierung hielt sich in der Kolonie in Grenzen; nur acht Prozent der Bevölkerung lebten in Städten mit mehr als eintausend Einwohnern,[19] und das schroffe Binnenland bestand hauptsächlich aus Gebirgszügen, tiefen Schluchten und hochgelegenen Karstebenen; die amerikanische Urbevölkerung von Hispaniola, die Taino, nannten die Insel «Ayti», das Land der hohen Berge. Von dichtem tropischem Urwald bewachsen, spärlich besiedelt und von Europäern kaum erforscht (weniger als ein Drittel der Kolonie war verlässlich kartiert), trennte dieses hohe Hinterland die drei Provinzen voneinander und schuf verschiedenartige Landschaften und regionale Klimazonen.[20] Es war schwierig, von einer Provinz zur anderen zu gelangen: Mitte des 18. Jahrhunderts wurde zwar eine Straße durch die Wildnis gebaut, die Cap und Port-au-Prince verbinden sollte, aber sie war erst ab 1787 für Kutschen befahrbar. In der Ebene gab es oft nur rudimentäre Verbindungen zwischen den kleineren Siedlungen und Pflanzungen, und die hochgelegenen Regionen waren ein weiteres Verkehrshindernis. Manche Straßen waren oft lange unpassierbar, wenn während der langen Regenzeit die Flüsse über die Ufer traten.[21] Der Süden – die kleinste der drei Provinzen – war besonders isoliert vom Rest der Kolonie und unterhielt in vielerlei Hinsicht engere Beziehungen zum benachbarten Jamaica, mit dem es einen lebhaften Handel mit Schmuggelwaren gab. Menschen und Waren reisten hauptsächlich auf dem Seeweg von einem Teil von Saint-Domingue zum anderen.[22]
Das spätkoloniale Saint-Domingue war weithin berühmt als «Perle der Antillen». Es war der weltgrößte Produzent von Zucker und Kaffee, neben bedeutenden Mengen von Baumwolle, Indigo und Kakao. Diese wertvollen landwirtschaftlichen Erzeugnisse machten die Kolonie zum stärksten Exporteur in Nord- und Südamerika, zu einem Ort, in dem Überfluss und Luxus zur Schau gestellt und «ungeheure Reichtümer» angehäuft wurden.[23] Cap war ein pulsierendes, kosmopolitisches Zentrum, das 1789 nahezu 20.000 Einwohner zählte und eine urbane Lebensqualität und Diversität bot, die sich durchaus mit Havanna, Philadelphia oder New York messen konnte. Neben dem geschäftigen Hafen hatte es einen florierenden Handel, 25 Bäckereien und eine rege Kulturszene, darunter ein Theater mit 1500 Plätzen; Theater gab es auch in Port-au-Prince, Saint-Marc, Léogâne, Jérémie und Les Cayes. Cap war zugleich bekannt für sein wissenschaftliches und intellektuelles Leben; es gab eine lebendige Presse, Lesegesellschaften und Privatbibliotheken mit den neuesten philosophischen Werken aus Europa.[24] Zur Zeit der Französischen Revolution gab es zwanzig Freimaurerlogen, und viele Mitglieder gehörten der bekanntesten wissenschaftlichen Organisation von Saint-Domingue an, dem Cercle des Philadelphes, der zwischen 1784 und 1792 seinen Sitz in Cap hatte und in dieser Zeit fünf Bände mit wissenschaftlichen Denkschriften zu Medizin, Landwirtschaft, Botanik und Ethnographie publizierte. Er hatte einen internationalen Mitgliederkreis und pflegte enge Beziehungen mit den führenden Gelehrten in Europa und den Vereinigten Staaten.[25]
Doch dieser materielle und kulturelle Glanz beruhte auf extremer Ungleichheit. Saint-Domingues gesamtes Produktionssystem basierte auf Sklaverei. Ende des 18. Jahrhunderts gab es in der Kolonie 500.000 Sklaven, die zum größten Teil in Afrika geboren waren und unter schwersten Bedingungen auf den Plantagen arbeiten mussten. Sklaven hatten keine bürgerlichen Rechte, und sie wurden von ihren Herren häufig mit barbarischer Grausamkeit behandelt. Etwa seit Mitte der 1750er Jahre begannen sie, unterschiedliche Formen des individuellen und kollektiven Widerstands zu