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In der Musikindustrie gibt es heutzutage wohl kein größeres Mysterium als Rick Rubin. Eins dürfte aber klar sein: Die Platten, die er produziert, sind klanglich und stilistisch über jede Kritik erhaben. Rubin hat sich nie mit einem Nischendasein zufrieden gegeben, stattdessen hat er stets eine Form künstlerischer Zusammenarbeit gesucht, die originell ist und die den Künstlern oftmals zum Durchbruch verholfen hat, sowohl, was den kommerziellen Erfolg, als auch, was das Lob der Kritiker anbelangt. Seine Karriere begann im Hip-Hop: 1984 gründete Rubin zusammen mit Russell Simmons Def Jam Records, sie produzierten LL Cool J’s Radio und das wegweisende Beastie Boys-Album Licensed to Ill von 1986: Es war nicht nur das erste Nr. 1-Album im Rap, es gilt darüber hinaus als Meilenstein für die Entwicklung des Hip-Hop hin zum kommerziellen Medium.
Rubin gelingt es als Produzent aber nicht nur, neue Bands in die Spur zu bringen, schon früh in seiner Karriere stellte er unter Beweis, dass er imstande ist, Altstars neues Leben einzuhauchen. So ermöglichte er es Aerosmith, mit dem Remake ihres Songs »Walk This Way« ein neues Kapitel ihrer Bandgeschichte aufzuschlagen: 1986 nahm Run-DMC den Song in Kooperation mit Aerosmith neu auf.
Rubin weigerte sich, auf Nummer sicher zu gehen, als er von Rap zu Metal wechselte, Def Jam verließ und sein eigenes Label Def American gründete. Er nahm bahnbrechende Acts wie Danzig und Slayer unter Vertrag und produzierte deren Alben. Rubins untrüglicher Geschmack tritt nirgends deutlicher zutage als im Album Less Than Zero aus dem Jahr 1987, dem Soundtrack zum gleichnamigen Film.
Darüber hinaus zeigte er auch als Artist and Repertoire-Manager (A&R), was er draufhatte: In der Funktion eines ausführenden Produzenten betreute er umstrittene, aber kommerziell erfolgreiche Bands wie Public Enemy, die Geto Boys und den Comedian Andrew »Dice« Clay.
Nach seiner Arbeit an dem äußerst erfolgreichen und von der Kritik hochgelobten Album Blood Sugar Sex Magik von den Red Hot Chili Peppers war Rubin gerade einmal sieben Jahre im Musikgeschäft, galt aber längst als lebende Legende – nicht zuletzt deshalb, weil es ihm gelang, den Chili Peppers den Weg in den Mainstream zu ebnen. Zwar respektierte er die musikalischen Wurzeln der Band, pushte die Formation aber im selben Zug in neue Sphären.
In den frühen 1990ern war er mit Legenden wie Mick Jagger, AC/DC und Tom Petty im Studio, doch dürften es wohl die Aufnahmen mit Johnny Cash sein, die bis heute als Rubins verblüffendste und durchdachteste Zusammenarbeit im Gedächtnis geblieben sind. Die Partnerschaft begann 1993 und verlieh Cash eine neue künstlerische Glaubwürdigkeit. Aufgrund des kommerziellen Erfolgs von Cashs American Recordings-Reihe konnte Rubin sich fortan aussuchen, mit wem er zusammenarbeiten wollte, und er entschied sich für so unterschiedliche Künstler wie Donovan, Rancid, Sheryl Crow und System of a Down, kehrte aber auch zu den Bands zurück, die er schon früher produziert hatte – am herausragendsten dabei wohl zweifellos Californication von den Red Hot Chili Peppers.
Spätestens zur Jahrtausendwende hatte Rubin so viele Musikgenres neu erfunden oder neu definiert, dass man ihn nicht mehr nur auf einen Stil festlegen konnte – der Traum eines jeden Produzenten! Auch wenn Rubin als Person schwer fassbar ist, so erkannten die Kritiker schnell, was für ein Vermächtnis dieser Produzent hinterlassen würde:
Die Tageszeitung USA Today schrieb in diesem Zusammenhang: »Rick Rubin lässt sich wahrscheinlich genauso wenig in eine Schublade stecken wie die Liste der Musiktitel, die er produziert hat.« Der Rolling Stone bezeichnet ihn als »den erfolgreichsten Produzenten aller Genres«, und das legendäre Magazin Esquire kommt zu dem Schluss, es gebe »vier Worte, auf die wir vertrauen: Produziert von Rick Rubin.«
Tatsächlich brachten ihn das Lob und die Verkaufszahlen nicht von dem Kurs ab, den er sich einmal gesetzt hatte, widmete er sich doch auch weiterhin einem Künstler nach dem anderen. 2002 hatte die von Rubin produzierte Alternative-Rock-Band Audioslave ihr Debüt, und wieder einmal zeigte es sich, dass Rubin aus dem guten alten Rock’n’Roll doch noch etwas herauskitzeln konnte: die Supergroup. 2005 pries MTV ihn als »den bedeutendsten Produzenten der letzten 20 Jahre«, und Rubin bewies immer wieder aufs Neue, dass er diesem Titel auch gerecht wurde. Er holte nicht nur den legendären Popsänger und Crooner Neil Diamond zurück ins Rampenlicht, sondern unterstützte auch Justin Timberlake bei dessen Solo-Karriere und arbeitete mit den Dixie Chicks an ihrem Comeback-Album Taking the Long Way.
Seit 1996 wurde Rubin fünfmal für den Grammy Award nominiert und davon bisher zweimal, 2007 und 2009, zum Produzenten des Jahres gekürt. Bei seiner ersten Preisverleihung hatte Rubin – als erklärter Workaholic und unnahbarer Einzelgänger – zu viel um die Ohren und erschien nicht zur Preisverleihung. Genau zu dieser Zeit arbeitete er intensiv an dem Album Minutes to Midnight von Linkin Park. Wie nicht anders zu erwarten, wurde das Album gleich nach dem Erscheinen von der Kritik hochgelobt und ein kommerzieller Erfolg. Doch da hatte Rubin sein Augenmerk bereits auf Projekte gerichtet, die ihn aus Sicht einiger Kritiker vor große Herausforderungen stellen würden: Er produzierte die Heavy Metal-Giganten Metallica und nahm den Posten als Co-Chef bei Columbia Records an. Diese illustre Reihe setzte er 2021 mit der schon jetzt legendären Zusammenarbeit mit Paul McCartney fort.
