Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

3. Auflage 2022

Copyright © 2022 Nicole Benak

Lektorat: Markus Kessler

Cover- und Fotodesign: Anne Nattermann

Unterstützung: Stiftung Dr. Franz Käppeli

Herstellung und Verlag: BoD — Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7543-8882-2

Für meine Familie, Freunde und alle Menschen,

welche meinen Weg gekreuzt und

mein Leben bereichert haben.

1980 in Leipzig geboren, wuchs ich inmitten einer halbfertigen Plattenbausiedlung auf. Baustellen wurden zu Spielplätzen und Baumhäuser zu Rückzugsorten. In der Einfachheit meines Umfeldes entwickelte ich Kreativität und erlebte bereits eine abenteuerliche Kindheit.

Als meine Mama sich plötzlich nicht mehr bewegen konnte und an den Rollstuhl gefesselt war, wurde mir bewusst, was wirklich zählt im Leben und dass nichts beständig ist. Kaum 10-jährig geworden, geriet meine Welt erneut aus den Fugen. Die DDR löste sich auf, die Mauer fiel, freies Reisen war plötzlich möglich. Das war mein Startsignal für ein Leben, das davon geprägt ist, ab und an hinter den Horizont zu schauen.

Ich studierte Tourismus-Betriebswirtschaft und suchte mein Glück in verschiedenen Ländern, zuletzt in der Schweiz, wo ich bei Eventveranstaltern und in der Wellness-Hotellerie arbeitete. Und immer wieder schnürte ich meine Reisestiefel, steckte meine Zahnbürste ein und machte mich auf, die Welt zu entdecken.

So auch im Alter von 31 Jahren, als ich, einem Nachttraum folgend, wieder einmal mein Bündel packte und aufbrach, Südamerika zu erkunden. Getrieben von Träumen und Sehnsüchten fand ich einen atemberaubenden Kontinent, einzigartige Menschen und eine gewaltige Erkenntnis: Die wahre Reise beginnt, wenn man alles loslässt und im Jetzt ankommt.

Inhaltsverzeichnis

ANFANG

Wir schreiben das Jahr 2012.

Ich reite über eine weite Ebene. Durch meine Adern fließt Adrenalin und ich bin zutiefst erfiillt von dem Moment.

Ich möchte in diesem Zustand verweilen und wehre mich, als mein Bewusstsein aus dem Traum erwachen und wieder ins Hier und Jetzt zurückfinden will. Die Sonne scheint bereits durchs Fenster auf mein Bett. Ich halte die Augen weiter geschlossen und spüre noch das Gefühl von Freiheit nach, das mich im Traum begleitet hat. Ich weiß genau, dieses Gefühl wird mich nie wieder loslassen.

Zwei Tage später beschließe ich meinen Rucksack zu packen und die Stiefel zu schnüren. Ich muss einfach wieder hinaus in die Welt ziehen und meinen Traum wahr werden lassen. Das Fieber auf ein neues Abenteuer ist erwacht und wird nicht mehr abklingen, bis ich ihm nachgegeben habe. Als Dezemberkind bin ich ein reisefreudiger und freiheitsliebender Schütze geworden und dieser unermüdliche Drang, die Welt zu entdecken, alles hinter mir zu lassen und sich in Abenteuer zu stürzen, ist nicht gerade schwach ausgeprägt. Seinen Träumen folgen – noch nie habe ich diesen Spruch so direkt in die Tat umgesetzt.

Ich verbringe einige Stunden im Internet und suche nach Möglichkeiten, mein Vorhaben zu realisieren. Ich schreibe mehrere touristische Pferdefarmen an, vorwiegend in Chile. Ein von deutscher Hand geführtes Unternehmen verlangt neben einer vollständigen Bewerbung auch noch mindestens vier Fotos, welche die Bewerberin auf dem Pferd abbilden. Es soll wohl die peinliche Frage nach dem Körpergewicht überflüssig machen. Eine Information, die bei einem sportlichen Tagesablauf und mehrtägigen Reittouren im wahrsten Sinne ins Gewicht fällt. Bald darauf bekomme ich eine Absage mit dem Vorschlag, meine E-Mail-Adresse an seinen argentinischen Partner bei Reittouren weiterzuleiten. So landen meine Kontaktdaten in den abgelegenen Bergen Patagoniens.

„The ass of the world! El culo del mundo! I'm a funny men... love wildlife... “

Am Arsch der Welt mit einem lustigen Mann die Wildnis erleben, das reichte mir. Mehr brauchte ich nicht wissen. Genau das waren die Schlagwörter, die meine Entscheidung endgültig machten. Das gebrochene Englisch bringt mich zum Schmunzeln. Ich wollte sicher sein, alles aus der Mail richtig verstanden zu haben und zog sie mir mehrmals rein.

Tagelange Ausflüge in die argentinische Pampa und Ausläufer der Anden, im Sommer im Pferdesattel, im Winter mit den Schlittenhunden, 12 Pferde versorgen, 20 Huskies füttern, anfallende Arbeiten im Haus und den Gästehütten – alles kein Problem für mich. Einzig bei dem Wort “cooking” wird mir etwas mulmig. Ich hoffe, dass ich mich davor drücken kann. Alejandro warnt mich vor. Es gäbe kein Telefonsignal, kein Internet und nur wenig Elektrizität. Vielleicht hat er schon schlechte Erfahrungen mit jungen Helfern gemacht, die ohne diesen Luxus nicht mehr auskommen. Manchmal schneit es im Sommer, auch das schreckt mich nicht ab.

Ich schwebe in Vorfreude. Nicht, weil ich einem bestimmten Ereignis entgegenfiebere, sondern weil ich mich auf die Ungewissheit freue. Offen zu sein für Erfahrungen und Begegnungen, ohne zu erwarten, dass diese immer angenehm sein werden. Beim Reisen fühle ich mich immer viel wacher und fokussierter, in der Konfrontation mit unerwarteten Ereignissen lerne ich viel über mich selbst. Mich auf das wahrhaftige Leben einlassen, mit meinem ganzen Urvertrauen im Gepäck – darauf freue ich mich.

Samstag, 10. November

Heute geht es also los.

Es wird eine lange Reise werden. Bis nach Buenos Aires bin ich 25 Stunden unterwegs. Bei der Buchung des Fluges habe ich den Zwischenstopp nicht dem Zufall überlassen. Reisefreudig wie ich bin, will ich die Chance nutzen, im Vorbeifliegen noch Rom zu besichtigen. Neun Stunden Aufenthalt reichen mir, um mich in Roms Flair zu verlieren, mich vom Colosseum in die Geschichte entführen zu lassen und zwischen den alten Häusern Roms zu verlaufen. Nach einem guten italienischen Kaffee geht es dann zurück zum Flughafen und in den Flieger nach Argentinien.

