ISBN: 978-3-86191-251-4
1. Auflage 2022
© Crotona Verlag GmbH und Co. KG, Kammer 11, D-83123 Amerang
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Nahtod-Erfahrungen sind oft tiefgehende und das weitere Leben prägende Erlebnisse. Es gibt Menschen, die sie als das wichtigste Ereignis in ihrem bisherigen Leben bezeichnen. Dabei ist für die Betroffenen klar, dass das, was sie erlebt haben, kein Traum und keine Halluzination war. »Es war so wirklich, wie nur irgendetwas wirklich sein kann.« (Sabom 1982, 225) Aber mit dieser Meinung stehen sie allein. Sie müssen feststellen, dass sie das, was sie als wahr erfahren haben, anderen nicht vermitteln können. Wenn sie versuchen, sich mitzuteilen, stoßen sie oft auf Skepsis und Ablehnung. Außenstehende mögen die Diskussion über Halluzinationen als »akademische« Frage betrachten, für Betroffene hat es jedoch eine große Bedeutung, wie ihre Partner oder wie Ärzte, Therapeuten und Seelsorger reagieren, wenn sie ihr Erlebnis mitteilen.
Eine Frau hatte ein nahtod-ähnliches Erlebnis, als sie sich an einem warmen Sommernachmittag zum Ausruhen hingelegt hatte. Ihr Mann fand die Schilderung seiner Frau bedenklich. Er bedrängte sie, einen Psychiater aufzusuchen. Sie berichtete mir von diesem Besuch: »Nachdem der Psychiater nach kurzem Bericht von mir mehr als seltsam geschaut hat, wurde mir mulmig zumute. Nix wie weg hier, habe ich gedacht, bevor der jetzt diagnostiziert, dass ich verrückt bin. Ich dachte: Das Beste wäre eine harmlose medizinische Diagnose. Ich habe schnell gefragt, ob das, was ich erlebt hatte, bedingt durch die Hitzewelle vielleicht Kreislaufprobleme gewesen sein könnten. Das könne eventuell sein, war seine Antwort. Das war zwar Blödsinn, ich weiß, was es war, aber das war das Ende meines Redens über dieses Erlebnis. Meinem Mann habe ich die Kreislauferklärung serviert, und damit hatte ich meine Ruhe, das war nie wieder ein Thema.« (Anita H.)
Nahtod-Erfahrungen sind immer noch ein Tabu. Wenn die Menschen solche frustrierenden Erfahrungen machen, ziehen sie es vor, in Zukunft zu schweigen. Die Erlebnisse werden aus der Kommunikation ausgeschlossen. Das hat zur Folge, dass ihre Integration erschwert wird, wie die australische Nahtod-Forscherin Cherie Sutherland herausfand. (1992) Die Menschen können das positive Entwicklungspotenzial, das die Erlebnisse besitzen, nicht in vollem Umfang beziehungsweise nur mit erheblicher Verzögerung nutzen. Dabei hätten sie gerade in der ersten Zeit eine Hilfestellung nötig. Nahtod-Erfahrungen stellen oftmals vieles von dem infrage, was bis zu diesem Zeitpunkt im Leben der Menschen zählte. Wertprioritäten können sich verschieben und auf das soziale Verhalten auswirken. Das kann zu erheblichen Irritationen führen. »Die Erlebnisse ver-rückten ja im wahrsten Sinne des Wortes alles, was ich bisher kannte«, schreibt Sabine Mehne. (2005, 145)
Am Umgang mit Nahtod-Erfahrungen wird die Macht sichtbar, die Deutungen besitzen. Es gibt eine weitverbreitete Meinung, dass es sich bei solchen Erlebnissen nur um Einbildungen handeln kann. Woher kommt diese Meinung? Eine einfache Erklärung liegt auf der Hand. Was Betroffene berichten, ist so weit von unserem Alltagserleben entfernt, dass es »zweifelhaft« erscheinen muss. Um auf den Gedanken zu kommen, dass es sich nur um »Einbildungen« handeln kann, muss man kein Psychiater sein.