Der wohl legendärste Plattenproduzent seiner Generation wird sich sicherlich auch weiterhin dem Musikgeschäft widmen, das er mit seiner Arbeit maßgeblich beeinflusst, ja geradezu revolutioniert hat. Rick Rubin. Genie im Studio blickt zurück auf mehr als drei Jahrzehnte klanglicher Überlegenheit und bietet sozusagen die Geschichten zu Rubins ›Greatest Hits‹.
»Der Stil meiner Arbeit als Produzent umfasst, im Einklang mit allem zu sein. Das gelingt einem nicht, indem man Musik nur hört. Wirklich wichtig ist der Vorkampf. Filme zum Beispiel. Alles im Grunde. Du musst Alben so machen, wie du dein eigenes Leben gestaltest.«
Rick Rubin
Wenn Rick Rubin das Studio betritt, hat er das Ziel, Musik aufzunehmen, und zwar in »ihrer elementaren und reinsten Form« – kein Schnickschnack, nur Weizen, keine Spreu. »Als ich anfing, Platten zu produzieren, war Minimalismus mein Ding«, erklärte er gegenüber Music Wizard: »Auf meiner ersten Platte steht nicht etwa: ›Produziert von Rick Rubin‹, sondern: ›Reduziert von Rick Rubin‹ … Es gehört immer noch zu mir, mich nicht auf zusätzliches Zeug einzulassen, das nichts zur Produktion beiträgt, vielmehr möchte ich zum Kern dessen vordringen, was Musik ausmacht … Du willst so etwas wie eine Beziehung zu dem Künstler spüren, wenn du seine Scheibe zu Ende gehört hast.«
Diese Beziehung zwischen Hörer und Künstler beginnt mit Rubins eigener Beziehung zu dem jeweiligen Künstler. Wie er 2007 auf mtv.com ausführte: »Vor allem und am meisten muss ich einen Künstler als Menschen mögen. Dann plaudere ich mit ihnen und höre mir an, wie sie sich das Projekt vorstellen, was für Visionen sie haben. Ich verschaffe mir einen Überblick über das, was gerade in ihrem Leben passiert, und schaue dann, ob Potential für ein zukünftiges großes Werk vorhanden ist.« Dieses Potential ausfindig zu machen und abzuwägen, wie man es realisieren könnte, »kann am meisten Spaß machen«, wie er Mix in einem Interview aus dem Jahr 2000 erzählte. »Und der eigentliche Prozess ist die tatsächliche Arbeit, es bis dahin zu schaffen. Hat man es einmal im Kopf gehört, dann ist es so, als wäre man ein Zimmermann – man versucht, das zu erbauen, man weiß aber vorher schon, wie es sein wird.«
Rubin beschreibt den Job eines Produzenten so: »Man sollte herausfinden, was [an einer Band] gut ist, und das dann in den Mittelpunkt stellen. Und natürlich bin ich daran beteiligt, wie der Sound ist. Wenn ich aber eine Platte produziere, fühlt es sich eher so an, als würde ich mich einer Band anschließen. Doch ich bin anders als die Mitglieder der Band, die alle ihre speziellen Pläne haben. Der Bassist kümmert sich um den Bass-Part; jeder in der Band kümmert sich um seinen eigenen Part. Ich bin das einzige Mitglied der Band, das sich nicht um derlei Dinge zu scheren braucht. Ich kümmere mich nur darum, dass die ganze Sache so gut ist wie möglich.« Obwohl Rubin einmal in einem Interview für die Washington Post behauptet hat, er wisse nicht einmal, »was ein traditioneller Produzent eigentlich ist oder tut«, ist für ihn ganz klar, was er zu seiner Arbeit beiträgt. »Bei dem Job habe ich das Gefühl, dass ich wie ein Coach bin, der dafür sorgt, dass alle eine gute Einstellung zu ihrer Arbeit haben, und Vertrauen aufbaut. Man möchte an einen Punkt gelangen, an dem man alles offen aussprechen und frei über alles reden kann. Da muss eine richtige Bindung sein. Mein Ziel ist es, mich selbst zurückzunehmen und die Leute, mit denen ich arbeite, dazu zu bringen, ihr Bestes zu sein.«
Da Rubin ein viel gefragter Produzent ist, muss er die Projekte zunächst vorab beurteilen, um sagen zu können »ob Potential vorhanden ist und ob es sich lohnt, in das Projekt zu investieren. Jeder Fall ist wieder anders, und zunächst gibt es wenig, das mir auf Anhieb gefällt. Nur wenige Alben kommen auf den Markt, die wirklich mein Interesse wecken, ich sehe nur sehr wenige Bands, die mich überhaupt interessieren. Ich will ehrlich sein, ich denke oft nicht groß darüber nach. Ich tue es einfach. Oft bin ich überarbeitet. Ich bin ein Workaholic.« Offenbar ist es nicht leicht, Rubins Interesse zu wecken, wie er es für das Shark Magazine ausdrückt: »Ich vermute, das gewöhnliche Zeug langweilt mich. Entweder fasziniert mich etwas, oder es spricht mich überhaupt nicht an. Mittelmäßigkeit kann ich nicht ausstehen. Ich würde nie über etwas sagen: ›Oh, das war okay.‹ Ich hasse es oder ich liebe es.« Sich selbst beschreibt er als jemanden, der »sich von bizarren Dingen angezogen fühlt. Ich bezeichne diese Dinge dann oft als progressiv … ich mag extreme Sachen – gute und schlechte. Es gefällt mir, wenn die Leute an ihre Grenzen gehen, ganz abgesehen davon, ob ich damit einverstanden bin oder nicht. Meiner Ansicht nach ist das die einzige Möglichkeit, neue Dinge auszuloten.«
Rubin ist dafür berühmt, zwischen den musikalischen Genres hin und her zu wechseln, aus dieser Herangehensweise zieht er einen Teil seiner kreativen Energie. »Ich mag die Vielfalt, wenn es um Stilfragen geht. Dann habe ich das Gefühl, wach zu bleiben. Ich arbeite viel, aber ich bleibe selten stecken, denn wann immer ich ins Studio gehe und es wieder einmal mit einem völlig anderen Künstler zu tun habe, fange ich sozusagen wieder ganz von vorn an und versuche, mich ganz auf das einzulassen, was dieser Künstler vorhat. Würde ich nur Hip-Hop-Alben oder nur Metal-Alben produzieren, würden die Dinge einfach nur ihren Lauf nehmen«, sagte er mtv.com.
