Elizabeth George
Meisterklasse /
Doch die Sünde ist scharlachrot
Goldmann
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Meisterklasse:
Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © der Originalausgabe »Mastering the Process. From Idea to Novel« 2020 by Susan Elizabeth George
Die Darstellung der Fotos 19 und 20 erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Pexels. Alle anderen Bilder in diesem Band mit freundlicher Genehmigung von Elizabeth George.
Die deutschen Auszüge aus »Doch die Sünde ist scharlachrot« entstammen der seit 2018 im Wilhelm Goldmann Verlag lieferbaren Neuausgabe.
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Susan Elizabeth George
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Ins Deutsche übertragen von Ingrid Krane-Müschen und Michael J. Müschen.
Doch die Sünde ist scharlachrot:
Copyright © 2008 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Neuausgabe 2018 im Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © der Originalausgabe »Careless in Red« 2008 by Susan Elizabeth George
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Umschlagmotiv Meisterklasse: FinePic®, München
Doch die Sünde ist scharlachrot: GettyImages/ Matt Anderson Photography
TH · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-29936-1
V001
www.goldmann-verlag.de
Elizabeth George
Wie aus einer guten Idee
ein perfekter Roman wird
Ins Deutsche übertragen von
Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Für meine Schwestern:
Gail
Karen Joy
Jane
Nancy
Das Schreiben, so hatte ich gelernt, verlangt eine wild entschlossene, alles einnehmende Leidenschaft und Konzentration, eine Weigerung, sich ablenken zu lassen.
Pico Iyer, The Man Who Told Futures
Prolog
KAPITEL 1
Recherche
Die Angst vor der leeren Seite überwinden
KAPITEL 2
Figuren
Der Handlungskern und was daraus folgt
KAPITEL 3
Vertiefung der Figuren
Das Grundbedürfnis
KAPITEL 4
Landschaft
Die innere und die äußere Welt der Figuren
KAPITEL 5
Dialog
Eine Figur anhand ihrer Sprache erkennbar machen
KAPITEL 6
GVS
Die Grundlagen des guten Erzählens
KAPITEL 7
Erzählperspektive und Stimme
Wer kann die Geschichte am besten erzählen?
KAPITEL 8
Entwicklung
Der Schreibprozess, Entscheidungen und die Handlung
KAPITEL 9
Die schrittweise Kurzfassung
Wie geht es weiter?
KAPITEL 10
Szenenaufbau
Der Gebrauch des Recherchematerials
KAPITEL 11
Anforderungen an eine Szene I
Eröffnungen und Wendepunkte
KAPITEL 12
Anforderungen an eine Szene II
Höhepunkt und Auflösung
KAPITEL 13
Wie man eine Szene strukturiert
Aufzeigen einiger Möglichkeiten
KAPITEL 14
Überarbeiten
Den eigenen Text lektorieren
KAPITEL 15
Routine
Letztlich ist es nur ein Job
Nachwort
Empfohlene Lektüre
Danksagung
Als Wort für Wort 2004 herauskam, hatte ich nicht vor, eine Fortsetzung zu schreiben. Aber nach vielen Jahren als Dozentin für Kreatives Schreiben und nach zahlreichen Vorträgen auf Autorenkonferenzen habe ich mir gesagt, dass ein Handbuch, in dem ich am Beispiel eines meiner eigenen Romane Schritt für Schritt erkläre, wie ich vorgehe, nützlich sein könnte für alle, die sich für das Schreiben von Romanen interessieren oder dafür, wie ich als Autorin die komplizierte Aufgabe angehe, einen Kriminalroman zu schreiben.
Lassen Sie mich zunächst erklären, wie ich meinen Schreibprozess entwickelt habe.
Nachdem Kate Miciak, die Cheflektorin bei Bantam Books, meinen ersten, noch nicht veröffentlichten Roman gekauft hatte, wartete ich sehnsüchtig auf eine Antwort von ihr. Ich war mit dem Handwerk des Schreibens und mit der Verlagswelt vertraut und wusste, dass fast jeder Roman nur herausgegeben wird, wenn er vorher noch einmal redigiert worden ist. Mein Manuskript mit dem Titel Gott schütze dieses Haus stellte also noch nicht die Endfassung dar. Ich wusste jedoch nicht, dass es weit entfernt von einer Endfassung war. Die Antwort, die ich schließlich von Kate nach dreieinhalb Monaten erhielt, war neun Seiten lang und in zweiundzwanzig Abschnitte aufgeteilt. Und die zweiundzwanzig Abschnitte bestanden aus nichts anderem als Fragen. Ich musste mein Manuskript somit noch einmal durchgehen und diese Fragen, so gut es ging, beantworten. Mein Manuskript wuchs dadurch um etwa hundert Seiten an.
Einen solchen Aufwand wollte ich nicht noch einmal betreiben müssen. Deshalb las ich mir Kates Brief noch einmal genau durch, damit ich bei meinem nächsten Roman nicht wieder so viel Arbeit vom Lektorat aufgebrummt bekommen würde. Ich stellte fest, dass es zwei Bereiche gab, auf die sich Kates Fragen hauptsächlich bezogen. Es ging ihr erstens um detailliertere Ortsbeschreibungen und zweitens um eine tiefere Analyse der Figuren.
Ich fragte mich: Wie kann ich in meinem nächsten Roman Orte anschaulicher und plausibler beschreiben? Wie kann ich meine Figuren wahrhaftiger darstellen? Die Antworten auf diese beiden Fragen lieferten mir die ersten beiden Elemente dessen, was ich später als meinen »Prozess« bezeichnete.