Sonntag, 11. November

Nach den verwinkelten kleinen Gassen und dem antiken Charakter Roms war Buenos Aires auf den ersten Blick ein erschreckender Gegensatz. Am Busbahnhof Retiro kämpfe ich mich um zehn Uhr morgens durch zugemüllte Straßen an skurrilen Personen vorbei, die Wertsachen um den Bauch geschnürt. Die meisten Touristen haben einen langen Flug hinter sich, sind erschlagen, orientierungslos, haben Kopfschmerzen vom Gewusel und bieten die perfekte Beute für lauernde Taschendiebe. Ich habe eine innerliche Diskussion mit meinen Augenlidern, die immer wieder vor Müdigkeit nach unten fallen. Ich atme tief durch, mach mich groß und versuche fit und aufmerksam zu wirken. Irgendwie spüre ich die lauernden Augen der Taschenjäger oder bilde ich mir dies nur ein? Vermutlich interessieren sich Gepäckdiebe nicht für die XL- Rucksäcke der Backpacker. Außer ein paar Wollsocken, zerschlissenen T-Shirts, abgetragenen Pullis und alten Jeans finden sich darin wahrscheinlich selten wertvolle Gegenstände. Auch in meinem Rucksack gibt es weder ein Smartphone noch einen Computer. Einzig ein MP3-Player, eine 6 Jahre alte Kompaktkamera und mein Nokia-Handy durften sich zu meiner Zahnbürste und den anderen Dingen in den vierzehn Kilogramm schweren Rucksack gesellen.

Ich flüchte vor der Hektik in den nächsten Park, der mich sauber und einladend empfängt. Endlich Ruhe! Endlich angekommen! Die nächste Parkbank gehört mir. Ich lege die Beine hoch, blättere im Reiseführer und mache mich über die mitgebrachte Post meiner Freunde Dana und Stefanie her: freundschaftliche Bekenntnisse, eine mit Fotos versehene Reisemappe und ein englischsprachiges Buch.

Im einjährigen Abenteuerurlaub in Australien und Neuseeland haben sie mich noch begleitet, was für unsere Freundschaft ein echter Härtetest war, den wir mit Bravour bestanden haben. Ihre vertraute Gesellschaft würde mir jetzt guttun.

Irgendwann mache ich mich auf den kurzen Fußweg zu meinem Hostel direkt an der Fußgängerzone. Ich bin zu früh. Mein reserviertes Bett ist wohl noch von einem Langschläfer besetzt, hoffentlich keine Alkoholleiche nach einer durchzechten Nacht. Ich stelle den Rucksack im für jedermann zugänglichen Abstellraum ein und schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich ihn später immer noch dort antreffe. Dann ziehe ich los, zu Fuß durch die fremde Stadt. Nach den ersten Schritten ohne den schweren Rucksack lassen auch die Rückenschmerzen vom langen Flug nach. Ich folge den Menschenmassen, die mir am interessantesten erscheinen. Vom Trubel umringt finde ich mich zwischen verkleideten Gestalten wieder, von überall her schallt Tangomusik, auf den Straßen und Plätzen wird getanzt, eine Parade in historischen Kostümen zieht an mir vorbei. Ich stehe auf dem Antikmarkt in San Telmo.

Dort wechseln an Straßenständen Empanadas ihre Besitzer. Diese mit Schinken und Käse vollgestopften, frittierten oder gebackenen Teigtaschen aus Maismehl sind ein argentinisches Nationalgericht. Die Argentinier glauben sogar, sie hätten sie erfunden. Doch das glauben auch die Spanier, Mexikaner, Philippinos und Chilenen. Oder liegt der Ursprung sogar in Bolivien? Mir ist das egal, Hauptsache, die Dinger werden als essbar, lecker und ab einer gewissen Menge auch als schwer verdaulich eingestuft. Nun bin ich auch kulinarisch angekommen. Meine Urlaubsstimmung steigt. Auch wenn ich nichts gegen Gesellschaft hätte, so ist das alleine Reisen doch gar nicht so schlecht.

Die schwarz-gelben Taxis, vor denen mein Reiseführer warnt, wecken mein Misstrauen. Der Vergleich mit Kampfhunden kommt mir in den Sinn. Schwanzwedelnd kommen sie auf einen zu, doch einmal eingestiegen, weiß niemand, ob sie zubeißen und Teil einer Erpresser- oder Entführungsbande sind. Die Schauergeschichten zeigen Wirkung. Andererseits wirkt der Wirrwarr an Bussen auch nicht gerade entspannend auf mich und so bleibe ich der Fortbewegung in den warmen Wanderschuhen treu. Meine Füße qualmen schon bald.

Das Schöne an der unbekannten Umgebung ist, dass sie meine Sinne wieder schärft und mich in jedem Moment mit Eindrücken beflügelt, ohne in Gedanken an Ereignisse aus der Vergangenheit oder einer möglichen Zukunft zu verfallen. Mit offenen Augen und offenem Herzen schlendere ich weiter durch Buenos Aires.

Plötzlich begegne ich dir! Dunkelroter lederner Einband, ein starker Druckknopf, viele weiße und ein paar hellblaue Seiten, mit ein paar kleinen Makeln und einem Schriftzug aus Metall – „Argentina“.

Bevor du von mir adoptiert wurdest, warst du in den Händen deiner Schöpferin, einer alten Argentinierin, tief gebräunte Haut, das Gesicht voller Falten, zufriedener Blick, freundliche Worte. Du wurdest zwischen all deine Geschwister aus leeren Notizblöcken und Büchern auf ein rotes Tuch mitten auf dem Gehweg gelegt. Sofort war für mich klar: Du wirst mein Tagebuch. Meine Ansprüche an dich unterscheiden sich im Wesentlichen nicht von denen an einen Mann. Ich möchte mich Tag für Tag, Woche für Woche von dir inspirieren lassen und Lust haben, mich mit dir zu beschäftigen. Ich werde dich nicht mehr aus den Händen geben und wenn ich mal ohne dich losziehen will, werde ich dich irgendwo sicher einschließen.

Ich überzeuge mich davon, dass du bei guter Gesundheit bist, robust, gut verarbeitet und für meine Bedürfnisse passend. Vielleicht werden einige deiner Geschwister ebenfalls in den großen Rucksäcken von Backpackern landen und die Welt entdecken?

Noch ist dein Bauch leer und sicher knurrt er. Ich werde dich füttern, hegen, mit mir herumtragen und nicht mehr aus den Augen lassen. Du warst nicht teuer und so leer auch nicht besonders wertvoll, aber schon bald wirst du reich sein. Reich an Erfahrungen, die ich mit dir teile, Tag für Tag.