Rubin führt diesen Punkt für Music Wizard weiter aus und bekennt, dass er manchmal von Künstlern scharf kritisiert wird, wenn er sich anderen Dingen zuwendet. »Fast immer, wenn ich mit einem besonderen Genre Erfolg hatte, läuft es darauf hinaus, dass ich wieder etwas Neues in Angriff nehme, das Gegenteil davon, bei dem zu bleiben, mit dem ich gerade Erfolg hatte. Oft beklagen sich Leute, mit denen ich gearbeitet habe, und meinen: ›Wieso machst du jetzt was anderes? Du hattest doch so viel Erfolg mit den Rap-Alben. Warum machst du dann nicht weiter Rap-Alben?‹ Das war eine völlig andere Zeit, als ich Rap produzierte, aber heute habe ich dafür kein Feeling mehr. Damals war es ein aufregender Schritt für mich. Ich gehörte damals zu einer neuen, faszinierenden Community. Ich fühle Rap jetzt nicht mehr. Ich mag ihn zwar noch, aber ich habe nicht mehr dieselbe Beziehung zu ihm, wie ich das früher getan habe. Das ist im Laufe der Zeit auch so geblieben, wenn ich versuche, neue Dinge in Angriff zu nehmen, weil ich eben nicht möchte, dass ich versacke und sage: ›Okay, das machst du also.‹ Ich wollte mich nie festnageln lassen. Ich bin so oft durch das hindurchgebrochen, was man von mir erwartet hatte, dass die Leute mich glücklicherweise endlich das machen lassen, was ich tun möchte, und mich in Ruhe lassen.«
Nimmt Rubin ein neues Projekt in Angriff, zählt für ihn unterm Strich, »mich zu verlieben«, wie er Mix gegenüber sagte. »Ich bin nicht auf der Suche nach einem besonderen Typ Künstler, ich suche nicht den Künstler, der gerade in ein bestimmtes Schema passt. Ich suche nicht den nächsten Prince oder so etwas in der Art. Es geht um eine emotionale Bindung, die jedes Genre übersteigt.« Mehr als zehn Jahre zuvor, 1989, sagte er MTV News, er sei »nicht auf der Suche nach großen neuen Stars, ich bleibe nur meinem Geschmack treu«. Diese Strategie hat für ihn funktioniert, und so kann Rubin von sich behaupten: »Wenn ich im Studio bin, stellt sich für gewöhnlich ein ganz spezielles Feeling ein. Tatsächlich versuche ich, an Projekten zu arbeiten, die sich speziell anfühlen, bevor wir überhaupt ins Studio gehen – sofern das möglich ist.«
Es ist offenkundig, welches grundlegende Element Rubin an einem Projekt schätzt, doch wurde das in der kommerziellen Musikindustrie allzu oft übersehen. Als 2007 die Grammys in greifbare Nähe rückten, bemerkte Rubin zu mtv.com: »Für mich ist in erster Linie die Qualität des Materials wichtig, der Inhalt; das ist mir wichtiger als alles andere … Deshalb verbringen wir eine Menge Zeit damit, mit dem Material zu arbeiten, lange bevor wir auch nur überlegen, in ein Aufnahmestudio zu gehen. Es geht vor allem darum, Songs zu finden und Songs zu schreiben und das wirklich auszuschöpfen, bevor man über Dinge wie die Performance oder wie das Album klingen wird nachdenkt.«
Die Bedeutung des Materials betont Rubin in einem Artikel der New York Times ähnlich: »Ganz gleich, ob es ums Produzieren geht oder darum, einen Künstler zu gewinnen. Es beginnt immer mit den Songs. Wenn ich zuhöre, dann bin ich auf der Suche nach der inneren Ausgewogenheit, die man so gut wie bei allen Dingen finden kann, egal, ob es sich um ein großartiges Gemälde, ein Bauwerk oder um einen Sonnenuntergang handelt. Da gibt es ein natürliches, menschliches Element an einem Song, der sich sofort ungeheuer befriedigend anfühlt. Ich mag es, wenn der Song eine besondere Stimmung erzeugt.« Eine Hauptaufgabe des Produzenten sieht er darin, »während der Produktion die Ohren offenzuhalten und einen Song genau wahrzunehmen.«
Während seiner ganzen Schaffenszeit unterstrich Rubin immer schon die Wichtigkeit der Vorproduktion: Er konzentriert sich am Anfang darauf, die Songauswahl zu treffen, bevor es mit der eigentlichen Produktion losgeht. In einem Interview für Billboard erzählte Rubin von einem Projekt mit Metallica und beschrieb seine Herangehensweise genauer: »Wir müssen uns der Musik absolut sicher sein und wissen, dass sie gut ist. Einmal im Studio, brauchen wir uns nur noch Sorgen um die Art der Performance, aber keine Sorgen mehr um das Songwriting machen. Hoffentlich haben wir unsere Hausaufgaben gemacht.« Diese Hausaufgaben – fast könnte man das einen Master-Kurs im Songwriting nennen – werden aus einer bestimmten Perspektive in Angriff genommen. »Ich versuche, einer Band beizubringen, dass sie die Musik nicht für ein Album komponiert«, führt er in einem Interview für Time aus. »Sie machen Musik, weil sie Songschreiber sind, und Songs schreiben ist das, was sie tun.« Rubin ermutigt seine Künstler, zu experimentieren und Spaß am Prozess des Songwriting zu haben. Am Ende, so hofft er, haben sie besseres Material für das endgültige Album. »Ich versuche, die Künstler mit dem Gefühl anzufreunden, als ob sie die Songs nicht bloß für ein Album, sondern für die Ewigkeit schreiben. Während sie schreiben, kommen sie vorbei und spielen mir ihre Songs vor. Aus irgendeinem Grund schreiben die meisten Leute zehn Songs und denken dann: ›Das reicht für ein Album. Ich bin fertig.‹ Wenn sie mir dann die Songs vorspielen, sind komischerweise immer die beiden letzten die besten. Dann sage ich: ›Gut, ihr habt zwei Songs: Geht nach Hause und schreibt weitere acht.‹« Rubins Ansicht nach steckt die wahre Arbeit für ein Album im Prozess des Songwriting, aber dieser Prozess kann hart sein. »Das Songwriting kann öde und nervig sein. Für die meisten ist es ziemlich frustrierend. Aber wenn du dreißig Songs schreibst, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die zehn auf deinem Album besser sein werden, als wenn du nur zehn schreibst.«