Ich begriff, dass ich mir einen Ort, an dem ich eine Handlung spielen lassen wollte, wesentlich genauer ansehen musste. Damals gab es noch kein Internet, ich musste mir also etwas einfallen lassen, wie ich einen Schauplatz für meine Leser lebendig werden lassen konnte. Ich entschloss mich, noch mehr Zeit und Energie auf das Erfassen und Begreifen von Örtlichkeiten zu verwenden, wenn ich in England war, um mir einen Schauplatz für meinen nächsten Roman auszusuchen. Ich würde mir genauere Notizen über jeden einzelnen Ort machen, mehr fotografieren, mich intensiver mit der Flora und der Fauna der Gegend beschäftigen, die für meine Handlung infrage kam, alle sinnlichen Eindrücke aufzeichnen, die ein Ort bei mir auslöste, und wenn nötig Gespräche mit Anwohnern führen. Außerdem würde ich mir Reiseführer und Bücher, Katasterkarten, Straßenkarten und Hunderte Ansichtskarten kaufen. Ich würde mich mit der Architektur und den Baustoffen, der Geologie und der Topografie beschäftigen, die für jedes County, das ich erkundete, typisch waren. Ich würde aufmerksam den Gesprächen um mich herum lauschen. Ich würde die Leute in ihrem Alltag beobachten. Mithilfe all dieser Informationen konnte ich dann den Schauplatz für meinen Roman gestalten, und zwar, bevor ich anfinge zu schreiben. Somit verfügte ich, wenn ich eine Figur in eine Szene einführte, über Aufzeichnungen, Fotos und Landkarten, um den Ort für meine Leser lebendig zu gestalten. In bestimmten Fällen würde ich mir selbst eine Karte der jeweiligen Örtlichkeit anfertigen, vor allem wenn ich einen fiktiven Ort verwenden oder für meine Geschichte mehrere Orte zu einem verdichten wollte.
Auch meine Figuren wollte ich im Voraus entwickeln. Sobald ich den Kern einer Handlung hatte (der sich häufig aus dem ergab, was ich in der Gegend erlebte, wo meine Geschichte spielen sollte), musste ich diesen Kern mit den Leuten bevölkern, die in die Geschichte verstrickt waren. Und als Krimiautorin würde ich mit dem Opfer und dem Täter beginnen. Aber die Figuren im Voraus zu entwickeln bedeutete nicht nur festzulegen, dass es beispielsweise fünf Verdächtige, einen Mörder und ein Opfer gab. Und es reichte auch nicht aus, den Figuren Namen zu geben und ihr Alter festzulegen. Diese Informationen reichten nicht aus, um die Figuren für meine Lektorin – und eigentlich auch für mich selbst – lebendig werden zu lassen.
Also beschloss ich, für meine Figuren alles zu sein: die Psychologin, die Sozialarbeiterin, die Historikerin, die Ärztin, die Kummertante, der Schutzengel, die allgegenwärtige Beobachterin, die Mutter, die Schwester, die Vertraute, die beste Freundin, die schlimmste Feindin und so weiter und so fort. Auf diese Weise lernte ich meine Figuren irgendwann besser kennen als sie sich selbst, schließlich war ich die Göttin, die sie aus dem Nichts erschuf. Aus jeder Figur würde ich eine reale Person formen und zu jeder Figur eine Datei erstellen, auf die ich während des Schreibens jederzeit zurückgreifen konnte, damit ich mir vorstellen konnte, wie die Person handelte, wie sie reagierte und sprach, welche Vorlieben sie hatte, was sie vom Leben erwartete, wie ihr Tagesablauf aussah, welche Meinungen sie vertrat und wie sie sie äußerte und welche geheimen Neurosen sie besaß.
Erst nachdem ich die Schauplätze und die Figuren ausgearbeitet hatte, würde ich mit der Arbeit an meinem Roman anfangen. Diese Methode nannte ich den Prozess, und ich wandte sie bei meinem zweiten Krimi an: Keiner werfe den ersten Stein.
Der Schauplatz geht auf einen Urlaub im schottischen Hochland zurück, wo mein Mann und ich in einem alten Herrenhaus wohnten. Zu dem Haus gehörte ein weitläufiges Landgut, und auf unseren ausgedehnten Spaziergängen kam mir die Idee, es als Hauptschauplatz für ein Buch zu nehmen, denn es gab dort einige faszinierende Orte, wie zum Beispiel einen überwucherten Familienfriedhof, einen See, der stets im Nebel lag, und eine kleine Insel in dem See, um nur drei zu nennen. Auch andere Schauplätze gehen auf diesen Urlaub zurück, zum Beispiel die Szenen in Hampstead und die Verfolgungsszene, die den Höhepunkt des Buchs bildet.
Natürlich konnte ich mir Hampstead nicht »ausdenken«. Hampstead existiert ja tatsächlich, und deswegen musste ich es in meinem Roman wahrheitsgetreu darstellen. Ich brauchte also Aufzeichnungen, Karten und Fotos. Den Schauplatz in Schottland wollte ich wie gesagt in dem Herrenhaus und den Ländereien in der Umgebung ansiedeln, aber ich musste das Landgut kartieren und das architektonische Äußere und Innere des Hauses kreieren.
Weitere Schauplätze, die in dem Roman vorkommen sollten, waren mir bereits von zahlreichen Aufenthalten in London bekannt: South Kensington, Chelsea und Belgravia. In diesen Londoner Stadtteilen würden vier der fünf Figuren leben, die zum Stammpersonal meiner Krimis gehören sollten: Lady Helen Clyde in South Kensington; Simon St. James und seine Frau Deborah in Chelsea und Thomas Lynley in Belgravia. Ich hatte mir sogar schon die Straßen und Plätze ausgesucht, wo sie wohnen würden. Ich hatte die Viertel so gründlich erkundet – in einem Sommer hatte ich sogar fünf Wochen dort gewohnt –, dass ich mir zutraute, alles realistisch darzustellen, vor allem Onslow Square, Eaton Terrace und Cheyne Row.
Erst danach begann ich, meinen Roman zu schreiben, von dem ich glaubte, dass er Kate rundherum zufriedenstellen würde. Offenbar hatte ich es tatsächlich besser gemacht, denn diesmal war Kates Brief nicht neun, sondern nur zwei Seiten lang und enthielt nur Anmerkungen zu neun Themenbereichen anstatt zweiundzwanzig. Daraus schloss ich, dass ich auf dem richtigen Weg war, und sagte mir, wenn ich mir bei meinem dritten Roman noch etwas mehr Mühe gab, würden meine Chancen gar nicht schlecht stehen, ein zufriedenstellendes Manuskript abzuliefern, das nur noch wenig redaktionelle Arbeit erforderte. Das würde natürlich niemals meine Erstfassung sein – es hat noch niemand die Erstfassung eines meiner Romane zu Gesicht bekommen –, sondern ausschließlich die Fassung, die ich ohne äußere Einflüsse so gut wie möglich hinbekommen konnte.
Wie vermochte ich meinen Ansatz zu erweitern? Ich hatte den Eindruck, dass mir die Konstruktion der Figuren schon ganz gut gelang, aber an der Gestaltung der Schauplätze konnte ich noch etwas schleifen. Kate hatte keine Fragen zur Handlung oder der Struktur der einzelnen Szenen gehabt, und auch an den Dialogen hatte sie nichts auszusetzen. Deswegen tat ich wohl gut daran, mir noch mehr Kenntnisse der Schauplätze, der Kultur, der Traditionen und – das war vielleicht das Wichtigste – der Polizeiarbeit anzueignen.