Für die Wissenschaft stellt sich das Problem noch anders dar. Viele Wissenschaftler orientieren sich heute am Naturalismus. Das ist eine Denkrichtung, die verlangt, alle Phänomene, auch solche religiösen oder spirituellen Inhalts, ausschließlich mit »natürlichen« Faktoren zu erklären. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, kann man den Behauptungen von Menschen, in ihren Erlebnissen eine unsichtbare, »jenseitige« Wirklichkeit erfahren zu haben, keinen Realitätsbezug zubilligen. Für Wissenschaftler, die sich dem Naturalismus verpflichtet fühlen, ist von vornherein klar, dass es sich nur um Halluzinationen handeln kann. Für sie kommen nur Erklärungen infrage, die sich im Rahmen des medizinischen und pyschologischen Wissens vom Menschen bewegen.
In manchen Veröffentlichungen entsteht der Eindruck, als sei es eine ausgemachte Sache, dass Nahtod-Erfahrungen Halluzinationen sind. Dabei gibt es bis heute kein gesichertes Wissen darüber, welche Hirnprozesse an der Entstehung von Nahtod-Erfahrungen beteiligt sind. (Vgl. Kuhn 2020) Aber wäre die Antwort gefunden, wenn man es wüsste?
Der Eindruck, Nahtod-Erfahrungen seien bloße Phantasieprodukte, entsteht immer dann, wenn mutmaßliche Vorgänge im Gehirn als vollständige Erklärung der Phänomene betrachtet werden. Dabei werden möglicherweise Auslöser und Ursachen miteinander verwechselt. Günter Ewald erläutert diesen Fehlschluss an folgendem Beispiel: »Wenn ich eine Musikanlage einschalte, so heißt das nicht, dass ich musiziere, also die Ursache der Musik bin. Ich löse nur einen Abspielvorgang aus … Ähnlich ist es, wenn ich einen Lichtschalter bediene und das Licht geht an: Nicht meine elektrischen Körperströme sind Ursache für das Glühen der Birne, sondern der von außen kommende Strom, dessen Fluss ich ausgelöst habe.« (2006, 85)
Man könnte zum Vergleich auch das menschliche Sehvermögen heranziehen. Auch wenn man alle Prozesse benennen kann, die am Sehvorgang beteiligt sind, ist damit noch nichts über das ausgesagt, was man sieht. Auf unser Thema bezogen, bedeutet das: Selbst wenn wir über alle hirnphysiologischen Prozesse, die an der Entstehung von Nahtod-Erfahrung beteiligt sind, Bescheid wüssten, wäre damit noch nicht geklärt, wo die Inhalte herkommen. Sind es Phantasievorstellungen, die im Gehirn selbst mit den eigenen inneren Bildern produziert werden, oder handelt es sich um Eindrücke, in denen sich eine andere Wirklichkeit artikuliert?
Man muss, glaube ich, noch einen Schritt weiter gehen. Ich sehe nicht, mit welchen wissenschaftlichen Mitteln sich die grundsätzliche Frage überhaupt entscheiden ließe, ob die Erfahrungen im Gehirn erzeugt oder durch die physiologischen Prozesse nur vermittelt werden. Es könnte sein, dass es eine Schaltstelle im Gehirn gibt, die als eine Art »Organ« für Transzendenz-Erfahrungen fungiert. Die Deutung wissenschaftlicher Befunde könnte zumindest in diesem Punkt »Glaubensfrage« bleiben.
So unausweichlich die Halluzinationshypothese auf den ersten Blick erscheinen mag, die Ergebnisse einer inzwischen jahrzehntelangen weltweiten Forschung wecken Zweifel an ihrer Tragfähigkeit. Ich nenne vier Aspekte, die über die Halluzinationsvermutung hinausweisen:
Nahtod-Erfahrungen stellen ein Erlebnismuster dar, das sich durch charakteristische Merkmale auszeichnet. Sie beginnen oft mit einem Austritt aus dem Körper (die sogenannte außerkörperliche Erfahrung). Darauf kann eine Phase des Übergangs folgen. Die Menschen haben den Eindruck, sich in eine andere, jenseitige Welt zu bewegen. Sie spüren bereits, wie ein Nahtod-Erfahrener es ausdrückte, den »Sog von der anderen Seite«. Weitere typische Elemente beinhalten Aufenthalte in lichterfüllten paradiesischen Regionen, die Begegnung mit Verstorbenen und transzendenten Wesen. Manche Nahtod-Erlebnisse haben den Charakter mystischer Erfahrungen. Sie werden als Begegnungen mit Gott empfunden oder als Erfahrung der Einheit mit einer »letzten«, göttlichen Wirklichkeit erlebt.