»Im Grunde ist doch alles, was wir tun, ein großes Experiment«, sagt Rubin in einem Interview für Mix. »Es gibt einfach keinen Grund, nicht auch immer wieder andere Dinge auszuprobieren. Wenn es nicht funktioniert, dann wissen wir alle, dass es nicht funktioniert. Normalerweise jedenfalls. Und so fangen wir an, eine Menge anderer Dinge auszuprobieren. Irgendwann ist jeder so weit und denkt: ›Nichts ist in Stein gemeißelt, da ist noch mehr drin.‹ Meistens ist es so.« Beim Songwriting gibt es einen Trick, besonders dann, wenn man diesen Prozess auf diese grundlegende Art und Weise betreibt, den Künstler dazu zu bringen, »sich diese kleinen Kassettenrekorder zu besorgen, die man überall mit hinnehmen kann – die wirklich kleinen Geräte. Ich sage ihnen immer, lasst den Rekorder im Auto, für den Fall, dass etwas im Kopf auftaucht, denn die Ideen verschwinden so schnell wieder.«
Für die meisten Bands ist Brainstorming am kreativsten: »Im Grunde ist es ein gemeinsamer Kraftakt. Wenn einer eine gute Idee hat, übernehmen wir sie, wenn sie das Album besser macht.« In einem Interview für die LA Times führt Rubin aus: »Gleich zu Beginn eines Projekts gehört das zu den Dingen, die wir abklären. ›Lasst uns alle Ideen ausprobieren und schauen, wohin uns das führt, keine Vorabbewertung.‹ Manchmal passiert es dann trotzdem, dass einer aus der Band einen Vorschlag macht und ich spontan denke: ›Das ist keine gute Idee. Das sollten wir gleich wieder vergessen.‹ Doch dann überlege ich: ›Versuchen wir es, schauen wir, wie es sich anhört.‹ Und oft klingt es dann echt gut.« Es kann vorkommen, dass Rubin bei einem Song das Gefühl hat, dass es in die falsche Richtung geht. »Oft springt mich eine Zeile an, die textlich nicht so gut wie der Rest ist. Kann sein, dass der Künstler dann meint, dies sei ›die beste Zeile im ganzen Song‹. Ich versuche dann, behutsam Druck auszuüben, bis ich merke, dass der Künstler nicht von seiner Meinung abrückt. In so einem Fall sage ich dann meistens: ›Also mich packt es nicht. Was gefällt dir daran, wie passt die Zeile in deinen Song?‹, und so weiter. Du kannst da nicht immer Erfolg haben. Am Ende ist es deren Album, nicht meins.« Da Rubin sich nicht an jeder Kleinigkeit aufreiben kann, überlegt er sich genau, welche Schlacht er schlagen will. Er ist genau wegen dieser Eigenschaft, mit seiner wertvollen Meinung nicht hinter dem Berg zu halten, bekannt und wird deswegen von Künstlern gesucht. Gegenüber Mix beschreibt er seinen geradlinigen Stil, der zu seinem Markenzeichen geworden ist: »Wenn ich das Gefühl habe, dass dieses oder jenes über den Erfolg eines Songs entscheidet, bin ich emphatischer. Doch letzten Endes ist es das Album des Künstlers … Es gibt nichts Besseres, als die Wahrheit zu sagen. Wenn die Zusammenarbeit mit einer Band beginnt, sage ich: ›Schaut mal, ich werde euch immer genau sagen, was ich denke. Und das tue ich nie, um euch für das zu kritisieren, was ihr macht, sondern weil das mein Job ist‹ … Sie können auf das hören, was ich zu sagen habe, sie können es akzeptieren und umsetzen, oder aber sie sagen: ›Weißt du was? Dir gefällt das zwar nicht, aber mir. Scheiß drauf, wie es ist, ist es gut.‹«
Rubin räumt ein, dass es Künstler gab, mit denen die Arbeit angenehmer war als mit anderen. Seiner Theorie nach liegt es letzten Endes immer am Selbstvertrauen: »Je mehr Selbstvertrauen eine Band oder ein Künstler hat, desto besser kann man mit den Künstlern arbeiten … je unsicherer sie sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich an Dinge klammern, die eigentlich keinen interessieren. Kurz vor Roy Orbisons Tod machte ich eine Aufnahme mit ihm, und er war bereit, alles Mögliche auszuprobieren. Weil er wusste, dass er immer noch Roy Orbison sein würde, ganz gleich, zu was ich ihn bringen würde. Manchmal halten die jungen oder die unsicheren Künstler an Dingen fest, die unwichtig sind, weil sie das Gefühl haben, ›das ist doch genau das, was mich ausmacht‹. Sie haben dieses Bild von sich entwickelt, dass irgendeine Kleinigkeit, die sie tun, ihr ganzes Wesen ausmacht. Aber das ist nicht so.« Rubin ist Autodidakt, was die Kunst des Musikproduzenten anbelangt, er sagt selbst über sich, er sei ein blutiger Amateur in Bezug auf Fragen der technischen Produktion. Seine wertvollste Eigenschaft besteht darin, bei Bedarf auf seine Sichtweise von Musik zu vertrauen und mit einer ihm eigenen Sicherheit einen Künstler vom Wert dieser seiner Meinung zu überzeugen.
