George Eliot
Middlemarch
Roman
Aus dem Englischen und mit Anmerkungen von Irmgard Nickel
Anaconda
Titel der englischen Originalausgabe:
Middlemarch. A Study of Provincial Life (Edinburgh 1871/72)
Die vorliegende Übersetzung erschien erstmals 1979
als Band 381/382 der Sammlung Dieterich, Leipzig, mit einem
Nachwort von Klaus Udo Szudra. (Sammlung Dieterich
ist eine Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG.)
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© dieser Ausgabe 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 1979, 2008
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagmotiv: Julius Hübner (1806–1882), »Pauline Charlotte Hübner«
(1829), © bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
Satz und Layout: Silvia Langhoff, Köln
ISBN 978-3-641-29826-5
V001
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Wer von denen, die daran interessiert sind, sich mit der Geschichte des Menschen vertraut zu machen und zu erkunden, wie diese geheimnisvolle Mischung sich bei den vielfältigen Experimenten der Zeit verhält, hätte sich nicht, sei es auch nur kurz, mit dem Leben der heiligen Theresia beschäftigt, hätte nicht gerührt gelächelt bei dem Gedanken an das kleine Mädchen, das eines Morgens mit dem noch kleineren Bruder Hand in Hand auszog, um im Mohrenland das Märtyrertum zu suchen? Aus dem trutzigen Avila trippelten sie auf unsicheren Beinchen fort, die Augen weit aufgerissen, hilflos wie zwei Rehkitzen, doch mit menschlich fühlenden Herzen, die bereits für eine nationale Idee schlugen, bis schließlich die heimische Wirklichkeit in Gestalt von Oheimen sie einholte und an der Ausführung ihres großen Vorsatzes hinderte. Diese kindliche Pilgerfahrt war für Theresia ein angemessener Beginn, denn ihre leidenschaftliche, edle Natur begehrte nach einem kämpferischen Leben. Was bedeuteten ihr schon vielbändige Ritterromane und die gesellschaftlichen Erfolge eines glänzend begabten jungen Mädchens? Nur allzurasch verzehrte ihre Flamme diesen leichten Brennstoff und lechzte, von innen genährt, nach grenzenloser Befriedigung, nach einem Ziel, dessen Verfolgung kein Erlahmen gestattete, das die Verzweiflung an sich selbst durch das beglückende Wissen um ein Dasein jenseits der Grenzen des Ichs beschwichtigen würde. Das Epos ihres Lebens fand sie in der Neugestaltung eines geistlichen Ordens.
Jene Spanierin, die vor dreihundert Jahren lebte, war gewiß nicht die letzte ihrer Art. Viele Theresen wurden seither geboren, die kein heldisches Dasein fanden, in dem sie ständig eine weithin wirkende Tätigkeit entfalten konnten, vielleicht nur ein Dasein voller Irrtümer, entsprossen dem unglücklichen Zusammentreffen einer gewissen geistigen Größe und beschränkter Möglichkeiten, vielleicht ein tragisches Versagen, das von keinem heiligen Dichter besungen wurde und unbeweint in Vergessenheit geriet. Von verschwommenen Vorstellungen erfüllt, suchten sie unter schwierigen Umständen ihr Denken und Handeln in edle Übereinstimmung zu bringen; doch schließlich sahen gewöhnliche Augen in ihrem Ringen bloße Inkonsequenz und Formlosigkeit, denn diesen nachgeborenen Theresen standen kein für die menschliche Gesellschaft verbindlicher Glaube und kein religiöser Orden bei, die der glühend bereiten Seele die Erfahrung hätten ersetzen können. Ihr inbrünstiges Sehnen schwankte zwischen einem unbestimmten Ideal und dem einfachen Verlangen nach erfüllter Weiblichkeit, und so verwarf man das eine als Überspanntheit und das andere als sündhafte Verirrung.
Manche hatten erkannt, daß dieses blinde Umhertappen die Folge der hinderlichen Unentschiedenheit ist, mit der die göttliche Macht die Natur der Frau ausgestattet hat. Gäbe es eine so genaue Richtlinie für die weibliche Unfähigkeit wie für die Unfähigkeit, weiter als bis drei zu zählen, so ließe sich das Los der Frauen in der Gesellschaft mit wissenschaftlicher Genauigkeit bestimmen. Indessen bleibt ihre Unentschiedenheit, und die Grenzen ihrer Spielarten sind tatsächlich viel weiter gesteckt, als man aus der Gleichförmigkeit der weiblichen Haartracht und der begehrtesten Liebesgeschichten in Prosa und Versen schließen würde. Hier und da wächst ein junger Schwan unter den Entlein auf dem trüben Teich unruhig heran und findet nie den lebendigen Strom, auf dem er in Gesellschaft seiner ruderfüßigen Artgenossen dahinziehen kann. Hier und da wird eine heilige Theresia geboren, die kein großes Werk vollbrachte, deren liebeerfüllte Herzschläge und deren Seufzen nach einer unerreichten Tugend gegen unüberwindliche Hindernisse stoßen, anstatt sich in einer dauerhaften Tat zu verwirklichen.
