Peter Baumgartner
Bern ... und seine Machenschaften
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Bern ... und seine Machenschaften
Menschenhandel, Drogenhandel …
Ein Auftrag für Philippe
Erste Erkenntnisse
Eine Dienstreise in den Süden
Eine weitere Dienstreise
Die Erkenntnisse
Paris ist eine Reise wert
Immer diese Geheimagenten
Fred, ein wahrer Freund
Der Fail-Dienstag
Frau Sütterli vom EDA
Ein neuer Auftrag für Philippe
Frau «X1»
Pointe de la Calle
Louis Canal
Bericht zh EDA
Wohin dies alles führen kann
Ruhigere «Gewässer» oder etwa doch nicht?
Erholung in Sainte-Maxime
Und wieder holt der Alltag Philippe ein
Louis … und kein Ende
Der Hinterhalt
Wunder geschehen
Paul Simson
Never say never again
Grossrat Mäusli
“Life is what happens to you while you‘re busy making other plans”
Impressum neobooks
PETER BAUMGARTNER
Bern und seine Machenschaften
Roman
IMPRESSUM
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2021 Peter Baumgartner, Bern/Schweiz
peter.baumgartn@bluewin.ch
ISBN
Das Leben ist manchmal schon eigenartig. Da denkt man, alles oder zumindest das meiste im Griff zu haben, und dann holt einem die Realität plötzlich wieder ein.
Gedanken des Autors
Den Inhalt dieses Buches verdanke ich meiner Fantasie. – Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Personen oder realen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Einmal mehr klingelte das Telefon von Philippe, dieses Mal war es sein Handy. Die Nummer war ihm völlig unbekannt, und so beschloss er, den Anruf zu ignorieren. Der Alltag hatte ihn fest im Griff und so ging es darum, Einkäufe zu tätigen, das Haus aufzuräumen und das Essen zu kochen. Die letzte Aufgabe übernahm er gern.
Das Telefon meldete sich erneut und es war dieselbe Nummer. Philippe liess den Anrufer abermals ins Leere klingeln. Der Anrufer hatte nun aber die Frechheit, eine Nachricht im Voice Mail zu hinterlassen. Philippe überlegte sich, ob er sie überhaupt abhören wollte. Nach längerem Zögern tat er es trotzdem und er wusste nicht, ob er seinen Entscheid bereuen würde.
«Hier spricht Pasquale Sütterli. Darf ich sie bitten mich zurückzurufen?», so der Kurztext in der Mitteilung. Eine Frau mit Namen Pasquale Sütterli kannte Philippe nicht und so war er unschlüssig, ob er dem Wunsch folgen wollte. Er wollte sich das Ganze vorerst einmal durch den Kopf gehen lassen. Es erschien ihm eigenartig, woher die Frau seine Nummer hatte, diese kannten nur die Wenigsten.
Im Verlauf des Nachmittags war die Neugier dann doch grösser als der Verstand, und er wählte die Nummer der Unbekannten. Eine sympathische Stimme nahm nach kurzem Klingeln den Anruf entgegen. Sie sei Mitarbeiterin im Aussendepartement, und es gehe um etwas Wichtiges. Aus diesem Grund würde sie es vorziehen, wenn sie Philippe persönlich treffen dürfte, um ihm ihr Anliegen kundtun zu können. Philippe war etwas überrascht, willigte dann aber ein, und sie vereinbarten das Treffen am darauffolgenden Morgen um 1000 Uhr im Restaurant Della Casa in Bern.
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA oder eben das Aussendepartement ist eines von sieben Departementen in der Schweiz und wird von einem Bundesrat oder einer Bundesrätin geführt. Es entspricht von den Aufgaben her den Aussenministerien in anderen Ländern.
Das ‘Della Casa’ befindet sich in der Oberen Altstadt von Bern und ist von seiner Aufmachung her wenig spektakulär, hingegen ist es bekannt für sein feines bürgerliches Essen.
Der Ort passte Philippe, der Zeitpunkt auch, und das Treffen würde wahrscheinlich auch nicht allzu lange dauern, da das Restaurant um die Mittagszeit stets gut besucht war, und sie ihren Tisch sicher wieder freigeben müssten, wollten sie nicht auch etwas essen. Aber davon war nicht die Rede.
Philippe erschien pünktlich. Er wählte für den Weg in die Stadt den ÖV, nicht zuletzt deshalb, weil in der Stadt Bern, mit Ausnahme der Parkhäuser, welche horrend teuer sind, kaum Parkplätze auszumachen sind. Bern wandelte sich je länger je mehr zu einer Velo- und Fussgänger Stadt, wo Motorfahrzeuge irgendwelcher Art nur noch mit Argwohn – wenn überhaupt – geduldet sind. Auf der einen Seite ist dies aufgrund der engen Platzverhältnisse sogar irgendwie verständlich, auf der anderen Seite ist es dem Konsum und den Ladengeschäften in der Stadt doch mehr als abträglich. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass je länger je mehr alteingesessene Lokalitäten ihren Betrieb mangels Umsatzes schliessen mussten. - Das ‘Della Casa’ war hier eine Ausnahme, was vielleicht damit zusammenhängt, dass das Restaurant sich in der Nähe des Bahnhofes befindet.