Während der Preproduction der eigentlichen Arbeit versucht Rubin, seine Künstler abzulenken von den Zerstreuungen und dem Druck des Rampenlichts von Hollywood; sie sollen sich eine Weile keine Gedanken über den kommerziellen Erfolg ihrer Arbeit machen. Eine seiner Hauptaufgaben bestehe darin, den Künstlern jede Angst vor dem zu nehmen, was sie tun, und nichts an sie herankommen zu lassen, vor dem sie den Kopf einziehen müssten. Rubin bringt die Künstler dazu, ihr Bestes um des Werkes willen zu geben, anstatt dem Druck der Musikindustrie zu erliegen. »So vieles kommt auf den Prozess an und darauf, dass es uns gefällt, nicht aber darauf, uns darüber Gedanken zu machen: ›Wird das überhaupt im Radio gespielt? Werden wir noch rechtzeitig fertig?‹«, so Rubin in einem Interview in USA Today. »Ich versuche, all die Zwänge und Einschränkungen zu beseitigen, unter denen große Kunst immer wieder gelitten hat. Wenn das Album genial ist, dann ergibt sich alles andere von selbst.«
Es kann zu einer ziemlichen Herausforderung für sowohl Künstler als auch Produzenten werden, mit dem Druck fertigzuwerden, den die Plattenlabels aufbauen, um kommerziell erfolgreiche Songs zu bekommen. Rubin ist der Meinung, dass niemand im Vorfeld es vermag, »herauszufinden, was möglicherweise ein Hit werden könnte. Das Beste, was man tun kann, ist immer, etwas anzupacken, das dich und den Künstler begeistert.« Diese Alben zu produzieren ist »kein Zufallsprodukt. Du weißt von Anfang an, wie die Skulptur später aussehen wird, aber du bist eine Weile damit beschäftigt, den Stein wegzumeißeln, und das ist nicht unbedingt der spaßige Teil. Spaß macht, wenn man weiß, was es ist. Doch niemand anderes wird erfahren, wie es sein wird, wenn du nicht die Arbeit auf dich nimmst.« Will man herausfinden, ob ein Song etwas taugt, sollte man ihn auf seine Grundstruktur reduzieren. Rubin beschreibt das in einem Time-Interview so: »Wenn ein Song mit der akustischen Gitarre genial klingt, dann kann man hundert verschiedene Versionen von diesem Song aufnehmen, und er wird immer noch großartig sein.«
Auch wenn die Vorproduktion kleinschrittig und langwierig sein kann, so verbringt Rubin bei der eigentlichen Produktion relativ wenig Zeit im Studio, wie er Mix gegenüber sagt: »Ich mache die Platten oft schneller als viele meiner Kollegen. Das hat viel damit zu tun, wie gut vorbereitet wir sind … Die Vorproduktion ist entscheidend. Manchmal sind es nur ein paar Wochen, manchmal dauert es auch einige Monate, oder es vergeht ein Jahr, ehe wir ins Studio gehen und das ganze Album dann innerhalb einer Woche schneiden. Wichtig ist immer, möglichst viel im Vorfeld zu erledigen, bevor man ins Studio geht.«
Früher machte Rubin die Nacht zum Tag, galt als Nachteule. Aber nach so vielen Jahren im Geschäft bereitet er sich morgens auf die Arbeit vor, für gewöhnlich im Freien. »Wenn ich morgens aufwache … sitze ich erst mal zwanzig Minuten in der Sonne. Hätte mir das früher einer vorgeschlagen, hätte ich gedacht, ich müsste von einer Klippe springen. Ich habe immer lange geschlafen, habe dann die Sonnenbrille aufgesetzt und war meistens nachts aktiv. Aber ungefähr seit 2004 habe ich meinen Rhythmus geändert. Seither wache ich vor neun Uhr morgens auf und merke, dass mir das Tageslicht eigentlich viel besser gefällt«, erzählte er der Washington Post.
Von zentraler Bedeutung ist für Rubin inzwischen Meditation. Angefangen hatte er damit, als er 14 Jahre alt war, empfohlen hatte es ihm damals sein Kinderarzt. Meditation, so Rubin, wirkt sich positiv auf alle Aspekte des Lebens aus. Sie hilft ihm, sich mental auf das Wesentliche zu konzentrieren. Außerdem beeinflusst sie den kreativen Schaffensprozess, wie er der LA Times erklärt: »Der kreative Akt ist für mich ein spiritueller Akt. Je stärker wir uns auf die Natur und auf die spirituellen Facetten des Lebens einlassen, desto stärker scheint sich das auf den kreativen Schaffensprozess auszuwirken. Ich denke da etwa daran, wie es mir manchmal den Atem verschlägt, wenn ich einen Sonnenuntergang sehe. Das ist dasselbe Gefühl, als wenn ich eine tolle Zeile in einem Song oder ein geniales Gitarrensolo höre. Die großen Songs stammen gar nicht wirklich von uns selbst. Sie sind Teil des Universums. Die besten Künstler sind die, die die besten Antennen für das Universum haben. Meditation hilft einem, Stress abzubauen und sich ganz auf die Ideen einzulassen, die dort draußen sind.« Das Meditieren ermöglicht es Rubin, »offen für alles zu bleiben und wirklich hinzuhören. Während der Arbeit an einem Album habe ich oft das Gefühl, dass ich nicht genau weiß, was ich sage, aber wenn ich dann die Aufnahmen höre, klingt es perfekt.«
»Mit je mehr Künstlern ich arbeite«, so Rubin, »desto mehr sehe ich, ob sie diese spirituelle Komponente begreifen, wie etwa Donovan, der seine Spiritualität lebt, oder Johnny Cash, der ein tiefreligiöser Mensch war. Es gibt Künstler, die nicht wissen, woher diese Spiritualität kommt, aber sie kommt.« Diese Fähigkeit ist oft Teil einer größeren »Starqualität«, von der ein Publikum begeistert ist und die die Fans für die kleineren Defizite entschädigt, die ein Star vielleicht hat. »Wir reden hier von den Leuten, die eine bestimmte Aura haben, also von jenen Leuten, die selbst einen dunklen Raum zum Leuchten bringen; man muss dann auf alles Mögliche gefasst sein, was dabei alles mitkommt«, erklärt Rubin dem Shark.
Einmal im Studio, macht Rubin weiter damit, dass seine Mitstreiter sich sammeln, indem er sie auffordert, ihre Ziele hochzustecken. »Egal, wie hoch der Aufwand ist, wir geben immer alles«, sagte er 2006 der Washington Post. »Wenn wir etwas anpacken, dann soll auch was Großes dabei rauskommen. Denn ganz ehrlich: Es reißt einen nicht vom Hocker, nur die Ideen festzuhalten, die man hat. Wenn es also nicht großartig wird, kann ich genauso gut schwimmen gehen. Im Ernst. Vielleicht gehe ich sowieso viel lieber schwimmen. Aber das Streben nach wahrer Größe ist zumindest eine gute Alternative, nicht im Wasser zu planschen.« Am Vorabend der Grammy-Verleihung 2007 beschrieb Rubin der LA Times, wie sehr es ihm und den Künstlern, mit denen er arbeitete, geholfen hat, von den eigenen Stärken überzeugt zu sein, um letzten Endes Großes zu vollbringen: »Du und die Band müssen davon überzeugt sein, dass die gemeinsame Arbeit das Wichtigste auf der Welt ist … Aber die Künstler sollen nicht das Gefühl haben, dass das, was sie ausgerechnet heute machen, am wichtigsten ist. Sie sollen nicht denken: ›Oh, mein Gott, ich muss es unbedingt heute hinkriegen, sonst wird das nichts mehr.‹« Um dieses Gefühl sich entwickeln lassen zu können, besteht Rubin bei seinen Projekten auf keinem festen Zeitplan. Stattdessen experimentiert er lieber und schaut, wie sich die Dinge entwickeln.