Für meinen dritten Kriminalroman – Auf Ehre und Gewissen – nahm ich mir eine besonders schwierige Aufgabe vor: Ich wollte über ein britisches Internat schreiben, und zwar mit so viel Kenntnisreichtum, als hätte ich selbst eins besucht – eine Welt, die mir als Amerikanerin, noch dazu einer, die eine katholische Highschool besucht hatte, mehr als fremd war. Zunächst nahm ich Kontakt auf zu britischen Internaten mit der Bitte, ihnen während der Schulzeit einen Besuch abstatten zu dürfen. In vier Internaten hielt ich mich dann jeweils eine Zeit lang auf.
Die Handlung meines Romans ergab sich ganz direkt aus diesen Aufenthalten. Die Direktoren, die Lehrer, die Schüler – die alle wussten, warum ich dort war – unterstützten mich begeistert bei meinen Recherchen. Da mein Opfer ein Schüler sein würde, zeigte man mir zahllose Orte, an denen ein junger Mensch durch die Hand eines Mitschülers oder eines Mitglieds des Lehrkörpers oder eines Verwaltungsangestellten des Internats zu Tode kommen konnte. Man gestattete mir, im Unterricht zu hospitieren, zeigte mir Verstecke, wo Schüler Unfug trieben, man brachte mir den Jargon der britischen Internatswelt bei, und schließlich lernte ich einen Jungen kennen – der zum Direktor zitiert wurde, nachdem er versucht hatte, aus dem Internat auszubüxen, weil er seine Mutter im Krankenhaus besuchen wollte –, der später im Roman zu Matthew Whateley wurde, dem kleinen Jungen, dessen Leiche hinter der Mauer des Friedhofs gefunden wird, auf dem der Dichter Thomas Gray begraben liegt.
Als ich nach Hause zurückkehrte, hatte ich jede Menge Informationen gesammelt, aus denen ich mein eigenes britisches Internat konstruierte. Ich schrieb einen Werbeprospekt für die Schule, zeichnete eine Karte des Schulgeländes, gab den Wohngebäuden Namen und wählte West Sussex als Standort aus. Es waren bei Weitem die umfangreichsten Vorarbeiten für einen Handlungsort, die ich je für einen Roman durchgeführt hatte. Als Nächstes entwickelte ich die Figuren. Anschließend baute ich einen neuen Schritt in meinen Prozess ein: den vorläufigen Handlungsentwurf, den ich für jeden Teilabschnitt des Romans verfasste und der mich durch die Handlung führen und mir helfen würde, den Überblick zu behalten.
Als ich eine Version fertiggestellt hatte, mit der ich zufrieden war – es war die dritte –, schickte ich sie Kate. Meine intensive Arbeit machte sich bezahlt. Kate akzeptierte das Manuskript ohne Änderungswünsche und gab es, so wie es war, an die Lektorin weiter.
So wurde mein »Prozess« geboren, dem ich mit der Zeit weitere, mir nützlich erscheinende Elemente hinzufügte. Und das ist überhaupt der springende Punkt: Es waren Elemente, die mir nützlich erschienen. Was ich als nützlich erachte, muss nicht notwendigerweise für andere nützlich sein. Aber wer noch neu im Geschäft und unerfahren ist und sich immer wieder scheinbar unüberwindlichen Hürden gegenübersieht, findet vielleicht auf den folgenden Seiten ein paar hilfreiche Tipps.
Man könnte einwenden, ich wolle Ihnen ein »Rezept« zum Schreiben von Romanen an die Hand geben, obwohl es dafür in Wirklichkeit gar kein Rezept gibt. Man könnte ebenfalls einwenden, ich wolle behaupten, dass Sie, wenn Sie meine Ratschläge genau befolgen, einen zur Veröffentlichung geeigneten Roman schreiben werden. Ich möchte Ihnen jedoch lediglich zeigen, wie ein ganz bestimmter Prozess, den ich über die Jahre entwickelt habe, mir beim Schreiben hilft. Natürlich können Sie die in diesem Buch beschriebenen Schritte ausprobieren, um herauszufinden, ob sie Ihnen nützlich sind. Vielleicht erscheinen Ihnen einige Schritte sinnvoll, andere dagegen nicht. Aber letztlich müssen Sie Ihren eigenen Weg finden, und darauf kommt es mir an. Und nur so wird Ihnen das Schreiben wirklich Freude bereiten.
Manche Autoren führen ein Schreibtagebuch.
Manche konstruieren einen Roman aus einer Reihe von Szenen, die sie in willkürlicher Reihenfolge schreiben und die erst eine innere Logik bekommen, wenn die ganze Geschichte erzählt ist.
Andere stürzen sich Hals über Kopf in die dramatische Handlung, ohne vorher genau zu wissen, was am Ende dabei herauskommt.
Wieder andere denken sich eine Handlung aus, notieren sich die einzelnen Elemente der Geschichte auf Karteikarten, die sie an die Wand pinnen und so lange hin und her schieben, bis sie sich in einer Ordnung befinden, die das Gerüst für ihren Roman ergibt.
Was ich in diesem Buch beschreibe, ist ein Prozess, mit dessen Hilfe ich zweiundzwanzig meiner vierundzwanzig Kriminalromane geschrieben habe. Um den Prozess zu illustrieren, führe ich Beispiele aus einem meiner Romane an: Doch die Sünde ist scharlachrot. Sie müssen das Buch nicht lesen oder gelesen haben, aber falls Sie Stellen, von denen ich nur wenige Absätze zitiere, in einem größeren Zusammenhang nachlesen wollen, ist es sicherlich hilfreich, das Buch zur Hand zu haben. Das liegt ganz bei Ihnen. Aber ich will Ihnen gleich sagen, dass viel über den Handlungsablauf verraten wird; falls Sie es also nicht leiden können, im Voraus zu wissen, wie eine Geschichte ausgeht, und es vorziehen, den Krimi zu lesen, bevor Sie erfahren, nach welcher Methode ich ihn geschrieben habe, nur zu.
Wenn Sie dann dieses Buch lesen, kommt es einzig und allein darauf an, dass Sie für alles offen sind. Den Studierenden in meinen Kursen zum Thema »Kreatives Schreiben« sage ich immer: Beherzigen Sie, was Ihnen gefällt, und vergessen Sie den Rest.