Frau Sütterli betrat das Gastlokal und wie sie bereits im Vorfeld gesagt hatte, werde sie Philippe erkennen. Sie werde zu ihm an den Tisch treten und sich ihm vorstellen. So war es denn auch, und eine attraktive Dame mittleren Alters gesellte sich zu ihm. «Pasquale Sütterli ist mein Name und ich arbeite, wie ich es ihnen schon gesagt habe, fürs Aussendepartement. Ihre Telefonnummer habe ich von einem gemeinsamen Bekannten erhalten, um damit ihre Frage vorweg zu nehmen. Auch weiss ich, dass Sie seit rund zwei Jahren in Pension stehen und somit über eine gewisse freie Zeit verfügen. Schliesslich ist mir bekannt, dass sie nicht allzu gut auf die Politik und die Politiker in unserem Land zu sprechen sind. Ihnen eilt der Ruf voraus, dass sie alles hinterfragen und dem Säuhäfeli und Säudeckeli nichts abgewinnen können.» - «Garçon, ich hätte gerne einen Cappuccino und was wünschen sie?»
«Danke, ich habe schon bestellt. Ich nehme einen Kaffee.» - Nach der Vorstellung von Frau Sütterli hätte Philippe jedoch am liebsten noch einen grossen Cognac dazu bestellt, aber dafür war es nun doch noch etwas früh am Morgen.
Frau Sütterli führte in der Folge aus, was folgt: Das Aussendepartement habe von einer vertraulichen Quelle aus Athen Informationen erhalten, wonach ranghohe Beamte beim Bundesamt für Polizei und auch bei der Bundesanwaltschaft in eine Korruptionsaffäre verwickelt seien. Auch hohe Mitarbeiter bei einzelnen Kantons Polizeien der Schweiz seien darin verwickelt. Es gehe um Millionenbeträge und das Ausmass der Verbrechen sei momentan noch völlig offen. Schlimm sei, dass nach dem heutigen Wissensstand niemand ausgeschlossen und folglich auch niemandem vertraut werden könne. Sie selber sei von der Generalsekretärin des EDA damit betraut worden, sich in geeigneter Art und Weise der Sache anzunehmen.
Philippe konnte kaum glauben, was er da zu hören bekam. Als erstes erkundigte er sich danach, woher sie denn ihre Informationen habe. Frau Sütterli präzisierte, dass die Quelle ihrer Informationen von einer Vertrauensperson aus Pristina stamme, und diese ihre Informationen wiederum von einem Mittelsmann aus Tirana habe. – Also, alles vom Hörensagen, dachte Philippe. Nichts Handfestes, was soll denn das Ganze?
«Und wie sieht es in diesem Zusammenhang mit dem verhaften Polizeichef aus der Schweiz in Tirana aus?», erkundigte sich Philippe beiläufig. «Woher wissen sie das? Das dürften sie gar nicht wissen. Und überhaupt …». – Frau Sütterli war völlig perplex und sie verstand die Welt nicht mehr. Eines der bestgehüteten Geheimnisse wurde ihr eben in einem Nebensatz preisgegeben. Sie war sich schlagartig bewusst, dass wollte sie mit ihrem Unterfangen, Philippe für ihre Zwecke einzuspannen, Erfolg haben, einen anderen Ton anschlagen musste.
Philippe Baumann ist pensionierter Polizist – Rentner. Das Wort kann man bekanntlich von beiden Seiten her lesen und kommt immer wieder zum gleichen Schluss: Der letzte Lebensabschnitt hat begonnen.
Philippe wohnt zusammen mit seiner Frau Deborah in einem einfachen Eckeinfamilienhaus in der Nähe von Bern. Das Haus umfasst einen recht grossen Garten, den sie auch brauchen, stellt ihr Hund Enrico doch so seine Ansprüche. Und so kann es nicht falsch sein, den Garten einigermassen in Schuss zu halten.
Philippe hatte seine Informationen von Bernard; dieser hatte ihn vor kurzem angerufen. Und obschon Philippe es hasste zu telefonieren, hatte er den Anruf entgegengenommen. Er hatte die Nummer auf dem Display seines Handys erkannt und er freute sich über den Anruf. «Salut Philippe, c’est Bernard. Comment vas-tu?» - « Très bien et à toi?»
Auch Bernard Picard ist Frührentner und er bezieht bereits seit über einem Jahr seine Pension. Leider fällt diese nicht allzu reichlich aus, womit er regelmässig ein anderes kleines Zubrot verdienen muss, um über die Runden zu kommen.
Bernard wohnt in Frankreich; dort ist er auch aufgewachsen. Nach unzähligen Umzügen hat er sich zusammen mit seiner Frau Isabelle in Sainte-Maxime niedergelassen. Dort bewohnen sie seit einem Jahr ein älteres Haus mit Meersicht und eigenem Pool. Die Gelegenheit zum Kauf bot sich ihnen vor ein paar Jahren, und sie konnten der Versuchung nicht widerstehen, ihren Traum vom Eigenheim mit Meeresblick zu verwirklichen.
Philippe und Deborah verbrachten ihre Ferien oft in Südfrankreich; damals noch mit der ganzen Familie, ihren beiden Söhnen und den beiden Hunden. Und so kam es, dass sich alle im Verlauf der Zeit näher kennengelernt hatten. Noch heute wird reger Kontakt gepflegt. Vor allem Philippe und Bernard sind in der Zwischenzeit gute Freunde geworden.
Obschon sich Philippe und Bernard schon eine ganze Weile kennen, ist die Konversation der beiden nicht immer einfach. Philippe konnte sich zwar einigermassen in Französisch ausdrücken, jedoch fehlte ihm ab und zu oder zumeist der gewünschte Wortschatz, um sich fliessend und der Situation angepasst ausdrücken zu können. Ähnlich erging es Bernard. Auch er hatte im Verlauf der Jahre einige deutsche Wörter und Redewendungen kennen gelernt, jedoch ist ihm die Sprache Goethes nach wie vor sehr fremd.