Miss Brooke war von jener Schönheit, die durch schlichte Kleidung nur um so mehr zur Geltung zu kommen scheint. Ihre Hände und Handgelenke waren so zart geformt, daß sie schmucklose Ärmel tragen konnte gleich der Heiligen Jungfrau, wenn sie sich italienischen Malern zeigte, und ihr Profil wie auch Gestalt und Gebaren schienen durch die einfachen Gewänder nur noch an Hoheit zu gewinnen, was ihr im Vergleich mit der in der Provinz herrschenden Mode das Beeindruckende eines schönen Zitats aus der Bibel – oder aus einem unserer älteren Dichter – in einem Zeitungsartikel verlieh. Man pflegte von ihr zu sagen, sie sei bemerkenswert klug, fügte indessen stets hinzu, ihre Schwester Celia besitze mehr gesunden Menschenverstand. Doch auch Celia putzte sich kaum mehr als sie, und nur dem guten Beobachter unterschied sich ihre Kleidung von der ihrer Schwester, indem sie eine Spur Koketterie in der Anordnung zeigte; denn Miss Brookes Einfachheit in der Kleidung war verschiedenen Umständen zuzuschreiben, die größtenteils auch für ihre Schwester zutrafen. Der Stolz, von vornehmem Stande zu sein, hatte etwas damit zu tun. Die Familie der Brookes war zwar nicht gerade von Adel, doch zweifellos ›gut‹, denn wenn man sie einige Generationen zurückverfolgte, so fand man keinen Vorfahren, der mit der Elle hantiert oder Pakete verschnürt hatte – überhaupt nichts Geringeres als einen Admiral oder einen Geistlichen. Es ließ sich sogar ein puritanischer Edelmann feststellen, der unter Cromwell gedient, sich später aber der Staatskirche unterworfen und es zuwege gebracht hatte, aus allen politischen Wirren als Eigentümer eines ansehnlichen Familienbesitzes hervorzugehen. Junge Damen von solcher Herkunft, die in einem ruhigen Landhaus lebten und eine Dorfkirche besuchten, die kaum größer als ein Empfangszimmer war, sahen in modischem Putz naturgemäß nur den Ehrgeiz von Krämerstöchtern. Ferner gehörte bei ihnen eine musterhafte Sparsamkeit zum guten Ton, die sich in jenen Tagen vor allem in der Beschränkung der Ausgaben für Kleidung bemerkbar machte, wo doch jeder überschüssige Betrag für wichtigere Ausgaben benötigt wurde, durch die man die gesellschaftliche Stellung mehr betonen konnte. Solche Gründe hätten für schlichte Kleidung ausgereicht, ganz abgesehen von religiösen Gefühlen. Im Falle von Miss Brooke wäre jedoch die Religion ausschlaggebend gewesen, und Celia fügte sich sanftmütig allen Ansichten ihrer Schwester, erfüllte sie jedoch mit jenem gesunden Menschenverstand, der wichtige Doktrinen ohne jede überschwengliche Gemütsbewegung anzunehmen vermag. Dorothea wußte viele Abschnitte aus Pascals ›Pensées‹ und aus Jeremy Taylor auswendig, und die Geschicke der Menschheit, im Lichte des Christentums gesehen, ließen ihr die Sorgen um die weibliche Mode als eine Beschäftigung für Tollhäuslerinnen erscheinen. Sie konnte die Ängste eines Lebens im christlichen Geist mit all seinen Folgen für die Ewigkeit nicht mit einem starken Interesse an Chemisettes und kunstvoll angeordneten Faltenwürfen vereinbaren. Ihr Sinn war aufs Theoretische gerichtet und verlangte seiner Natur gemäß nach einer erhabenen Vorstellung von der Welt, die das Kirchspiel Tipton und die Richtschnur für ihr eigenes Verhalten dort rückhaltlos mit einschließen könnte. Sie begeisterte sich für Größe und Erhabenheit und nahm vorschnell alles an, was dem zu entsprechen schien; wahrscheinlich würde sie ein Martyrium suchen, widerrufen und es schließlich erleiden, wo sie es gar nicht gesucht hatte. Gewiß waren solche Züge im Charakter eines heiratsfähigen Mädchens dazu angetan, auf sein Schicksal einzuwirken und zu verhindern, daß es sich auf herkömmliche Weise entschied: wegen guten Aussehens, aus Eitelkeit und bloßer animalischer Zuneigung. Dabei war sie, die ältere der Schwestern, noch nicht einmal zwanzig. Nach dem Tode der Eltern waren sie beide, etwa von ihrem zwölften Lebensjahr an, nach einem zugleich enggefaßten und verworrenen Plan erzogen worden, zuerst in einer englischen Familie und dann in einer Schweizer Familie in Lausanne. Ihr unverheirateter Onkel und Vormund hatte auf diese Weise versucht, die Nachteile ihres Loses als Waisen aufzuwiegen.
Vor kaum einem Jahr waren sie nach Tipton Grange gekommen, um bei ihrem Onkel zu leben, einem fast sechzigjährigen Mann von verträglichem Charakter, den mannigfaltigsten Ansichten und unsicherer Wahlstimme. In jüngeren Jahren war er viel gereist und wurde in diesem Landstrich für einen Menschen gehalten, der eine allzu planlose Denkweise angenommen hat. Mr. Brookes Entschlüsse waren ebensoschwer vorauszusagen wie das Wetter, es ließ sich nur mit Sicherheit behaupten, daß er in wohlwollender Absicht handeln und dabei so wenig Geld wie möglich ausgeben werde. Denn selbst Gemüter von gallertartiger Unentschlossenheit enthalten einige harte Körnchen Gewohnheit, und man erzählt von einem Mann, der in allem, was ihn persönlich betraf, sehr nachlässig war, ausgenommen seine Schnupftabaksdose, die er sorgfältig und argwöhnisch vor fremdem Zugriff bewahrte.
Bei Mr. Brooke hatte die Erbanlage zu puritanischer Tatkraft keine Früchte getragen, aber bei seiner Nichte Dorothea durchglühte sie sowohl ihre Fehler als auch ihre Tugenden, verwandelte sich manchmal in Unwillen über das Gerede ihres Onkels oder seine Art, den Dingen auf dem Gut ihren Lauf zu lassen, und ließ sie um so sehnlicher dem Zeitpunkt entgegensehen, an dem sie volljährig würde und über einiges Geld für edelmütige Pläne verfügen könnte. Sie galt für eine reiche Erbin, denn die Schwestern hatten jede nicht nur siebenhundert Pfund im Jahr aus dem elterlichen Vermögen, sondern wenn Dorothea heiratete und einen Sohn bekäme, würde dieser Sohn Mr. Brookes Gut erben, das schätzungsweise etwa dreitausend Pfund jährlich einbrachte, einen Ertrag, der von den Familien in der Provinz als Reichtum angesehen wurde, jenen, die immer noch über Mr. Peels kürzliches Verhalten hinsichtlich der Katholischen Frage sprachen und nichts von künftigen Goldfeldern ahnten und von jener prachtliebenden Plutokratie, die die Bedürfnisse des standesgemäßen Lebens zu solcher Glanzentfaltung steigerten.
Und warum sollte Dorothea nicht heiraten? – ein so schönes Mädchen mit solchen Aussichten! Nichts konnte dem im Wege stehen als ihre Neigung zu Extremen und ihr beharrliches Streben, das Leben nach Vorstellungen zu gestalten, die einen vorsichtigen Mann veranlassen könnten zu zögern, ihr einen Antrag zu machen, oder die schließlich sogar dazu führen könnten, daß sie alle Anträge ausschlug. Eine junge Dame aus guter Familie und mit einigem Vermögen, die plötzlich auf dem Steinboden neben einem kranken Arbeiter niederkniete und inbrünstig betete, als glaube sie, noch zur Zeit der Apostel zu leben, die den wunderlichen Einfall hatte, wie eine Papistin zu fasten, und die nachts aufsaß, um alte theologische Bücher zu lesen! Eine solche Frau könnte einen an einem schönen Morgen mit einem neuen Plan für die Verwendung ihrer Einkünfte wecken, der sich auf die Volkswirtschaft und das Halten von Reitpferden störend auswirken würde. Ein Mann würde es sich natürlich zweimal überlegen, ob er das Wagnis einer solchen Verbindung eingehen will. Von Frauen erwartete man keine ausgeprägte Meinung; der beste Schutz für Gesellschaft und Familienleben war es jedoch, daß Meinungen nicht in die Tat umgesetzt wurden. Vernünftige Leute machten dasselbe wie ihre Nachbarn, so daß man, falls Verrückte frei umherlaufen sollten, sie erkennen und ihnen ausweichen konnte.