Am Abend freue ich mich auf ein Omelett im Restaurant, was zu einer Probe meiner Geduld werden sollte. Ob es reine Missachtung vor einer allein reisenden Frau oder am live übertragenen Fußballspiel lag, welches in ohrenbetäubender Lautstärke über den Bildschirm flimmert, weiß ich nicht, aber niemand machte auch nur Anstalten, mir die Speisekarte zu bringen und mich zu bedienen. Ich denke, es liegt daran, dass man Touristen nicht überall gleich willkommen heißt. Ich überlege kurz, ein anderes Lokal aufzusuchen, beschließe aber, Sitzfleisch zu zeigen - meinen müden Füßen zuliebe. Natürlich blieb ich als blonde Frau in dem wenig besuchten Restaurant nicht unbemerkt. Ein Gast am Tisch hinter mir hat anscheinend Erbarmen und hetzt den Kellner auf mich. So muss er mich bedienen. Eigenartige Situation. Ich fühle mich etwas unbehaglich. Wird sich das hier im Land der Machos noch öfters so abspielen? Was erwartet mich da erst im Hinterland? Ich beschließe, noch offener auf die Menschen zuzugehen und solche Situationen im Keim zu ersticken. Das Omelett schmeckt dennoch.

Zurück im Hostel checke ich ein. Mein untergestelltes Gepäck ist noch vollständig erhalten. Ich bin positiv überrascht. Zeit zum Ausspannen. Ich teile mir das Zimmer mit drei Spanisch und zwei Englisch sprechenden Männern. Zum Glück alle zu jung, um zu schnarchen. Seit 39 Stunden konnte ich mich nicht auf einem Bett ausstrecken. Da fühlt sich sogar eine durchgelegene Matratze himmlisch an.

Montag, 12. November

Nach zwölf Stunden Schlaf erwache ich wegen der Unruhe, die meine Mitbewohner verbreiten, als sie aufbrechen. Ich schaue aus dem Fenster im vierten Stock. Die Sonne taucht alles in helles Licht, die ersten Menschen schlendern in der Fußgängerzone vor dem Hostel. Oder sind es die Letzten? In einer Stadt, die niemals schläft, weiß man das nie so genau.

Nach einem reichhaltigen Frühstück geht’s mit der U-Bahn nach Palermo Soho, einem Stadtteil von Buenos Aires, welchen ich vom Plaza Italia bis zum Plaza Cortazar zu Fuß erkunde. Trotz meiner Spanischkenntnisse komme ich weder bei Touristen noch bei Einheimischen weiter, als ich nach dem Weg frage. Den Trick, mit einem riesigen Stadtplan in der Hand um Hilfe zu fragen, während ein Komplize den hilfsbereiten Leuten das Geld aus der Tasche klaut, kennt hier wohl jeder. Jedenfalls halten die Menschen ihre Taschen fest umklammert, während sie an mir vorbei eilen.

Endlich bleibt ein sympathisches Pärchen der älteren Generation stehen. Vielleicht sind ihre Taschen leer. Der Mann steckt seinen Kopf mit mir in den großen Stadtplan, doch noch bevor er etwas sagen kann, hebt die Frau ihren Arm, deutet in eine Richtung und sagt, ich solle nach dem zweiten Bäcker links abbiegen und die große Kreuzung überqueren. Dann wäre ich im Zentrum von Palermo Soho.

Dort kommt mir ein Rudel kleiner bellender Fußhupen (umgangssprachlich: kleiner Hund) und halber Kälber entgegen, sodass ich vom Bürgersteig springen muss, um nicht genauso wie der Hundesitter in zwölf Leinen eingewickelt zu werden. Der Typ muss neben starken Nerven auch eine erstklassige Rumpfmuskulatur haben. Wie das wohl mit trainierten Huskys ausgehen würde? Ich erinnere mich an Spaziergänge mit den Huskys meiner Eventfirma in der Schweiz. Bereits bei zwei dieser Zugmaschinen musste ich die Fersen regelrecht in den Boden rammen und in Rücklage gehen, um nicht kopfüber im Kies zu landen. Die Städter von Buenos Aires scheinen Hunde als Haustiere zu lieben und gleichermaßen keine Zeit für sie zu haben. Die kleinen Hundewiesen in dieser großen Stadt sind Treffpunkt der Hundesitter und die einzigen Plätze, wo wildes Herumtoben erlaubt ist.

Palermo Soho ist ein interessantes Stadtviertel. Ein völliger Stilmix aus unterschiedlichen Gebäuden. Kolonialgebäude wechseln sich ab mit bunten, schrägen Hütten und gradlinigen Betonklötzen. Irgendwie sieht es aus wie ein Schulprojekt, in dem alle Materialien zu einem Stadtviertel zusammengebaut werden müssen. Leider darf man den Blick nicht zu lange vom Erdboden heben. Die vielen Hunde hinterlassen auch viele stinkende Tretminen auf den Wegen. Was denken die Argentinier wohl über uns, dass wir die warmen Häufchen mittlerweile ganz selbstverständlich mit einem Tütchen aufheben und bis zum nächsten Eimer mit uns herumtragen? Was denken die Hunde eigentlich darüber, dass ihr Herrchen ihnen die Scheiße hinterher räumt?

Ich bin sehr froh über meine morgendliche Entscheidung, die Wanderschuhe im Hostel ausdünsten zu lassen und gegen meine Turnschuhe zu tauschen. Der Verkehr in Buenos Aires ist Wahnsinn! Dass es eine lebhafte Stadt ist, habe ich vermutet. Dass ein Verkehrschaos herrscht, wohl auch. Dennoch bin ich platt als ich vor der Avenida 9 de Julio, einer der Hauptverkehrsadern von Buenos Aires, stehe. Mit 140 Metern Breite und sechzehn Fahrspuren, ist sie die breiteste Straße der Welt.

Selbst mit sportlichem Schuhwerk traue ich mich nur vorschriftsmäßig über die Ampeln und bin damit nicht alleine. Vor allem Touristen, aber auch viele Einheimische bevorzugen diese sichere Überquerung. Neben einem schnellen Schritt sollte man vor allem mit guten Augen gesegnet sein, denn oft ist die betreffende Ampel sechzehn Autospuren weit entfernt und deshalb kaum noch zu erkennen.

Vor mir läuft eine Gruppe elfjähriger Schulmädchen, welche offensichtlich auf dem Heimweg sind. Ich bin erstaunt über die Röcke der Schuluniform, die kurz unter der Pofalte enden. Vielleicht wurden die Röcke von den Mädchen auch am Bund umgeschlagen mit der Hoffnung auf bessere Noten oder wenigsten positiven Zuspruch der Jungs.

Wenn ich an alte Klassenfotos von mir denke, dann strahlte ich bis zum Alter von 12 Jahren noch mit Mickey-Mouse-Pulli in die Kamera. Direkt darauf folgten Schlaghosen und Oversize-T-Shirts. Knappe Röcke habe ich erst mit 23 Jahren für mich entdeckt, als ich im teils versnobten München, wo ich damals lebte, endlich auch die Figur dazu hatte.