So gab es bei den beiden eben nur eines: sich mich Händen und Füssen zu verständigen und dies klappte in aller Regel recht gut; namentlich nach einem «quart» oder noch besser nach einem «demi de Rosé». Am Telefon war dies nun aber doch deutlich schwieriger. Hier musste hin und wieder nachgefragt werden, was der andere denn nun wollte und zu sagen hatte.
«Um was geht es Bernard?» - «Écoute moi mon ami.» «Ich habe gehört, dass der Polizeichef der Schweiz in Tirana verhaftet worden sein soll. Mein Freund Gérard, du kennst ihn, der ‘Journi’, der über Jahre hinweg für den Var-matin geschrieben hat, und nun ebenfalls in Pension steht, hat mir dies gesteckt; ihm ist ja bekannt, dass du Schweizer bist und in der Nähe von Bern wohnst.»
«Ja schon, aber was heisst hier der Chef der Polizei der Schweiz?» «Du weisst, lieber Bernard, dass das Ganze in der Schweiz nicht eben einfach ist. Hier gibt es Gemeindepolizisten, Kantonspolizisten und Polizisten der Bundespolizei. Daneben gibt es die Transportpolizei und auch die Grenzwache verfügt über polizeiliche Kompetenzen.»
In der Tat ist der Wirrwarr polizeilicher Kompetenzen in der Schweiz nicht ganz einfach zu verstehen. In der Schweiz gibt es rund 2250 Gemeinden; allein im Kanton Bern gibt es derzeit rund 350 und alle diese Gemeinden verfügen über gewisse polizeiliche Kompetenzen; die einen umfassender, die anderen weniger. Daneben gibt es 26 Kantons Polizeien, die Halbkantone mitgezählt. Ihnen obliegt die Hauptharst der Aufgaben im polizeilichen Bereich. Über Mord und Totschlag bis hin zum einfachen Ladendiebstahl haben sie alles zu bearbeiten, was Kriminelle oder Langfinger anstellen. Daneben gibt es noch die «Supertruppe» der Bundespolizei, welche sich vor allem der Organisierten Kriminalität und der Wirtschaftskriminalität widmet. Schliesslich, aber nicht zuletzt, gibt es noch die Transportpolizei, welche den Nah- und Fernverkehr im Auge behält, und die Grenzwache, welche dafür besorgt ist, dass der illegalen Einwanderung von Personen und Sachen gebührend Einhalt geboten wird.
Insgesamt stehen der Schweiz rund 20'000 Polizisten oder Grenzwächter zur Verfügung, welche für Sicherheit und Ordnung sorgen sollen. – Im Vergleich zu Frankreich mit seinen rund 220'000 Polizisten mutet die Zahl bescheiden an. Jedoch gilt es nicht zu vergessen, dass Frankreich flächenmässig rund 15-mal grösser ist als die Schweiz und über rund 8-mal mehr Einwohner verfügt. – Trotzdem und vielleicht auch deshalb lassen einige Parallelen ziehen.
Umgerechnet verfügen nämlich beide Länder in etwa über gleichviele Polizeikräfte, berücksichtigt man die Einwohnerzahl und die geographische Fläche.
Und trotzdem gibt es markante Unterschiede: in Frankreich wird zwischen der Police nationale, der Gendarmerie nationale und der Police municipale unterschieden. Die Nationalpolizei, welche dem Innenministerium untersteht, verfügt über umfassende Kompetenzen. Sie unterteilt sich in die Police administrative mit eingeschränkten Vollzugsrechten und die Police judiciaire, die eigentliche Kriminalpolizei, mit umfassenden Kompetenzen.
Auch die militärisch organisierte Gendarmerie nationale, für die sowohl das Verteidigungs- als auch das Innenministerium verantwortlich sind, verfügt über umfangreiche Kompetenzen. Sie umfasst personell rund die Hälfe des Polizeibestandes und ist für ländliche Gebiete und Kleinstädte bis zu einer Größe von ca. 20’000 Einwohnern zuständig. – Trotz dieser Kompetenzabgrenzung kommt es immer wieder zu Zuständigkeitsgerangel, wovon Bernard ein Lied singen könnte.
Bernard ist nämlich ebenfalls pensionierter Polizist. Während über 35 Jahren hat der für die Gendarmerie national gearbeitet und sich von der Pike auf hochgearbeitet. Aufgewachsen und zur Schule gegangen ist Bernard in der Bretagne in der Nähe von Quimper. Als Sohn eines Fischers wusste er um die Mühen dieses Berufes. Und so war für ihn klar, dass er den gleichen Weg wie sein Vater nicht einschlagen wollte. Für seine Eltern war dies kein Problem. Sie liessen Bernard alle Optionen offen.
Grossgewachsen und von stattlicher Statur, gepaart mit gesundem Menschenverstand und einer ansprechenden Grundausbildung bewarb er sich bei der Gendarmerie. Die Ausbildung wollte er etwas entfernt vom Elternhaus leisten, womit ihm das Centre de Recrutement in der Normandie nahe bei Rouen, der Hauptstadt der nordfranzösischen Region, richtig erschien. Seinerzeit und zum Teil noch heute wird die Ausbildung zum ‘Agent de Police’ bei der Gendarmerie sehr militärnah ausgeübt, was dazu führt, dass der Grossteil der Ausbildung kaserniert und umzäunt stattfindet. Dies führte dazu, dass Bernard seine Eltern und seine beiden Geschwister, Sophie und Jean-Luc, nur noch selten zu sehen bekam. Sie alle waren für ihn mit ihren warmen Begegnungen in weite Ferne gerückt. – Aber Bernard hatte dies ja so gewollt.