Die Landbevölkerung – sogar einschließlich der Kätner – gab in ihrer Meinung über die neu zugezogenen jungen Damen im allgemeinen Celia den Vorzug, da sie so liebenswürdig sei und so unschuldig aussehe, während Miss Brookes große Augen und auch ihre Frömmigkeit allzu ungewöhnlich und verwirrend wirkten. Arme Dorothea! Im Vergleich zu ihr war die unschuldig aussehende Celia wissend und weltklug, um so vieles feiner ist eine menschliche Seele als das äußere Gewebe, das für sie eine Art Wappenzeichen oder Zifferblatt darstellt.
Doch wer mit Dorothea näher bekannt wurde, fand, obwohl durch das beunruhigende Gerede gegen sie voreingenommen, daß sie eine Anmut besaß, die sich auf unerklärliche Weise damit vereinbaren ließ. Die meisten Männer fanden sie bezaubernd, wenn sie zu Pferde saß. Sie liebte frische Luft und die Vielfalt der Landschaft, und wenn ihre Augen von den mannigfaltigen Empfindungen der Freude glänzten und die Wangen glühten, glich sie sehr wenig einer Frömmlerin. Reiten gewährte ihr eine Befriedigung, die sie sich trotz aller Gewissensbisse gestattete; sie fühlte, daß sie es auf eine heidnisch-sinnliche Art genoß, und hoffte immer, sie würde eines Tages darauf verzichten.
Sie war freimütig, leidenschaftlich und nicht im geringsten von sich eingenommen; es war wirklich erfreulich mit anzusehen, wie ihre Einbildungskraft ihre Schwester Celia mit Reizen schmückte, die den ihren überlegen waren, und schien ein Besucher von Stande aus einem anderen Grund nach Tipton Grange zu kommen, als bei Mr. Brooke vorzusprechen, so schloß sie daraus, daß er in Celia verliebt sein müsse – Sir James Chettam zum Beispiel, den sie im Hinblick auf Celia beharrlich in Erwägung zog und dabei innerlich erwog, ob es für Celia gut sein würde, seinen Antrag anzunehmen. Daß man ihn für einen Bewerber um sie selbst halten könnte, wäre ihr lächerlich und abwegig erschienen. Bei all ihrem Bemühen, das wahre Leben zu ergründen, hatte Dorothea noch recht kindliche Vorstellungen von der Ehe. Sie war überzeugt davon, daß sie dem weisen Hooker ihr Jawort gegeben hätte, wäre sie zur rechten Zeit auf die Welt gekommen, um ihn vor dem unheilvollen Irrtum seiner Ehe zu bewahren, oder John Milton nach seiner Erblindung, oder irgendeinem anderen jener großen Männer, deren absonderliche Gewohnheiten zu ertragen ein Beweis gottesfürchtiger Liebe gewesen wäre; aber ein sympathischer, gutaussehender Baronet, der ›ganz recht‹ zu ihren Bemerkungen sagte, auch wenn sie damit Ungewißheit zum Ausdruck brachte – wie könnte er als Liebhaber auf sie Eindruck machen? Die wahrhaft beglückende Ehe mußte doch die sein, in der der Gatte eine Art Vater war und sie sogar Hebräisch lehren konnte, wenn sie es wünschte.
Diese Eigenheiten in Dorotheas Charakter waren die Ursache dafür, daß Mr. Brooke in den Familien der Nachbarschaft nur um so mehr getadelt wurde, weil er nicht eine Dame gesetzten Alters als Beraterin und Gesellschafterin für seine Nichten engagiert hatte. Doch ihm selbst graute es so sehr vor jener Gattung überlegener Frauen, die für eine solche Stellung in Frage kamen, daß er sich von Dorotheas Einwänden davon abbringen ließ und in diesem Fall tapfer genug war, der Welt Trotz zu bieten – das heißt Mrs. Cadwallader, der Gattin des Pfarrherrn, und der kleinen Gruppe von Landedelleuten in der Nordostecke von Loamshire, mit denen er verkehrte. So stand Miss Brooke ihres Onkels Haushalt vor, und diese neue Würde mißfiel ihr durchaus nicht infolge der damit verbundenen Ehrerbietung.
Sir James Chettam würde heute in Tipton Grange zum Abendessen erscheinen außer einem anderen Herrn, den die Mädchen noch nie gesehen hatten und dessen Besuch Dorothea in ehrfürchtige Erwartung versetzte. Es war Ehrwürden Edward Casaubon, in der Grafschaft als ein Mann von profunder Gelehrsamkeit bekannt, von dem es hieß, er arbeite seit vielen Jahren an einem bedeutenden Werk über Religionsgeschichte, ein Mann, dessen Wohlstand seiner Frömmigkeit besonderen Glanz verlieh und der seine eigenen Ansichten hatte, über die man nach Veröffentlichung seines Buches Genaueres erfahren würde. Schon seinem Namen haftete etwas Beeindruckendes an, das sich allerdings kaum ohne eingehende Kenntnis der Geschichte der Gelehrsamkeit beurteilen ließ.
Dorothea war früh von der Kleinkinderschule, die sie im Dorf ins Leben gerufen hatte, zurückgekehrt und gerade im Begriff, in dem hübschen Wohnzimmer, das zwischen den beiden Schlafzimmern der Schwestern lag, ihren gewohnten Platz einzunehmen, um einen Plan für einige Gebäude fertig zu zeichnen (eine Arbeit, an der sie besonderes Vergnügen fand), als Celia, die ihr einen Vorschlag zu unterbreiten wünschte und sie zögernd beobachtet hatte, sagte:
»Liebste Dorothea, falls es dir nichts ausmacht – falls du nicht zu sehr beschäftigt bist –, wie wäre es, wenn wir uns heute Mamas Schmuck ansähen und unter uns aufteilten? Es ist genau sechs Monate her, seit Onkel ihn dir übergab, und du hast bisher noch nicht einen Blick darauf geworfen.«
Auf Celias Gesicht lag der Schatten eines Schmollens; ein volles Schmollen unterdrückte sie aus gewohnter Scheu vor Dorothea und aus Prinzip, zwei miteinander verknüpften Tatbeständen, die bei unvorsichtiger Berührung geheimnisvolle elektrische Funken gesprüht hätten.