Es ist durchaus etwas dran an der Behauptung, dass man die Schriftstellerei nicht unterrichten kann, vor allem wenn man das Schreiben als Kunst und nicht als Handwerk betrachtet. Denn Kunst entsteht durch den Impuls, etwas zu erschaffen, und ein Impuls lässt sich weder unterrichten noch erlernen. Er ist einfach da. Das Ergebnis des Impulses wird bewertet aus der Sicht seiner Betrachter, die es als alles Mögliche bezeichnen: großartig, innovativ, idiotisch, außergewöhnlich, banal, vulgär, eindrucksvoll, bewegend oder widerlich. Alle Reaktionen sind möglich. Tracey Emins ungemachtes Bett in der Londoner Tate Gallery ist, glaube ich, ein gutes Beispiel für einen kreativen Impuls. Manche Leute betrachten das Ergebnis als Kunst, andere sind der Meinung, dass Tracey Emin sich einen gewaltigen Scherz mit der Öffentlichkeit erlaubt.
In Wirklichkeit gibt es nur sehr wenig, was sich als »reine« Kunst bezeichnen lässt, als etwas, das einzig und allein aus dem Impuls entsteht, etwas zu kreieren. In der Regel basiert Kunst auf einer fundierten handwerklichen Fertigkeit, mit der ein Künstler sein Kunstwerk herstellt. Und das – also das Handwerk – kann sowohl unterrichtet als auch erlernt werden.
Wer zum Beispiel Bildhauer werden möchte, muss zuerst lernen, wie man Stein bearbeitet, bevor er oder sie die Pietà aus dem Marmor haut. Es ist wichtig zu verstehen, wie die alten Meister mit Farben umgingen, bevor man sich daranmacht, Die Nachtwache auf die Leinwand zu pinseln. Wer mit Bronze arbeiten möchte, sollte das Modellieren von Ton oder das Wachsschmelzverfahren erlernen, bevor er oder sie Die Bürger von Calais in Bronze gießt. Und wer der nächste Dale Chihuly werden möchte, sollte zuerst etwas über Glasbläserei lernen. All das ist Handwerk, und Handwerk ist die Grundlage aller Kunst. Auch zum Schreiben benötigen wir Handwerkszeug, denn dadurch entwickeln wir den Schreibprozess. Und dieser Prozess wiederum ermöglicht es uns, einen Roman zu schreiben.
Das Entwickeln und Anwenden eines Schreibprozesses ist in erster Linie dazu da, die Angst vor der leeren Seite zu überwinden und das Gedankenchaos unseres mentalen Komitees zu eliminieren. Auf diese Weise überlisten wir unser Gehirn und lassen es in dem Glauben, es gäbe tatsächlich ein Rezept für das Schreiben eines Romans.
Für mich beginnt das Überlisten mit der Recherche, und die beinhaltet nicht nur das Sammeln von Hintergrundinformationen, die ich brauche, um die verschiedenen Figuren in meinem Roman glaubhaft darzustellen, sondern auch das Erkunden der Gegend, in der mein Roman spielen soll, damit ich die Örtlichkeiten präzise beschreiben kann. Heutzutage kann man zwar vieles im Internet finden, vor allem wenn man noch auf der Suche nach einer zündenden Idee für eine Geschichte ist. Aber ich muss mich selbst an die Schauplätze meines Romans begeben, denn nur so stoße ich auf örtliche Gegebenheiten, die mich zu Handlungselementen anregen, auf die ich sonst nicht käme.
Indem ich selbst hinfahre, kann ich die Landschaft hautnah erleben, in der mein Roman sich abspielen wird, und in dieser Landschaft finden sich tausend Details – und das bedeutet tausend Möglichkeiten –, die ich auf Google Earth nicht sehen kann. Meine Erkundungstouren dienen einem doppelten Zweck: Erstens wähle ich aus zahllosen Einzelheiten diejenigen aus, die meine Geschichte pointieren können, und zweitens suche ich nach geeigneten Örtlichkeiten für ganz bestimmte Szenen. Dabei bemühe ich mich, das, was ich sehe, möglichst neutral aufzunehmen, ohne vorgefasste Vorstellungen davon, wie ich es zum Einsatz bringen könnte. Ich halte einfach nach Orten Ausschau, die mir als brauchbar ins Auge springen. Ich lege nicht sofort fest, wo sie in meine Geschichte hineinpassen, ja nicht einmal, ob überhaupt. Ich registriere nur das Potenzial eines Orts und füge ihn meiner Sammlung an Informationen über eine bestimmte Landschaft hinzu.
Als ich nach Cornwall fuhr, um für Doch die Sünde ist scharlachrot zu recherchieren, wusste ich Folgendes:
In einem meiner vorhergehenden Kriminalromane – Wo kein Zeuge ist – wird die Ehefrau meiner Hauptfigur (Thomas Lynley) in London auf der Straße Opfer eines völlig sinnlosen Mordes.
Von Trauer überwältigt hängt Lynley seinen Job bei der Metropolitan Police in London an den Nagel und zieht sich auf den Familienwohnsitz in Cornwall zurück.
Dort wohnen seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester, deren Mitgefühl und übermäßige Fürsorge ihm jedoch schon bald bewusst machen, dass er von dort weg und seine Trauer allein bewältigen muss.
Er entschließt sich, eine Wanderung auf dem South West Coast Path zu unternehmen, und zwar von Lamorna Cove in Cornwall, wo sich der Familiensitz befindet, über Land’s End und dann weiter nach Norden bis nach Minehead in Somerset, eine Strecke von mehr als dreihundert Kilometern.
Das waren die Informationen, die ich hatte. Mehr wusste ich nicht. Aufgrund der Umgebung hatte ich mir außerdem überlegt, das Thema Surfen in irgendeiner Weise einfließen zu lassen. Was wiederum bedeutete, dass sich die meisten Szenen (wenn nicht alle) an der Küste abspielen würden.
Da Lynley intensive Trauerarbeit leisten würde, suchte ich nach Orten in Cornwall, die zu der schwermütigen Stimmung passten, die ich hervorrufen wollte. Mit anderen Worten: Wenn ich mir Lynley auf seiner Wanderung entlang der Küste vorstellen wollte, musste ich den South West Coast Path zumindest streckenweise selbst erwandern. Die akkurate Beschreibung der Orte und der Reaktion Lynleys auf seine Umgebung diente dazu, die richtige Stimmung und Atmosphäre zu kreieren. Die wichtigste Aufgabe bestand jedoch darin, den passenden Ort für das Verbrechen zu finden, um das sich die Geschichte drehen sollte.