entwickeln. Sie bildeten auf den Plantagen Bruderschaften und praktizierten spirituelle Vodou-Rituale, zu denen Tanz, Gesang, Trance und Wahrsagerei gehörten, während sogenannte marrons, entlaufene Sklaven, in wachsender Zahl flohen, sich in den Urwald zurückzogen und zu Banden zusammenschlossen oder in Dörfern und Städten untertauchten und Befreiungsparolen verbreiteten. Eine herausragende Gestalt in diesem Untergrund war Jean-Louis aus Cap, ein marron, der über «besondere Fähigkeiten» verfügte und Spanisch, Holländisch, Englisch, Französisch und die in Saint-Domingue gebräuchliche Kreolsprache beherrschte – sowie offenbar mehrere afrikanische Sprachen.[26] Unter den Weißen bestand eine strenge Klassentrennung, wobei sich die sogenannten petits blancs (Kleinbauern, Angestellte, Handwerker, Soldaten und Seeleute) regelmäßig gegen die städtische Vormachtstellung wehrten – insbesondere gegen deren allmächtige Bürokratie.[27] Zwischen den europäischen Siedlern und der schwarzen Mehrheit befand sich die mixed-race Bevölkerung, die beinahe so groß wie die weiße war, auf unsicherem Terrain. Obwohl sie frei waren, oft hochgebildet und in manchen Fällen sogar wohlhabend, litten diese People of Color (ebenso wie die wenigen freien Schwarzen) unter demütigenden gesetzlichen Diskriminierungen: Sie waren von der Beamtenschaft ausgeschlossen; der Zugang zu bestimmten Berufen, dem des Arztes zum Beispiel, war ihnen versperrt. Es war ihnen verboten, am gleichen Tisch wie Weiße zu essen oder sich wie diese zu kleiden, und im späteren Verlauf des Jahrhunderts war es ihnen sogar untersagt, nach Frankreich zu reisen.[28] Versuche der kommunalen Kolonialverwaltung in den 1780er Jahren, bescheidene Reformen einzuleiten, riefen unter den Weißen Empörung hervor und erzeugten unter den Siedlern Ressentiments gegen die französische Hauptstadt. 1784 wurde eine königliche Verfügung gegen die «unmenschliche» Behandlung der Sklaven von den Plantagenbesitzern scharf kritisiert, und die Kolonialgerichte lehnten so lange ab, sie durchzusetzen, bis sie entschärft worden war.[29]
Kurzum, Saint-Domingue glich unter dem Ancien Régime einem verminten Gelände, auf dem sich soziale und politische Konflikte ausdehnten und die weiße Vorherrschaft nur durch brutale Gewalt an der Macht erhalten werden konnte – oder wie es ein Plantagenbesitzer formulierte: Sklavenbesitzer wie er «lebten auf einem Pulverfass».[30] Als 1791 die Explosion kam, schloss sich Toussaint Louverture den Rebellen an, wie Tausende seiner schwarzen Leidensgenossen. Doch sein Aufstieg zum Revolutionsführer war alles andere als einfach und bleibt geheimnisumwoben. Zum Teil liegt das an Toussaints Charakter. Er war ein sehr zurückhaltender Mensch, der sich niemandem anvertraute und keine Mühe scheute, um wichtige Informationen über sich selbst, seine Ortswechsel und seine wahren Ziele zu verschleiern. Er streute Desinformationen und Gerüchte, versah seine Briefe oft mit falschen Absendeorten, und seine vertraulichsten Botschaften diktierte er verschiedenen Sekretären in separaten Teilen. Einmal bekannte er einem britischen Diplomaten, seine bevorzugte Vorgehensweise sei es, «wenig zu sagen, aber so viel wie möglich zu tun».[31] Das einzige glaubhafte Porträt, das zu Lebzeiten von ihm gemalt wurde, ist verschollen,[32] und er war berühmt für seine fast magische Gabe, unerwartet irgendwo aufzutauchen und spurlos wieder zu verschwinden. Einer seiner Gegner beschrieb ihn als «einen Mann, der es vermochte, sich dort, wo er war, sozusagen unsichtbar zu machen, und sichtbar, wo er nicht war; er schien die Unberechenbarkeit seiner Bewegungen vom Jaguar übernommen zu haben.»[33] Der Glaube, er habe übernatürliche Kräfte, wurde und ist bis heute ein fester Bestandteil der haitianischen Kultur.[34]