Zu ihrer Erleichterung lag in Dorotheas Augen, als sie aufblickten, ein Lächeln.
»Was für ein wundervoller kleiner Kalender du bist, Celia! Ist es nun sechs Kalendermonate oder sechs Mondmonate her?«
»Heute ist der letzte Septembertag, und es war am ersten April, als Onkel ihn dir gab. Weißt du noch, er sagte, er hätte ihn die ganze Zeit über vergessen. Ich glaube, du hast seither nie mehr daran gedacht, seit du ihn hier im Schrank eingeschlossen hast.«
»Nun, weißt du, liebes Kind, wir sollten ihn nie tragen.« Dorothea sagte das in vollkommen herzlichem Ton, halb schmeichelnd, halb erklärend. Sie hielt den Bleistift in der Hand und zeichnete winzige Nebenpläne auf den Rand ihres Blattes.
Celia errötete und blickte sehr ernst drein. »Ich halte es aber für einen Mangel an Achtung vor Mamas Andenken, wenn wir ihn weglegen und uns nicht weiter darum bekümmern. Und«, fügte sie nach kurzem Zögern mit einem aus Gekränktheit aufsteigenden Schluchzen hinzu, »Halsketten sind heutzutage durchaus üblich; auch Madame Poinçon, die in manchen Dingen sogar strenger war als du, pflegte Schmuck zu tragen. Und die Christen überhaupt – sicher gibt es Frauen im Himmel, die früher Schmuck getragen haben.« Celia spürte in sich eine geistige Kraft, wenn sie sich um eine Beweisführung wirklich bemühte.
»Du würdest ihn gern tragen?« rief Dorothea aus, wobei eine Gebärde erstaunten Entdeckens ihre ganze Person mit jenem dramatischen Ausdruck beseelte, den sie gerade von jener Madame Poinçon angenommen hatte, die Schmuck zu tragen pflegte. »Natürlich nehmen wir ihn dann heraus. Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Aber die Schlüssel – die Schlüssel!« Sie preßte die Hände gegen die Schläfen, als verzweifle sie an ihrem Gedächtnis.
»Hier sind sie«, erwiderte Celia, die diese Aussprache bereits lange durchdacht und vorbereitet hatte.
»Dann schließe bitte die große Schublade des Schrankes auf und nimm das Schmuckkästchen heraus.«
Das Kästchen stand bald offen vor ihnen, und die verschiedenen Schmuckstücke lagen wie ein leuchtendes Blumenbeet auf dem Tisch ausgebreitet. Es waren nicht sehr viele, aber einige Stücke waren von wirklich seltener Schönheit, unter denen als erlesenste eine Halskette aus purpurroten Amethysten in herrlicher Goldfassung und ein Perlenkreuz mit fünf Brillanten sogleich ins Auge stachen. Dorothea ergriff die Kette und legte sie ihrer Schwester um den Hals, den sie fast so dicht umschloß wie ein Armband; doch das ringförmig Umschließende paßte zum Henrietta-Maria-Stil von Celias Kopf und Hals, was sie in dem gegenüberliegenden Pfeilerspiegel feststellen konnte.
»Sieh mal an, Celia! Das kannst du zu deinem Musselinkleid tragen. Dieses Kreuz mußt du dagegen zu deinen dunklen Sachen tragen.«
Celia bemühte sich, nicht vor Freude zu lächeln. »O Dodo, das Kreuz mußt du selbst behalten.«
»Nein, nein, Liebes, nein«, widersprach Dorothea und hob dabei die Hand in einer gleichgültig abwehrenden Gebärde.
»Doch, wirklich, du mußt! Es würde dir stehen – zu deinem schwarzen Kleid«, drängte Celia. »Du kannst es tragen.«
»Nicht um alles in der Welt, nicht um alles in der Welt. Ein Kreuz ist das letzte, was ich als Schmuck tragen würde.« Dorothea erschauerte leicht.
»Dann wirst du mich für schlecht halten, wenn ich es trage«, meinte Celia beunruhigt.
»Nein, mein Liebes, nein«, versicherte Dorothea und streichelte ihrer Schwester die Wange. »Auch Seelen haben eine Hautfarbe, was der einen steht, steht der anderen nicht.«
»Aber vielleicht möchtest du es als Andenken an Mama behalten.«
»Nein, ich habe andere Dinge von Mama – ihr Sandelholzkästchen, das ich so liebe – viele Dinge. Wirklich, das hier gehört alles dir. Wir brauchen nicht länger darüber zu reden. Da – nimm dein Eigentum.«
Celia fühlte sich ein wenig verletzt. Es lag eine starke Überheblichkeit in dieser puritanischen Toleranz, die für das blonde Fleisch einer nicht schwärmerisch veranlagten Schwester kaum leichter zu ertragen war als puritanische Verfolgung.
»Aber wie kann ich Schmuck tragen, wenn du als ältere Schwester nie welchen tragen willst?«
»Nein, Celia, es ist zuviel verlangt, daß ich Schmuck tragen soll, um dich dazu zu ermuntern. Wenn ich eine Halskette wie diese umlegen sollte, würde mir zumute sein, als hätte ich eine Pirouette gedreht. Die ganze Welt würde sich mit mir im Kreise drehen, und ich wäre gar nicht mehr imstande zu laufen.«
Celia hatte die Kette aufgehakt und abgenommen. »Sie wäre für deinen Hals etwas zu eng; etwas Herabhängendes würde besser zu dir passen«, erklärte sie mit einiger Befriedigung. Daß die Halskette, von allen Gesichtspunkten aus betrachtet, für Dorothea völlig ungeeignet war, ließ Celia sie um so freudiger in Besitz nehmen. Sie öffnete einige Kästchen mit Ringen, unter denen sich ein von Diamanten umgebener schöner Smaragd befand, als gerade in diesem Augenblick die Sonne durch die Wolken brach und einen hellen Strahl über den Tisch warf.