Nach diesen Abenteuern im Stadtdschungel gönne ich mir am Abend eine riesige Hot Chocolate im Starbucks. Eigentlich mag ich Fast-Food-Ketten und solche internationalen Standardcafés nicht wirklich, aber hier kann ich mich unbemerkt auf einem gemütlichen Sessel zurückziehen und mich zum ersten Mal meinem Tagebuch widmen.

Dienstag, 13. November

Ich nutze den Tag für einen langen Spaziergang in den Stadtteil La Boca an die Vuelta de Rocha. Fasziniert schlendere ich zwischen den einfachen aber originellen Häusern umher, welche aus dem Blech abgewrackter Schiffe gebaut und mit Schiffslack bunt bemalt wurden. Sie bieten meinen Augen eine farbenfrohe Abwechslung zu den grauen Gassen. Jedes Haus leuchtet bis unters Dach in knalligen Farben, die Wände sind mit Figuren und irgendwelchem Zeug dekoriert, Musik dröhnt aus allen Richtungen, Tangotänzer gleiten über die Straßen, Souvenirläden lauem auf Touristen an jeder Ecke, ebenso die Straßenhunde und Taxifahrer.

Die Taxifahrt zurück zum Hostel ist eine aufregende Sache! Die großen Schlaglöcher im Asphalt und die langen Schlangen vor den Ampeln umgeht mein Fahrer einfach, indem er mit seinem schwarz-gelb en Ungetüm auf die Gegenfahrbahn wechselt. Laut hupende und schimpfende Autofahrer zeigen uns den Vogel und gestikulieren wild. „Alles Verrückte hier“, kommentiert mein Taxifahrer und nimmt dabei schon wieder jemanden die Vorfahrt.

„Wir sind alle Schumachers“, sagt er stolz. Mit weit aufgerissenen Augen sitze ich auf der Rückbank und versuche, die Geschehnisse so schnell zu verarbeiten, wie sie auf mich einprasseln. Ich gebe es auf. Ich wollte Argentinien erleben, so wie es ist. Und so ist es nun mal. Nachdem ich dem Fahrer ein paar Noten in die Hand gedrückt habe, streichelt er sie fast liebevoll und gibt mir eine davon wieder zurück. Ich verstehe nicht ganz. Der Taxifahrer hat meine erste, mir untergejubelte Blüte entlarvt. Hatte ich diese wirklich vorher schon oder ist dies ein Trick und der Taxifahrer hat den Ärmel voller Blüten und schüttelt diese bei Gelegenheit heraus? Auch später an der Kasse von McDonald’s bin ich sie nicht losgeworden. Somit bleibt für sie nur noch der Weg ins Tagebuch. Die Blüten erkennt man am fehlenden Relief am Anzug von Domingo Faustino Sarmiento und auch die Ziffern glänzen in einem anderen Goldton.

Nach ein paar Tagen in Buenos Aires reicht es mir.

Ich breche auf nach Paso Pino Hachado im Norden von Patagonien, wo ich die argentinische Sommersaison verbringen will. Dort, in der Abgeschiedenheit der Berge, erwartet mich hoffentlich eine gute Zeit.

Den großen Rucksack gepackt und geschultert mache ich mich wieder auf zum Busbahnhof Retiro. Eine lange Fahrt liegt vor mir. Der Busbahnhof ist riesig und sorgt zumindest bei mir für Verwirrung. Über 30 Veranstalter sitzen in kleinen Kabinen im Inneren der großen Halle und verkaufen Tickets für ihre Busgesellschaft in alle Richtungen. Ich habe übers Internet aus dem Hostel bereits gebucht. Das erschien mir übersichtlicher und zeitsparender. Bereits bei Buchung entscheidet man sich über die Kategorie für den Komfort und den Service im Bus. So kann eine Fahrt schnell das Doppelte kosten. Dazu kommt, dass auf manchen Strecken bis zu zwanzig Anbieter Fahrten anbieten. Da lohnt es sich zu vergleichen.

Fernreisebusse dienen in ganz Südamerika als Zugersatz und scheinen ihre Unpünktlichkeit von der Deutschen Bahn abgeschaut zu haben. Ich habe Lust, während der Wartezeit meine drei Brocken Spanisch zu praktizieren, und suche mir Opfer für ein Smalltalk. Endlich, mit vierzig Minuten Verspätung fährt mein Doppelstockbus ein. Auf ins Niemandsland. Vorfreude.

Die ganze obere Etage ist mit nur vier Fahrgästen belegt. Ich mache mich breit und fühl mich wie eine Königin. Im 'cama', der besten Sitzplatzkategorie zu reisen entspricht der Business Class im Flugzeug. Ein breiter Ledersitz mit festen Armlehnen, der sich fast bis zur waagerechten zurückstellen lässt, eben wie cama, ein Bett. Vor mir liegen zweiundzwanzig Stunden Busreise. An meinen Platz wandern nach und nach Zeitschriften, Wein, Kuchen, Tee, Pepsi, Abendessen und Frühstück. Ich schau mir die zwei gezeigten Filme an und versteck mich unter zwei Decken vor der Klimaanlage. Hinter zugezogenen Vorhängen verpass ich nur die unendliche trockene Weite der Pampa Argentiniens. Bei Tagesanbruch lass ich meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Dass sich über Stunden einmal nichts zwischen mir und dem Horizont befindet, das ist schon eine Weile her.

Ich denke an die stundenlangen Autofahrten durch das Outback Australiens vor zehn Jahren. Vor zehn Jahren? Man, wie die Zeit vergeht. Dieses work and travel Jahr in Australien war so spannend und prägend für meine Entwicklung und für die Freundschaft mit Dana und Stefanie. Ich hoffe wieder auf eine prägende Zeit und bin glücklich, dieses Abenteuer zu beginnen.

Mittwoch, 14. November

Mit knapp zwei Stunden Verspätung erreiche ich Zapala, wo ich in den nächsten Bus umsteigen muss. Ich zücke mein Handy, das ich in Buenos Aires mit einer argentinischen SIM-Karte ausgestattet habe. Ich gehöre noch zur altmodischen Handygeneration und so begleitet mich mein Nokia mit der „drei Buchstaben auf einer Taste“-Funktion ohne Internet und sonstige Spielereien. Nach der zweiten unbeantworteten SMS an Alejandro steigen meine Bedenken. Wird mich jemand am Busbahnhof in Las Lajas empfangen? Ich habe keine Ahnung, wo genau die kleine Ranch liegt und wie ich alleine dorthin finden soll. Ich lasse meinen Rucksack im Tourist Office am Busbahnhof und schlendere durch das Städtchen. Zapala hat so viel Charme wie verlassene Dörfer in der ehemaligen DDR direkt nach der Wende. Graue Hauswände, von denen der Putz abbröckelt, kaputte Straßenbegrenzungen und Bürgersteige und überhaupt frei von irgendwelchen liebevollen Details. Zurück im Busbahnhof, immer noch keine Antwort von Alejandro und auch meine Anrufe bleiben unbeantwortet. Die junge Dame aus dem Tourist Office überlässt mir ihren Computer, um eine Nachricht über Facebook an Alejandro zu schicken, auch wenn ich keine wirkliche Hoffnung habe, dass diese beantwortet wird. Ich verbringe eine Stunde auf dem Tourist Office, leiste der Dame Gesellschaft und stelle sicher, dass sie mich rechtzeitig in den richtigen Bus nach Las Lajas steckt.