Sobald ein solches Arbeitsethos, das Freiheiten und Entschlossenheit miteinander verbindet, etabliert wurde, steht die eigentliche Performance im Mittelpunkt. Rubin ermutigt alle Beteiligten, im Studio zu experimentieren. »Eine großartige Performance hat einen menschlichen Touch«, erzählt er Associated Press. »Es ist eher wie beim Jazz. Es kann ein Popsong sein, ein Rocksong oder ein Countrysong, aber wir nähern uns dem Projekt eher aus dem Blickwinkel des Jazz und versuchen, diesen speziellen Moment des Interagierens einzufangen. Wir kennen die Melodien, wir kennen die Songs, jetzt bleibt nur noch, diesen speziellen magischen Moment zu bekommen.«
Für Music Wizard formuliert er es so: »Es geht um die Performance, die du von den Künstlern sehen willst, und auch wenn sie ein und denselben Song fünfzig Mal spielen, ist es das Warten auf diese eine Performance. Wirklich, der Künstler singt den Song immer und immer wieder, aber irgendwann ist der magische Moment da, plötzlich stimmt alles. Der Künstler hat all sein Gefühl in den Song gelegt, und du weißt nicht, warum das passiert, du weißt nur, dass es passiert ist. Und das klappt bei fast jedem Künstler, mit dem ich arbeite. Du arbeitest vor dich hin und wartest, gleichzeitig lauerst du auf diese Momente, wenn das Magische aufleuchtet. Dann sehen wir uns an und denken: Das ist es … Wir versuchen bloß, zusammenzuarbeiten, wir experimentieren mit allen möglichen Songs und helfen dem Künstler, seine Stimme zu finden.«
Die Aufnahmen finden überwiegend in Rubins modernem Studio in seinem Laurel Canyon-Haus statt, dem kreativen Mekka. Am Eingang steht auf einem Schild: »Bitte leise sein, hier wird meditiert.« Ehe er seinen Arbeitsplatz in Malibu aufschlug, bevorzugte Rubin traditionelle Aufnahmestudios. Er beschrieb sie in einem Interview für Music Angle: »Die meisten Studios, in denen ich arbeitete, stammen aus den 50ern oder 60ern, und der Sound ist wirklich verblüffend. Moderne Aufnahmestudios klingen oft ganz schrecklich. Es liegt nicht am Equipment; es liegt an dem Raum selbst. Diese Studios sind bestens ausgestattet, makellos wie eine CD. Aber früher hatten sie etwas Magisches, mit allerhand Blendwerk sozusagen; sie waren darauf angelegt, dass der Sound stimmte, verantwortlich dafür waren Leute mit guten Ohren. Heute ist alles computergesteuert. Es ist zwar perfekt, aber es gibt keine Atmosphäre mehr, die echten Vibes fehlen … Ich arbeite bei Cello, das mal Ocean Way war, ganz früher Western Electric. Die Alben der Beach Boys, viele Platten von Sinatra, auch von The Wrecking Crew wurden dort aufgenommen. Ein klassisches Studio eben.« Den richtigen Sound erreicht man, indem man die passende Atmosphäre im Studio schafft. Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers beschreibt für die Time, wie Rubin sich eine Session einrichtet: »Er begibt sich also in die Kabine des Aufnahmeleiters, räumt alles weg und bittet seine Leute, ihm das bequemste Couch-Bett reinzutragen, das man je gesehen hat. Das stattet er dann mit Kissen und Decken aus, und das ist dann seine Kommandozentrale.«
Rubin hat sowohl mit Veteranen des Musikbusiness als auch mit Musikern gearbeitet, die erst am Anfang ihrer Karriere standen. Deshalb weiß er aus Erfahrung, wie die Altstars und wie die Anfänger ticken: Die einen sind übereifrig, die anderen ziehen ihren alten Stiefel durch. »Wenn du dein erstes oder zweites Album aufnimmst, dann ist das echt eine große Sache«, so Rubin. »Es ist das Wichtigste in deinem Leben. Immer schon hast du davon geträumt, und endlich hast du die Chance. Aber wenn du schon zwanzig Alben auf dem Buckel hast, dann hast du eine ganz andere Einstellung. Vielleicht ist es für dich nur ein weiteres von vielen Alben. Das Leben eines Künstlers hat irgendwann einen bestimmten Rhythmus, man ist eine Weile auf Tour, dann kommt die Zeit nach der Tour. Man nimmt ein Album auf, ist wieder on the road – ein Kreislauf. Hat sich dieser Kreislauf einmal verfestigt, dann bestimmt er dein Leben, und wenn du dann ein Jahr brauchst, um die Songs zu schreiben, damit das Album ein Knaller wird – tja, das passt dann nicht in den Kreislauf – manche brauchen auch zwei Jahre, egal … Meiner Meinung nach ist das menschlich, dass man in ein bestimmtes Muster verfällt und dann dabei bleibt.«
Dieses Muster zu durchbrechen, kann schwierig sein, denn, so Rubin: »Die meisten Künstler, besonders diejenigen, die längst etabliert sind und Erfolg hatten, neigen dazu, in einer Art Blase zu leben. Weil die meisten Leute ihnen erzählen, dass das, was sie tun, ganz toll ist. Aber das kann zu einem Realitätsverlust führen. Es tut Künstlern nicht gut, in dieser Blase zu leben.« Rubin ist alles andere als ein Jasager, aber genau deshalb kommt er »gut mit Künstlern aus, die viele Leute als schwierig beschreiben würden«, wie er Shark erzählt. »Ich komme mit ihnen klar, weil ich weiß, wie sie ticken. Und weil ich diesen ganzen Scheiß hasse, den auch sie hassen.« Um all das aus dem Weg zu räumen, was der Kreativität schadet, versucht Rubin, »ein Stützpfeiler für die Künstler zu sein, mit denen ich arbeite. Wenn ein Künstler zum Beispiel keinen Manager hat, und wenn der damit verbundene Stress ihm im Weg, der zu seiner Kunst führt, steht, dann organisiere ich ein Meeting mit einem Manager und arrangiere alles … damit der Künstler seine beste Arbeit machen kann.« Der Musikproduzent ist sicher kein »Babysitter« und nicht dafür da, »Händchen zu halten«, er begleitet den kreativen Prozess, unterstützt den Künstler und versucht auf diese Weise, »dem Künstler den Rücken freizuhalten und dafür zu sorgen, dass alles auf die Kunst und die Wahrhaftigkeit des Künstlers ausgerichtet ist.« Wenn Rubin das Vertrauen eines Künstlers gewonnen hat, gehört es vor allem zu seinem Job, einfach nur zuzuhören, wie er AP sagt: »Viele Künstler mögen es, jemanden zu haben, der ihnen zuhört, denn guter Rat ist teuer.«