Wie alle bedeutenden Revolutionäre war Toussaint ein umstrittener Mann, was sich in der teils grob verzerrenden und teils stereotypen Art spiegelt, in der er häufig nach seinem Tod dargestellt wurde. Kolonialistische französische Autoren wie Louis Dubroca stellten ihn in eine Reihe mit den «abscheulichsten Ungeheuern der Geschichte», weil er es gewagt hatte, sich gegen die imperiale Herrschaft Frankreichs zu stellen, während Thomas Prosper Gragnon-Lacoste ihn in seiner Hagiographie als «außerordentlichen Menschen» feierte, «dessen Ruhm sich auf der ganzen Welt verbreitet hat».[35] Nach der Unabhängigkeitserklärung Haitis erging es Toussaint bei den führenden mixed-race Historikern der Nation wie Thomas Madiou, Beaubrun Ardouin und Joseph Saint-Rémy keineswegs besser. Sie griffen ihn als tyrannischen Herrscher an, der die Ethnien gegeneinander aufwiegle und die Ideale der Revolution verraten habe. Besonders kritisch sahen sie seinen politischen Autoritarismus, seine angebliche Feindseligkeit gegenüber ihren mixed-race Brüdern sowie seine Versuche, die alte Plantagenwirtschaft wieder zu beleben, indem er eine Allianz mit der alten weißen Herrenschicht schmiedete und die schwarzen Kolonialsklaven zwang, für ihre ehemaligen Besitzer zu arbeiten. Diese Aspekte bilden bis heute die umstrittensten Punkte von Toussaints Regierungszeit.[36]
Reflektiertere Biographien über Toussaint erschienen erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts. Der französische Abolitionist Victor Schoelcher reiste 1841 nach Haiti und griff später auf Archivquellen in Frankreich zurück, um ein wohlwollendes und nuanciertes Lebensbild zu zeichnen.[37] Der haitianische Historiker und Diplomat Horace Pauléus Sannon hat mit seiner dreibändigen Histoire de Toussaint Louverture (1920–33) das bedeutendste Werk aus Toussaints Heimatland vorgelegt. Er stützt sich stark auf dessen Reden und Proklamationen und erkennt in ihm den Gründungsvater der Unabhängigkeit Haitis.[38] Das klassische moderne Werk in englischer Sprache war – und bleibt – The Black Jacobins (1938) von C. L. R. James, eine faszinierende Chronik, die Generationen von Männern und Frauen in Europa, Amerika und auf der Südhalbkugel die Haitianische Revolution nahegebracht hat und als ein einflussreiches Handbuch für Revolutionen weltweit wirkte.[39] James betonte die Bedeutung der Massenmobilisierung gegen die Sklaverei in der radikalen Politik in Saint-Domingue und sah in Toussaint eine Verkörperung sowohl der haitianischen Unabhängigkeit als auch der Französischen Revolution. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts priesen Historiker auf allen Kontinenten The Black Jacobins, weil darin der erstaunlich komplexe wechselseitige Einfluss lokaler, nationaler und universeller Elemente in der Haitianischen Revolution zur Darstellung kommt.[40]
Doch ungeachtet aller Verdienste haben auch diese Biographien unser Bild von Toussaint verzerrt. Beispielsweise führte die Einseitigkeit, mit der Sannon seinen schwarzen Nationalismus betonte, zu einer groben Vereinfachung seiner Ansichten über «Rasse» und Nation. Ähnlich übersah Schoelcher, als er Toussaint zum glühenden Anhänger des französischen Republikanismus erklärte – ein bis heute bei französischen Historikern beliebtes Klischee –, sowohl die karibischen und afrikanischen Anteile seiner Persönlichkeit als auch seine tiefe Religiosität. James’ Darstellung von Toussaint als «französischem» Jakobiner verkannte ebenso die monarchistischen Neigungen wie das große Gewicht, das er in seinem politischen Denken auf lokale Autonomie legte und das sich schließlich in seiner Verfassung von 1801 niederschlug. James übertreibt in The Black Jacobins die Verbindungen zwischen den radikalen Bewegungen in Frankreich und Saint-Domingue, wenn er behauptet, die Ereignisse in Saint-Domingue seien letztendlich von europäischen Idealen und politischen Entwicklungen ausgelöst worden, und er verkennt die atemberaubende Originalität von Toussaint und seinen Mitstreitern.