Ich musste also die Landschaft am eigenen Leib erleben, damit ich Sicherheit gewann und jede Szene wahrhaftig schildern konnte. Dazu musste ich mich etwa zur selben Jahreszeit wie Lynley in Cornwall aufhalten.
Abbildungen 1 und 2 sind Fotos, die ich im Norden Cornwalls aufgenommen habe. Ich war im März dort, es fegte ein heftiger Wind aus dem Uralgebirge, es herrschten Temperaturen um die null Grad, und Nebel und Regen wechselten sich ab. Auf der Suche nach einer Atmosphäre der Trauer und Schwermut hätte ich kaum ein besseres Motiv finden können, um meine Eindrücke festzuhalten.
Abbildung 1
Abbildung 2
Als ich die Fotos schoss, wusste ich noch nicht, wie und ob ich sie würde verwerten können. Aber aufgrund meiner beim Wandern gesammelten Erfahrungen entwickelte ich schließlich den Anfang meiner Geschichte, die allerdings nicht im März, sondern im April beginnen würde:
Er fand die Leiche am dreiundvierzigsten Tag seiner Wanderung. Der April neigte sich bereits dem Ende zu, auch wenn der Mann sich dessen kaum bewusst war. Wäre er in der Lage gewesen, seine Umgebung wahrzunehmen, hätte die Flora entlang der Küste ihm einen unschwer zu deutenden Hinweis auf die Jahreszeit gegeben. Bei seinem Aufbruch war das einzige Anzeichen wiedererwachenden Lebens der gelbe Schleier der Ginsterknospen gewesen, die sporadisch oben auf den Klippen sprossen. Inzwischen hatte sich dort ein wahres Farbenmeer ausgebreitet, und hier und da rankte Angelika um die geraden Stämme der Hecken. Nicht mehr lange, und auch der Fingerhut würde die Straßenränder säumen und Breitwegerich seine feurigen Köpfe aus den Bruchsteinmauern recken, die in diesem Teil der Welt die Felder begrenzten. Doch so weit war es noch nicht, und all diese Tage, die sich zu Wochen aufgereiht hatten, war er in dem Bemühen gewandert, nicht vorauszublicken, geschweige denn an die Vergangenheit zu denken.
Er trug praktisch nichts bei sich, lediglich einen uralten Schlafsack, einen Rucksack mit ein wenig Proviant, den er aufstockte, wenn er gerade einmal daran dachte, und eine Flasche, die er morgens mit Wasser füllte, falls in der Nähe seines Schlafplatzes welches zu finden war. Alles Übrige trug er am Leib: eine wetterfeste Jacke, eine Kappe, ein kariertes Hemd, eine Hose. Stiefel, Socken, Unterwäsche. Er war völlig unvorbereitet zu dieser Wanderung aufgebrochen, und das war ihm gleichgültig gewesen. Er hatte nur eines gewusst: Er konnte lediglich auf Wanderschaft gehen oder aber zu Hause bleiben und schlafen, und wäre er zu Hause geblieben, hatte er erkannt, dann hätte er irgendwann nicht mehr den Willen aufgebracht, wieder aufzuwachen.
Also wanderte er. Er hatte keine Alternative gesehen. Er hatte die steilen Aufstiege zu den Klippen bewältigt, während der Wind und die scharfe, salzige Luft ihm ins Gesicht peitschten. Dann wieder war er über Strände gelaufen, wo bei Ebbe Felsen aus dem nassen Sand ragten. Er war außer Atem geraten, der Regen hatte seine Hosenbeine durchweicht, spitze Steine hatten sich in seine Schuhsohlen gebohrt, und all dies hatte ihn daran gemahnt, dass er lebte und weiterleben sollte.
So lieferte mir also eine Stelle auf dem Küstenpfad die Kulisse für den Beginn meines Romans. Aber neben einer allgemeinen Charakterisierung der Gegend im dritten Absatz, die mir als landschaftlicher Hintergrund für meine Geschichte diente, brauchte ich eine ganz bestimmte Örtlichkeit für meine erste Szene.
Auf den Abbildungen 3 und 4 sehen Sie, was ich damals sah: die tödlichen Spitzen der Schieferplatten, die überall entlang der Westküste zu finden sind, und den Wanderweg von einer erhöhten Stelle aus aufgenommen. Abbildung 5 zeigt eine Nahaufnahme des Wanderwegs.
Abbildung 3
Abbildung 4
In den folgenden Abschnitten aus Doch die Sünde ist scharlachrot können Sie nachvollziehen, wie ich diese Fotos für die Entwicklung meiner Geschichte benutzt habe. Die Details sollen nicht nur die gewünschte Stimmung erzeugen, sondern auch eine Beziehung zwischen dem Leser und der Figur auf dem Wanderweg aufbauen. Denn wenn der Leser Anteil am Schicksal einer Figur nimmt, wird er weiterlesen.
Gegen den Wind kämpfte er sich die Klippe hinauf. Unter ihm lag die schmale Bucht, wo er vielleicht eine Stunde gerastet und die Wellen betrachtet hatte, die mit ungeheuerlicher Wucht gegen die steil aufragenden Schieferfelsen brandeten. Dann hatte die Flut eingesetzt, und er hatte zugesehen, dass er wieder nach oben kam, um Schutz vor dem Wetter zu suchen.
Als er die Klippe fast erklommen hatte, musste er sich hinsetzen. Er war außer Atem. Es war verwunderlich, dass die wochenlange Wanderung ihm inzwischen nicht genügend Ausdauer für die vielen Kletterpartien entlang der Küste verliehen hatte. Er hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, verspürte ein Ziehen, das er als Hunger identifizierte, und nutzte die Pause, um das letzte Stück der getrockneten Wurst zu verzehren, die er erstanden hatte, als er vor unbestimmter Zeit an einem Weiler vorübergekommen war. Dann stellte er fest, dass er auch durstig war, und stand auf, um sich nach irgendeiner Form menschlicher Behausung umzusehen: Dorf, Fischerhütte, Ferienhaus oder Farm.
Doch es gab nichts dergleichen. Aber der Durst tat gut, dachte er resigniert. Der Durst war genau wie die spitzen Steine, die er durch die Schuhsohlen hindurch spürte, wie der Wind, wie der Regen. All das erinnerte ihn an die Dinge, an die er sich erinnern musste.