Ab und zu nahm Bernard die beschwerliche Reise nach Quimper unter die Füsse. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln musste er über Paris kehrt machen, um danach via Le Mans und Rennes nach Hause zu gelangen. Die Reise war eine Tagesreise und so nutze Bernard zuweilen die Gelegenheit, eine Nacht in Paris zu verbringen. Die Metropole hatte ihren Reiz, doch entsprach sie nicht seinen Wünschen und Vorstellungen: zu oberflächlich, zu weiträumig, zu fremd. – Bernard liebte das Ländliche, das Ursprüngliche, das Echte im Leben. Er liebte das Meer mit all seinen Schattierungen. Kurzurlaube verbrachten die Polizeiaspiranten in Le Havre oder vielleicht in Saint-Malo. Doch schon Saint-Malo liegt rund 300 km von Rouen entfernt.
Die Mutter von Bernard arbeitete in einer in Corcarneau ansässigen conserverie. Dort wurden und werden noch heute vor allem Sardinen und Thunfisch mit entsprechenden Gewürzen und Marinaden zu Delikatessen verarbeitet. Zumeist bringen die Männer den Fisch in den Hafen von Corcarneau, bekommen dort ihren Lohn und versuchen auf diese Weise ihre Familien über Wasser zu halten. So kommt es nicht von ungefähr, dass auch die Frauen zum Einkommen der Familie etwas beitragen müssen.
Madame Picard tat dies mit Stolz! Sie war sich bewusst ob ihrem Schicksal und dem Glück, mit Pierre, ihrem Mann, verheiratet zu sein und drei wunderbare Kinder zu haben. Nichts war ihr zu viel. Sie verstand es, Mühsal und Freude zu vereinen und dem Glück zum Durchbruch zu verhelfen. – Diese Einstellung wurde Bernard zu teil, und er war seiner Mutter hierfür zeitlebens dankbar.
Jedes Mal, wenn Bernard nach Hause kam, wurde er herzlich empfangen. Zumeist war seine Mutter Florence zu Hause, zuweilen auch sein Vater Pierre. Oftmals gesellten sich auch Jean-Luc, sein älterer Bruder, und Sophie, seine jüngere Schwester, dazu. – War die Familie vereint, so war das Glück perfekt!
Gemeinsam wurde geplaudert, erzählt und natürlich fein gegessen. Bernard erzählte von seiner Ausbildung zum Polizisten, Jean-Luc war Angestellter in einer Bank in Bordeaux und Sophie Primarschullehrerin in einem Vorort von Paris. – Solche Zusammenkünfte kamen leider nicht allzu oft vor und so galt es sie zu geniessen. Es ging allen gleich und alle waren am Schluss irgendwie traurig, aber vor allem glücklich, dass sie wieder einmal zusammen waren und sich gegenseitig austauschen konnten.
Die Reise von Bernard beinhaltete verschiedene Stationen. Dies war für die Arbeit bei der Gendarmerie nationale normal. Nach der Grundausbildung wurde man von A nach B geschickt und man hatte dort auszuhelfen, wo Not am Mann war. Eine der nächsten Reisen führte Bernard nach Velaux. Velaux ist eine kleine französische Gemeinde in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur mit rund 9000 Einwohnern. Die Gendarmerie nationale verfügt dort über einen Stützpunkt; und weil drei der Mitarbeiter ausgefallen waren, lag es nun an Bernard hier zum Rechten zu schauen.
Velaux liegt rund 35 km von Marseille entfernt und rund 70 km entfernt von Arles. Beide Städte also in Greifnähe. Und obschon Marseille als pulsierende Metropole des Südens vielleicht viel mehr zu bieten hatte, interessierte sich Bernard mehr für Arles. In einer knappen Stunde würde er mit dem Auto dort sein und er könnte die freie Zeit voll und ganz geniessen.
Ach ja, Bernard hatte sich in der Zwischenzeit ja ein Fahrzeug zugelegt: einen «deux chevaux» oder Döschwo (2CV). – Hier von Auto zu sprechen ist zwar etwas übertrieben, aber eben … meistens oder zumindest ab und zu lief das Gefährt. Giftgrün war die Farbe des Vehikels. Rückblickend betrachtet wäre es wahrscheinlich nicht ganz falsch gewesen, wenn Bernard noch eine Weile zugewartet und gespart hätte, um sich ein «anständiges» Auto zu leisten. Aber so ist es nun halt mal, wenn man jung ist: Herz und Verstand sind einfach zwei Sachen.
Sein Gefährt hatte so seine Eigenheiten. Jedes Mal, wenn er eine Verabredung hatte, streikte es – aus welchem Grund auch immer. Da halfen weder Kurbel noch gutes Zureden, meistens half nur die Zeit, bis es den zwei Pferden wieder passte loszutraben. Zumeist sehr gemächlich, dann aber doch wieder recht flott, sodass die Bremsen und vor allem die Reifen kaum mehr mitkamen. – Bremsen und Pneus waren nämlich schon in die Jahre gekommen, und so konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich hier unliebsame Kosten einstellen würden.
Ungeachtet dieser Tatsachen machte sich Bernard auf den Weg nach Arles. Diese 50 Minuten würde sein Auto schon noch schaffen, dachte er. Ob er dann allerdings auch wieder zurückkäme, interessierte ihn in diesem Moment nicht. Er wollte den Stierkämpfen in der Arena zuschauen. Arles mit seinen rund 50'000 Einwohnern ist eine Stadt am Ufer der Rhone in der südfranzösischen Region Provence. Arles war einst Provinzhauptstadt des Römischen Reiches und ist auch bekannt wegen der vielfältigen Überreste aus dieser Zeit, darunter eben das Amphitheater, in dem unter anderem heute Stierkämpfe stattfinden.
