ISBN: 978-3-99074-194-8
1. Auflage 2022, Marchtrenk, Österreich
© 2022 Verlag federfrei
Umschlagabbildung: © Iosif - Adobe Stock
Lektorat: E. Zahnt
Autorinnenporträt G. Hasmann: © Gerhard Kunze
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Alle Rechte vorbehalten.
Sowohl die im Buch vorkommenden Personen als auch die Handlungen sind von den Autorinnen frei erfunden. Namen und Ähnlichkeiten mit Personen oder tatsächlichen Handlungen sind zufällig und nicht gewollt.
Das Blätterdach bewegte sich sanft im aufkommenden Wind und gab für einen kurzen Augenblick die Aussicht auf den schiefergrauen Himmel frei.
Tock.
Ein Regentropfen traf Ben mitten auf die Stirn.
Seine Finger krallten sich in das Moos unter seinen Händen und zerrissen den weichen, feuchten Teppich, während die Nägel über eine kieselige Oberfläche schabten. Zugleich sog er die kühle Luft, die nach feuchter Erde, schimmeligem Laub und würzigen Kräutern roch, tief in seine Lungen. Und nach etwas, das schon lange tot war.
Sein gesamter Körper schmerzte, jede Muskelfaser brannte und die Sehnen schienen bis zum Zerreißen gespannt zu sein.
Tock.
Als er mühsam den Kopf nach rechts drehte, wurde ihm bewusst, wo er sich befand. Er lag auf einer Waldlichtung hinter jenem verfluchten Haus, zu dem er nie hätte zurückkehren sollen.
Beinahe zeitgleich überkam ihn eine Erkenntnis: Bei den dicken Tropfen, die immer wieder an derselben Stelle gegen seine Stirn prallten und für das Pochen in seinem Schädel verantwortlich sein mussten, konnte es sich keinesfalls um Regen handeln. Trotz der sich bedrohlich auftürmenden Wolkenberge über ihm, die riesige Wassermassen in sich zu tragen schienen, nieselte es nur fein.
Tock.
Der nächste Tropfen fiel auf ihn herab und klopfte aufgrund der veränderten Position seines Kopfes auf Bens Wange, von wo aus er langsam Richtung Mundwinkel kroch.
Er versuchte, sich zu entkrampfen, löste mit steifen Gelenken vorsichtig die Hand vom Moos und hob sie vor seine Augen. Mit Entsetzen stellte er fest, dass seine Finger von einer dicken blutigen Kruste bedeckt waren. Ich muss hier weg, dachte er panisch, doch zugleich spürte er die lähmende Schwäche in seinen Gliedern, die offenbar auch seinen Willen befallen hatte. Unter großer Anstrengung schob Ben seinen nackten Oberarm Richtung Gesicht und rieb sich die klebrige Flüssigkeit von der Wange.
Tock.
Wie bin ich hierhergekommen? Ich kann mich nicht erinnern … Zu spät bemerkte er, dass der letzte Tropfen, der ebenfalls auf seiner Wange gelandet und anschließend abwärts geronnen war, nun zwischen seinen zitternden Lippen hindurchglitt. Stöhnend rollte er sich zur Seite, während sich ein metallischer Geschmack in seiner Mundhöhle breitmachte. Als es ihn vor Ekel reckte, sammelte er hastig Speichel zusammen und spuckte neben sich ins Laub. Brennend stieg Säure seine Speiseröhre empor, die er mit einigen Schluckbewegungen zurückdrängte.
Ich war doch im Krankenhaus … Bens Gedanken überschlugen sich, während er versuchte, sich zu erheben. Doch eine unsichtbare Kraft schien ihn wie ein Magnet am Boden zu fixieren.
Tock.
»Warum?«, krächzte er, wobei der dichte Wald das mühsam herausgepresste Wort sofort verschluckte. Das Gefühl, seinem Schicksal schutzlos ausgeliefert zu sein, senkte sich wie ein klebriger Schleier über ihn.
Als es neben ihm raschelte, schreckte Ben hoch. Erschrocken riss er die Augen auf und sah ein Eichhörnchen davonstoben. Hatte er zuvor neuerlich das Bewusstsein verloren, oder war er eingeschlafen?
Tock.
Ben grub seine Finger in das nasse Laub und drückte sich mit Händen und Füßen vom Boden ab. Endlich stand er aufrecht, wenn auch auf wackeligen Beinen. Er bemühte sich, den Blick scharf zu stellen, der jedoch immer wieder aufs Neue zerlief und das Szenario vor ihm nur schemenhaft offenbarte. Seine Augäpfel zuckten nervös, während die Bäume von allen Seiten bedrohlich näher zu rücken und ihn zu umzingeln schienen.