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Haitianische Revolution aus dem Schatten ihrer amerikanischen und französischen Vorgänger heraustrat, hat eine ganze Reihe von Wissenschaftlern auf ihre bemerkenswerte intellektuelle Kraft und kulturelle Diversität hingewiesen – sei es die Rolle lokal-religiöser Vodou-Praktiken, der Einfluss der politischen und militärischen Kultur Afrikas oder die Beiträge spezifischer Gruppen und Gemeinschaften (insbesondere Frauen, freie People of Color, Südländer und aus Afrika gebürtige Einwohner).[41] Jean Fouchards Les marrons de la liberté (1972) und Carolyn Ficks The Making of Haiti (1990) haben die traditionelle historische und politische Bedeutung der marronage in Saint-Domingue wiederentdeckt, indem sie die marrons der Kolonie ins Zentrum des revolutionären Prozesses in den 1790er Jahren und des darauffolgenden Unabhängigkeitskriegs rückten.[42] Ebenso haben Historiker die regionalen Auswirkungen der Haitianischen Revolution nachgezeichnet und dabei den Schrecken beleuchtet, den sie bei der Klasse der Sklavenhalter auslöste, sowie die Ermutigung, die sie für die Sklaven und freien Schwarzen in der Karibik und in Nord- und Südamerika bedeutete.[43] Und doch hat auch diese Forschung Toussaint aus dem Zentrum des revolutionären Geschehens verdrängt. So hat die Konzentration auf die Sozial- und Kulturgeschichte «von unten» seine individuelle Leistung aus dem Blick verloren. In Ficks Werk wird Toussaint als Randfigur in der indigenen Widerstandstradition gesehen, als Gehilfe der eigentlichen revolutionären Protagonisten, der Marron-Sklaven.
Toussaints Glaubwürdigkeit als Revolutionär wurde, nicht zuletzt seit der kürzlichen Entdeckung von Dokumenten in Zweifel gezogen, die darauf hindeuten, dass er bereits ein Jahrzehnt vor der Revolution kein Sklave mehr war und als freier Schwarzer eine Zeitlang selbst eine Reihe von Sklaven besaß. Feministische Historikerinnen haben auf das «Paradox» des haitianischen Republikanismus hingewiesen, wonach dessen demokratische und egalitäre Werte von Anfang an – mit anderen Worten: seit Toussaints Herrschaft – durch die «historische Exklusion der Frauen» unterminiert worden sei, denen der Zugang zu Politik und Bürgerrechten verwehrt war.[44] Für andere Kritiker trug Toussaints Herrschaft anfangs zwar emanzipatorische Züge, glitt dann jedoch in einen Autoritarismus ab, der noch dadurch verschlimmert wurde, dass Toussaint es ablehnte, der Masse von Kleinbauern Land zuzuteilen: Aus dem «Liberator» wurde der «Liquidator».[45] Sein revolutionäres Ansehen wurde ferner durch revisionistische und neo-imperialistische Werke getrübt, die Toussaint als konservativen Autokraten charakterisierten, der lediglich die weiße Pflanzerschicht durch eine schwarze Oligarchie ersetzen wollte: So lautete die Hauptthese der Biographie des französischen Historikers Pierre Pluchon.[46] Diese Behauptung wurde am dreistesten in den Schriften des aus Guadeloupe stammenden Historikers Philippe Girard übernommen. In seiner kürzlich erschienenen Biographie über Louverture weist Girard mit Nachdruck jede ideologische Fundierung von dessen Handlungen zurück – er sei vielmehr ein «Emporkömmling» gewesen, getrieben allein von Geld- und Machtgier und dem Streben nach «gesellschaftlichem Status».[47] In einer frühen Studie zum haitianischen Unabhängigkeitskrieg formulierte Girard seine «positive» Wertschätzung des französischen Kolonialprojekts und seine «Sympathie» für die Mitglieder der napoleonischen Expeditionsarmee, die Toussaints schwarzer Regierung 1801 ein Ende bereiten sollte. Er rechtfertigte sogar den französischen Angriff auf Saint-Domingue mit Toussaints «Doppelzüngigkeit».[48]