Eigentlich konnte Bernard mit Stierkämpfen nichts anfangen und trotzdem wollte er einmal eine solche Veranstaltung besuchen, damit er wusste, wovon er sprach. Schon nach kurzer Zeit war ihm das Ganze zu blöde, und er verliess das Stadion mit einem schalen Geschmack im Mund. Dieser rührte nicht von einer Krankheit her, sondern von seiner Abscheu, wie mit den Tieren umgegangen wird. – Bernard liebte nämlich Tiere und solches Unterfangen war ihm zutiefst zuwider.
Um dem Ganzen entgegen zu wirken, beschloss er im nahen gelegenen Restaurant «un demi de bière» zu trinken. Das Restaurant trug den Namen «La Cigale». Schon beim Eintreten fiel ihm die wunderschöne, junge Frau auf, die ihn freundlich begrüsste. Sie fragte ihn, ob er Platz nehmen möchte und ob er etwas zu trinken wünschte. – Bernard brachte nur ein knappes «Ja» hervor. Und trotz seiner Grösse und der körperlichen Statur kam er sich auf einmal sehr klein vor. Hier stand eine Frau vor ihm, die ihm die Sinne raubte: Jung, schön, anmutig, schlank und einfach bekleidet. Das dunkle Haar offen getragen, kein Makeup auf dem makellosen Gesicht, kein Modeschmuck, welcher die Silhouette verändern musste, einfache, flache Schuhe, Jeans und T-Shirt. - Natur pur!
Das war seine Frau, die er sich wünschte und mit der er Kinder haben wollte! Aber wie anstellen?
Bernard blieb an seinem Platz sitzen, die Augen auf die Unbekannte gerichtet. Irgendwann fragte diese, ob er noch ein zweites Bier wünschte, was er verneinte. Er blieb weiter stumm sitzen, bis er irgendwann nicht mehr anders konnte, den ganzen Mut zusammennahm, und sie nach ihrem Namen fragte. – «Ich heisse Isabelle und wie heisst du?»
«B…B…Bernard», stammelte er. «Woher kommst du, Bernard?», fragte Isabelle. «Aus Velaux», antwortete er. «Oh, das ist aber ganz schön weit weg.» «Soweit auch wieder nicht. Eine knappe Stunde mit dem Auto», erwiderte Bernard. - «Ok – möchtest du noch etwas trinken oder essen?»
Bernard hätte am liebsten die ganze Speisekarte rauf und runter bestellt, nur um noch länger hier bleiben zu können, jedoch musste er um 2300 Uhr zurück auf seinem Stützpunkt sein. Er hatte nur noch wenig Zeit, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Aber wie?
Auf einmal hatte er ‘die Idee’. Er bat Isabelle an seinen Tisch und er frage sie: «Isabelle, willst du meine Frau werden?» - Die Antwort kam prompt, aber nicht wie von ihm erwartet. Sie antwortete: «Mal schauen, vielleicht, wir werden sehen. Wann wollen wir uns das nächste Mal treffen?» - Bernard war abermals baff und er antwortete: «In einer Woche.» «Oh, das ist aber lang, aber ok! Dann sehen wir uns also in einer Woche wieder. Hier im Restaurant. Mach’s gut und tschüss.»
Bernard war ob er Reaktion völlig verunsichert und er konnte sie gar nicht richtig einordnen. Er bezahlte sein Bier und verliess das Restaurant.
Die Tage zwischen dem letzten Sonntag und der folgenden Woche verliefen alles andere als befriedigend. Zum einen konnte Bernard an nichts anderes als an Isabelle denken, zum andern war das Alltagsgeschäft mehr als mühsam. Neben den administrativen Arbeiten standen unzählige Kleindelikte an, die es zu bearbeiten galt: Ladendiebstahl im Einkaufszentrum Carrefour, Vandalismus bei der Präfektur und häusliche Gewalt in einer scheinbar ehrbaren Familie. Was Bernard hingegen am meisten beschäftigte, war der Umstand, dass ab einem Ausflug im nahen gelegenen Parc Naturel Régional de Camargue ein 12-jähriges Mädchen vermisst wurde. Das Mädchen war mit ihren Eltern und den beiden Geschwistern unterwegs und ab einem Zwischenhalt im lichten Wald war das Kind plötzlich verschwunden.
Die Nachsuche der Eltern verlief ergebnislos und sie konnten sich nicht erklären, wo das Mädchen stecken könnte. Der Naturpark war riesig mit Vögeln, freilaufenden Stieren und Pferden, aber auch mit unberechenbaren Sümpfen. Endlich alarmierten die Eltern die Polizei. Bernard war sofort zur Stelle und er organisierte in Abwesenheit seines Chefs das Notwendigste. Vor allem musste es darum gehen, unverzüglich und mit dem grösstmöglichen Aufgebot die Suche nach dem Mädchen einzuleiten. Hilfreich für diese Zwecke waren jeweils die «Sapeurs-Pompiers», die Feuerwehr im Zuständigkeitsbereich. Sie half stets unkompliziert und war sich gewohnt, in unwegsamem Gelände zu wirken.