Dort angekommen versagt dann auch noch mein Handy. Kein Netz! Ohne Handy-Empfang und ohne Empfangskomitee steh ich mit meinem Rucksack an der Haltestelle und frage mich, wie es weitergehen soll.

Auf der anderen Straßenseite sitzen drei ältere Männer vor einem kleinen Lebensmittelladen und starren mich an. Ich frage mich zur öffentlichen Telefonkabine durch, die im Schreibwarenladen steht. Endlich enden meine Anrufe nicht mehr im Nichts. Abgehackte Antworten, seine Festnetznummer wird offenbar auf Funk umgeleitet. „Hola Nicole.... krrrrkrrrr... piensabamanana... krrrrrr ... clientes ... krrrrr ... donde ... krrrrr......... over and out.“ Nach diesem unverständlichen Wirrwarr aus spanischen Wortbrocken übernimmt eine Frauenstimme das Gespräch mit mir, zu meinem Glück auf Englisch. Wenn ich es richtig verstanden habe, werde ich also doch noch heute abgeholt. Ich setze mich vor den Busbahnhof auf die Stufe und höre Musik mit meinem Handy. Zumindest dazu ist es noch zu gebrauchen.

Wenn Zapala schon nicht mein Fall war, so ist Las Lajas definitiv nichts für mich. Bretterbuden und triste Steinhäuser, eine Hauptstraße mit ein paar aufwendig bewässerten Bäumen, umringt von trockenem Staub und Müll und dies alles mitten in der Einöde. Von weiten macht es den Anschein einer Oase in der Steppe. Wer um Himmels willen ist auf die Idee gekommen, sich hier freiwillig niederzulassen? Obwohl ich grundsätzlich sehr anpassungsfähig bin, weiß ich nicht, ob ich mich jemals hier wohlfühlen kann. Na ja, ich werde meine nächsten Wochen ja nicht in Las Lajas verbringen, sondern auf einer coolen Farm.

Nach ungefähr vierzig Minuten fährt schließlich ein Auto vor. Ein Mann mit langen, schwarzen, leicht gewellten Haaren, kantigem Gesicht, kaputten Jeans und lässigem Gang steigt aus und begrüßt mich eilig, aber freudig. Alejandro wirkt wie der Abenteurer aus den Tagträumen meiner Kindheit und ist mir auf Anhieb sympathisch. Ein ungläubiger Blick auf meinen Rucksack und die Frage, wo denn der Rest sei von meinem Gepäck verunsichern mich. Hatte ich erwähnt, dass ich auf Reisen bin und nur ein paar Wochen oder Monate bei ihm bleiben werde?

Auf dem Weg nach Pino Hachado erzählt er mir alles, was er als wichtig erachtet. Ich erfahre alle Namen der Personen, auf die ich im Haus treffen werde, alle mit jeweiligem Verwandtschaftsgrad und kurzer Lebensgeschichte. Er erzählt mir, woher die jetzigen Gäste kommen, dass die Betten in den Gästehütten alle unterschiedlich groß sind, wann es das beste Weidegras gibt, wie man farblich die Zuckerdose von der Salzdose unterscheidet, wie viele Minuten der Fernseher laufen kann bei 2,5 Stunden Sonneneinstrahlung auf die Solarzelle vor dem Haus, wie weit der Wasserfilter im Fluss vom Haus entfernt ist und zu welchen Wasserlöchern und Bergpässen man schöne Reittouren unternehmen kann. Aus Alejandros Mund schießen die Wörter wie aus einem Maschinengewehr. Ich beobachte ihn und frage mich, wie er überhaupt atmet, wenn er doch ohne Pause auf mich einredet. Ich habe Mühe, ihm zu folgen, und versuche mich krampfhaft zu konzentrieren. Als ich merke, dass keine Fragen kommen, entspannt sich mein Gehirn und ich lasse den Monolog auf mich einrieseln wie die Vorlesungen während des Studiums. In der Wiederholung liegt die Kraft. Am liebsten würde ich mich auf dem Beifahrersitz zusammen rollen und die vierzig Minuten Fahrtzeit zum Schlafen nutzen. Das wäre jetzt genau das Richtige und wahrscheinlich würde ich wieder vor mich hin sabbern wie so oft, wenn ich im Sitzen einschlafe.

So wie früher in der Straßenbahn durch Leipzig. Mehr als einmal erwachte ich und wunderte mich, warum mein Shirt vom nass war. Bis ich schließlich realisierte, dass ich vor allen Leuten mit vom überhängendem Kopf sabbernd geschlafen hatte. Wie peinlich! Zudem hatte ich die Gabe, mehrmals an meiner Zielhaltestelle vorbei zu fahren, völlig im Tiefschlaf versunken. Sogar in der Gegenrichtung schaffte ich es nicht, zwei Haltestellen wach zu bleiben und verschlief oft abermals meinen Ausstieg. Die einzige Lösung war es dann jeweils, auszusteigen und die Haltestellen zurück nach Hause zu spazieren.

Angekommen!

In Pino Hachado treffe ich auf mehr Leute als erwartet. Hätte ich mal Alejandros Ausführungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, dann wüsste ich jetzt vielleicht sogar, wie die alle heißen.

Neben zwei deutschen Reitgästen treffe ich auf zwei langjährige Freunde von Alejandro. Nach und nach lerne ich alle kennen. Am meisten bin ich neugierig auf die Menschen, die konstant hier leben. Langzeit-Volunteer Anabel aus Spanien, die ich bereits vom Radiofunk kenne, und Alejandros Cousin Diego, der erst vor ein paar Monaten aus Gran Canaria nach Argentinien gezogen ist, um Alejandro hier zu unterstützen. Neben der Kocherei während der Reittouren möchte er das Marketing für „Horses & Huskies Patagonia“ betreiben. Diego ist ein ruhiger und besonnener Typ und hat schon so einiges in seinem Leben angestellt. Er leitete eine große Telefongesellschaft auf Gran Canaria, war für einige Zeit Schiffskoch und arbeitet zudem als professioneller Fotograf. Somit kann er seinen Arbeitsplatz frei wählen. Pferde sind nicht so seine Passion, er bevorzugt mehr PS und vier Räder.

Diego ist etwas kleiner als ich, etwas schlanker als ich, hat die bereits ergrauten Haare bis auf ein paar Millimeter abrasiert und trägt einen Dreitagebart und eine Brille, die ihn irgendwie intellektuell wirken lässt. Steht ihm gut. Zwischen seine Lippen klemmt er sich gern Zigaretten und ab und an auch mal das Saxofon. Anabel und Diego sprechen zu meiner Erleichterung etwas Englisch.