An den Inhalten zeigt sich, dass Nahtod-Erfahrungen keine wirren, phantastischen Vorstellungen enthalten. Das Außergewöhnliche an ihnen besteht in ihrem Jenseits- und Transzendenzbezug. Die Menschen beschreiben durchgängig Begegnungen mit einer anderen, »höheren« Wirklichkeit. Ähnliche Transzendenz-Erlebnisse kennen wir aus der Geschichte der Religionen. Ich glaube, dass gerade der spirituelle Charakter ein Grund für viele ablehnende Reaktionen darstellt. Es entspricht nicht unserem Menschenbild, dass Begegnungen mit einer anderen, göttlichen Dimension möglich sind.
In einer inzwischen jahrzehntelangen internationalen Forschung wurde festgestellt, dass die genannten jenseits- und transzendenzbezogenen Merkmale in unterschiedlichen Ländern und Kulturen berichtet werden. Studien wurden unter anderem in den USA (Ring 1984), Australien (Sutherland 1992), Großbritannien (Fenwick, Fenwick 1995), den Niederlanden (Van Lommel 2001) und Deutschland (Schröter-Kunhardt 2002) durchgeführt. Aber auch aus China (Zhi-ying, Jian-xun 1992) und Japan (Tachibana 2000) liegen Untersuchungen vor. In all diesen Studien zeigte sich das Vorkommen der charakteristischen Merkmale.
Da es sich um Erlebnisse mit einem Transzendenz- und Jenseits-Bezug handelt, ist von besonderem Interesse, ob Nahtod-Erfahrungen auch von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit erlebt werden. Was erleben zum Beispiel Muslime in Todesnähe? Darauf geht eine Studie aus dem Iran ein. In die Studie wurden 19 Muslime aus der iranischen Stadt Arak einbezogen, die eine Nahtod-Erfahrung gehabt hatten. Als Ergebnis halten die Autoren der Studie fest, dass Nahtod-Erfahrungen bei Muslimen sich in ihren Kernaspekten nicht sehr von westlichen Nahtod-Erfahrungen unterscheiden. Sie seien nicht sehr von religiösen oder spirituellen Überzeugungen beeinflusst. (Fracasso et al. 2010)
Wenn Nahtod-Erfahrungen überindividuell, nationen- und kulturübergreifend ähnlich erlebt werden, sind es keine Halluzinationen; denn Halluzinationen sind, ähnlich wie Träume, individuell geprägt. Sie sind ein Spiegel des inneren Zustandes, in dem sich die betreffende Person zum Zeitpunkt ihres Erlebnisses befindet.
Bis heute wird eine Erklärung vor allem in Faktoren gesucht, die mit der lebensbedrohlichen Situation zu tun haben. Nahtod-Erfahrungen erscheinen dann als ein pathologisches Phänomen. Wir wissen inzwischen aber, dass die Erfahrungen durch viele Anlässe, zum Beispiel durch Schocksituationen, Depressionen, Drogen oder auch durch Meditationen, ausgelöst werden können. Sie können sich aber auch spontan einstellen, zum Beispiel beim Spazierengehen. Die Erfahrungen, zu denen es in nicht-bedrohlichen Situationen kommt, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer »Tiefe« und Intensität nicht von solchen, die in lebensbedrohlichen Situationen gemacht werden. (Fox 2003)
Daraus kann man schließen, dass Faktoren, die mit einer lebensbedrohlichen Situation zusammenhängen, keine vollständige Erklärung für das Zustandekommen von Nahtod-Erfahrungen liefern können. Annahmen, denen zu Folge Nahtod-Erfahrungen auf Sauerstoffmangel zurückzuführen sind, durch Todesangst ausgelöst werden, auf dem Einfluss von Narkosemitteln beruhen oder gewissermaßen ein letztes Aufflackern des sterbenden Gehirns (Linke 2003) darstellen, bieten keine Erklärung für das Auftreten in nicht-lebensbedrohlichen Situationen. Auch andere situative Faktoren können nur eine Teilantwort darstellen, die Erfahrungen aber nicht vollständig erklären. Die Möglichkeit bleibt offen, dass neuronale Prozesse nur ein »Fenster zur Transzendenz« (Newberg) öffnen, das eine Begegnung mit einer anderen Wirklichkeit ermöglicht.