»Wie wunderschön diese Edelsteine sind!« rief Dorothea, durchströmt von einem neuen Gefühl, so unerwartet wie der Strahl. »Es ist seltsam, wie tief Farben in uns einzudringen scheinen – wie Wohlgeruch. Das ist vermutlich der Grund, weshalb Edelsteine in der Offenbarung Johannis als geistige Sinnbilder gebraucht werden. Sie wirken wie Stücke vom Himmel. Dieser Smaragd scheint mir der schönste von allen.«
»Und hier ist ein dazu passendes Armband«, stellte erfreut Celia fest. »Wir haben es zuerst gar nicht bemerkt.«
»Sie sind wundervoll«, meinte Dorothea, streifte den Ring auf ihren feingliedrigen Finger und das Armband über das zarte Handgelenk und hielt die Hand in Augenhöhe gegen das Fenster. Währenddessen suchte sie in Gedanken ihre Freude an den Farben zu rechtfertigen, indem sie letztere mit ihrer mystischen religiösen Hochstimmung verschmolz.
»Diese würden dir also gefallen, Dorothea?« fragte Celia etwas zögernd; sie begann verwundert festzustellen, daß ihre Schwester eine gewisse Schwäche verriet, und meinte auch, daß Smaragde zu ihrer eigenen Hautfarbe sogar noch besser passen würden als purpurfarbene Amethyste. »Du mußt den Ring und das Armband behalten – wenigstens die. Aber sieh mal, diese Achate sind sehr hübsch – und unauffällig.«
»Ja, ich werde sie behalten – diesen Ring und das Armband«, erklärte Dorothea. Dann ließ sie ihre Hand auf den Tisch sinken und fuhr in einem anderen Ton fort: »Doch was für unglückliche Menschen finden solche Steine, bearbeiten sie und verkaufen sie!« Wieder hielt sie inne, und Celia dachte, ihre Schwester würde nun doch auf den Schmuck verzichten, wie sie es folgerichtig tun müßte.
»Ja, ich werde sie behalten«, wiederholte Dorothea entschieden. »Doch nun räum alles übrige weg, auch das Kästchen.«
Sie nahm ihren Bleistift auf, ohne den Schmuck abzulegen, den sie immer noch betrachtete. Sie dachte daran, daß sie ihn nun bei sich haben könne, um ihre Augen an diesen kleinen Fontänen reiner Farben zu weiden.
»Wirst du sie bei Gesellschaften tragen?« fragte Celia, die mit echter Neugier wartete, was sie tun würde.
Dorothea warf ihrer Schwester einen raschen Blick zu. Durch das verklärende Licht, in dem sie in ihrer Phantasie alle diejenigen sah, die sie liebte, blitzte dann und wann eine scharfsichtige Einsicht, die nicht ohne versengende Wirkung war. Wenn Dorothea Brooke je zu einer vollkommenen Sanftmut gelangen sollte, so geschähe das nicht aus Mangel an innerem Feuer.
»Vielleicht«, erwiderte sie ziemlich hochmütig. »Ich kann nicht voraussagen, wie tief ich noch einmal sinken werde.«
Celia errötete und fühlte sich unglücklich; sie sah, daß sie ihre Schwester verletzt hatte, und wagte nicht einmal, etwas Nettes hinsichtlich der Überlassung des Schmuckes zu sagen, den sie wieder in die Kassette legte und wegtrug. Auch Dorothea war unglücklich, als sie mit dem Zeichnen der Pläne fortfuhr, denn sie begann an der Aufrichtigkeit ihrer eigenen Gefühle und Worte in der Szene, die mit diesem kleinen Zornesausbruch geendet hatte, zu zweifeln.
Celias Gewissen sagte ihr, daß sie durchaus nicht im Unrecht gewesen war; es war ganz natürlich und billig, daß sie jene Frage gestellt hatte, und sie dachte nochmals, daß Dorothea inkonsequent sei. Entweder hätte sie ihren vollen Anteil an dem Schmuck nehmen sollen, oder sie hätte, nach dem, was sie gesagt hatte, ganz und gar darauf verzichten müssen.
›Ich bin dessen gewiß – ich glaube es wenigstens zuversichtlich, daß es mich bei meinen Gebeten nicht stören wird, wenn ich eine Kette trage‹, überlegte Celia. ›Und ich sehe nicht ein, daß ich jetzt, wo wir anfangen, Gesellschaften zu besuchen, mich nach Dorotheas Anschauungen richten sollte, wenn auch sie selbst natürlich danach handeln müßte. Aber Dorothea ist nicht immer konsequent.‹
So Celia, stumm über ihre Gobelinstickerei gebeugt, bis sie hörte, daß ihre Schwester sie rief.
»Komm doch einmal her, Kätzchen, und sieh dir meinen Plan an! Ich würde mir noch einbilden, eine große Architektin zu sein, wenn ich nicht unmögliche Treppen und Kamine eingezeichnet hätte.«
Als Celia sich über das Blatt beugte, schmiegte Dorothea zärtlich ihre Wange an den Arm ihrer Schwester. Celia verstand die Gebärde. Dorothea sah ein, daß sie im Unrecht gewesen war, und Celia verzieh ihr. Solange sie zurückdenken konnten, hatte in Celias Verhältnis zu ihrer Schwester eine Mischung von Kritik und ehrfürchtiger Scheu gelegen. Die Jüngere hatte stets ein Joch getragen; aber gibt es ein unterjochtes Geschöpf, das nicht seine eigenen Ansichten hätte?
»Sir Humphry Davy?« fragte Mr. Brooke bei der Suppe in seiner behaglich lächelnden Art, indem er Sir James Chettams Bemerkung aufgriff, daß er sich gerade mit Davys Agrikulturchemie beschäftige. »Nun, also Sir Humphry Davy, ich habe mit ihm vor Jahren bei Cartwright gespeist. Wordsworth war auch dabei – der Dichter Wordsworth, wissen Sie. Nun, das war sonderbar. Ich hatte zur gleichen Zeit wie Wordsworth in Cambridge studiert und bin ihm nie begegnet – und zwanzig Jahre später esse ich mit ihm bei Cartwright. Es gibt schon komische Sachen. Also Davy war da, er war auch ein Dichter. Ich möchte vielmehr sagen: Wordsworth war Dichter Nummer eins, und Davy war Dichter Nummer zwei. Das traf in jeder Beziehung zu, wissen Sie.«
Dorothea fühlte sich noch unbehaglicher als gewöhnlich. Da man sich erst zu Tisch gesetzt hatte, die Gesellschaft klein war und Stille im Zimmer herrschte, waren diese Gedankensplitter eines Friedensrichters nur allzu unüberhörbar. Sie fragte sich, wie ein Mann wie Mr. Casaubon solche nichtssagenden Reden ertragen würde. Sein Benehmen erschien ihr sehr würdevoll; der Schnitt seines eisengrauen Haars und die tiefen Augenhöhlen erinnerten an das Bildnis Lockes. Er hatte die einem Gelehrten wohl anstehende magere Gestalt und bleiche Gesichtsfarbe und war so verschieden wie nur irgend möglich von dem rosigen, rotbärtigen Typ des Engländers, den Sir James Chettam verkörperte.