Da löste sich ein Schatten, der mit verschwimmenden Umrissen langsam auf ihn zukam, aus dem Dämmerlicht. Er kniff die Lider zusammen und nahm auf einer Höhe von etwa zwei Metern eine teigig-weiße Fläche wahr, die auf ihn zu schwebte. Ein Gesicht … oder …
»Wer …?«
Noch bevor er weitersprechen konnte, begann die Gestalt auf ihn zuzulaufen, gleich darauf explodierte eine Faust in seinem Gesicht. Der Schlag warf ihn wieder auf den feuchten Boden zurück, wo er hilflos auf dem Rücken liegenblieb.
Ein Flüstern drang an sein Ohr: »Du hättest nicht hierherkommen dürfen, nicht an diesen Ort. Alle unsere Warnungen hast du missachtet. An allem, was jetzt geschieht, trägst du die Schuld!«
Tock.
Der nächste Tropfen landete in Bens Auge. Er blinzelte heftig, wodurch sich der schiefergraue Himmel über ihm rot verfärbte. Als er angewidert den Mund verzog, hörte er das Knacken seiner gebrochenen Nase. Ihm wurde übel. Hastig wandte er den Kopf zur Seite und spie unter würgenden Geräuschen Galle aus.
»Wir sollten ihn hier wegschaffen und stabilisieren, bevor er uns jetzt schon wegstirbt.«
Tock.
»Hast du schon einmal in Erwägung gezogen, von Apfeldorf wegzugehen?«, murmelte Ben und setzte die halbvolle Bierflasche an seine Lippen.
In der Ferne hörte er den Lech über das Gefälle der Staustufe in den darunter befindlichen See rauschen. Das ununterbrochene Tosen des Wassers gehörte in der oberbayrischen Ortschaft zum Alltag der Bewohner, genauso wie die Brettljause mit Bauernbrot und Kräuterschnaps, wie sein Großvater immer gesagt hatte.
»Wie weit sollte ich wohl kommen?«, raunzte Leni kopfschüttelnd. »Ich schlage mich gerade so durch. Mit Kellnern verdient man nicht die Welt!« Auch sie hielt eine Bierflasche in der Hand, die sie, wie bereits mehrere Male davor, anhob, ohne davon zu trinken. Sie stellte das dunkle Gefäß wieder auf ihrem Oberschenkel ab und umklammerte den schlanken Teil mit ihren langen, weißen Fingern.
Der 17-jährige Junge warf einen raschen Blick auf das Gesicht des Mädchens an seiner Seite, das im Halbdunkel der Nacht müde und traurig wirkte. Aber vielleicht verursachte auch das kalte Licht des Vollmonds diese tiefen Schatten unter Lenis Augen, und die blinkenden Sterne zeichneten dazu feine Linien auf die Haut.
Die samtige Luft der warmen Sommernacht strich über Bens muskulöse Oberarme, während er das Gefühl nicht loswurde, dass ihnen vom nahen Wald ein eisiger Hauch entgegenwehte. Dessen Rand wurde gesäumt von einem Heer an Rotbuchen, das sie aus der Ferne zu beobachten schien.
»Siehst du das Haus hinter den Bäumen?«, fragte er unvermittelt. »Irgendwelche dubiosen Leute aus dem Ausland haben es auf den Ruinen einer Villa errichtet, die in den 1960ern abgebrannt ist.«
Die 16-Jährige nickte nachdrücklich, wobei ihre langen roten Locken wild zu schaukeln begannen. Die Geschichte über das verheerende Feuer, das auch einen Teil des umgebenden Waldes vernichtet hatte, kannte sie von ihren Eltern.
»In den Flammen sind angeblich die kleine Tochter der Besitzer, die auswärts essen waren, und deren Babysitterin ums Leben gekommen. Die späteren Eigentümer sind schon nach kurzer Zeit wieder ausgezogen, weil es in dem Gemäuer nicht mit rechten Dingen zugehen soll!«
»Ja, das habe ich auch gehört«, murmelte Ben und beugte sich näher zu Leni, ehe er mit verschwörerischem Unterton in der Stimme fortfuhr: »Derzeit wohnt dort niemand, und trotzdem schalten sich jeden Abend um dieselbe Zeit in allen Räumen wie von Geisterhand sämtliche Lichter an. Genau um 23:00 Uhr, ich habe es schon öfter mit eigenen Augen gesehen! Und das dauert bis Mitternacht. Dir und den anderen fällt das gar nicht auf, weil ihr keinen direkten Blick von euren Fenstern auf das Haus habt.«
»Stimmt!« Das junge Mädchen nahm nun doch einen großen Schluck aus ihrer Flasche und schaute seinen Freund erwartungsvoll an. »Und weiter?«
»Manchmal dringen Schreie aus den Wänden, man hört schabende Kratzgeräusche …« Er ahmte die Laute mit seinem Mund nach und verzog dabei sein Gesicht zu einer Grimasse, bevor er fortfuhr. »Irgendwann gehe ich dem Spuk auf den Grund. Und wenn ich die Bude dafür kaufen muss … wie auch immer.« Ben zuckte betont gleichgültig mit den Schultern und bemühte sich, cool zu wirken. Er versuchte mit dieser Geste, sein Geständnis, an übernatürliche Vorkommnisse zu glauben, zu relativieren.