Auch die Nachwirkungen zeigen, dass es sich bei Nahtod-Erfahrungen nicht um ein pathologisches Phänomen handelt. Sie wurden ebenfalls in vielen Studien untersucht. Die Studien zeigen übereinstimmend einen Verlust der Angst vor dem Tod, eine starke Zunahme des Glaubens an eine höhere Macht und ein Weiterleben nach dem Tod sowie eine deutliche Verschiebung von Wertprioritäten. Die Menschen entwickeln ein größeres Interesse an spirituellen Fragen und schätzen den Wert sozialer Beziehungen höher. Materielle Interessen und das Streben nach Prestige und Erfolg verlieren an Bedeutung.
Die Nachwirkungen unterstreichen den überindividuellen, spirituellen Charakter des Phänomens. Versuche, sie auf ein bloßes Phantasieprodukt zurückzuführen, das das Resultat einer leerlaufenden, halluzinatorischen »Restaktivität« des Gehirns sein soll (Hoppe 2007, 110), sind wenig überzeugend. Nahtod-Erfahrungen, wie Transzendenz-Erfahrungen überhaupt, stellen Phänomene dar, die in der menschlichen Natur verankert sind. Sie zeigen, dass im Menschen selbst der Bezug zu einer umfassenden, »höheren« Wirklichkeit verankert ist. Sie können daher nur in einem anthropologischen Kontext angemessen gewürdigt werden.
Das vorliegende Buch ist aus einer langjährigen Aktivität hervorgegangen, in der sich das Netzwerk-Nahtod-Erfahrung e. V. mit der Thematik der Nahtod-Erfahrungen auseinandergesetzt hat. Wir wollen drei Kernaspekte beleuchten, die für das Verständnis dieser außergewöhnlichen Erlebnisse zentral sind.*
Am Beginn dieses Buches steht ein Beitrag des Kardiologen und Nahtod-Forschers Pim van Lommel, der mit seinem Buch »Endloses Bewusstsein« weltweit bekannt wurde. In unserem Beitrag stellt er seine Thesen vor. Aus den Erkenntnissen der Nahtod-Forschung leitet er ab, dass das menschliche Bewusstsein kein Produkt der Hirnfunktionen ist und daher auch nicht mit dem Tod untergeht. Der Titel lautet: »Die Kontinuität des Bewusstseins. Ein neues Konzept, gegründet auf Forschungsergebnisse zu Nahtod-Erfahrungen.«
Van Lommel stützt sich auf vielfältige paranormale Aspekte der Nahtod-Erfahrungen. Sie lassen sich nicht mit unserem bisherigen Verständnis des menschlichen Bewusstseins als Funktion von Hirnprozessen vereinbaren. Das wird besonders deutlich an Berichten über sogenannte außerkörperliche Erfahrungen. Der Neurologe Prof. Wilfried Kuhn setzt sich mit diesem Phänomen auseinander. In seinem Aufsatz »Die Out-of-body-Erfahrung: Halluzination oder Realität?« untersucht er psychologische und neurobiologische Erklärungsmodelle.