Abbildung 5
Da ich selbst vor Ort gewesen war, brauchte ich mir keinen Schauplatz auszudenken. (In der Hinsicht habe ich einfach keine Fantasie, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.) Durch meine Erkundungstouren finde ich Stellen, an denen meine Figuren in Konflikte geraten, handeln müssen, sich gezwungen sehen, anders als gewohnt zu handeln, oder sich mit einer Seite an sich selbst konfrontiert sehen, die ihnen bis dato unbekannt war.
Abbildung 6
Abbildung 7
Mithilfe der Abbildungen 6 und 7 konnte ich dem Leser die örtlichen Gegebenheiten näherbringen, ihn die Gefahren spüren lassen, denen Lynley ausgesetzt ist, und ihm eine Ahnung vermitteln, was auf ihn zukommt. Auf Abbildung 6 bekommt man eine Vorstellung von der Höhe der Klippen und davon, was passiert, wenn man hinunterstürzt. Auf Abbildung 7 erkennt man, wie gefährlich es ist, wenn man zu nah am Rand der Klippen entlanggeht, wo der bröckelige Boden möglicherweise wegbricht, was den sicheren Tod des Wanderers bedeuten würde.
Bisher können wir also festhalten, dass meine Fotos mir den Einstieg in meine Geschichte ermöglichten. Sie gaben mir ein Gefühl für die Landschaft, und sie bewiesen nicht nur, dass die Wanderung entlang der Küste genau das war, was Lynley brauchte, um seine Trauer um seine Frau zu bewältigen, sondern sie versetzten Lynley in die Lage, genau dort auf ein Verbrechen zu stoßen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was für eine Art von Verbrechen, aber meine Erkundungen in Cornwall würden mich mit der Polizei, mit Surfern und Herstellern von Surfbrettern, mit einem Hersteller von Cider und mit Klippenkletterern in Kontakt bringen, und ich war davon überzeugt, dass meine Gespräche mit ihnen mich auf eine Idee für ein Verbrechen bringen würden, um das herum ich die Geschichte entwickeln könnte.
Wie bereits erwähnt stoße ich bei meinen Erkundungsausflügen hin und wieder auf Details, von denen ich auf den ersten Blick weiß, dass ich sie im Roman verwenden werde. Zwar weiß ich nicht immer sofort, wie ich das jeweilige Detail einsetzen werde, aber seine spezielle Eigenart – vielleicht ist es besonders bizarr oder besonders unerwartet – macht mir deutlich, dass es in meiner Geschichte vorkommen wird. Und deswegen fotografiere ich es. Die Abbildungen 8 und 9 sind gute Beispiele dafür.
Abbildung 8
Ich war zu der Bucht gegangen, wo das Haus stand, weil sie eine der wenigen Stellen entlang der Küste war, von wo aus ich Zugang zum Strand hatte. Schon vor meinem Flug nach England hatte ich in einem meiner Reiseführer etwas über diese Bucht gelesen. Auf Abbildung 8 sehen Sie meinen Mietwagen auf dem kleinen Parkplatz oberhalb des Strands stehen. Von dort war ich den Pfad hochgestiegen, weil ich das ganze Tal von oben fotografieren wollte. Auf dem Weg zum Strand hinunter war ich an dem Haus vorbeigekommen, das in einiger Entfernung zu sehen ist. Mir fiel gleich auf, wie isoliert es dort stand. Zwar wusste ich noch nicht, wie ich es in meine Geschichte würde einbauen können, aber seine Abgeschiedenheit barg interessante Möglichkeiten.
Auf Abbildung 9 sind das Haus und vor allem seine nähere Umgebung besser zu sehen. Ich war noch einmal zu dem Haus gegangen und dann weiter über die hölzerne Brücke, die im Vordergrund zu sehen ist, und noch etwas höher gestiegen, um das Haus und den Bach, der an ihm vorbei ins Meer fließt, fotografieren zu können. Mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass dieses Haus in meiner Geschichte vorkommen musste. Also sah ich mich noch genauer um.
Abbildung 9
Aus meiner Wanderung, meinen Erkundungen und Fotografien ist der nun folgende Ausschnitt entstanden, den Sie in Doch die Sünde ist scharlachrot nachlesen können. Lynley hat kurz zuvor beim Wandern einen Surfer beobachtet und fragt sich, was der Surfer bei dem schlechten Wetter allein da draußen auf dem Meer macht.
Nachdem er sein karges Mahl beendet hatte, nahm er seinen Weg wieder auf. Hier waren die Klippen bröckelig, ganz anders als dort, wo er seinen Weg begonnen hatte. Dort hatten sie großteils aus Granit bestanden, aus Eruptivgestein, das vulkanische Kräfte zwischen Lava, Kalkstein und Schiefer emporgepresst hatten. Und obwohl Zeit, Wetter und die rastlose See daran nagten, waren die Klippen massiv, sodass ein Wanderer sich bis an die Kante wagen konnte, um übers Wasser zu blicken oder die Möwen zu beobachten, die Landeplätze in den Felsspalten suchten. Hier jedoch bestanden sie aus Weichgestein: Schiefer und Sandstein, und am Fuß der Klippen häuften sich die Gesteinsbrocken, die immer wieder von den Kanten brachen. Wenn man sich zu nah an den Rand wagte, riskierte man abzustürzen; und womöglich riskierte man sogar den Tod.
Schließlich erreichte er den Punkt, wo sich entlang der Klippe eine Ebene von gut einhundert Metern erstreckte. Ein Pfad führte weg von der See, war an einer Seite von Ginster und Grasnelken begrenzt, an der anderen von einem Zaun, der eine Weide einfriedete. Der Wanderer stemmte sich gegen den Wind und ging weiter. Seine Kehle war inzwischen völlig ausgetrocknet, und hinter den Augen hämmerte ein dumpfer Kopfschmerz. Als er das Ende des Plateaus erreichte, überkam ihn heftiger Schwindel. Wassermangel, dachte er. Er würde nicht mehr allzu weit gehen können, ohne etwas dagegen zu tun.
Ein Zauntritt markierte den Übergang zur Weide. Er setzte an hinüberzuklettern, musste jedoch innehalten, bis die Welt für einen Moment aufhörte, sich zu drehen – gerade lange genug, dass er den Abstieg zur nächsten Bucht finden konnte. Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie viele solcher Buchten er auf seiner Wanderung bereits passiert hatte. Und er hatte auch keine Ahnung, wie diese oder die anderen zuvor hießen.