So zum Glück auch heute. Nach nur kurzer Zeit konnte das Mädchen bei einem Flussbett gefunden werden. Sie wollte einige Fische beobachten und ist dabei ins Straucheln geraten. Der verknackte Fuss erlaubte es ihr nun aber nicht mehr zu laufen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als auf Hilfe zu hoffen. – Überglücklich nahmen die Eltern ihr Mädchen gegen Abend in die Arme und sie dankten den Hilfskräften für die Unterstützung. Der Tag war ein voller Erfolg für Bernard, und er ging zufrieden und mit einem Wohlgefühl nach Hause, schloss im Bett die Augen und sah Isabelle vor sich. Wow, welch schöne Frau! Hoffentlich werden wir eins!
Isabelle war die ältere Tochter von Fabienne, der Ehefrau von Paul Bertrand. Fabienne führte das Restaurant «La Cigale», welches für seine Muschelspezialitäten bekannt war. Fabienne war eine gewiefte Geschäftsfrau, welcher man so schnell nichts vormachen konnte. Sie hatte den Laden im Griff. Ab und zu wurde sie von ihren beiden Töchtern, Isabelle und Désirée, unterstützt. Die beiden jungen Frau lebten jedoch zumeist ihr eigenes Leben und so kam es nicht oft vor, beide im Restaurant anzutreffen. Désirée war von Beruf Kunstschmiedin, Isabelle Photographin. Beide hatten ihr künstlerisches Talent wahrscheinlich von ihrem Vater mit auf den Weg bekommen. Paul war von Beruf Künstler, der naiven Malerei zugetan. Leben konnte die Familie Bertrand kaum von den Einkünften des Mannes, womit es mehr als willkommen war, dass Fabienne ein solch glückliches Händchen im Umgang mit Geld hatte.
Bernard konnte es kaum erwarten, bis wieder Wochenende war. Er sehnte sich nach Isabelle, obwohl er sie kaum kannte. Sie hatte ihn einfach verzückt, ihm den Verstand geraubt. Am Sonntag, kurz nach dem Mittagessen, wollte er sich auf den Weg machen. Sein Döschwo zeigte ihm die Schnauze und signalisierte: Ich bin bereit. – Aber weit gefehlt. Die erste Zündung fiel ins Leere, ebenfalls die zweite und bei der dritten klang die Batterie schon erstaunlich müde. Was tun? Glücklicherweise konnte man einen 2 CV auch mittels Kurbel im Motorraum zum Starten bringen, sofern das Vehikel denn wollte. Also setzte Bernard den Hebel an und er bekam prompt den Rückschlag der Kurbel ins Handgelenk zu spüren. Du verfluchtes «Mistding», ging Bernard durch den Kopf, aber er äusserte es nicht, da er wusste, dass seine «Ente» pfleglich behandelt werden wollte. Also sprach er ihr gut zu und siehe da, beim zweiten Mal sprang die Karre an.
Angekommen in Arles platzierte er sein Entchen so, dass er es leicht anschieben konnte, sollte es wieder bocken. Zum Glück gab es in der Nähe des Restaurants «La Cigale» eine Seitenstrasse, die leicht abwärts zum Rhone Ufer führte. Hoffentlich hielt die Handbremse und löste sich der eingelegte Rückwärtsgang nicht. Mit dieser Hoffnung begab sich Bernard ins Restaurant. Dort angekommen hätte seine Enttäuschung nicht grösser sein können. Anstelle von Isabelle begrüsste ihn ein junger Mann, gutaussehend, etwa in seinem Alter und sehr adrett gekleidet. Er erkundigte sich nach seinen Wünschen und wies ihm einen Tisch zu. Bernard bestellte wie beim letzten Mal ein «demi».
Nach etwa einer halben Stunde und einem zweiten «demi» wollte Bernard bereits aufbrechen, als zwei junge, hübsche Damen das Restaurant betraten. Die eine von den beiden war Isabelle, die andere kannte er nicht. Sofort erkannte Isabelle Bernard und sie trat zu seinem Tisch. «Darf ich dir vorstellen? Dies ist meine Schwester Désirée. Wir helfen unserer Mutter ab und zu hier im Restaurant. Der gutgekleidete Kellner ist übrigens unser Bruder Claude. Auch er hilft hier ab und zu aus; so wie heute.»
«Hast du schon etwas gegessen, Bernard? Wie wäre es mit ‘moules et frites’? Eine Spezialität des Hauses. Meine Mutter versteht es hervorragend Muscheln zu kochen und diese sind heute Morgen frisch reingekommen.»
«Liebend gern, wenn du oder ihr auch mitesst», gab Bernard zur Antwort. Natürlich würde er am liebsten nur mit Isabelle alleine essen. Aber, sei es wie es soll, er genoss auf jeden Fall die Nähe zu seiner Angebeteten. Kurz darauf servierte Isabelle zwei Teller; wohlgefüllt und unglaublich fein riechend nach Knoblauch, Kräutern und frisch geschlagenem Rahm. Beide fingen an zu essen und nach kurzer Zeit sagte Isabelle: «Ja, ich will! Ja, ich will dich heiraten.»
Bernard wäre fast vom Stuhl gefallen, verschluckte sich an einem Pommes frites und konnte sich erst wieder langsam fassen, als ihm Isabelle liebevoll auf den Rücken klopfte. «Aber du kennst mich ja noch gar nicht richtig. Du weisst auch nicht wo und was ich arbeite», stammelte Bernard unbeholfen. «Doch», erwidert Isabelle. «Ich denke sehr wohl, dass ich dich kenne, so wie du bist, und dass ich dich richtig einschätzen kann. Ich liebe dich, und der Rest ist mir egal.» Zärtlich legte sie die Hand auf die seine, und der weitere Verlauf des Tages und des Abends soll ihr Geheimnis bleiben.