Im Kontext »außersinnlicher« Wahrnehmung stehen auch Berichte von Menschen, die von Geburt an blind waren, während einer Nahtod-Erfahrung jedoch optische Wahrnehmungen hatten. Dieses Phänomen wurde von Kenneth Ring und Sharon Cooper untersucht. Sie interpretieren das »Sehvermögen« blinder Menschen während ihrer Nahtod-Erfahrung als »Sehen mit dem Geist« (Mindsight«). Ihre Thesen stellt Christian von Kamp in »Mindsight – Wenn Blinde sehen« vor.
Ein außergewöhnliches Phänomen stellen auch die Lebensrückblicke dar. In manchen Fällen, den sogenannten Lebensrevisionen, setzen sich die Menschen intensiv mit ihrem bisherigen Leben auseinander. Es kommt zu einem »moralischen Erwachen«, wie ich (Joachim Nicolay) in meinem Beitrag »Moralisches Erwachen im Lebensrückblick« zeige. Aus wissenschaftlicher Sicht müsste man die Authentizität der zugrunde liegenden Erinnerungen bezweifeln. Aber die tiefe Sinndimension sowie eine Reihe von paranormalen Aspekten sprechen für die Echtheit im Sinne einer Transzendenz-Erfahrung.
Nahtod-Erfahrungen sind Begegnungen mit einer anderen Wirklichkeit. Aber um was für eine Wirklichkeit handelt es sich dabei? Dieser Frage gehen wir im zweiten Teil des Buches nach.
Am Beginn steht ein Gespräch, das der Mitgründer und langjährige Vorsitzende des Netzwerk-Nahtod-Erfahrung e. V., Alois Serwaty, mit dem Dirigenten George Alexander Albrecht geführt hat: »Das Fenster zum Himmel war offen. Professor George Alexander Albrecht im Gespräch mit Alois Serwaty.« Professor Albrecht hatte einen Zusammenbruch während eines Konzertes. Er dirigierte die neunte Sinfonie von Beethoven, als ihm die Beine wegknickten und es zu einer Nahtod-Erfahrung kam.
Anschließend spricht Alois Serwaty über seine persönliche Deutung der Nahtod-Erfahrung vor dem Hintergrund seiner Außerkörper-Erfahrung, zu der es während einer Herzkatheter-Untersuchung kam, und weiterer Erlebnisse, die im Zusammenhang mit einer schweren kardiologischen Erkrankung standen. In »Die Brüche des Lebens sind die Einfallstore des Unendlichen« fragt er sich, ob man über solche Erfahrungen reden oder lieber schweigen soll, wenn selbst das engste Umfeld abwehrend reagiert.
Danach untersuche ich, Joachim Nicolay, das Wirklichkeitsverständnis auf den verschiedenen Stufen von Nahtod-Erlebnissen aus einer hermeneutischen (textvergleichenden) Perspektive. Einen Schwerpunkt bilden mystische Lichterlebnisse. Sie werden oft als Verschmelzung, als Einswerdung mit Gott / dem Göttlichen erlebt. Wie ist das Einssein zu verstehen? Der Titel meines Beitrages lautet: »Rückkehr zum Ursprung – Das Transzendenz-Verständnis in Nahtod-Erfahrungen.«
Die Freiburger Philosophin Prof. Dr. Regine Kather vergleicht Nahtod-Erfahrungen und Mystik miteinander. Als Leitfaden ihrer Analyse der »Formen und Inhalte religiöser Erfahrungen« dient ihr ein Text der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen, die über »das Licht« spricht, das sie schaut. Wenn man die Naturwissenschaften verabsolutiert, haben solche Aussagen nur eine rein subjektive Bedeutung. Erst wenn man akzeptiert, dass auch die Naturwissenschaften die Wirklichkeit nur methodisch begrenzt erfassen, kann eine Offenheit für religiöse Erfahrungsformen entstehen.
Wie kann man Nahtod-Erfahrungen philosophisch einordnen? Mit dieser Frage setzt sich der Bregenzer Psychotherapeut und Philosoph Dr. phil. Eckart Ruschmann in dem Aufsatz »Philosophische Überlegungen zum Deutungshintergrund von Nahtod-Erfahrungen« auseinander. Ruschmann zeigt, dass die Deutung von Nahtod-Erfahrungen von weltanschaulichen Hintergrundannahmen abhängig ist.