»Ich lese gerade die Agrikulturchemie«, erklärte dieser vortreffliche Baronet, »weil ich eines der Pachtgüter selbst übernehmen und sehen will, ob sich etwas erreichen läßt, indem ich meinen Pächtern ein gutes Beispiel in der Bewirtschaftung gebe. Billigen Sie das, Miss Brooke?«
»Ein großer Fehler, Chettam, Ihr Land zu elektrifizieren und dergleichen und aus Ihrem Kuhstall einen Salon zu machen«, warf Mr. Brooke ein. »Das führt zu nichts. Ich habe mich seinerzeit selbst ziemlich viel mit Naturwissenschaft abgegeben, aber ich habe eingesehen, daß es zu nichts führt. Es verleitet zu allem möglichen, man kann nichts so lassen, wie es ist. Nein, nein – passen Sie auf, daß Ihre Pächter ihr Stroh nicht verkaufen und derartiges, und geben Sie ihnen Entwässerungsziegel, wissen Sie. Aber Ihre Musterbewirtschaftung führt zu nichts – die kostspieligste Liebhaberei, die Sie sich zulegen können. Ebensogut können Sie sich eine Meute Jagdhunde halten.«
»Es ist doch wohl besser, sein Geld dafür auszugeben, um zu ergründen, wie die Menschen soviel wie möglich aus dem Boden herausholen können, der sie alle ernährt, als für die Haltung von Hunden und Pferden, nur um mit ihnen darüber hinzugaloppieren«, warf Dorothea ein. »Es ist keine Sünde, wenn man durch Versuche, die dem Nutzen aller dienen, mittellos wird.«
Sie sprach in entschiedenerem Ton, als man es von einer so jungen Dame erwartet hätte, doch Sir James hatte sie ja um ihre Meinung gebeten. Das pflegte er gewöhnlich zu tun, und sie hatte schon oft daran gedacht, daß sie ihn zu manch einer guten Tat anspornen könnte, wenn er ihr Schwager wäre.
Mr. Casaubon richtete die Augen merklich auf Dorothea, während sie sprach, und schien sie in neuem Licht zu sehen.
»Junge Damen verstehen nichts von Nationalökonomie, wissen Sie«, erklärte Mr. Brooke lächelnd Mr. Casaubon. »Ich kann mich noch erinnern, wie wir alle Adam Smith lasen. Das ist ein Buch! Ich nahm damals all die neuen Ideen in mich auf – die menschliche Fähigkeit zur Vervollkommnung, wissen Sie. Einige behaupten ja, die Geschichte bewegt sich in Kreisen, und diese Behauptung mag richtig sein; ich habe es selbst behauptet. Tatsächlich kann einen die menschliche Vernunft zu weit treiben – übers Ziel hinaus, wahrhaftig. Mich hat sie damals auch ziemlich weit getrieben, aber ich sah dann ein, daß es zu nichts führt. Ich zog die Zügel an, ich zog die Zügel noch rechtzeitig an. Aber nicht zu heftig. Ich hatte schon immer etwas für ein bißchen Theorie übrig. Wir benötigen das Denken, sonst landen wir wieder im finsteren Mittelalter. Doch da wir gerade von Büchern sprechen: da ist Southeys ›Spanischer Krieg‹. Ich lese es immer vormittags. Kennen Sie Southey?«
»Nein«, entgegnete Mr. Casaubon, der mit Mr. Brookes ungestümem Gedankengang nicht Schritt zu halten vermochte und nur an sein Buch dachte. »Ich habe gerade jetzt wenig Zeit für solche Literatur. Ich habe mein Augenlicht kürzlich an alten Handschriften verdorben, deshalb brauchte ich einen Vorleser für die Abende. Aber ich bin im Hinblick auf Stimmen sehr anspruchsvoll und kann es nicht ertragen, einem schlechten Vorleser zuzuhören. Es ist in mancher Hinsicht ein Unglück, daß ich mich zu sehr von den inneren Quellen nähre, daß ich zuviel mit den Toten lebe. Mein Geist wandert gleichsam wie der Geist eines Menschen aus der Antike in der Welt umher und sucht sie innerlich so wieder aufzubauen, wie sie einstmals war, trotz Verfall und verwirrendem Wandel. Aber ich halte es für erforderlich, bezüglich meines Augenlichts äußerste Vorsicht walten zu lassen.«
Es war zum erstenmal, daß Mr. Casaubon etwas länger gesprochen hatte. Er drückte sich sehr präzise aus, als hätte man ihn aufgefordert, eine öffentliche Erklärung abzugeben, und die ausgewogene, monotone Wohlgesetztheit seiner Redeweise, die gelegentlich von einer entsprechenden Kopfbewegung begleitet wurde, wirkte durch den Gegensatz zu des guten Mr. Brooke zusammenhangloser Nachlässigkeit um so auffälliger. Dorothea dachte bei sich, Mr. Casaubon sei der interessanteste Mann, dem sie jemals begegnet war, nicht einmal ausgenommen Monsieur Liret, den waadtländischen Geistlichen, der Vorträge über die Geschichte der Waldenser gehalten hatte. Eine vergangene Welt wiederaufzubauen, zweifellos im Hinblick auf die höchsten Ziele der Wahrheit – an solch einem Werk in irgendeiner Weise teilzunehmen, mitzuwirken, und wäre es nur, indem man die Lampe hielte! Dieser erhebende Gedanke half ihr über die Verstimmung hinweg, daß man sie mit ihrer Unwissenheit auf dem Gebiet der Nationalökonomie geneckt hatte, dieser ihr nie erklärten Wissenschaft, die man wie ein Löschhütchen über all ihre Erkenntnisse stülpte.
»Aber Sie reiten doch gern, Miss Brooke«, ergriff Sir James sogleich die Gelegenheit einzuwerfen. »Ich hätte eigentlich gedacht, Sie würden auch an den Freuden der Jagd Gefallen finden. Ich wünschte, Sie würden mir gestatten, einen Braunen herüberzuschicken, damit Sie es mit ihm versuchen. Er ist als Damenpferd abgerichtet. Vorigen Sonnabend sah ich Sie auf einem Klepper, der Ihrer nicht würdig ist, über den Hügel galoppieren. Mein Reitknecht wird Ihnen täglich Corydon herüberbringen, wenn Sie nur die Zeit bestimmen wollen.«
»Danke, Sie sind sehr gütig. Aber ich beabsichtige, das Reiten ganz aufzugeben. Ich werde nicht mehr reiten«, entgegnete Dorothea, zu diesem plötzlichen Entschluß veranlaßt durch eine leichte Verärgerung darüber, daß Sir James ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchte, als sie diese gerade ungeteilt Mr. Casaubon zuzuwenden wünschte.