Das Mädchen prustete wenig beeindruckt von den hochtrabenden Plänen seines Freundes los und spuckte dabei einen Schwall Bier vor seine Füße.
»Du hast gerade dein Studium abgebrochen, weshalb dir dein Vater jede Unterstützung streicht. Du bist von ihm außerdem quasi enterbt worden. Wenn du also nicht im Lotto gewinnst oder zufällig irgendwo die Pforte zu einer Parallelwelt findest, in der du reich bist, bleiben das für sehr lange Zeit wohl nur Träume!«
»Vielleicht schau ich es mir auch schon vorher an … heimlich«, erwiderte er trotzig. »Immerhin kannst du wieder lachen«, fügte Ben hinzu, grinste schief und stieß gleich darauf nahezu atemlos hervor: »Ich muss los!« Als er sich von einer Stahlverstrebung des Karussells abstieß, an dem sich die beiden fast täglich trafen, geriet die gesamte Konstruktion in Schwung und warf Leni ab. Die halbverrosteten Ketten der Schaukeln, von denen großflächig der verblassende Lack abplatzte, quietschten leise.
Das Mädchen landete mit einem leisen Schrei auf dem Boden und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Knie.
»Entschuldige!«, sagte Ben und reichte seiner Freundin die Hand. Leicht eingeschnappt hangelte sich Leni an dem ausgestreckten Arm des jungen Mannes hoch und klopfte sich den Staub von der Hose. Das fahle Mondlicht beschien die Szenerie und stahl dem blassblauen Karussell den letzten Rest Farbe.
»Ich bin auch schon spät dran«, sagte Leni und legte ihre Hände auf Bens Schultern.
»Wann triffst du dich mit Greta?«, fragte er seufzend und bekam als Antwort ein verschmitztes Lächeln zu sehen. »Es ist deprimierend, dass du dich nie für mich interessieren wirst«, setzte er beleidigt nach.
»Abgesehen davon, dass mir Männer grundsätzlich gestohlen bleiben können, passen wir ohnehin nicht zusammen«, belehrte ihn Leni. »Ich habe nämlich nicht die geringste Lust dazu, mit dir in diesem verfluchten Haus zu wohnen«, zog sie ihn auf.
»Verflucht?«, bohrte er belustigt nach. »Glaubst du also auch an Geister?«, wechselte er das Thema, um von seinen zuvor ausgesprochenen Worten abzulenken.
»Ganz sicher!«, rief Leni. »Du hast doch gesagt, manchmal hört man dort so ein Schaben … Als würden dort die brennenden Toten verzweifelt an den Wänden kratzen, während ihnen das verschmorte Fleisch von den Fingern platzt. Sie können nicht in Frieden ruhen, weil sich ihre Seelen immer noch in der Flammenhölle befinden, der sie nicht entkommen.«
»Du und deine blühende Fantasie!« Ben schüttelte grinsend den Kopf. »Vermutlich sind es nur Ratten.«
»Ja, vermutlich«, lächelte das Mädchen. »Versprich mir trotzdem, dass du nicht allein dorthin gehst. Wenn, dann machen wir das zusammen. Ich will dabei sein, wenn wir das Rätsel um die düsteren Vorkommnisse hinter diesen dunklen Mauern lösen«, endete sie mit theatralischem Tonfall. Er reagierte nicht und starrte zu dem Haus hinüber. »Ben, versprich es mir!«, insistierte Leni und streckte ihm ihre Hand entgegen.
»Schon gut«, grinste er und schlug ein. »Abgemacht!« Die Uhr zeigte fünf Minuten nach halb zehn, er würde jetzt nach Hause gehen.
Doch zuerst sah er seiner Freundin noch eine Weile nach, als sie gleich darauf winkend in der Dunkelheit verschwand. Er freute sich auf das Abenteuer, mit ihr das verlassene Gebäude zu erkunden.
Als Ben ebenfalls einen letzten Blick auf den Wald warf, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er angestarrt wurde.
13 Jahre später.
Ben Fuhrmann saß in seinem Büro, hatte die Beine übereinandergeschlagen auf der Schreibtischplatte abgelegt und knetete abwechselnd mit der rechten und linken Hand einen Stressball. Er warf einen Blick aus dem Fenster im obersten Stockwerk des hohen Geschäftsgebäudes und ließ ihn in die Ferne schweifen. Ein hartnäckiger Schmerz wühlte in den Höhlen hinter seinen Augäpfeln und kroch beidseitig Richtung Schläfen. Der warme Herbstwind der letzten Tage verursachte bei ihm nicht nur gesundheitliche Beschwerden, sondern drückte ihm auch aufs Gemüt – allerdings war seine Stimmung grundsätzlich eher eine schwermütige.
Er sah nicht übel aus mit dem dunklen Haarschopf, den bernsteinfarbenen Augen und dem gepflegten Dreitagebart. Der beständige Anflug von Melancholie auf seinem Gesicht ließ ihn ein wenig älter wirken als 30, übte aber andererseits auf viele Frauen eine gewisse Faszination aus. Über mangelnde Zuwendung attraktiver Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts konnte er sich wahrlich nicht beklagen.
