Rainer Grebe

Die Toten vom Tiergarten

Ein Fall für Kramer

 

 

 

© Spica Verlag GmbH
1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Autor: Rainer Grebe
Für den Inhalt des Werkes zeichnet der Autor selbst verantwortlich.
Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären zufällig und unbeabsichtigt.

Gesamtherstellung: Spica Verlag GmbH

Printed in Europe
ISBN 978-3-98503-029-3 

 

 

Was als Tat verwerflich ist,
ist auch in Worten nicht zu dulden.
(Teturian ca. 160 – 220) 

Inhaltsverzeichnis

Personenregister 

Der erste Mord 

Das Pigalle 

Der Mörder 

Bruno Bastian – der Lustmörder vom Tiergarten? 

Kramers Deal 

Citroen-Mörder schlägt erneut zu? 

Das Doppelleben von Sibylle 

Frau Brose und der rote Citroen 

Alles auf Anfang  

Die Suche nach dem Informanten 

Im U-Bahn-Tunnel 

Tatort Westend-Krankenhaus 

Am Abgrund 

Acht Wochen später 

Glossar 

Personenregister

 

 

Dr. Katharina Fischer 

Staatsanwältin

 

Karl Kramer 

Kriminaloberkommissar

 

Manfred Seydlitz <Manni> 

Kriminaloberinspektor

 

Margarete Kramer <Maggi> 

Kriminal-Hauptsekretärin

 

Rosemarie Manthey <Rosi> 

Kriminal-Obersekretärin

 

Klaus Martens 

Leiter der Kriminaltechnik

 

Dr. Schneider 

Gerichtsmediziner

 

Dr. Schrade 

Chefarzt der Unfallchirurgie

 

Dr. Lohmann 

Hausarzt der Ludwigs

 

Peter Franke 

Kriminalinspektor – Sittendezernat

 

„Beutel“ 

Stadtstreicher und Opfer Nr. 2

 

Bruno Bastian 

Schauspieler

 

Arno Tesche 

Taxifahrer

 

Günther Friese 

Taxifahrer

 

Klaus Erdmann 

Taxifahrer

 

Katja Placher 

Besitzerin des „Pigalle“

 

Jürgen Meise 

Immobilienhändler

 

Elvira seine Ehefrau 

Besitzerin des „Cherie“

 

Sibylle Wagner 

1. Mordopfer

 

Agnes Arend 

Freundin von Sibylle Wagner

 

Heinz Gerbe 

Redaktionsleiter der Berlin-Ausgabe Bild

 

„Gitti Granate“ 

Journalistin bei der Bild-Zeitung

 

Gerda Brose 

3. Mordopfer

Heinz Ludwig 

Polizeioberwachtmeister und 5. Opfer

 

Norbert Schuster 

Revierleiter am Hansaplatz

 

Marlies Matschke 

Verkäuferin in der Bäckerei Möller

 

Der erste Mord

Es war kurz nach Mitternacht, als die rote Limousine den Großen Stern an der Siegessäule erreichte. Am Spreeweg verließ der Wagen den Kreisverkehr und bog rechts ab. Soeben hatte er das Schloss Bellevue auf der linken Seite passiert, als er kurz vor dem Abzweig zur John-Forster-Dulles-Allee plötzlich langsamer wurde und rechts auf die – parallel zur Spree verlaufenden – Straße einbog. Die John-Forster-Dulles-Allee führt zur Kongresshalle, die von den Berlinern liebevoll Schwangere Auster genannt wird. Der Fahrer des roten Citroen DS 19 hatte jetzt auf Standlicht umgeschaltet und fuhr nur noch im Schritttempo über die schwach beleuchtete Fahrbahn. Er hatte eine kurze Strecke zurückgelegt, als er unvermittelt stoppte und auf ein links der Straße brachliegendes Gelände am Rande der Spree rollte. Obwohl der Fluss an dieser Stelle nur einen Steinwurf entfernt dahinfließt, versperrten vereinzelte Bäume und dichtes Gestrüpp den Blick auf das Wasser. Der Fahrer schaltete in jenem Moment, als er die Straße verließ, die Scheinwerfer aus und der Wagen rollte nun durch Dunkelheit langsam bis kurz vor das Buschwerk am Uferrand. Der Motor wurde ausgeschaltet und die Limousine war in der Finsternis jetzt nur noch schemenhaft zu erkennen. Die vielen Wolken am Berliner Nachthimmel ließen den Mond und seinen Schein nur erahnen. Auch im Inneren des Wagens blieb es dunkel, nichts rührte sich, nichts war zu sehen.