Im Haus finde ich mich in einer Wild-West-Filmkulisse wieder. Ich bin wirklich tief beeindruckt und positiv überrascht von der handwerklichen Arbeit, die in dem Haus steckt. Jeder Stuhl und jeder Tisch, das Sofa, die Betten, die Küche, einfach alles ist mit einfachsten Materialien selbst gebaut. In diesem Haus steckt Leben und Gemütlichkeit. Ich fühle mich auf Anhieb wohl. Mein Blick fällt öfters auf Alejandros kräftige Hände und muskulösen Oberarme. Er kann sicher gut zupacken und hart arbeiten. Es wäre schön, ihn dabei zu beobachten.

Das Wasser im Haus kommt aus einem Bach, der 600 Meter entfernt fließt, und wird unterirdisch in selbstverlegten Wasserrohren zu jeder der vier Hütten geleitet. Der Strom von einer kleinen Solarzelle vor dem Haus wird in drei zusammengeschlossenen Autobatterien unter der Sitzbank am Esstisch gespeichert. Telefonsignal gibt es hier nicht und an Internet ist gar nicht zu denken. Gasflaschen heizen das Wasser auf und bringen den Tiefkühler zum Arbeiten. Einen Kühlschrank gibt es nicht, da kein Strom dafür vorhanden ist.

Ich komme gerade richtig zum Essen. Mein Timing gefällt mir. Es gibt Asado, ein typisches Grillgericht mit verschiedenen Fleischsorten, einer Art Blutwurst und wahlweise geschnittenen Kartoffeln oder Süßkartoffeln. Das Asado kommt direkt aus dem Blechofen vor dem Haus, wie alles, Marke Eigenbau.

Neben dem Haupthaus stehen auf dem Grundstück noch drei weitere einfache Hütten aus Stein und Holz. Zwei davon, unterschiedlich groß, werden an Gäste vermietet. Über der dritten Hütte, der Sattelkammer, befindet sich ein weiterer Raum, das Nachtlager von Anabel und mir. Unsere kleine Hütte erinnert mich an alte Holzfällerhäuser im Yukon, Kanadas Westen.

Noch während des Studiums, im Jahr 1999, habe ich mit meinem drei Jahre älteren Bruder eine abenteuerliche Reise ins kanadische Yukon Territory unternommen. Ich war damals neunzehn Jahre alt und meine Eltern vom Gedanken nicht sonderlich begeistert, uns beide in die Wildnis zu Bären, Wölfen, Unwettern und Strömungen zu lassen. Wir versprachen, vor Ort ein Bärenspray und ein Satellitentelefon zu kaufen und uns direkt bei Abfahrt in Whitehorse und Ankunft in Dawson City zu melden. Dazwischen liegen 800 Flusskilometer auf dem Yukon River, der sich durch einsame Wälder schlängelt. Der Bootsvermieter versprach uns bei der Kanumiete auch die Abholung in der alten Goldgräberstadt Dawson City. Beim täglichen Paddeln, Treibenlassen und Zelten in der wilden Natur, fern ab von Zivilisation, Geräuschen und Menschen wurde ich eins mit dem Fluss, mit der Luft, mit jedem Baum und mit mir selbst. Unterwegs begegneten wir alten Schaufelraddampfern, welche am Rande des Flusses liegengeblieben sind, indianischen Familien in ihren kleinen Dörfern und abgelegenen Holzfällerhütten in Flussnähe. An einer Hütte war ein Schild angebracht. Der Besitzer wurde vor zwei Jahren von einem Bären angefallen und getötet. Die Hütte stand offen. Wir schauten uns um. Alles wirkte noch so, als würde gleich jemand durch die Tür kommen. Einzig die Staubschicht verriet, dass Teller und Tassen vor langer Zeit das letzte Mal bewegt wurden. In der Nähe einer weiteren Hütte baumelte ein Zettel von Flussreisenden, welche dort vor ein paar Tagen nachts von einem Bären überfallen wurden. Zerkaute Ketchupflaschen, durchbissene Kochtöpfe und Stofffetzen drum herum erzählten ihre Geschichte von selbst. Wir hatten keine Wahl, mussten dort übernachten. Es war bereits dunkel und eine Weiterfahrt auf dem Fluss erschien uns noch gefährlicher. Wir hielten diesmal extrem viel Abstand zwischen dem Ort, wo wir ein Feuer machten, und dem Ort, wo wir unser Zelt aufschlugen. Selbst die Kleidung mit Essensgerüchen lagerten wir weit weg vom Zelt. Das war eine ziemlich schlaflose Nacht. Zwischen meinem Bruder und mir lagen das große Buschmesser, eine Trillerpfeife und das Bärenspray griffbereit. Ein Satellitentelefon hatten wir nie gekauft.

Mit Bären muss ich hier nicht rechnen, aber sonst ist die karge Hütte wirklich sehr ähnlich wie jene am Yukon. Am Kopfende des größeren Bettes steht ein kleiner Tisch mit einer Sitzbank, gerade mal einen halben Meter lang. In der anderen Ecke eine kleine Küchenplatte mit Spüle und ein paar alte Teller und Blechtassen. Der kleine Ofen mitten im Raum bietet nur Platz für ein paar dünne Holzscheite aber selbst die sollten reichen für den winzigen Raum. Eine durch eine Tür getrennte Toilette mit einem Wassereimer zum Spülen gibt wenigstens ein bisschen Komfort. Ich beziehe das wesentlich schmalere Bett unter der Dachschräge. Eine Isomatte in einem Zelt hätte ich diesem engen Bett und der durchgelegenen Matratze darauf gern vorgezogen. Doch eigentlich war das ja genau das Ziel dieser Reise: das Leben auf der kleinen Farm authentisch kennenzulernen und darin einzutauchen, weg von gewohntem Komfort.

Donnerstag, 15. November

Die wärmenden Sonnenstrahlen am Morgen locken mich früh raus. Meine Hüftknochen schmerzen vom harten Bett. Anabel liegt noch friedlich in ihre Decke gekuschelt. Ich gehe hinaus und setze mich auf die Sitzbank draußen am Haupthaus, wo Diego mir einen guten Kaffee serviert, der meine Geister wieder erwachen lässt. Ich gebe mir die Zeit zu realisieren, dass ich nun wirklich hier bin.

Kurze Zeit später kommt auch Anabel mit schläfrigen Augen aus unserem Nachtlager. Während die Männer auf einer zwischen zwei Bäume gespannten Leine die Wäsche zum Trocknen aufhängen, befreien Anabel und ich in stundenlanger Arbeit die 12 Pferde von Winterfilz und Riesenrastas in Schweif und Mähne. Erst einige Tage zuvor wurden sie von Alejandro und seinen Freunden Sergio und José von ihrem 50 km entfernten Winterquartier nach Pino Hachado getrieben. Ein halbes Jahr waren sie auf einer riesigen Ranch sich selbst überlassen und durften ihrem freien, aber auch harten Pferdeleben frönen.