Bens Chef ging hinter der Glasfront an ihm vorbei und lächelte ihm verschwörerisch zu. Er wusste, dass Ben das tat, was von ihm erwartet wurde. »Mein bester Mann«, so nannte ihn Gregor Friedrichsen, seines Zeichens das größte Rädchen im Getriebe der Münchner HR-Versicherung. Biederer Familienmensch mit Hang zum Helikoptervater auf der einen Seite, korrupter Manager mit deutlichen Tendenzen zur Verschlagenheit auf der anderen. Und er erwartete von seinen Angestellten auf der Führungsebene eine nur geringfügig von seiner unmoralischen Einstellung abweichende Kundenbetreuung. Bei den meisten Menschen, die sich hilfesuchend an das Unternehmen wandten, handelte es sich um Unfallopfer.
Aber will ich das wirklich? Möchte ich die Menschen, die mir vertrauen und ihre Hoffnungen in mich setzen, mit falschen Informationen in die Irre führen und damit um ihre finanzielle Entschädigung bringen, wie es von mir verlangt wird?
Ben hatte Deutsch und Literatur auf Lehramt studiert und eigentlich Lehrer werden wollen, doch dann war alles anders gekommen.
Er starrte auf die reflektierende Fläche, hinter der Friedrichsen längst verschwunden war, und blickte in sein eigenes müdes Gesicht. Schatten und Linien … wie damals auf Lenis Gesicht, in jener Vollmondnacht, als wir über das »Geisterhaus« redeten und ich ihr ein Versprechen gab.
Er nahm die Beine vom Tisch, um sich wieder seinem aktuellen Fall zuzuwenden. Von der emsigen Betriebsamkeit außerhalb seines modernen Einmannbüros bekam er nichts mit, da der Raum gut isoliert war. Ben hörte nur das leise Surren des PCs und seinen eigenen Atem. Beklommen schlug er den Akt, mit dem er sich beschäftigen musste, auf: Ein kleines Mädchen war unter die Räder eines LKWs gekommen und hatte beide Beine verloren. Und leider konnte dafür niemand eindeutig zur Rechenschaft gezogen werden, da es sich bei dem Unfall um eine Verkettung unglücklicher Umstände handelte.
Plötzlich zerriss ein aktueller Hit die fast zu perfekte Stille. Hastig griff er nach seinem Handy, froh, für einen kurzen Moment seiner tristen Tätigkeit entfliehen zu können.
Eine Minute später wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Nur wenige Worte schleuderten Ben aus seiner Umlaufbahn, auf der er Tag für Tag seine Träume und Ziele umkreiste, während er seinen Alltag absolvierte. Und wieder, wie schon 13 Jahre zuvor, trug die Schuld daran: Greta!
Es gab von ihrer Seite keine Einleitung, die ihn auf den Schock vorbereitet hätte, kein Drumherumgerede, keine Schnörkel. Fast emotionslos teilte sie ihm mit, dass die Polizei Lenis Leiche gefunden hatte. Zumindest einen Teil davon: den Rumpf. Er war aufgrund des Schmetterlings-Tattoos unter der rechten Brust identifiziert worden und somit gab es keinen Zweifel daran, dass er seiner besten Freundin gehörte. Sie hat es sich erst vor vier Jahren stechen lassen und mir ganz stolz davon erzählt, schoss es ihm durch den Kopf.
»Was? Wo? Wie?«, stammelte er ins Telefon. Zum ersten Mal meinte Ben, so etwas wie ein Gefühl in Gretas Stimme wahrzunehmen, als sie flüsternd fragte: »Willst du das wirklich alles so genau wissen?«
»Natürlich!«, fuhr er empört auf und sah zugleich Lenis hübsches Gesicht vor sich, blickte in ihre leuchtenden grünen Augen und roch das sie stets umgebende Rosenparfum.
Er liebte sie seit seinem 17. Lebensjahr, bedingungslos, aber ohne Chance auf Erfüllung. Leni war seit acht Jahren fest mit Greta zusammen, die beiden führten eine scheinbar harmonische Partnerschaft. Er hingegen lebte die Hälfte der Zeit als Single, die andere Hälfte füllte er mit lockeren Beziehungen und bedeutungslosen Affären.
Ben stellte fest, dass er von seiner Freundin immer noch in der Gegenwart dachte, als würde sie noch existieren, dieselbe Luft atmen und nachts denselben Mond anschauen wie er. Das machte er seit ihrem spurlosen Verschwinden vor drei Jahren und würde auch jetzt nicht damit aufhören. Schließlich hatte er ihre Leiche noch nicht gesehen. Und das musste er, um zu begreifen, dass Leni nicht mehr dieselbe Luft atmete und nachts denselben Mond anschaute wie er, und das auch nie wieder tun würde. In seiner Welt war sie nach ihrem Verschwinden einfach nicht mehr wieder aufgetaucht, weder tot noch lebendig, und schon gar nicht nur teilweise. Wahrscheinlich hatte sie Apfeldorf freiwillig verlassen, ohne ihre Lieben darüber in Kenntnis zu setzen, weil sie nicht wollte, dass man sie davon abhielt, zu gehen. So lautete seine Version, und bei der wollte er vorläufig auch bleiben.
