GEORGE SAND (1804–1876), gilt als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der Romantik. Die Französin schrieb mehr als 70 Romane und zahlreiche Theaterstücke; bereits als junge Frau war sie in ganz Europa berühmt. Sand war auch journalistisch tätig und beteiligte sich an der Revolution von 1848.
»Die Frau! Die Frau, ich weiß nicht, weshalb Sie mir immer von der Frau anfangen. Ich jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass meine Seele ein Geschlecht hat, wie Sie es mir so oft beweisen wollen.«
In keinem ihrer Werke hat sich George Sand mit Geschlechterrollen so persönlich und unkonventionell auseinandergesetzt wie in Gabriel. Sie selbst bezeichnete den Text als »Dialogroman« oder auch als »Phantasie«.
Gabriel, Alleinerbe des Fürsten von Bramante, erfährt erst als Jugendlicher, dass er eine Frau ist – der Fürst hat ihn fernab von der Welt als Jungen erziehen lassen, damit Adelstitel und Vermögen nicht Gabriels Cousin Astolphe zufallen. Als Gabriel sich gegen seinen Großvater auflehnt und sich in Astolphe verliebt, bahnt sich eine Katastrophe an.
ELSBETH RANKE, geb. 1972, übersetzt aus dem Englischen und Französischen. 2004 erhielt sie den André-Gide-Preis für deutsch-französische Literaturübersetzungen.
WALBURGA HÜLK ist Professorin für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen.
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Für Albert Grzymala.
(Erinnerung an einen abwesenden Bruder.)
Ich habe Gabriel in einem Gasthofzimmer in Marseille geschrieben, kurz nach der Rückkehr aus Spanien, während um mich herum meine Kinder spielten. – Der Lärm der Kinder stört nicht. Gerade durch ihr Spiel leben sie in einer fiktiven Welt, in die ihnen der Traum folgen kann, ohne dass die Realität ihm ins Gehege kommt. Auch sie selbst gehören in die Welt des Ideals, so schlicht sind ihre Gedanken.
Gabriel gehört nach Form und Gehalt ganz ins Reich der Phantasie. Nur selten findet sich in der Phantasie der Künstler eine direkte Verbindung zu ihrer realen Situation, und jedenfalls keine Gleichzeitigkeit mit den Sorgen ihres äußerlichen Lebens. Der Künstler muss gerade durch eine Erfindung heraustreten aus der gesetzten Welt, die ihn beunruhigt, bedrückt, ihn langweilt oder bestürzt. Wer das nicht weiß, kann selbst kaum Künstler sein.
George Sand
Nohant, 24. September 1854
FÜRST JULES DE BRAMANTE
GABRIEL DE BRAMANTE, SEIN ENKEL
GRAF ASTOLPHE DE BRAMANTE
ANTONIO
MENRIQUE
SETTIMIA, Astolphes Mutter
FAUSTINA
PÉRINNE, Ausstaffiererin
DER PRÄZEPTOR, Gabriels Hauslehrer
MARC, alter Diener
BRUDER CÔME, Franziskaner, Settimias Beichtvater
BARBE, Settimias alte Gesellschafterin
GIGLIO
EIN KNEIPENWIRT
BANDITEN, STUDENTEN, BÜTTEL, JUNGE MÄNNER und KURTISANEN
Im Schloss von Bramante
DER FÜRST, DER PRÄZEPTOR, MARC
(Der Fürst sitzt im Reisemantel auf einem Sessel. Der Präzeptor steht vor ihm. Marc schenkt ihm Wein ein.)
DER PRÄZEPTOR. Sind Eure Hoheit noch immer so müde?
DER FÜRST. Nein. Dieser alte Wein ist der Freund alten Blutes. Es geht mir deutlich besser.
DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit haben eine lange, mühselige Reise unternommen … Und das in einem Tempo …
DER FÜRST. Sehr mühselig, in der Tat, mit über achtzig. Früher durchquerte ich für eine Kleinigkeit ganz Italien von einem Ende zum anderen, für eine Liebelei, eine Laune; jetzt brauche ich sehr gute Gründe, um in der Sänfte auch nur den halben Weg zurückzulegen, den ich damals zu Pferd bewältigte … Es ist zehn Jahre her, dass ich zum letzten Mal hier war, nicht wahr, Marc?
MARC (sehr unterwürfig). Oh! Jawohl, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Da warst du noch frisch und munter! Und doch bist du auch jetzt erst sechzig. Geradezu ein Jüngling!