Als der Schwindel nachließ, hob er den Blick und entdeckte ein einsames Cottage am Rand der Wiese, die sich vor ihm erstreckte. Es stand keine zweihundert Meter von der Klippe entfernt am Ufer eines mäandrierenden Baches. Und es verhieß Trinkwasser.
Noch während er den Zauntritt überwand, trafen ihn die ersten Regentropfen, und er schlüpfte aus den Gurten des Rucksacks und fischte seine Kappe hervor. Er zog sie tief in die Stirn – eine alte Baseballmütze seines Bruders mit der Aufschrift »Mariners« –, als er aus dem Augenwinkel etwas Rotes aufblitzen sah. Er sah genauer hin und entdeckte am Fuß der Klippe, die die jenseitige Begrenzung der Bucht unter ihm bildete, einen roten Farbklecks auf einem breiten Schieferblock, dem landseitigen Ende eines Riffs, das sich ins Meer hinaus erstreckte.
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass der erste Teil dieses Abschnitts auf den Abbildungen 6 und 7 basiert. Informationen, die ich beim Erkunden der Landschaft gesammelt hatte, erlaubten mir eine detaillierte Beschreibung.
Die Abbildungen 8 und 9 gaben mir den Impuls, um die Geschichte voranzutreiben. Ich hatte das Haus entdeckt – Lynley entdeckt das Haus. Beim Anblick des Hauses war mir sofort klar gewesen, dass ich es irgendwie in die Geschichte einbauen würde. Als Lynley das Haus sieht, entschließt er sich, bei den Leuten anzuklopfen und um Trinkwasser zu bitten.
Da es gerade anfängt zu regnen, bleibt er kurz stehen und setzt seinen Hut auf, und in dem Augenblick entdeckt er die Leiche, und damit haben wir das Verbrechen, von dem die Geschichte handeln wird. Während ich noch die Gegend um das Haus herum erkundete, wusste ich allerdings weder, um was für ein Verbrechen es sich handeln würde, noch, dass Lynley in diesem Augenblick das Verbrechen miterlebt. All das kam erst später, nachdem ich meine Fotos und meine Notizen ausgewertet hatte.
Vielleicht finden Sie es interessant zu wissen, dass die Orte auf den bisherigen Fotos alle weit voneinander entfernt liegen. Ein Teil des Vergnügens bei der Arbeit im Anschluss an die Recherchephase besteht darin, aus einzelnen Elementen eine Geschichte zu konstruieren.
Betrachten Sie nun die Abbildungen 10 und 11, die die direkte Umgebung des Hauses zeigen.
Abbildung 10
Je länger ich mich dort aufhielt, desto sicherer war ich mir, dass ich dieses Haus benutzen würde, denn es warf Fragen auf, und das ist immer ein guter Anfang für die Arbeit an einem Roman: Wer wohnt hier? Wieso leben die Bewohner des Hauses in solcher Abgeschiedenheit? Wird das Haus ständig bewohnt? Oder ist es ein Ferienhaus? Ist gerade jemand in dem Haus?
Abbildung 11
Nachdem Lynley das Haus entdeckt hat, entschließt er sich, dort nach Trinkwasser zu fragen, dann wird er Augenzeuge des Verbrechens, dann wird Daidre Trahair eingeführt, und es werden zumindest einige Fragen zu dem Haus beantwortet:
Ein leichter Regen fiel, als Daidre Trahair in den holprigen Weg nach Polcare Cove einbog. Sie schaltete die Scheibenwischer ein. Sie würde alsbald die Wischblätter ersetzen lassen müssen, selbst wenn der Frühling bald in den Sommer überging und Scheibenwischer dann überflüssig würden. Der April war bislang so unbeständig gewesen, wie sein Ruf besagte, und auch wenn der Mai in Cornwall oft sonnig war, konnte der Juni ein meteorologischer Albtraum sein. Daidre überlegte, wo sie sich neue Wischblätter würde besorgen können. So musste sie nicht darüber nachdenken, dass sie hier, am Ende ihrer Reise gen Süden, rein gar nichts fühlte: weder Entsetzen noch Verwirrung, Wut, Unmut oder Mitgefühl – und nicht einen Funken Trauer. Letzteres machte ihr inzwischen nicht einmal mehr Sorgen. Wer könnte ernstlich erwarten, dass sie Trauer empfand? Aber der Rest … So gänzlich emotionslos zu sein – wo doch wenigstens ein Mindestmaß an Gefühl angemessen gewesen wäre –, gab ihr zu denken. Zum einen erinnerte es sie an das, was sie zu oft von zu vielen Liebhabern gehört hatte. Zum anderen deutete es auf einen Rückschritt zu ebenjenem Selbst hin, das sie längst überwunden zu haben glaubte.
So boten ihr das nutzlose Hin und Her der Scheibenwischer und der Schmierfilm, den sie hinterließen, eine willkommene Ablenkung. Wo befand sich denn nun der nächste Autozubehörhandel? In Casvelyn? Möglicherweise. Alsperyl? Wohl kaum. Vielleicht würde sie bis Launceston fahren müssen.
Gemächlich rollte sie auf das Cottage zu. Die Straße war schmal, und auch wenn Daidre nicht mit Gegenverkehr rechnete, war es doch immer möglich, dass jemand auf diesem Weg vom Strand heraufkam und es eilig hatte, ins Trockene zu kommen, und davon ausging, dass niemand sonst bei diesem Wetter hier unterwegs war.
Zu ihrer Rechten erhob sich ein Hügel, der ungleichmäßig von Ginster und Bitterling bedeckt war. Links erstreckte sich das Tal von Polcare, ein riesiger grüner Fingerabdruck aus Weideland, den ein Bach durchmaß, der vom höher gelegenen Stowe Wood herabfloss. Dieser Ort sah vollkommen anders aus als die typischen Anhöhen Cornwalls, und das war auch der Grund, warum sie sich dafür entschieden hatte. Eine geologische Laune hatte das Tal so breit geformt, als wäre es durch einen Gletscher entstanden – obschon Daidre wusste, dass dies nicht der Fall sein konnte –, und es war nicht wie so viele andere Täler von Flüssen gekerbt, deren Wasser über Äonen den harten Stein hinfortgenagt hatten. So kam es, dass sie sich in Polcare Cove nie eingeengt fühlte. Ihr Cottage war klein, aber die Umgebung weitläufig, und offenes Gelände war eine entscheidende Voraussetzung für ihren Seelenfrieden.