Während er Gretas Schilderungen lauschte und erfuhr, dass ein Hund den Körperteil in einem Gebüsch im Wald gefunden hatte, wischte er sich über die Augen. Die zurückgedrängten Tränen, die nicht austreten durften, weil er es nicht wollte, rannen an andere Stellen in seinem Schädel. Als sich ein Stechen in seiner Nase breitmachte und Flüssigkeit seine Kehle hinunterlief, meinte er zu ertrinken.
»Hast du mir zugehört?«, fragte Greta schroff mitten hinein in seine Fassungslosigkeit. Ben versuchte, sich zu sammeln und die düsteren Gedanken wegzuwischen. Denn auch wenn der Rumpf nicht der Frau gehörte, die er liebte, hatte sich ein furchtbares Verbrechen ereignet.
»Ja, klar.« Seine Stimme klang belegt. Er räusperte sich und sprach weiter: »Was wird denn nun weiter unternommen?«
Es blieb still am anderen Ende. Ben ließ in der Zwischenzeit die Monate, nachdem Greta die Vermisstenanzeige erstattet hatte, Revue passieren. Er dachte an die Bemühungen der Polizei, die junge Frau zu finden. An die vielen Fragen, die im Freundeskreis rotiert waren. An die Ratlosigkeit und Verzweiflung, und an die Furcht vor dem Unaussprechlichen.
Doch dass du einfach abhaust und deine Partnerin und Freunde ohne Nachricht zurücklässt, konnte auch nie jemand glauben, dachte er.
»Ich komme heim!«, sagte Ben kurzentschlossen.
Erschütternd, stellte er fest, prinzipiell passt mein ganzes Leben in genau zwei kleine Taschen. Und die sind so kompakt und schmal, dass sie nicht einmal den halben Kofferraum meines Autos belegen.
Ben hatte nicht für immer in Apfeldorf bleiben wollen, so wie die meisten anderen aus seiner Clique, und seine Heimat daher einige Jahre zuvor euphorisch verlassen. Er war froh gewesen, dem langweiligen Ort im Südwesten von Bayern mit seinen zurückgezogen lebenden Bewohnern endlich den Rücken kehren zu können.
Doch jetzt musste er zurück, wenn er dem Geheimnis um das spurlose Verschwinden seiner Freundin auf die Spur kommen wollte.
Schlimm genug, dachte er, dass ich nicht schon viel früher nachzuforschen begonnen habe. Es tut mir so leid, Leni!
Ich hasse dieses Kaff, dachte er weiter. Deshalb bist du immer zu mir nach München gekommen, wenn wir ein Treffen geplant haben. Doch irgendwann fanden diese Besuche immer seltener statt, du hast mir kaum noch Mails geschickt, und dann warst du plötzlich ganz einfach von einem Tag auf den anderen weg. Aber jetzt komme ich zurück! Und ich werde in Erfahrung bringen, was mit dir passiert ist, das schwöre ich!
Das Designerloft in München, das er sich seit einem Jahr leistete, würde vorübergehend leer stehen, was allerdings kein Problem darstellte.
Haustiere gab es keine, um die sich jemand hätte kümmern müssen, ebenso keine Pflanzen, die Fürsorge benötigten. Seinen Job konnte er größtenteils überall verrichten, solange er einmal pro Woche zu den Besprechungen ins Büro kam. Und wenn nötig, würde er sich ins Auto setzen und von Apfeldorf in die von dort nur rund 65 Kilometer entfernt liegende bayrische Hauptstadt fahren.
Die Liste des Inhalts seines Gepäcks blieb kurz: Ein paar Hosen, Hemden, Unterwäsche, sein Notebook – sonst nichts. Ganz zuletzt steckte er fast verschämt einen Schnappschuss von der früheren Clique tief in ein unscheinbares Seitenfach seiner Geldbörse. Das Bild war nach der langen Zeit ganz matt und durch häufiges Falten zudem rissig geworden. Nur mit Mühe konnte Ben erkennen, wer sich damals vor der Linse des Fotografen versammelt und in die Kamera gelacht hatte. Doch es genügte ihm, sich die Gesichter seiner Freunde vorzustellen, und Lenis Gesicht sah er ohnehin täglich: in seinen Träumen und Albträumen … und außerdem jedes verdammte Mal, wenn er seine Augen schloss.
Kurz darauf setzte er sich hinter das Steuer des roten Mercedes GLC und kam zwei Stunden später in Apfeldorf an – dort wo das Obst von innen nach außen fault, wie sie als Jugendliche mit einer Abneigung gegen die spießbürgerliche Scheinidylle in ihrem Heimatort immer gesagt hatten. Bis heute wusste keiner so genau, woher der Name stammte, denn ausgerechnet der Apfel war in der Region von untergeordneter Bedeutung. Wahrscheinlich hing er mit dem für die Gegend charakteristischen »abfallenden« Gelände zusammen.