MARC. Jawohl, Euer Gnaden.
DER FÜRST (an den Präzeptor gewandt). Und wohl immer noch genauso blöde?
(Laut.)
Jetzt lass uns allein, mein guter Marc, und lass diese Karaffe hier.
MARC. Oh! Jawohl, Euer Gnaden.
(Er zögert, zu gehen.)
DER FÜRST (aufgesetzt gönnerhaft). Geh nur, mein Freund …
MARC. Euer Gnaden … Sollte ich nicht Herrn Gabriel Bescheid geben, dass Eure Hoheit hier sind?
DER FÜRST (mit Nachdruck). Habe ich Ihnen das nicht ausdrücklich verboten?
DER PRÄZEPTOR. Sie wissen doch, Seine Hoheit möchte Herrn Gabriel überraschen.
DER FÜRST. Nur Sie haben mich kommen sehen. Meine Leute sind die Verschwiegenheit selbst. Wenn geredet wird, mache ich Sie verantwortlich.
(Marc zitternd ab.)
DER FÜRST, DER PRÄZEPTOR
DER FÜRST. Auf ihn ist doch Verlass?
DER PRÄZEPTOR. Wie auf mich selbst, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Und … er ist, außer Ihnen und Gabriels Amme, der Einzige, der je erfahren hat …
DER PRÄZEPTOR. Er, die Amme und ich, wir sind neben Eurer Hoheit die einzigen Menschen auf der Welt, die heute von diesem gewichtigen Geheimnis wissen.
DER FÜRST. Gewichtig! Ja, Sie haben Recht; furchtbar, entsetzlich ist dieses Geheimnis, manchmal peinigt es mir gar das Gewissen. Und sagen Sie mir, Pater, ist nie irgendein Wort zu viel …
DER PRÄZEPTOR. Nicht eines, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Und bei den Menschen, die täglich mit ihm umgehen, ist nie irgendein Argwohn aufgekommen?
DER PRÄZEPTOR. Nie, Euer Gnaden.
DER FÜRST. So haben Sie mir also in Ihren Briefen keinen Honig um den Bart gestrichen? Alles ist die reine Wahrheit?
DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit stehen kurz davor, sich selbst davon zu überzeugen.
DER FÜRST. Richtig! … Und das macht mich unsäglich ergriffen.
DER PRÄZEPTOR. Euer Vaterherz wird Grund zur Freude haben.
DER FÜRST. Mein Vaterherz! … Pater, überlassen wir solche Worte denen, die sie unbefangen benutzen. Wüssten sie nämlich, durch welche dreiste, ja beinahe wahnwitzige Lüge ich mir die Ruhe und Wertschätzung meiner alten Tage erkaufen musste, so würden sie mir ein schweres Vergehen zur Last legen, das weiß ich! Verwenden wir also nicht wie sie die Sprache einer engherzigen, banalen Zärtlichkeit. Meine Zuneigung zu den Kindern meines Geschlechts war ein ernsteres, ein stärkeres Gefühl.
DER PRÄZEPTOR. Ein Gefühl der Leidenschaft!
DER FÜRST. Lassen Sie das Schmeicheln, man könnte es genauso gut ein Verbrechen nennen; ich kenne den Wert der Worte und messe ihm keinerlei Bedeutung zu. Ich kenne die gemeinen Pflichten, die kindischen Sorgen, die bürgerliche Väter binden, aber darüber stehen die Ehrenpflichten, die verzehrenden Ambitionen des adligen Vaters. Mit dem Mut der Verzweiflung habe ich sie erfüllt. Ich hoffe nur, dass die Zukunft mir nicht das Gedächtnis schwächt und nicht den Stolz meines Namens hinter Verfahrens- oder Gewissensfragen zurücktreten lässt!
DER PRÄZEPTOR. Das Schicksal hat Eure Ziele bislang wunderbar gestützt.
DER FÜRST (nach kurzem Schweigen). Sie schrieben, er sei von schöner Gestalt?
DER PRÄZEPTOR. Bewundernswert! Das lebende Abbild seines Vaters.
DER FÜRST. Ich hoffe, sein Charakter hat mehr Energie!
DER PRÄZEPTOR. Wie ich es Eurer Hoheit wiederholt vermeldet habe, unglaubliche Energie!