Sie scheinen diese Zeit gut überstanden zu haben, sind gut genährt und wirken auf den ersten Blick gesund. Nichts wäre für mich schlimmer, als mit dem Gegenteil konfrontiert zu sein. Dass diese Pferde jetzt wieder für Alejandro arbeiten müssen, ist mir klar. Umso schöner ist es zu sehen, dass er einen sehr liebevollen Umgang mit seinen Pferden pflegt und ihnen respektvoll begegnet.

Sergio scheint ein sehr guter Freund von Alejandro zu sein. Sie kennen sich seit vielen Jahrzehnten und jedes Jahr kommt Sergio aus Buenos Aires, um mit Alejandro die Pferde von ihrem Winterlager zu Alejandros Grundstück in Pino Hachado zu treiben. Obwohl beide ein vollkommen unterschiedliches Leben führen, verbindet sie eine lange Geschichte und tiefe Verbundenheit. Die beiden lassen einen lustigen Spruch nach dem anderen vom Stapel und die Stimmung ist super im Haus. Es wird herzlich gelacht. Ich lache mit, auch wenn ich oft nicht weiß worüber. Sich mit fünf verstanden Wörtern pro Joke denn Sinn und die Pointe zusammenzureimen, bedarf einer Menge Fantasie. Mit meinem begrenzten Vokabelschatz verstehe ich immer sehr absonderliche Sachen. Am Abend verlässt uns Sergio und fährt zurück in seine 1500 km entfernte Heimat Buenos Aires. Mit ihm verschwindet auch die rein spanische Konversation im Haus. Wir bleiben zu viert zurück.

Abends bereitet Diego ein leckeres, unspektakuläres Essen zu: Pasta mit selbstgemachter Tomatensoße. Ich fühle mich nach dem ersten Tag schon sehr wohl und fast heimisch. Die Leute hier sind super und das Ambiente genau das, was ich mir gewünscht hab. Ich bin glücklich. Später, nach einer wunderbar warmen Dusche zwischen Steinwänden stelle ich meine Zahnbürste zu den anderen in ein Glas am Waschbecken. Das entlockt mir ein Lächeln. Ich bin Teilzeit-Mitglied dieser kleinen Gemeinschaft mitten in der Weite Patagoniens.

Freitag, 16. November

Vom Sonnenbrand zu Frostbeulen geht es hier sehr schnell, zu schnell für meinen Geschmack. Bei acht Grad Innentemperatur habe ich mit zwei Steppdecken geschlafen, die Nase rot vor Kälte. Durch die Bretterwände und das Dach unseres kleinen Refugiums pfeift die ganze Nacht der Wind und ich bin froh, dass die Nacht vorbei ist und ich mich wieder in das warme Haus flüchten kann.

Der zentrale Ofen ist schnell eingeheizt und ich beschließe, neben ein paar wenigen Arbeiten, einen gemütlichen Tag mit Tortas Fritas und Mate zu verbringen. Tortas Fritas sind selbstgemachte Teigwaren, die in heißem Schweinefett schwimmen, bevor sie herzhaft, süß oder neutral verschlungen werden. Das Nationalgetränk Mate als Tee zu bezeichnen, trifft es nicht ganz. Es ist ein mit Kräutern vollgestopftes Holzgefäß, in welches nach und nach ein Schluck 83 Grad warmes Wasser gefüllt wird, um dann der Runde nach von jedem Einzelnen durch ein Metallröhrchen schluckweise ausgeschlürft zu werden. Wehe, man bewegt das einmal in den Kräutern versenkte und platzierte Röhrchen, schüttet kochendes Wasser darüber oder bedankt sich zu früh! Beim Mate trinken gibt es einen Initiator, an welchen das Gefäß auch immer wortlos nach dem letzten Schluck zurückgegeben wird. Er ist der Einzige, der dieses dann wieder befüllt und entscheidet, wer als Nächster am Röhrchen nuckeln darf. Zum Gebrauch von Mate gibt es so viele Regeln, dass diese in einer Art Mate-Bibel festgehalten sind. Mit Nachdruck wurde ich mit diesen nach und nach vertraut gemacht und bekam immer wieder einen Klaps auf die Hände. Aua.

Draußen nichts als Regen und Nebel. Anabel und Alejandro rücken zum Einkaufen nach Las Lajas aus. Ich bleibe alleine mit Diego und genieße unsere Gespräche auf Spanisch. Ich bin stolz auf mich. Keiner meiner Sprachlehrer hätte zu Schulzeiten gedacht, dass ich mal einen zusammenhängenden Satz in einer Fremdsprache über die Lippen bekomme. Ich glaube, auf dem ganzen europäischen Kontinent gab es keinen Schüler, der weniger Begabung für eine Fremdsprache aufbrachte als ich. Außer vielleicht mein Vater. Als ich nach dem Mauerfall und der Wende aufs Gymnasium wechselte, bin ich fast an den Sprachen gescheitert. Nach einem Jahr in der 6. Klasse habe ich einen lange einstudierten Vortrag gehalten von genau fünf zusammenhängenden Sätzen. Meine damalige Englischlehrerin schaute mich mit großen Augen an und Sekunden nachdem sich meine Lippen wieder verschlossen hatten, setzte sie mit den Worten ein: „Ich habe dich seit elf Monaten jetzt das erste Mal englisch reden gehört.“ Ich war eben wirklich eine Meisterin darin, mich durch die Schulzeit zu mogeln.

Samstag, 17. November

Sommer, Sonne, Sonnenschein. Ich plane mit Anabel einen Reitausflug auf Chancho und Saddam.

Chancho, übersetzt Schwein, könnte auf ein sehr gefräßiges Pferd deuten, allerdings sieht es nicht so aus. Was eine Menschenseele dazu bewegt, ein Pferd Saddam zu nennen, kann ich mir nicht vorstellen. Und was mich auf Saddam wohl erwartet? Allerdings kann es sich ein touristisches Unternehmen, und sei es noch so klein und abgelegen wie das von Alejandro, nicht leisten, regelmäßig verunglückte Touristen zu beerdigen. Dafür wäre auch der Boden zu hart und zu steinig.

Nach einer kurzen Einweisung vom Chef übernehme ich das Satteln selbst. Ich bin schließlich eine erfahrene Reiterin und lasse mir kein gesatteltes Pferd vor die Nase stellen. Allerdings macht mir die fremdartige Ausrüstung zu schaffen. Und so kommt es, wie es kommen musste: Als ich mich zur Seite herunterbeuge, um am Steigbügel von Anabel etwas zu entwirren, folgt mir mein Sattel. Bereits nach 50 Metern hänge ich auf der Seite am Pferdebauch.