Ein Zimmer kann ich mir später auch noch suchen, dachte er, als er um die letzte Kurve bog, und machte sich auf den Weg zu dem Haus, in dem Leni und Greta wohnten. Seine Augen wurden feucht, als er sah, wie liebevoll seine Freundin ihr Zuhause gestaltet hatte. Alles trug ihre Handschrift: die frische mintgrüne Fassade, die farbenfrohen Astern in den hellgelben Holzkisten vor den Fenstern, die prächtig vor sich hin blühten, als wäre die Welt noch in Ordnung. Leni hatte es immer bunt geliebt. Nein, sie liebt es immer noch, korrigierte Ben seine Gedanken.
Als er sich des Schmerzes bewusst wurde, den ein möglicher Verlust der Freundin in ihm auslöste, war ihm, als würde die Erde aufhören, sich zu drehen.
Tief sog er die mit dem Geruch von Pferdeäpfeln und Kuhmist geschwängerte Luft in seine Lungen, lauschte dem aus den herbstlich bunten Baumkronen tönenden Vogelgezwitscher und genoss für den Augenblick die trügerische Beschaulichkeit um ihn herum.
Sein Herz pochte, als würde es seine Brust von innen heraus zerschlagen wollen, während er mit einem mulmigen Gefühl endlich die Klingel betätigte.
Er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss bewegte, dann stand ihm Greta gegenüber. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Ben gehofft, es wäre niemand da. Er mochte Lenis Partnerin nicht. Natürlich, dass bei seiner Abneigung Eifersucht eine Rolle spielte, konnte er nicht leugnen. Außerdem hielt er diese Frau für verschlagen, berechnend und kaltherzig.
Und nun stand sie ihm gegenüber, die wasserblauen Augen zu einem Schlitz verengt, ihre Haut, so hell und durchscheinend wie Pergament, das kurze blonde Haar so strohig, wie er es in Erinnerung hatte.
»Ben«, stellte sein Gegenüber mit eisiger Miene fest und nötigte sich gleich darauf ein »Willst du hereinkommen?« ab.
Er nickte und folgte Greta in den tiefgeschossigen Flur. Die Luft in dem Haus war kühl und feucht. Dutzende Mappen mit Unterlagen stapelten sich, teilweise wild verteilt, auf Kommoden, Schränken, ja sogar am Boden, bis hin zum Tisch im Wohnzimmer, das sie kurz darauf betraten.
Wie erwartet, erkannte er auch dort den Geschmack seiner Freundin in jedem Detail: fröhlich leuchtende Wände, an denen verschnörkelte Bilderahmen mit selbstgemachten Fotos hingen, Möbel im Stilmix und farbenfrohe Teppiche zeugten von Lenis Einstellung, das Leben von der heiteren Seite zu betrachten. Ein bodengleiches Fenster gab den Blick in den verwildert wirkenden Garten mit einem kleinen Tümpel frei, bei dem es sich bei genauerer Betrachtung um eine liebevoll angelegte Oase für alle möglichen Arten von Tieren handelte.
Bens schweifender Blick fiel auf ein Dokument, das ganz oben auf einem Stapel Papiere lag: eine Heiratsurkunde!
»Ihr …«, murmelte er, »… ihr habt euch trauen lassen?«
Greta atmete langsam aus und erwidert schlicht: »Ja!«
»Wieso wusste ich davon nichts?« Bens Puls wurde schneller, voller Unbehagen fuhr er sich durchs Haar. Seine Gedanken verhakten sich in der Tatsache, dass Leni vor etwa fünf Jahren nach dem Tod ihrer Großmutter eine hübsche Summe Geld geerbt hatte. Mit einem Teil davon war das Haus, in dem er sich gerade befand, finanziert worden.
»Irre ich mich, oder bist nicht du derjenige, der Apfeldorf eines Nachts Hals über Kopf verließ, um seinen Karriereträumen in der Großstadt nachzujagen?«, fragte Greta in sarkastischem Tonfall. »Zudem weiß ich genau, dass du mich nicht magst. Hättest du dich an unserem großen Tag mit uns gefreut?«
Gute Frage. Vermutlich wäre ich eher besoffen in einer Ecke gesessen, weil meine Seelenverwandte gerade eine Frau heiratet.