DER FÜRST. Sein armer Vater! Er war ein schüchterner Charakter … eine furchtsame Seele. Guter Julien! Wie mühsam konnte ich ihn nur überzeugen, in der Beichte auf dem Totenbett das Geheimnis zu wahren! Bestimmt hat diese Last sein Leben verkürzt …
DER PRÄZEPTOR. Eher doch der Schmerz, den ihm der zu frühe Tod seiner schönen jungen Gattin zufügte …
DER FÜRST. Ich habe Ihnen verboten, mir die Dinge schönzureden; Pater, ich bin ein Mann, der die ganze Wahrheit ertragen kann. Ich weiß, ich habe Herzen bluten lassen, und es werden noch weitere bluten! Nun denn, was geschehen ist, ist geschehen … Er tritt sein siebzehntes Jahr an; er muss von recht hübscher Größe sein?
DER PRÄZEPTOR. Mehr als fünf Fuß, Euer Gnaden, und er wächst weiter und schnell.
DER FÜRST (mit sichtbarer Freude). Wahrhaftig! Es stimmt, das Schicksal steht uns bei! Und das Gesicht, hat es schon männliche Züge? Schon! Ich möchte mich selbst betrügen … Nein, sagen Sie nichts mehr; ich werde ihn ja sehen … Sprechen Sie nur von seiner Moral, von der Erziehung.
DER PRÄZEPTOR. Alles, was Eure Hoheit angeordnet haben, wurde gewissenhaft erfüllt, und alles ist wunderbar geglückt.
DER FÜRST. Sei gelobt, Fortuna! … wenn Sie nichts übertreiben, Pater. So wurde also nichts unversucht gelassen, um seinen Geist zu formen, um ihn mit allem Wissen zu schmücken, das ein Fürst besitzen muss, um seinem Namen und seinem Rang Ehre zu machen?
DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit sind umfassend gebildet. Ihr werdet selbst meinen edlen Schüler befragen können und sehen, dass sein Studium anspruchsvoll und durch und durch männlich war.
DER FÜRST. Lateinisch, Griechisch, hoffe ich?
DER PRÄZEPTOR. Er beherrscht das Lateinische wir Ihr selbst, das darf ich sagen, Euer Gnaden; und das Griechische … wie …
(Er lächelt gewandt.)
DER FÜRST (herzlich lachend). Wie Sie, Pater? Wunderbar, ich danke Ihnen und gestehe Ihnen in diesem Punkt die Überlegenheit zu. Und Geschichte, Philosophie, Literatur?
DER PRÄZEPTOR. Das kann ich mit Sicherheit bejahen; die Ehre fällt dabei ganz dem Verstand des Schülers zu. Seine Fortschritte waren schnell, geradezu erstaunlich.
DER FÜRST. Studiert er gerne? Gelten seine Vorlieben ernsten Dingen?
DER PRÄZEPTOR. Er studiert gerne, und er ertüchtigt sich auch gerne, liebt die Jagd, die Waffen, den Wettlauf. Seine Geschicklichkeit, seine Ausdauer und sein Mut gleichen die körperliche Kraft aus. Seine Vorlieben gelten den ernsten Dingen, aber er hat auch die Vorlieben seines Alters: für schöne Pferde, reiche Gewänder, glänzende Waffen.
DER FÜRST. In diesem Fall steht alles zum Besten, und Sie haben meine Absichten vollkommen begriffen. Jedoch ein Wort noch. Haben Sie es verstanden, seinen Gedanken diese besondere, ganz eigene Ausrichtung zu geben … Sie wissen, was ich meine?
DER PRÄZEPTOR. Ja, Euer Gnaden. Seit seiner zartesten Kindheit (Eure Hoheit hatten selbst seiner Phantasie diesen ersten Anstoß gegeben) wurde er durchdrungen von der ruhmreichen Stellung des Mannes und von der Schmach der weiblichen Rolle in Natur und Gesellschaft. Die ersten Gemälde, die er erblickt hat, die ersten Grundzüge der Geschichte, die ihm zu denken gegeben haben, haben ihm die Schwäche und Dienstbarkeit des einen Geschlechts vor Augen geführt, sowie die Freiheit und Macht des anderen. Seht hier auf diesen Tafeln die Fresken, die ich nach Eurem Befehl habe fertigen lassen: auf dieser den Raub der Sabinerinnen, auf jener Tarpeias Verrat; dann die Verbrechen und Bestrafung der Danaiden; dort der Verkauf von Sklavinnen im Orient; andernorts gibt es verstoßene Königinnen, geächtete oder verratene Geliebte, hinduistische Witwen auf dem Scheiterhaufen ihres Gatten; überall die Frau als Sklavin, Besitz, Eroberung, die, wenn sie ihre Ketten abzuschütteln versucht, zu nichts als Lüge, Verrat, feigen und nutzlosen Verbrechen greifen kann und sich dadurch doch nur einer noch härteren Strafe aussetzt.