Die Mimik von Saddam spricht für sich, als er sich nach mir umdreht und mir einen ungläubigen Blick zuwirft. „Was für ein Gringo!“, steht darin geschrieben, als ich ganz absteige und zur neuen Sattelprozedur ansetze. Erst die Filzdecke, dann die zwei zusammengefalteten Wolldecken, der leichte einfache Ledersattel drauf, festziehen, verschnüren, Schaffell drüber und wieder festziehen und verschnüren. Dies hat so viel mit meiner gewohnten englischen Satteltechnik zu tun wie die Benutzung einer Tintenfeder mit dem Hämmern auf eine Tastatur. Diesmal bleibe ich tatsächlich oben.

Der Ort Pino Hachado besteht neben unserer Ranch aus einer Handvoll verstreuter Hütten von Viehbesitzern, welche von der Regierung das Land zur Nutzung überlassen bekommen haben. „Viehbesitzer nennt man hier Pastoren“, klärt mich Anabel auf. Bereits bei unserem ersten Ausflug begegnen wir einigen von ihnen. Die Pastoren sind meist indigener Herkunft, teilweise auch mit europäischen Genen vermischt und leben hier in kleinen, sehr einfachen Hütten aus Bretterwänden und Blechdach. Einige Häuser haben auch gemauerte Wände und sogar Fenster. Ihre Viehherden durchstreifen freilaufend das Weideland oder grasen auf großen eingezäunten Grundstücken friedlich vor sich hin. Um die Tiere zusammen zu treiben und zu kontrollieren, besitzt jeder Pastor zwei bis drei Pferde, welche gleichzeitig der ganze Stolz und Status symbol sind. Der Unterschied zu einem Gaucho besteht darin, dass Gauchos reisende nomadenähnliche Rinderzüchter waren, die in der Einsamkeit der weiten Pampa, ähnlich den nordamerikanischen Cowboys, gutes Gras und ihre Erfüllung finden.

Als Gegenleistung für das von der Regierung überlassene Land müssen die Pastoren hier neben der Viehzucht touristische Einrichtungen anbieten. So nennt sich das eine Grundstück Campingplatz und besteht aus einer Wiese, auf der Ziegen und Rinder weiden. Ohne sanitäre Einrichtung, versteht sich. Ein anderer Nachbar hat zwei sehr einfache Holzhütten gebaut, die zu vermieten sind. José, Alejandros Gehilfe bei den langen Reittouren, betrieb früher mit seiner Frau am Grenzübergang eine Art Restaurant, das sie jedoch wegen der Erweiterung der Straße wieder aufgeben mussten.

Warum die Regierung wollte, dass hier ein touristisches Angebot geschaffen wird, liegt auf der Hand. Pino Hachado ist nur zwei Kilometer vom Grenzübergang Paso Pino Hachado entfernt und dieser schließt ohne Ausnahme pünktlich um 19 Uhr jeden Tag. Dann bleibt einem die Wahl, im Auto zu schlafen, in die „Oase“ Las Lajas fünfzig Kilometer zurückzufahren oder sogar die Reise zurück in das einhundert Kilometer entfernte Zapala anzutreten. Trotzdem passt das gesamte touristische Angebot von Las Lajas in eine Streichholzschachtel.

Wir streifen mit Chancho und Saddam über Trampelpfade durch die hügelige Landschaft, durch Flüsse und Bäche, vorbei an zerfallenen Holzhütten, umringt von teilweise dichtem Buschwerk und mächtigen Araukarien. Diese bis zu fünfzig Meter hohen und imposanten Bäume sehen aus der Ferne aus wie Tannen, haben aber bei näherer Betrachtung dichte dreieckige und spitzige Blätter. Der Baumbestand erinnert an die urzeitliche Vegetation zur Zeit der Dinosaurier. Die Landschaft ist beeindruckend und entfesselt in mir Energien. Ich fühle mich frei und privilegiert hier zu sein.

Saddam ist ein kleines, manchmal schreckhaftes und meist lauffaules Pferd, das gern den direkten Weg nimmt und auf Umwege verzichten will. Kommt er mit einer Situation nicht klar und geht ihm etwas gegen den Strich, rebelliert er wie wild. Daher stammt vermutlich auch sein Name. Trotzdem mag ich Saddam. Nichts schöner, als Lebewesen um mich zu haben, die auch einen Knall haben oder ausgeprägte Macken vorweisen. Da mache ich keine Unterschiede zwischen Zweibeinern und Vierbeinern.

Nach unserem Ritt bringen wir unsere Pferde zu den anderen auf die Koppel unten am Fluss, wo Alejandro ein zusätzliches eingezäuntes Stück Land besitzt. Das Gras ist dort saftiger und über die lange Sommersaison brauchen die Pferde viel zu fressen. Außerdem ist die Weide dort im Tal windgeschützter, was in Patagonien durchaus von Bedeutung ist.

Zurück im Haus mache ich es mir auf dem hölzernen Sofa bequem. Mir fallen zwei Fotoalben in die Hände. Diese dokumentieren die Bauabschnitte der Hütten und das Leben vor zehn Jahren, als Alejandros Frau Alma mit den beiden Jungs hier lebte. Alejandro hat mir erzählt, dass Alma mit den Kindern nach Las Lajas gezogen ist, wo der Jüngste unbeschwert zur Schule gelangen und Alma einem Job als Musiklehrerin nachgehen kann. Der ältere Sohn studiert inzwischen in Buenos Aires. Die drei Katzen und der riesige Rottweiler-Schäferhund Mischling Pepe sind hier bei ihm geblieben.

Gäste kommen und gehen, Volunteer Anabel ist seit Monaten ständige Gesellschaft in Alejandros Leben. Besonders heute fällt mir auf, dass zwischen den beiden mal etwas lief oder noch läuft. Sie berühren sich oft beiläufig sehr vertraut und scherzen flirtend herum. Ich hinterfrage es nicht weiter, doch Anabel möchte mir dies nicht verheimlichen. Abends in unserem kleinen Zimmerchen über der Sattelkammer liegen Anabel und ich in unsere Decken gewickelt und sie legt die Situation offen. Sie ist bereits seit neun Monaten auf der Ranch, empfand immer mehr Zuneigung zu Alejandro und wurde eines Tages von ihm beim Beziehen der Gästebetten überrumpelt. Von ihm überrumpelt zu werden – ich kann mir wirklich Schlimmeres vorstellen und schmunzle in mich hinein.

Frauengespräche in dieser Abgelegenheit geben einem etwas Vertrautes und es gibt immer was zu lachen. Anabel ist eine wichtige Gesellschaft für mich geworden. Sie hat viel zu erzählen, hat eine bewegte Vergangenheit und interessante Einstellungen zum Leben. Als Hippiegirl mit Rastas und weiter bunter Kleidung lebte sie bereits mehrere Jahre im Wohnwagen und verdiente etwas Geld mit dem Verkauf selbstgefertigter Ledertaschen auf Märkten und auf der Straße. Als sensibler emotionaler Freidenker mit