Auch wenn Rubin immer seine eigene Meinung hat, gilt sein Augenmerk nicht der Frage, wie er persönlich, sondern wie der Künstler sich sein Album vorstellt. Justin Timberlake erinnert sich auf mtv.com, wie er Rubin kennen lernte: »Das Coole an Rick ist, als wir uns zum ersten Mal trafen, sagte er zu mir: ›Hör zu, ich versuche gar nicht erst, dich in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Du machst das, was du immer machst, und ich komme dann einfach dazu und sage dir, was ich denke, und setze ein paar Hebel in Bewegung, damit eins zum anderen passt.‹ Und das ist eine so tröstliche Sache, weil du weißt, dass du in guten Händen bist.« Wenn Rubin mit Musikern arbeitet, die auf eine lange Karriere zurückblicken, versucht er gar nicht erst, das Rad neu zu erfinden. Denn er weiß genau, dass die Fans ihren Lieblingssänger nicht ohne den charakteristischen Sound hören wollen. »Du willst Elvis nicht ohne dieses Slap-Back-Echo hören. Diese minimale Verzögerung gehört zum typischen Elvis-Sound. Genauso wenig willst du Robert Plant ohne das Delay hören, das er bevorzugt. Es gibt eben Künstler, die bestimmte Effekte einsetzen oder einen eigenen typischen Sound kreiert haben.«
Ist die eigentliche Tonaufnahme abgeschlossen, kommt für Rubin der Teil der Produktion, den er besonders anstrengend findet, nämlich: Abmischen und Mastering. »Der springende Punkt ist: Wenn du am Tag acht oder zehn Stunden vor Lautsprechern gesessen hast und dir tagelang ein und denselben Song anhörst, wirst du ganz wuselig im Kopf. Das kann nervig sein. Danach kommst du nach Hause und hast nicht mal mehr Lust dazu, dir dein Lieblingsalbum anzuhören. Dann brauchst du eine Art Rachenputzer«, erklärt er Music Angle. Rubin bekennt: »Eines meiner Probleme ist, dass ich oft so lange am Stück im Studio bin, dass ich kaum noch Zeit finde, mir Musik nur so zum Spaß anzuhören. Und wenn ich es tue, dann drehe ich die Lautstärke meist richtig auf, höre zum Beispiel klassische Musik oder den Sechziger-Kanal auf XM Satellite Radio.« In dieser Phase der Produktion praktiziert er etwas, das eher ungewöhnlich ist: »Wir machen die ganze Zeit Shoot-Outs, manchmal mit bis zu fünf verschiedenen Mastering Engineers, die alle dasselbe Album mastern, und dann machen wir den Eins-gegen-eins-Test, eine K.-o.-Runde.« Rubin erläuterte für die LA Times, welches Prinzip dieser Strategie zugrunde liegt: »Wenn du weißt, dass der größte Tonmeister der Welt einen Track abgemischt hat, und dass der Typ, der gerade Kaffee beim Projekt kocht, einen anderen abgemischt hat, dann bildest du dir ein, dass der Mix des berühmten Tonmeisters ganz klar der beste sein muss. Wenn du aber nicht weißt, wer was abgemischt hat, dann ist das Spielfeld weiterhin offen und flach. Und du entscheidest dich für das, was wirklich gut klingt. Sehr oft sind wir echt erstaunt. Sehr oft.«
Zu Rubins Methode – und zu dem Erfolg, den er mit der Methode hat – gehört, dass er als Produzent während des Arbeitsprozesses immer versucht, aufgeschlossen zu bleiben. Es gibt aber ein Feld, auf dem er sich wesentlich zurückhaltender gibt: Live Performance. Für Music Angle formulierte er es so: »Sagen wir so: Ich will nicht das Wort ›Perfektion‹ in den Mund nehmen, aber es gibt ein Ideal, das man im Studio erreichen kann, das ich aber sehr selten bei Live-Konzerten erlebe. Gelegentlich kommt es vor, aber ich denke, wenn du einen Künstler siehst, der live brillant ist, wo das Album aber nicht so toll ist … Tja, dann würde ich die Schuld bei den Leuten vom Studio suchen, die ihren Job einfach nicht richtig gemacht haben. Es geht nichts darüber, ein Klavier und die Obertöne und die Eigenheit dieses Instrumentes in einem Raum live zu erleben … Es wird nie so sein, wenn die Töne aus dem Lautsprecher kommen, das liegt nun einmal in der Natur der Sache. Aber wenn man es von der Performance her betrachtet und weiß, was man während der Aufnahmen im Studio alles machen kann, etwa: reiner, klarer Klang, dann ist es ziemlich schwer, diese Erfahrung live zu bekommen. Ich gehe nicht oft aus, um Live-Konzerte zu besuchen, weil ich dann immer enttäuscht bin. Ich bleibe lieber zu Hause und höre mir meine CDs an.«