Als sie auf den kleinen Flecken aus Kies und Gras einbog, der ihr als Einfahrt diente, sah sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Tor stand offen. Es war zwar nicht verriegelt gewesen, aber sie wusste genau, dass sie es bei ihrem letzten Besuch hinter sich zugezogen hatte. Nun stand es weit genug auf, um einen Menschen hindurchzulassen.
Daidre hielt an und zögerte einen Moment, ehe sie sich einen Ruck gab. Sie stieg aus, stieß das Tor ganz auf und fuhr hindurch.
Als sie geparkt hatte und zurückging, um das Tor zu schließen, entdeckte sie den Fußabdruck. Er hatte sich tief in die lockere Erde gedrückt, dort, wo sie ihre Primeln gepflanzt hatte. Der Abdruck eines großen Fußes, eines Stiefels vielleicht. Eines Wanderstiefels. Das warf ein völlig neues Licht auf die Situation.
Ihr Blick wanderte von dem Fußabdruck zum Cottage. Die blaue Eingangstür schien unbeschädigt, doch als sie eilig das Gebäude umrundete, um nach weiteren Spuren eines Eindringlings zu suchen, entdeckte sie die zerbrochene Scheibe im Fenster gleich neben der Hintertür, die sich zum Bach hin öffnete, und die Tür selbst stand einen Spaltbreit offen. Ein frischer Lehmklumpen lag auf der Schwelle.
Sie wusste, eigentlich hätte sie ängstlich oder zumindest vorsichtig sein sollen, doch stattdessen empfand Daidre Zorn über das zerbrochene Fenster. Aufgebracht riss sie die Tür auf und trat durch die Küche ins Wohnzimmer – und blieb wie angewurzelt stehen. Im schwachen Licht des dämmrigen Tages sah sie einen Mann aus dem Schlafzimmer kommen. Er war groß, bärtig und so ungepflegt, dass sie ihn über die gesamte Tiefe des Zimmers hinweg riechen konnte.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder was Sie hier suchen, aber Sie werden auf der Stelle gehen! Wenn nicht, werde ich Gewalt anwenden, und ich versichere Ihnen, dass Sie das nicht wollen.«
Beachten Sie, dass in der Beschreibung, wie Daidre sich dem Haus nähert, dramatische Fragen mitschwingen, um den Leser – hoffentlich – neugierig auf diese Frau zu machen. Später komme ich noch ausführlicher auf die dramatischen Fragen zurück. Fürs Erste haben wir schon einmal das wichtigste Element eines Kriminalromans, außerdem wurden zwei Figuren eingeführt, wir haben einen Schauplatz, Atmosphäre und die Stimmung. Dazu waren elf Fotos notwendig, einige ausgedehnte Wanderungen an der Küste von Cornwall und ein Buch über die landschaftliche Beschaffenheit der Gegend, aber ich meine, das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Bevor wir das Kapitel über die Recherchearbeit abschließen, möchte ich Ihnen noch einige Möglichkeiten aufzeigen, wie Sie Informationen über Orte gewinnen können, wenn Sie diese nicht selbst aufsuchen können. Als ich mich auf das Schreiben von Doch die Sünde ist scharlachrot vorbereitete, war ich im Lauf der Jahre bereits schätzungsweise zwanzig Mal in England gewesen. Aber was macht ein Autor, der sich solche intensiven Erkundungen vor Ort nicht leisten kann?
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Mein zweiter Rat lautet: Nutzen Sie das unerschöpfliche Internet. Geben Sie Ihren potenziellen Schauplatz in eine Suchmaschine ein, sehen Sie sich die Ergebnisse an und folgen Sie den Spuren, die Ihnen das Internet anbietet. Nutzen Sie Facebook und Twitter als Quelle, um sich über Leute in der von Ihnen ausgewählten Gegend zu informieren. Mit Google Earth können Sie sich bestimmte Gegenden ansehen. Suchen Sie bei Amazon nach Büchern über die Gegend.
Und gehen Sie in öffentliche Bibliotheken.
Ich suche Orte gern selbst auf, um mich mit ihnen vertraut zu machen. Aber das geht nicht jedem so. Außerdem gibt es Orte, die aufzusuchen zu kompliziert oder zu teuer ist.
Bei der Abbildung 12 handelt es sich auch um ein Foto, das ich auf meinen Wanderungen an der Küste von Cornwall aufgenommen habe. Bereits zu Beginn fielen mir die vielen provisorischen Gedenksteine am Wegesrand auf, die teilweise von beachtlicher Größe waren, an einigen stand sogar eine Bank mit einer Metallplakette, die an jemanden erinnerte. Vielleicht ist an der Stelle, die auf dem Foto zu sehen ist, jemand namens Nick zu Tode gekommen. Vielleicht war er ein Surfer, der eins der vielen Riffs vor der Küste falsch eingeschätzt hat, vielleicht hat er Selbstmord begangen, vielleicht war er ein Klippenkletterer, und das hier war seine Lieblingsstelle, vielleicht war er ein Wanderer, der zu nah an den Rand der Klippe getreten und abgestürzt ist. Womöglich ist er auch ganz woanders gestorben, und die Hinterbliebenen haben nach der Beerdigung auf den Klippen einen kleinen Gedenkort für ihn errichtet. All das wissen wir nicht, aber all das wäre möglich, und es wäre Stoff für eine Geschichte.
Entwickeln Sie anhand des Fotos eine Geschichte und beschreiben Sie, was mit Nick passiert ist. Erfinden Sie mithilfe des Fotos eine Szene, in der Sie die Umgebung mit den Augen der handelnden Figur beschreiben. Nick ist jemand. Wer ist er? Was ist ihm zugestoßen? Und warum?
Abbildung 12
Wählen Sie einen Ort, an dem Sie etwas beobachten und sich Notizen machen können. Das kann bei Ihnen zu Hause sein oder ein Ort, der Ihnen vertraut ist, weil Sie häufig dort sind: ein Café in Ihrer Nähe, das Hundeauslaufgelände, ein Antiquitätenladen, die Tankstelle um die Ecke, ein Lokal, wo Sie sich mit Ihrer besten Freundin zum Mittagessen treffen, Ihr Arbeitsplatz, die Cafeteria oder der Parkplatz an Ihrem Arbeitsplatz. Es kann irgendein Ort sein, wo Sie viel Zeit verbringen. Machen Sie sich Notizen dazu, was Sie sehen, riechen, schmecken, berühren und hören. Notieren Sie sich jedes einzelne Detail, dem Sie bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Schreiben Sie eine halbe Seite über das Wer, Wo, Was, Wie und Warum dessen, was Sie gesehen und sich notiert haben.