So kam es, wie es kommen musste. Wenige Wochen später wurde aus Mademoiselle Bertrand Madame Picard. Isabelle und Bernard heiraten in Arles, natürlich im Restaurant ihrer Mutter. Es war ein wunderschönes Fest, und wie auf wundersame Art und Weise verstanden sich die beiden Familien, Picard und Bertrand, auf Anhieb bestens.
Das Ehepaar Bernard und Isabelle musste schon bald wieder weiterziehen: Bernard wurde in die Aquitaine in der Nähe von Bordeaux versetzt. Dort sollte das Ehepaar auch eine Weile bleiben. Schon im Verlauf des ersten Jahres kam zusätzliches Leben in den Ehealltag: Michelle, die ältere Tochter der beiden erblickte das Licht der Welt. Zwei Jahre später gesellte sich Danielle dazu. – Von nun weg war klar, wer das Sagen hatte. Die beiden Mädchen verstanden es von Kindsbeinen an, ihre Eltern um den Finger zu wickeln und sich in der Familie durchzusetzen. Heute sind beide, Michelle und Danielle, erwachsen und wunderschön anzusehen: die eine gross und blond, die andere etwas kleiner und brünett, beide mit vollem langem Haar, ihrer Mutter Isabelle wie aus dem Gesicht geschnitten.
Aber nicht nur die äussere Erscheinung der beiden lässt keinen Zweifel offen, wer die Mutter ist. Auch im Charakter sind sie ihrer Mutter sehr ähnlich: offen, natürlich, spontan und äusserst herzlich. Bernard könnte sich keine liebevollere Familie wünschen.
«Sie haben recht, Herr Baumann, ich muss offen mit Ihnen reden. Unseren Informationen zufolge geht es in diesem Fall um grossangelegten Menschenschmuggel, ja gar um Menschenhandel. Aber nicht nur das, auch Drogenschmuggel und Drogenhandel spielen hier mit, letztlich steht aber der Handel mit Organen im Vordergrund. Das Ganze spielt sich nach unseren Informationen über die Balkanroute ab, und wie sie sicher wissen, ist in Albanien alles machbar, was Gott verboten hat, wenn man nur genügend dafür bezahlt. Das Geschäft ist äusserst lukrativ und hat deshalb schon so manchen in seinen Bann gezogen. Doch jetzt scheint das Ganze eine neue Dimension anzunehmen, von der nur zu erahnen ist, welchen Umfang sie noch annehmen könnte. Wir haben nämlich konkrete Hinweise, dass nicht nur Polizeifunktionäre in die Sache verwickelt sind, sondern auch deren politische Vorgesetzte.»
Jetzt wurde Philippe doch etwas hellhöriger. «Und wie sehen denn diese Hinweise aus?», wollte Philippe wissen. – «Ich muss sie darauf aufmerksam machen, Herr Baumann, dass das Ganze streng vertraulich ist und ich nicht – oder vielleicht noch nicht – befugt bin, Ihnen nähere Angaben anzuvertrauen.»
«Also gut, liebe Frau Sütterli, dann ist für mich das Gespräch hiermit beendet. Eigentlich interessiert es mich auch gar nicht richtig, was Politiker und Funktionäre so alles treiben. Ich will mein Rentendasein geniessen und meinen Frieden haben.»
Mit diesen Worten erhob sich Philippe, legte 5 Franken auf den Tisch und verabschiedete sich von Frau Sütterli mit einem kühlen «à Dieu». – Zurück blieb die EDA-Mitarbeiterin, abermals die Welt oder zumindest Philippe nicht richtig verstehend, zumal diesem so schnell nichts vorzumachen war.
Zuhause angekommen erzählte Philippe die Geschichte seiner Frau Deborah. Diese beglückwünschte ihn zu seinem Verhalten, gab dann allerdings doch zu bedenken, dass sollten die Informationen stimmen, ernsthaft dagegen angetreten werden müsste. Selbstverständlich hatte Deborah recht, aber dann musste man auch offen und ehrlich mit einem reden und nicht mit wesentlichen Informationen zurückhalten. Schliesslich hatte Philippe überhaupt keine Lust, sich mit der Sache näher zu befassen. Zum einen glaubte er, dafür nicht die richtige Person zu sein, zum andern hatte er auch den Glauben daran verloren, die Welt oder zumindest einen kleinen Teil davon verändern zu können. In all seinen Jahren als Kriminalpolizist war es ihm vielleicht ein- oder zweimal gelungen, nachhaltig zu wirken, um Schlimmeres zu verhindern. Natürlich brauchte es die Polizei, und natürlich sollen Straftäter ins Recht gefasst werden, aber hier wie dort sollte mit Augenmass gearbeitet und den Umständen entsprechend geurteilt werden. Diese Einstellung vermisste Philippe zuweilen in seinem Berufsleben und so machte Ernüchterung oftmals der Realität Platz.
Auch in diesem Fall konnte Philippe sich nicht vorstellen, wie er in der Sache weiterhelfen könnte. Auf sein ursprüngliches Beziehungsnetz konnte er nicht mehr zurückgreifen, da all seine ehemaligen Kollegen dem Amts- oder Berufsgeheimnis unterstanden. Auch hatte er keinen Zugriff mehr auf Datenbanken, die Recherchen doch einiges erleichtern würden. Schliesslich, und das war der Hauptpunkt, fehlte ihm auch die Erfahrung in nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Quellen zu führen und mit diesen zusammenzuarbeiten war nie sein Metier, und Ermittlungen im Ausland fielen zumeist ebenfalls nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.