Nahtod-Erfahrungen können das Leben der Menschen mit einem Schlag auf den Kopf stellen. Das innere Bezugssystem verändert sich. Die Folge kann eine Zeit der Verwirrung sein. Die belastenden Auswirkungen beschreibt eindrücklich die Mitbegründerin des Netzwerk-Nahtod-Erfahrung Sabine Mehne in ihrem Beitrag »Mystik im Hier und Heute – eine Selbstoffenbarung«.
Von psychiatrischer Seite werden die krisenhaften Auswirkungen von Nahtod-Erfahrungen manchmal als Depersonalisation, Dissoziation, posttraumatische Belastungsstörung oder gar als psychotische Episode missdeutet. In dieser Hinsicht besteht ein Aufklärungsbedarf, dem sich die Psychotherapeutin Dr. Eugenia Kuhn und Prof. Wilfried Kuhn in ihrem Beitrag stellen: »Nahtod-Erfahrungen in der Psychotherapie – Spirituelle Krisen und therapeutisches Potenzial.«
Die Psychotherapeutin Elisa Ruschmann zeigt, dass Nahtod-Erfahrungen auch ein Potenzial für Menschen bereithalten, die nicht selbst eine solche Erfahrung gemacht haben. Sie sieht »Berichte von Nahtod-Erfahrungen als Anregung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung«.
Ewald G, Nahtod-Erfahrungen. Hinweise auf ein Leben nach dem Tod? Toposplus Verlagsgemeinschaft, Regensburg 2006
Fenwick E, Fenwick P, The Truth in the Light. Berkley Books, New York 1995
Fox M, Religion, Spirituality and the Near-Death Experience. Routledge, London 2003
Hoppe C, Nahtod-Erlebnisse – Blick ins Jenseits? In: Souvignier G, (Hg), Durch den Tunnel. Nahtod-Erfahrungen interdisziplinär betrachtet. Einhard Verlag, Aachen 2007
Kuhn W, Neurobiologische Modellvorstellungen und ihre Grenzen. In: Kuhn W, Nicolay J (Hg), Nahtod-Erfahrungen. Neue Wege zu einem tieferen Verständnis. Crotona Verlag, Amerang 2020
Linke D, An der Schwelle zum Tod. In: Gehirn und Geist 3 (2003), 47-52
Mehne S, Wie geht das Leben weiter nach einer Nahtod-Erfahrung? Dem Tode nahe – Wieder im Leben. In: Läpple V, Schmidt KW (Hg), »Dem Tode so nah …«- Wenn die Seele den Körper verlässt. Haag und Herchen Verlag, Frankfurt am Main 2005
Moody RA, Leben nach dem Tod. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999
Nicolay J, Die Kunst, Nahtod-Erfahrungen zu verstehen. In: Kuhn W, Nicolay J (Hg), Nahtod-Erfahrungen. Neue Wege zu einem tieferen Verständnis. Crotona Verlag, Amerang 2020
Ring K, Den Tod erfahren – das Leben gewinnen. Scherz Verlag, Bern 1984
Sabom MA, Erinnerung an den Tod. Eine medizinische Untersuchung. Goldmann Verlag, Berlin 1982
Serwaty A, Das Fenster zum Himmel war offen. Professor George Alexander Albrecht im Gespräch mit Alois Serwaty. In: Van Laack, Wer stirbt, ist nicht tot. Van Laack GmbH Buchverlag, Aachen 2005
Sutherland C, Reborn in the Light. Bantam Books, New York 1992
Van Lommel P, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtod-Erfahrung. Patmos, 4. Auflage, 2011
Zhi-ying F, Jian-xun L, Near-Death Experiences Among Survivors of the 1976 Tangshan Earthquake. In: Journal of Near-Death Studies, 2 (1992), 39-48
* Die Herkunft (Erstveröffentlichung) der Beiträge wird im Quellenverzeichnis am Ende des Buches dokumentiert.