Solche Urteile zeigen, dass die Literatur über Toussaint zeitgeistige Strömungen spiegelt, wie dies so oft der Fall ist. Die Biographie von C. L. R. James stand im Zeichen einer globalen antikolonialistisch-revolutionären Welle sowie der Sehnsucht progressiver Intellektueller nach einer Alternative zum stalinistischen Kommunismus. Die neueste Wiederauferstehung konservativer und neoimperialistischer Ansichten über die Kolonialgeschichte ist eine Reaktion auf die Implosion dieses Zeitgeists. In der Tat wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als diese Ära einer etwas melancholischeren und pessimistischeren Sichtweise Platz machte, Toussaints Geister sogar im mystischen Hinterland des Postmodernismus gesichtet. David Scott baute auf James’ Beschreibung der haitianischen Revolution auf, um zu argumentieren, dass im heutigen Zeitalter der Desillusionierung Toussaint nicht mehr für emanzipatorische Ideale wie «Widerstand und Befreiung» stehe, sondern zu einem tragischen «Zwangsrekruten» der westlichen Moderne geworden sei.[49] In ihrer Studie über schwarzen Heroismus entschied sich Celeste-Marie Bernier für Toussaint als eine ihrer sechs ikonischen Figuren, warnte aber vor jedem Versuch, nun irgendeine «tatsächliche oder historisch verifizierbare Gestalt» aus dem Archivmaterial destillieren zu wollen: Ein solches Unterfangen wäre «nicht nur illusorisch, sondern letzten Endes zum Scheitern verurteilt.»[50]
Diese Biographie hat sich zum Ziel gesetzt, durch das Dickicht einen Pfad zurück zu Toussaint zu schlagen: so weit wie möglich zu den Primärquellen zurückzukehren, den Versuch zu unternehmen, die Welt mit seinen Augen zu sehen und die Kühnheit seines Denkens und die Eigenart seiner Stimme wieder zum Leben zu erwecken. Als Anführer war er von außerordentlicher Entschlossenheit; seine eigenen offiziellen Berichte über seine militärischen und politischen Erfolge handelten in erster Linie von ihm selbst.[51] Doch wie bei allen großen Revolutionären hatte seine Macht ein starkes kollektives Fundament. Sie basierte ebenso auf seiner republikanischen Armee wie auf der freien schwarzen Bevölkerung, die sich nach der Abschaffung der Sklaverei 1793 die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu eigen gemacht hatte. Toussaint gewann aber auch eine breitere Koalition von Unterstützern in den administrativen und kommunalen Strukturen der Kolonie, unter weißen Pflanzern und führenden Geschäftsleuten – und in der katholischen Kirche. Er half bei der Heranbildung eines schwarzen Klerus, der zu einer der Säulen seiner Macht auf lokaler Ebene werden sollte. Während eines größeren Zeitraums in den 1790er Jahren schickte er Berichte an das Marineministerium in Paris, das für die Verwaltung in den Kolonien zuständig war. Er versicherte sich auch der Unterstützung leitender Beamter in der Kolonialbürokratie, gewählter französischer Abgeordneter und führender Sklavereigegner wie Abbé Henri Jean-Baptiste Grégoire. Außerdem pflegte er Beziehungen zu amerikanischen und sogar zu britischen Diplomaten. Wie Toussaint in diesen Netzwerken agierte, welches Ansehen er darin genoss und wie sich seine Beziehung zu ihnen während seiner politischen Karriere entwickelte, ist entscheidend, um die Basis seiner Macht zu beurteilen.