»Nein, das ist zu grausam!« widersprach Sir James in vorwurfsvollem Ton, der starke innere Beteiligung verriet. »Ihre Schwester neigt wohl zur Selbstkasteiung?« fuhr er, zu Celia gewandt, fort, die rechts von ihm saß.
»Ich glaube, ja«, bestätigte Celia, die etwas zu sagen fürchtete, was ihrer Schwester mißfallen könnte, und ganz reizend über ihrer Halskette errötete. »Sie gibt gern etwas auf.«
»Wenn das wahr wäre, Celia, würde mein Aufgeben nicht Selbstkasteiung, sondern Nachgeben einer Neigung bedeuten. Doch es können gute Gründe vorhanden sein, wenn man es vorzieht, etwas nicht zu tun, was höchst angenehm ist«, erklärte Dorothea.
Gleichzeitig redete auch Mr. Brooke, aber offensichtlich schenkte Mr. Casaubon nur Dorothea seine Aufmerksamkeit, was ihr nicht entging.
»Sehr richtig«, bestätigte Sir James. »Sie geben etwas immer aus einem hohen, edlen Motiv auf.«
»Nein, das ist nicht richtig. Das habe ich nicht von mir behauptet«, antwortete Dorothea errötend. Im Gegensatz zu Celia errötete sie selten und nur aus großer Freude oder Ärger. In diesem Augenblick war sie ärgerlich über den eigensinnigen Sir James. Warum schenkte er seine Aufmerksamkeit nicht Celia und ließ sie Mr. Casaubon zuhören? – wenn dieser gelehrte Mann nur selbst reden wollte, statt Mr. Brooke auf sich einreden zu lassen, der ihm gerade auseinandersetzte, daß die Reformation von Bedeutung sei oder auch nicht, daß er selbst durch und durch Protestant wäre, der Katholizismus aber eine Tatsache sei; und wer sich weigerte, ein Stück seines Landes für eine römisch-katholische Kapelle herzugeben, solle bedenken, daß alle Menschen des Zügels der Religion bedürften, die genaugenommen nur die Furcht vor dem Jenseits sei.
»Ich habe mich früher einmal eingehend mit der Theologie beschäftigt«, sagte Mr. Brooke, als wolle er die soeben offenbarte Einsicht erklären. »Ich weiß so ziemlich über alle theologischen Schulen Bescheid. Ich habe Wilberforce in seinen besten Tagen gekannt. Kennen Sie Wilberforce?«
Mr. Casaubon verneinte.
»Nun, Wilberforce war vielleicht kein großer Denker; aber wenn ich ins Parlament gehen sollte, wozu man mir schon geraten hat, so würde ich, wie Wilberforce es tat, auf der Bank der Independenten sitzen und mich mit der Philanthropie beschäftigen.«
Mr. Casaubon verneigte sich mit der Bemerkung, das sei ein weites Feld.
»Gewiß«, erwiderte Mr. Brooke mit zufriedenem Lächeln, »aber ich besitze Dokumente. Ich habe schon vor längerer Zeit damit begonnen, Dokumente zu sammeln. Sie müssen noch geordnet werden; doch wenn mich eine Frage beschäftigte, schrieb ich an irgend jemanden und erhielt Antwort. Ich kann mich auf Dokumente stützen. Wie ordnen Sie übrigens Ihre Dokumente?«
»Zum Teil in Fächern«, antwortete Mr. Casaubon mit etwas erschrockenem Eifer.
»Ach, Fächer eignen sich nicht dafür. Ich habe es mit Fächern versucht, doch in Fächern gerät alles durcheinander. Ich weiß nie, ob ein Schriftstück unter A oder Z liegt.«
»Ich wünschte, du ließest mich deine Papiere für dich ordnen, Onkel«, sagte Dorothea. »Ich würde sie alle mit Buchstaben versehen und dann ein alphabetisches Verzeichnis der darin behandelten Gegenstände anlegen.«
Mr. Casaubon gab seinen Beifall durch ein würdevolles Lächeln zu erkennen und meinte zu Mr. Brooke: »Wie Sie sehen, haben Sie eine vortreffliche Sekretärin an der Hand.«
»Nein, nein«, lehnte Mr. Brooke kopfschüttelnd ab, »ich kann nicht zulassen, daß sich junge Damen mit meinen Papieren befassen. Junge Damen sind zu oberflächlich.«
Dorothea fühlte sich verletzt. Mr. Casaubon würde annehmen, ihr Onkel hätte einen besonderen Grund, solche Meinung zu äußern, während doch diese Bemerkung so gewichtlos wie ein gebrochener Insektenflügel zwischen all den anderen Fragmenten in seinem Geist gelegen und ein zufälliger Luftzug sie gerade ihr zugeweht hatte.
Als die beiden Mädchen dann allein im Salon saßen, meinte Celia: »Wie häßlich Mr. Casaubon ist!«
»Celia! Er ist eine der bemerkenswertesten Erscheinungen, denen ich je begegnet bin. Er hat eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Porträt von Locke. Er hat die gleichen tiefen Augenhöhlen.«
»Hatte Locke auch diese beiden weißen Muttermale mit Haaren darauf?«
»Schon möglich! Wenn gewisse Leute ihn sich genauer angesehen hätten!« entgegnete Dorothea und entfernte sich einige Schritte von Celia.
»Mr. Casaubon ist so bleich.«
»Um so besser. Dir gefällt vermutlich ein Mann mit der Gesichtsfarbe eines Cochon de lait.«
»Dodo!« rief Celia, ihr erstaunt hinterherblickend. »Solch einen Vergleich hörte ich dich noch nie anstellen.«
»Warum sollte ich ihn anstellen, bevor sich Gelegenheit dazu bot? Es ist ein guter Vergleich, er paßt vortrefflich.«
Dorothea Brooke war offensichtlich im Begriff, sich zu vergessen, der Ansicht war jedenfalls Celia.
»Ich wundere mich, daß du dich so ereiferst, Dorothea. «
»Es schmerzt mich, Celia, daß du menschliche Wesen begutachtest, als wären sie nur bekleidete Tiere, und daß du nicht die große Seele in eines Mannes Antlitz erkennst.«
»Besitzt Mr. Casaubon eine große Seele?« fragte Celia nicht ohne eine Spur naiver Bosheit.