Es war fast eine halbe Stunde vergangen, als sich plötzlich die Fahrertür öffnete und eine männliche Gestalt aus dem Auto stieg. Der Mann blieb vor der offenen Tür stehen, schien erschöpft, stützte sich mit beiden Händen auf dem Autodach ab. Dann richtete er sich auf, ordnete seine Kleidung, schloss den Gürtel seiner Hose. Nach einem kurzen Zögern lief er um das Heck des Citroens auf die andere Seite und öffnete dort die Beifahrertür. Der Mann beugte sich in den Wagen hinein, war für einen kurzen Moment nicht mehr zu sehen. Als er wieder zu erkennen war, zog er einen Körper – es war der einer Frau – nach draußen. Er hatte seine beiden Arme offensichtlich um ihren Oberkörper geschlungen und bewegte sich vorsichtig in kleinen Schritten rückwärts auf das Gebüsch zu. Dort ließ er den offensichtlich leblosen Körper zu Boden gleiten. Er richtete sich schnell wieder auf, verharrte so, als lauschte er, ob nicht vielleicht doch irgendjemand in seiner Nähe sei. Als alles ruhig blieb, schlich der Mann zum Auto zurück, schloss leise die Beifahrertür und huschte um das Heck zurück zur Fahrerseite. Er stieg ein und schloss auch diese Tür ganz leise. Sofort startet er den Wagen, wendete und fuhr langsam ohne Licht zurück auf die Straße. Kurz bevor das Fahrzeug den Spreeweg erreichte, schaltete der Fahrer die Beleuchtung wieder an. Er schlug denselben Weg ein, der ihn kurz nach Mitternacht hierher geführt hatte.

Maggi lehnte sich entspannt in den Sessel zurück. Bis vor wenigen Minuten hatte sie Paula gestillt, jetzt schlief ihre kleine Tochter gesättigt und zufrieden wieder in ihrem Arm. Zärtlich strich sie ihr über die kleinen, pechschwarzen Löckchen.

Noch vor einem Jahr hatten sie oft Unsicherheit und Zweifel beschlichen, ob sie – und wenn ja, wie – mit ihrer neuen Aufgabe als Mutter und Hausfrau klarkommen, diese annehmen und ohne Traurigkeit an ihre Arbeit in der Mordkommission zurückdenken würde. Und dann? – Dann war alles ganz einfach gewesen. Es war genauso gekommen, wie es ihre Kollegin – inzwischen beste Freundin – Rosi damals beschrieben hatte:

„Es gibt sicher sehr wichtige Dinge im Leben, aber es gibt auch Dinge, die sind wichtiger als alles andere auf der Welt.“ 

Wer oder was konnte schon wichtiger sein als dieses kleine Wesen, das jetzt schlafend in ihrem Arm lag. Obwohl sie ihre innere Balance wiedergefunden hatte, tauchten in ihren Gedanken – stets von etwas Wehmut begleitet – hin und wieder Bilder von der Keithstraße, dem Büro, von ihren Kollegen auf.

Für die Mordkommission von Oberkommissar Kramer war in den letzten Jahren der Standortwechsel fast schon zum Programm geworden. Saßen sie noch bis Ende 1961 in dem alten Backsteinbau in der Friesenstraße, ging es von dort nur zwei Jahre darauf in die Gothaer Straße. Jetzt war das Kriminalgebäude in der Keithstraße seit fast 11/2 Jahren ihre neue Heimat. Mit jedem Umzug hatte sich auch die Qualität ihres Arbeitsbereichs deutlich verbessert. Kramer saß jetzt in einem eigenen, deutlich größeren Büro, das auch Platz für einen sehr feinen Besprechungsbereich bot. Fein deshalb, weil der Oberkommissar den Kriminalrat Struck kurz vor dessen Wechsel zur Generalstaatsanwaltschaft beerben durfte. Ein eleganter Tisch mit Chromfüßen und schwarzer Platte samt vier Thonet Freischwingern[1] – Sitz- und Rückenfläche waren aus schwarzem Leder. Während er sich über den kleinen Nachlass von Struck sehr freute, war seine Gefühlslage bei dem Gedanken an seine neue Chefin, Staatsanwältin Dr. Katharina Fischer, eher zwiespältig. Ein wenig Hoffnung keimte jedoch auf, als er erfuhr, dass sie wie er ursprünglich aus Hamburg kam. Dr. Fischer, Ende vierzig, schlank, ein sportlicher Typ, war mit einem Redakteur vom Tagesspiegel verheiratet. Die neuen Aufgabengebiete des Ehepaares hatten sie von der Alster an die Spree wechseln lassen.    