Zu Toussaint zurückzukehren, heißt, ihn in seinem primären Umfeld zu verorten – dem der Sklaverei und der Kolonialpolitik im Saint-Domingue des 18. Jahrhunderts, wo er den Einflüssen ausgesetzt war, die seinen Charakter und seine intellektuelle Persönlichkeit formten. Dabei ging es nicht nur darum, sich die Gedanken der Aufklärung anzueignen. Saint-Domingue erlebte (wie viele andere karibische Kolonien) einen Prozess «unterschwelliger Kreolisierung», in dem europäische Denkinhalte so umformuliert wurden, dass sie mit den örtlichen Gegebenheiten kompatibel waren.[52] Toussaint und die Aufständischen von Saint-Domingue entwickelten sich so in einem lebendigen und fruchtbaren Milieu, das sie ihrerseits auch formten; in dem Ideen und Praktiken sowohl zwischen Europa und der Karibik ausgetauscht wurden als auch zwischen Afrika und der Karibik, wo universelle Konzepte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit übernommen und mit einer lokalen Bedeutung versehen wurden. Umgekehrt nahmen sie ortsspezifische Ideale – wie die Abschaffung der Sklaverei, die Ablehnung rassenbegründeter Hierarchien und der Definition des «Schwarzseins» – auf und gaben ihnen eine universelle Bedeutung.[53]
Die Haitianische Revolution entwickelte ihr eigenes Set emanzipatorischer Prinzipien und wurde damit «zur meisterhaftesten politischen Improvisation der radikalen Aufklärung».[54] Ein schlagendes Beispiel aus den Archiven kann dies illustrieren. Kurz nach dem Ausbruch des Sklavenaufstands im August 1791 kehrte ein Pflanzer namens Leclerc auf seine Ländereien im Sprengel von Limbé im Norden von Saint-Domingue zurück. Auch wenn sich Leclerc selbst als «humanen» Sklavenbesitzer sah, war sein Besitz von den Aufständischen usurpiert und niedergebrannt worden. Als er zurückkam, nachdem die Rebellen abgezogen waren, fand er nur noch ein Gebäude vor, das, wie ihm erklärt wurde, von dem lokalen Kommandeur des Aufstands bewohnt worden war. Als er eintrat, sah er, dass es all seine kostbarsten Möbel enthielt, und er war überrascht, dass sein Besitz «sorgfältig gepflegt worden» war. Der Pflanzer war noch verblüffter, als er auch seine Quartausgabe von Guillaume-Thomas Raynals und Denis Diderots Histoire philosophique des Deux Indes vorfand, das revolutionäre Pamphlet der Spätaufklärung, in dem die Sklaverei verurteilt wird. Der Rebellenkommandeur hatte das Buch aus seiner Bibliothek geholt und auf einen Mahagonitisch gelegt; es war das einzige Werk aus seiner Sammlung, das nicht den Flammen zum Opfer gefallen war. Der Kommandeur hatte das Buch auf einer Seite aufgeschlagen, wo den Kolonisten (colons) «schreckliche Vergeltungsaktionen» angedroht wurden, sollten sie ihre Sklaven nicht freilassen.[55] Er hatte sich nicht nur der Histoire philosophique bemächtigt, sondern den Text in einer bemerkenswerten Mischung aus Belesenheit, Großspurigkeit und Witz zum Leben erweckt.
Diese Art der Synergie war typisch für das Denken Toussaints. Wer ihn genau beobachtete, betonte seine «Nähe zur Natur» und sein «intuitives Genie», die beide mit seiner einheimischen Sozialisation und seinen bodenständigen Erfahrungen zu tun hatten; er verglich seine Art, die Welt zu sehen, oft mit der eines Raubvogels – von erhobenem Standort aus und dennoch fähig, die kleinste Bewegung auf dem Boden wahrzunehmen.[56] Zugleich begriff er sich als einen Mann, den «Vernunft und fundierte Philosophie» geformt hätten, und er war fest davon überzeugt, dass der Kampf des Volkes von Saint-Domingue beispielgebend für «das ganze Universum» war[57] – was ein Licht auf die Originalität seines Republikanismus wirft. Seine Reden und Briefe zeigen, dass er mit Raynals Werk sowie mit den wichtigsten Ideen von Machiavelli, Montesquieu und Rousseau vertraut war. Sein politisches Denken enthielt deutliche Spuren des «neo-romanischen» Konzepts der Freiheit, wie Quentin Skinner es genannt hat – insbesondere in seiner ausdrücklichen Identifikation mit der Spartakuslegende, seinem Eintreten für das Gemeinwohl (bonum commune5859métissage60