DER FÜRST. Und welche Gefühle haben diese ständigen Beispiele in ihm erweckt?
DER PRÄZEPTOR. Eine Mischung aus Abscheu und Mitleid, aus Sympathie und Hass …
DER FÜRST. Sympathie, sagen Sie? Ist er denn je einer Frau begegnet? Hat er je ein paar Worte wechseln können mit den Vertreterinnen eines anderen Geschlechts als … seinem? …
DER PRÄZEPTOR. Ein paar Worte wohl; ein paar Gedanken nie. Er hat nur von weitem die Bauernmädchen gesehen, und er würde niemals mit ihnen sprechen.
DER FÜRST. Und Sie meinen wirklich, dass er selbst nichts von der Wahrheit ahnt?
DER PRÄZEPTOR. Seine Jugend war so keusch, seine Gedanken sind so rein, die Wahrheit ist ihm mit einem so undurchdringlichen Schleier verhüllt, dass er nichts ahnt und erst aus dem Mund Eurer Hoheit erfahren wird, was er erfahren muss. Allerdings muss ich Euch warnen: Es wird ein harter Schlag, ein heftiger, vielleicht ein übersteigerter Schmerz … Das ist nun die Kehrseite der Dinge …
DER FÜRST. Bestimmt … gut so. Sie werden ihn im Gespräch vorbereiten, wie wir es vereinbart haben.
DER PRÄZEPTOR. Euer Gnaden, ich höre ein Pferd im Galopp … Er ist es. Wenn Ihr durch dieses Fenster sehen wollt … Er kommt.
DER FÜRST (steht lebhaft auf und blickt, versteckt hinter dem Vorhang, durchs Fenster). Was denn! Dieser junge Mann auf einem schwarzen Pferd, so schnell wie der Wind?
DER PRÄZEPTOR (stolz). Ja, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Der Staub, den er aufwirbelt, verhüllt mir sein Gesicht … Dieses prächtige Haar, diese elegante Gestalt … Ja, das muss ein hübscher Reiter sein … Gute Haltung auf dem Pferd; Anmut, Geschick, Kraft sogar … Wie! Wird er etwa über die Mauer springen, dieser junge Heißsporn?
DER PRÄZEPTOR. Wie immer, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Bravissimo! Ich hätte es mit fünfundzwanzig nicht besser gemacht. Pater, wenn die übrige Erziehung genauso gelungen ist, beglückwünsche ich Sie und werde Sie zu Ihrer Zufriedenheit entlohnen, verlassen Sie sich darauf. Jetzt trete ich in den Raum, den Sie mir angewiesen haben. Hinter dieser Wand höre ich Ihre Unterredung mit. Ich muss mich selbst darauf vorbereiten, ihn zu sehen, muss ihn etwas kennen lernen, bevor ich mit ihm spreche. Ich bin ergriffen, das gestehe ich offen, Pater. Das hier ist ein ernster Moment in meinem Leben und im Leben dieses Kindes. Alles wird sich in einem Augenblick entscheiden. Von seinem ersten Eindruck hängt die Ehre einer ganzen Familie ab. Die Ehre! Welch leeres, welch allmächtiges Wort …!
DER PRÄZEPTOR. Der Sieg wird Euer sein, wie immer, Euer Gnaden. Zwar konnte ich seine Instinkte nicht vollständig nach Eurem Willen formen, und so wird sich seine schwärmerische Seele in der ersten Bestürzung vielleicht auflehnen; doch die Abscheu vor der Sklaverei, der Durst nach Unabhängigkeit, nach Tätigkeit und Ruhm werden über alle Skrupel triumphieren.
DER FÜRST. Ich hoffe, Sie orakeln richtig! Ich höre ihn … sein Schritt ist beherzt! Ich gehe hier hinein … Ich gebe Ihnen eine Stunde … mehr oder weniger, je nach …
DER PRÄZEPTOR. Euer Gnaden, Ihr werdet alles hören. Wenn Ihr wünscht, dass er vor Euch tritt, lasst einen Gegenstand fallen; dann weiß ich Bescheid.
DER FÜRST. Nun denn!
(Er betritt den Nebenraum.)