In diesem Fall wäre es aber höchstwahrscheinlich und unabdingbar, der Sache vor Ort auf den Grund zu gehen. Namentlich wäre von Interesse zu erfahren, um welchen Polizeichef es sich hier handelte und was ihm konkret vorgeworfen wird.
Philippe wendete sich lieber wieder seinem Hund zu, zumal dieser ihm mit freundlichem Blickkontakt den anstehenden Abendspaziergang signalisierte. Viel lieber kam er dieser Einladung nach, als noch länger der anderen Sache gedanklich nachzuhängen.
Es war dunkel geworden, und Philippe und Enrico machten sich für den Spaziergang bereit. Bei Enrico bestand dies darin, dass er sich nochmals kräftig streckte und einen tollen Schluck Wasser nahm, bei Philippe, indem er sich möglichst warm anzog und Enrico das Leuchtband über den Kopf zog. Jedes Mal in dieser kalten Jahreszeit bewunderte er seinen Hund, wie dieser mit dem gleichen «Kleid» locker 20 Grad Temperaturunterschied aushalten konnte; mehr noch, dass es ihm gefiel, wenn es draussen stürmte und regnete oder gar schneite, und die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt lagen. – Aber eben, Tiere sind keine Weicheier, und er selber wollte auch keines sein, womit er sich zusammenriss und der Kälte trotzte.
Auf dem Weg zum nahen gelegenen Wald hielt plötzlich ein Fahrzeug neben ihnen still. Dies war an und für sich nichts Ungewöhnliches, da es oftmals vorkam, dass Ortsunkundige sich bei ihm nach dem Weg erkundigten. Diesmal war es allerdings anders. Die Scheibe wurde elektronisch geöffnet und im Innern des Wagens sassen drei Personen. Auf dem Beifahrersitz erkannte Philippe Frau Sütterli. Der Mann am Steuer stellte sich als Michael Pulvermacher vor und er sprach in Hochdeutscher Sprache. Selbstverständlich entging Philippe nicht, dass er unter dem rechten Oberarm eine Waffe trug, vermutlich eine Walther P99. Die Walther P99 verfügt über keinen sogenannten Anti-Stress-Abzug, womit die Waffe im geladenen Zustand jederzeit schussbereit ist. Die Tragart liess darauf schliessen, dass Pulvermacher Linkshänder war. Im Fond des Wagens sass ein gewisser Tom Smith.
Frau Sütterli entschuldigte sich für den «Überfall» und sie bat Philippe, kurz im Wagen Platz zu nehmen. Dieser verneinte selbstverständlich, wollte er seinen Hund schliesslich nicht allein auf der Strasse zurücklassen. Folglich bat Frau Sütterli Philippe, er möge doch bitte morgen um 1000 Uhr ins Bundeshaus West kommen, dort werde er von der Generalsekretärin des Bundesrates erwartet. Zähneknirschend, und um nicht noch länger in der Kälte stehen zu müssen, nahm Philippe die Einladung an und setzte seinen Spaziergang mit Enrico fort.
Also wussten sie, wo er und Deborah wohnten. Das war zwar nicht allzu schwierig ausfindig zu machen und trotzdem kam ihm der Besuch in Dreierbesetzung merkwürdig vor.
Der Wagen entfernte sich in gleicher Weise, wie er gekommen war, und Philippe merkte sich das Kontrollschild. Eine AT Nummer, was auf eine Botschaft schliessen liess. Das konnte viel bedeuten, aber auch nichts. Frau Sütterli arbeitete schliesslich im Auswärtigen Amt und da waren Kontakte mit ausländischen Stellen an der Tagesordnung. Interessant war höchstens die Tatsache, dass sie ihn mit einem Diplomatenfahrzeug aufsuchten und dies doch schon recht spät am Abend. Überdies liess sich Frau Sütterli von einem hochdeutsch sprechenden Mann chauffieren, und der Mann auf dem Rücksitz des Wagens war wahrscheinlich amerikanischer Staatsbürger.
Philippe und Enrico setzten ihren Spaziergang fort und für den Moment war Philippe sich nicht mehr ganz sicher, ob es schlau war, den nahen gelegenen Wald zu durchqueren. Ach was, dachte er: mach dich nicht konfus und schritt weiter. Nachdem nun aber Enrico, was er sonst nie tat, sich von ihm löste und wie von einer Tarantel gestochen durch den Wald rannte, hinterfragte Philippe seinen Entscheid, und es war ihm schon ein wenig mulmig zu Mute; erst recht, als Enrico auch noch für eine kurze Zeit aus seinem Blickfeld verschwand. Philippe beruhigte sich in der Annahme, dass Enrico wohl eine Katze aufgescheucht hatte und dieser hinterhergejagt war. – Aber hatte es so spät am Abend überhaupt noch Katzen im Wald?
Auf jeden Fall kehrten Philippe und Enrico nach einer guten halben Stunde wieder nach Hause zurück und Philippe erzählte Deborah auch von diesem Vorkommnis. Sie machte sich natürlich so ihre Gedanken und hoffte nur, dass Philippe da nicht in etwas hineingeraten war, aus dem er schwerlich – wenn überhaupt – wieder herauskam. Natürlich sagte sie ihm dies nicht so direkt.
Nachdem die beiden das Abendessen eher schweigsam eingenommen hatten, verabschiedete sich Philippe damit, dass er im Bett noch ein wenig lesen wolle. Er machte dies oft, und so war es für Deborah auch nicht ungewöhnlich, wenn er sich bereits um 2100 Uhr von ihr verabschiedete. Sie selber wollte noch den Film im Fernseher zu Ende schauen.