»Siehst du!«, beantwortete Greta ihre eigene Frage mit einem selbstgerechten Ausdruck im Gesicht. »Deshalb wollte ich nicht, dass du eingeladen wirst, und Leni hat mir diesen Wunsch erfüllt! Weshalb bist du überhaupt zurückgekommen?«, griff sie ihn unvermittelt mit einem zornigen Funkeln in den hellen Augen an. »Wieso jetzt? Leni gilt schon lange genug als vermisst! Hätte dich nicht eher das Bedürfnis überkommen müssen, uns beizustehen?«
Greta deutete auf einen goldenen Bilderrahmen, der in einer halbhohen Vitrine im einfallenden Sonnenlicht glänzte. Darin befand sich dasselbe Foto, das Ben auch in seiner Geldbörse mit sich herumtrug. »Schau hin«, flüsterte sie, »schau genau hin. Wir alle kümmern uns hier. Nur du findest es erst jetzt der Mühe wert, hier aufzutauchen.«
»Anscheinend war es keine gute Idee, zurückzukehren«, sagte Ben und erhob sich, während das schlechte Gewissen an ihm zu nagen begann. »Ich werde mich jetzt irgendwo einquartieren und nach Leni suchen. Ich bringe sie nach Hause!«
»Hörst du dir eigentlich manchmal selbst zu?!«, rief Greta, sprang auf und eilte ihrem Besucher nach, der sich mit großen Schritten auf den Weg Richtung Eingangstür machte. »Sie ist tot!«
Ben lief mit grimmiger Miene auf die Straße und eilte auf sein Fahrzeug zu, ohne weiter auf die hinter ihm herlaufende Frau zu achten. Sie schleuderte ihm all ihre Vorwürfe hinterher: »Du hast doch gar keine Ahnung, was hier alles los war, seit du weg bist.« Als er nicht reagierte, ging sie ins Haus zurück und knallte die Tür zu.
Während Ben in seinen Wagen stieg und anschließend emotionsgeladen ziellos durch die Ortschaft fuhr, schossen ihm unzählige Gedanken durch den Kopf. Greta wusste offenbar nicht darüber Bescheid, dass Leni ihn in München besucht und auf dem Laufenden gehalten hatte. Er war über fast alle Neuigkeiten aus Apfeldorf informiert, vorwiegend über jene, die seine Freunde aus der ehemaligen Clique betrafen. Darüber hinaus wusste er über die brisantesten Gerüchte Bescheid und kannte sogar das eine oder andere schmutzige Geheimnis einiger Bewohner.
Leni arbeitete als Journalistin beim lokalen Klatschblatt und betätigte sich in ihrer Freizeit als leidenschaftliche Hobbydetektivin.
Mich wundert es kein bisschen, dass du als schlauer, neugieriger und fantasievoller Mensch diesen Beruf ergriffen hast. Du liebst es, Geheimnisse zu lüften, und warst schon immer von den Dingen fasziniert, die nicht für jedermann ersichtlich sind, sondern die es im Verborgenen zu entdecken gilt. Deshalb glaube ich auch zu wissen, dass dir die Geschichte mit »unserem« Haus im Wald keine Ruhe gelassen hat. Ist dir dort etwas zugestoßen? Oder hat einer der Ortsbewohner, über den du etwas in Erfahrung brachtest, das nicht ans Tageslicht hätte kommen sollen, dich mundtot gemacht? Möglicherweise bist du auch einem Skandal auf die Spur gekommen und wollest eine riesengroße Verschwörung reicher Unternehmer aufdecken, was die natürlich nicht zulassen konnten. Ben lächelte und stellte fest, dass seine Fantasie der seiner Freundin fast in nichts nachstand. Doch dann wurde er wieder ernst. Ist die Tatsache, dass du deine kleine süße sommersprossige Nase in Angelegenheiten stecktest, die dich nichts angehen, überhaupt relevant? Oder ist eine private Angelegenheit schuld an deinem – freiwilligen oder unfreiwilligen – Verschwinden? Denn dass der Rumpf, der gefunden wurde, deiner ist, werde ich keinesfalls glauben! Jedenfalls so lange nicht, bis mehr Beweise dafür vorliegen.
Erschrocken trat Ben auf die Bremse. Ein etwa fünfjähriges Mädchen mit dicken blonden Zöpfen war vor sein Auto gehüpft. Die Kleine hatte ein dreckverschmiertes Gesicht und riesige blaue Augen, aus denen sie gebannt auf den roten Mercedes vor sich starrte.
Da hörte er durch das einen Spalt breit geöffnete Fenster seines Fahrzeugs das schrille Keifen einer Frau, das sich rasch näherte.
»Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Typisch Großstädter, der glaubt, er braucht auf dem Land keine Verkehrsregeln zu beachten, weil eh keine Leute auf der Straße sind. Kommt mit seinem protzigen Angeberschlitten …«
Mit rasendem Puls sah er sich suchend um, konnte aber kein Stoppschild oder dergleichen entdecken.
»Ben Fuhrmann? Bist du das wirklich?« Die Stimme war mit einem Mal um eine Oktav tiefer und wesentlich freundlicher.
Er blickte in zwei erwartungsvolle Gesichter und kramte in seinem Gedächtnis. Die Frau, die mit dem Mädchen an der Hand breit lächelnd vor ihm stand, hatte senfblondes Haar, das ihr struppig vom Kopf abstand, und eine rundliche Figur.