Wenn es um Musikproduktion geht, kommt es für Rubin im Wesentlichen auf gesunden Menschenverstand an. Das soll jedoch nicht heißen, dass er all das, was ihn die Erfahrung und die Aufgeschlossenheit über die Jahre im Musikbusiness gelehrt haben, für selbstverständlich hält (ganz zu schweigen von den Multi-Platin-Alben). Und obwohl er sehr zurückgezogen lebt, hat Rubin keine Scheu, sehr persönlich über seine Arbeit zu erzählen. Der Washington Post gab er ein Interview, in dem er sagt, dass sich seine Arbeit aus einem Prozess entwickelt, in dessen Verlauf »ich viel über mich selbst lerne und ein besserer Mensch werde«. Die Entscheidungen im Laufe seiner Karriere traf er nicht bewusst, vielmehr waren sie das Ergebnis »eines intuitiven Prozesses«. Für Music Wizard beschreibt er das so: »Ich mache Dinge, die mich persönlich berühren, die ich nachempfinden kann, die mich bewegen. Ich kann mich im Verlauf meiner Karriere glücklich schätzen, dass die Projekte, die mich bewegt haben, auch andere Menschen bewegt haben. Aber ich habe das nie geplant, ich habe auch nie versucht, mir vorzustellen, was andere Leute vielleicht mögen oder welches Album erfolgreich werden könnte. Im Gegenteil: Das ist ein natürlicher Prozess. Ich versuche, so pur wie möglich zu sein und das zu fühlen, was ich fühle, und zu mögen, was ich mag. Dem versuche ich treu zu bleiben.«
Wie er selbst zugibt, ist diese Reise der Selbstfindung noch nicht an ihr Ende gekommen; Rubin bezeichnet sich selbst als jemanden, der »spirituell auf der Suche ist«, er sieht sich während der Arbeit in einem »ständigen Erkenntnisprozess«, bei dem er jeden Tag Offenbarungen hat. Doch im Vergleich zu seiner Frühphase als Produzent hat er sich verändert, und zwar zum Besseren, wie er selbst sagt: »Am Anfang – ich kann mich gar nicht so genau daran erinnern, ich habe mir das sagen lassen – muss ich ein ziemlicher Tyrann gewesen sein.« Bei Rubins Entwicklung ist es wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit, musikalische Grenzen zu überschreiten. »Ich erlaube mir, dass sich mein Geschmack verändert. Ich sage nicht: ›Oh, jetzt habe ich Millionen Rap-Platten verkauft, also muss ich weiter Rap produzieren.‹ Nein, ich bin froh, sagen zu können: ›Okay, diese Woche liegt mir Speed Metal, also mache ich Speed Metal-Platten. Und scheiß drauf: Es ist mir egal, ob sich meine Speed Metal-Platten verkaufen oder nicht. Es ist einfach das, was ich im Augenblick machen will.‹ … Wie Neuland zu betreten, etwas zu machen, das nicht ständig im Radio läuft. Wenn eine bestimmte Richtung schon im Radio gespielt wird, heißt das für mich noch lange nicht, dass ich auf diesen Zug aufspringen muss, damit meine Sachen auch im Radio gespielt werden. Das gilt nicht.« Und diese Weigerung, bestimmte »angesagte Sounds« immer wieder zu reproduzieren, hat dazu beigetragen, dass Rubins Arbeit nie abgestanden und uninteressant geworden ist. »Wer sich meine Alben anhört, der merkt, dass sie kaum je gleich klingen«, erzählt er Shark. »Nehmen wir eine Platte aus der Produktion von Stock-Aitken-Waterman – die Künstler dort sind austauschbar, oder Desmond Child: Wenn Sie mich fragen, seine Platten klingen alle gleich, ob er Alice Cooper oder Bon Jovi unter Vertrag hat, es ist immer ein Desmond-Child-Song. Ich versuche, nicht in diese Falle zu tappen, weil ich der Ansicht bin, dass das den Horizont beschränkt. Es ist einfach zu kurz gedacht.«
Die Art und Weise, wie er seine eigene Rolle bei der Arbeit an einem neuen Album sieht, hilft ihm, von einem Sound zum nächsten zu wechseln, eine Fähigkeit, die den Kern der Langlebigkeit seiner Karriere ausmacht. Bei den Platten, die er produziert, denkt er nicht: »Das ist ein Rick-Rubin-Album. Nein, für mich ist es ein echt tolles Neil-Diamond-Album oder ein richtig gutes Johnny-Cash-Album … Das sind Leute, die ich echt mag, und ich versuche, sie dazu zu bringen, so zu sein, wie ich mir vorstelle, wie sie sein könnten.« Nach so vielen Jahren weiß er sehr genau, wo seine Stärken und Schwächen liegen. »Ich weiß eigentlich gar nicht, wie man am Pult arbeitet. Ich bediene keine Drehknöpfe. Ich habe nicht die geringsten technischen Fähigkeiten«, wie er offen gegenüber der New York Times bekennt: »Aber ich bin da, wenn die Künstler mich brauchen. Meine Hauptbegabung besteht darin, dass ich weiß, wenn ich etwas mag oder wenn ich etwas nicht mag. Es geht letzten Endes immer um Geschmack … Ich bin da, sobald es um die Schlüsselfragen im kreativen Prozess geht.« Den Drive bei seiner Arbeit fasst er mit einfachen Worten zusammen: »Ich versuche schlichtweg, meine Lieblingsmusik zu machen. So arbeite ich. Ich mache Sachen, je nachdem, wie sie sich für mich anfühlen.«
Mit seiner Arbeit im Studio hat Rubin Millionen von Musikfans auf der ganzen Welt erreicht. Doch ist der Produzent nicht nur erfreut, sondern hat auch bittersüße Gefühle in Bezug auf das, was er erreicht hat. »Ja, es fühlt sich gut an, dass sich die Arbeit der letzten Jahre so für uns ausgezahlt hat«, sagt er der Washington Post. »Das ist der Beweis, dass wir hart gearbeitet haben. Wir drehen keine Däumchen … die letzten zwanzig Jahre meines Lebens habe ich in Aufnahmestudios verbracht. Mit unserer Arbeit können wir große künstlerische Erfolge vorweisen, aber ich weiß nicht, wie gut sich das auf mein Leben ausgewirkt hat. Ich kann nicht sagen, dass es immer ein glückliches, unbeschwertes Leben war.«
Jedem Album nähert sich Rubin »mit den Augen eines Fans, und ich gebe nicht auf. Bei jedem weiteren Schritt stelle ich mir die Frage: ›Bin ich zufrieden mit dem, was ich da gerade höre?‹ Wenn nicht, bin ich immer noch ein Fan. Ich bin dann aber nicht zufrieden.« Mit seinem typischen Stil erringt Rubin einen musikalischen Erfolg nach dem anderen, und zweifellos gibt es zahllose Musiker, die hoffen, dass Rubin eines Tages mit ihnen als »professioneller Fan« arbeiten wird.