»Ja, das glaube ich«, erwiderte Dorothea im Ton vollster Überzeugung. »Alles in seinem Wesen entspricht seiner Schrift über Biblische Kosmologie.«
»Er redet sehr wenig«, stellte Celia fest.
»Weil niemand da ist, mit dem er reden könnte.«
Celia dachte insgeheim: ›Dorothea verachtet Sir James Chettam. Ich glaube nicht, daß sie seinen Antrag annehmen würde.‹ Das hielt Celia für bedauerlich. Sie hatte sich nie darin getäuscht, welcher von ihnen des Baronets Interesse galt. Manchmal war ihr allerdings der Gedanke gekommen, daß Dodo einen Mann möglicherweise nicht glücklich machen würde, der die Dinge nicht so ansähe wie sie, und im tiefsten Grunde ihres Herzens fühlte sie, daß ihre Schwester für ein Familienglück zu religiös war. Ideen und Skrupel waren wie verstreute Nadeln: ihretwegen scheute man sich aufzutreten, sich hinzusetzen oder sogar zu essen.
Als Miss Brooke am Teetisch saß, nahm Sir James neben ihr Platz, denn er hatte ihre Art, ihm zu antworten, durchaus nicht als verletzend empfunden. Weshalb sollte er? Er hielt es für wahrscheinlich, daß Miss Brooke ihn mochte, und eine Verhaltensweise muß schon sehr auffallend sein, daß man sie nicht mehr mit zuversichtlicher oder zweifelnder Voreingenommenheit auslegt. Er fand sie ganz reizend, aber natürlich verleitete ihn seine Neigung ein wenig zu Spekulationen. Er war aus vortrefflichem menschlichem Stoff gemacht und besaß den seltenen Vorzug, sich dessen bewußt zu sein, daß er bei seinen Gaben, selbst wenn sie sich frei entfalten könnten, das Pulver nicht erfinden würde; deshalb war ihm die Aussicht auf eine Frau höchst angenehm, die er bei diesem oder jenem fragen konnte: ›Was sollen wir tun?‹, die ihrem Gatten mit vernünftigen Überlegungen auszuhelfen vermochte und auch die Fähigkeit besaß, diese in die Tat umzusetzen. Was die übertriebene Frömmigkeit betraf, die man Miss Brooke anlastete, so hatte er davon nur eine ganz unbestimmte Vorstellung, worin diese bestünde, und meinte, das würde sich in der Ehe geben. Kurz, er war der Ansicht, daß er sich gerade am rechten Platz verliebt hatte, und bereit, ein gehöriges Maß an geistiger Überlegenheit in Kauf zu nehmen, die ein Mann schließlich jederzeit, wenn es ihm gefiel, zum Schweigen bringen konnte. Sir James kam aber gar nicht auf den Gedanken, die geistige Überlegenheit dieses schönen Mädchens, von dessen Klugheit er entzückt war, jemals zum Schweigen bringen zu wollen. Warum auch? Eines Mannes Geist – was davon auch vorhanden sein mag – hat immer den Vorzug, männlich zu sein – wie die kleinste Birke einer höheren Gattung angehört als die höchste Palme –, und seine Unwissenheit ist von vernünftigerer Art. Sir James mochte sich diese Meinung nicht selbst gebildet haben; doch eine gütige Vorsehung stattet auch den geistig Schwächsten mit einem bißchen Rückgrat in Form der Tradition aus.
»Ich darf doch wohl hoffen, daß Sie Ihren Entschluß wegen des Pferdes widerrufen werden, Miss Brooke«, meinte der beharrliche Verehrer. »Ich versichere Ihnen, Reiten ist der gesündeste Sport.«
»Das ist mir bekannt«, erwiderte Dorothea kühl. »Ich denke, es würde Celia gut tun – wenn sie Gefallen daran finden könnte.«
»Aber Sie sind eine so hervorragende Reiterin.«
»Verzeihung, ich habe sehr wenig Übung und könnte leicht abgeworfen werden.«
»Das ist gerade ein Grund, sich mehr Übung zu erwerben. Jede Dame sollte eine perfekte Reiterin sein, damit sie ihren Gatten begleiten kann.«
»Sehen Sie, wie weit unsere Ansichten auseinandergehen, Sir James! Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß ich keine perfekte Reiterin sein sollte, und würde also nie Ihrem Ideal einer Dame entsprechen.« Dorothea blickte geradeaus vor sich hin und sprach mit kalter Schroffheit, ganz mit der Miene eines hübschen Knaben – ein ergötzlicher Gegensatz zu der beflissenen Liebenswürdigkeit ihres Anbeters.
»Ich wüßte gern die Gründe für diesen grausamen Entschluß. Sie können doch unmöglich das Reiten für etwas Unrechtes halten.«
»Es ist durchaus möglich, daß ich es für mich als etwas Unrechtes ansehe.«
»Aber warum?« fragte Sir James in sanft widersprechendem Ton.
Mr. Casaubon war, die Teetasse in der Hand, an den Tisch getreten und hörte zu.
»Wir dürfen nicht zu eingehend nach Gründen forschen«, warf er in seiner gemessenen Art ein. »Miss Brooke weiß, daß sie leicht unbedeutend werden, sobald man sie ausspricht: ihr zarter Duft vermischt sich mit der schwereren Luft. Wir müssen das keimende Samenkorn vor dem Licht schützen.«
Dorothea errötete vor Freude und blickte dankbar zu dem Sprecher auf. Hier war ein Mann, der Verständnis für eine höhere innerliche Lebensweise hatte und mit dem eine geistige Gemeinschaft möglich schien, ja, der sogar Prinzipien auf Grund seines reichen Wissens zu erläutern vermochte, ein Mann, dessen Gelehrsamkeit fast zum Beweis für alles wurde, was er glaubte!
Dorotheas Schlüsse mögen großherzig erscheinen, aber ohne Schlüsse von so großherziger Nachsicht, die die Ehe unter den schwierigen Verhältnissen der Zivilisation erleichterte, hätte das Leben in der Tat zu keiner Zeit weiter bestehen können. Hat jemals einer das Spinngewebe vorehelicher Bekanntschaft in seine ganze Winzigkeit zusammengepreßt?
»Gewiß«, pflichtete der gute Sir James bei, »Miss Brooke soll nicht gedrängt werden, ihre Gründe darzulegen, wenn sie darüber zu schweigen vorzieht. Ich bin sicher, daß ihre Gründe ihr nur Ehre machen würden.«