Definitiv keine aus unserem engeren Freundeskreis, stellte er fest. Vielleicht die Tochter des Dorfwirts? Die ist immer schon recht stämmig gewesen, Haarfarbe und Alter würden auch passen.
»Maria?«, versuchte er es auf gut Glück, während er aus dem Auto stieg, um sich bei dem Kind zu entschuldigen.
Die Frau nickte sichtlich erfreut, während er vor dem Mädchen in die Hocke ging, ihm die Arme auf die schmalen Schultern legte und sagte: »Es tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen. Ist alles okay bei dir?«
Die Kleine strahlte ihn mit einem breiten Grinsen an, wobei sich zwischen den Lippen eine riesige Zahnlücke offenbarte.
»Mein Gott, wie lang ist das her …?«, fragte Maria mehr rhetorisch, als dass sie es wirklich hätte wissen wollen.
»Sieben Jahre!«, antwortete Ben trocken.
Die Frau hielt ihren Kopf schief, rollte die Augen gen Himmel und schien zu überlegen. »Stimmt«, rief sie dann und legte sich den Zeigefinger auf die Lippen. Sein Wunsch, sie würde damit andeuten, nicht weitersprechen zu wollen, erfüllte sich leider nicht.
»Du hast uns verlassen«, Ben traf ein vorwurfsvoller Blick, »nachdem deine Mutter gestorben war.«
Er dachte für einen kurzen Moment an das Begräbnis, auf dem sich nahezu der ganze Ort von Elisabeth Fuhrmann verabschiedet hatte, an die salbungsvollen Worte des Priesters und an seine Tränen. Nur eine Woche später bin ich gegangen, erinnerte er sich, um in München mein Glück zu versuchen. Hier hat mich nichts gehalten: Meine Mutter war tot, meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Die Clique löste sich langsam auf, man traf sich nur noch selten, meine Freunde fanden Partnerinnen, arbeiteten hart und sparten fleißig. Heute haben sie alle ein Haus und Familie. Und Leni hing damals ständig mit Greta zusammen und plante mit ihr eine gemeinsame Zukunft.
»Mir ist ja nichts passiert, du musst nicht weinen!«, riss ihn die Stimme des Mädchens aus seinen Gedanken und er bemerkte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Ben lächelte, fuhr der Kleinen mit dem gekrümmten Zeigefinger sanft über die schmutzige Wange und stand dann auf, um sich von Maria zu verabschieden.
»Ich muss los!«, sagte er und ging zum Auto zurück.
»Bleibst du noch länger in Apfeldorf?«, rief ihm die Frau nach.
»Ja … Ich brauche eine Unterkunft«, antwortete er nach einigem Zögern und drehte sich wieder um.
»Die ›Pension Helene‹ steht komplett leer«, informierte ihn die Tochter des Dorfwirts. »Ich hoffe, wir sehen uns noch. Das würde mich jedenfalls sehr freuen. Nicht, dass du wieder abhaust, ohne dich noch einmal bei mir sehen zu lassen«, kokettierte sie mit Schmollmund. Maria war einmal in ihn verliebt gewesen. Das zumindest hatte Leni mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen behauptet.
Er nickte, winkte dem kleinen Mädchen zu und stieg in seinen Mercedes.
Eine halbe Stunde später bezog er ein halbwegs sauberes Zimmer bei Helene Schuster, die im Sommer vier Räume ihres riesigen Hauses an Gäste vermietete – so sich jemals welche nach Apfeldorf verirrten.
Er räumte seine Kleidungsstücke in den Schrank, verband das MacBook mit dem WLAN und kontrollierte den E-Mail-Eingang. Es war nichts dabei, das dringend zu erledigen gewesen wäre. Anschließend verließ er die Pension – nicht, ohne der Wirtin zu danken, die ihn an das Abendessen um 18:00 Uhr erinnerte. In breitem bayrischem Dialekt hatte sie ihm eine Spezialität aus der Gegend schmackhaft gemacht, die sie für ihn zubereiten wollte: einen Krustenbraten mit Apfelsauerkraut und zur Nachspeise einen Zwetschgendatschi.
Ben schritt zügig durch den Ort, bis er auf dem Spielplatz ankam, auf dem er sich viele Jahre zuvor täglich mit Leni getroffen hatte. Die Spielgeräte rosteten unter hoch wucherndem Unkraut immer noch vor sich hin und die Bäume schienen ein wenig weiter weg gerückt zu sein – vermutlich, weil die ersten Reihen irgendwann gefällt worden waren. Er setzte sich auf das Karussell, das unter seiner Last erbärmlich ächzte. Sein Blick fiel auf das Haus, das auf einem Hügel in einer finsteren Ecke des Waldes lehnte. Für das Licht in den Räumen und den Geisterspuk ist es noch zu früh, dachte er und grinste. Ich sollte später wiederkommen. Da erinnerte er sich an das Versprechen, das er Leni vor langer Zeit gegeben hatte, dieses Gebäude nicht allein zu betreten. Daran wollte er sich, zumindest vorläufig noch, halten. Er stand auf und machte sich auf den Weg zurück zur Pension.