Kramers Tür zum Nebenraum, in dem Rosi und Seydlitz arbeiteten, stand immer offen. Seine beiden Kollegen hatten ihre Schreibtische direkt vor das große Fenster geschoben, an dem sie sich jetzt gegenübersaßen. Manni beendete in diesem Moment das Telefonat und blickte nachdenklich seine Freundin an.

„Was meinst du, Rosi? Kann man sexuelle Lust empfinden und gleichzeitig morden?“

Rosi sah ihren Freund leicht irritiert an. „Wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?“

Er machte – ohne auf ihre Frage einzugehen – nur eine leichte Kopfbewegung in Richtung Kramers Büro und stand auf. Beide gingen gemeinsam nach nebenan. Der Oberkommissar hatte vor wenigen Augenblicken seine Pfeife auf dem Schreibtisch abgelegt. Jetzt stand er am Fenster und schaute – gedankenverloren … vielleicht aber auch nachdenklich – hinunter auf die Keithstraße.

„Hallo Kalle, die schöpferische Pause ist hiermit beendet.“

Der Oberkommissar drehte sich lächelnd um.

„Schickt uns Frau Doktor auf Streife? Oder soll ich euch in Sachen Standesamt beraten?“

„Nee Chef, wir müssen einen Lustmord im Tiergarten aufklären – die Meldung ist vor zwei Minuten hereingekommen. Dr. Schneider und die Spusi sind schon vor Ort. Ich denke, wir sollten dort auch möglichst zügig erscheinen, sonst kommt die Fischerin noch auf den Gedanken, wir würden hier tatsächlich nur den Staub von den Akten pusten.“

„Hast Recht Manni. Wurde auch langsam Zeit, dass mal wieder etwas geschieht.“

Die Polizei hatte die Zufahrt in die John-Forster-Dulles-Allee abgesperrt, weil in diesem Abschnitt – bis hin zum Fundort der Leiche – die Kriminaltechniker (KT) nach möglichen Reifenspuren oder anderen Hinweisen auf den Täter suchten. Oberkommissar Kramer durfte mit seinem dunkelroten Renault 4 passieren. Als Maggi im fünften Monat schwanger war, sie absehbar eine kleine Familie sein und Platz für Kinderwagen & Co benötigen würden, hatte er sich kurz entschlossen von seinem geliebten Käfer getrennt und sich für diese – wie er sie nannte – Familienkutsche entschieden. Bei einem Auto mit vier Türen war die Mitfahrt hierher in den Tiergarten seitdem auch für Rosi und Manni kein Problem. Im Gegensatz zur Enge auf der Rückbank eines VW waren beim R 4 nach dem Aussteigen keine chiropraktischen Anwendungen erforderlich.  

Die aktuellen zehn Grad fühlten sich bei dem leichten Wind deutlich kälter an, als sie über das Gelände Richtung Fundort liefen. Sie hatten ihn fast erreicht, als der Gerichtsmediziner sich umwandte und ihnen ein paar Schritte entgegenkam.

„Hallo Kramer, hallo ihr beiden“, begrüßte Dr. Schneider sie.

„Hallo Doktor“, kam es im Chor zurück.

„Mein lieber Oberkommissar – im aktuellen Fall liegen Fundort und Tatort wahrscheinlich nur ein paar Meter voneinander entfernt. Die Spusi hat hier in unmittelbarer Nähe der Leiche Reifenspuren von einer Limousine gefunden. Ich vermute  – die Nächte sind zurzeit noch recht kühl –, der Tod könnte kurz nach Mitternacht eingetreten sein. Allerdings … mit dem Begriff Tatort … ich tue mich da ein bisschen schwer. Kramer – es könnte im vorliegenden Fall durchaus sein, dass hier zwischen den Beteiligten“, er zögerte kurz, „vielleicht ist hier etwas aus dem Ruder gelaufen.“

„Dr. Schneider, wenn ich die Meldung der Funkstreife und Ihre nebulöse Erklärung richtig deute, gehen Sie davon aus, dass der Mann es bei den Sex-Spielchen etwas übertrieben hat und das Opfer dabei auf der Strecke geblieben ist, richtig?“ Rosi blickte den Mediziner völlig entspannt an.

Der Oberkommissar warf Seydlitz einen kurzen Blick zu und dieser hatte für einen Moment das Gefühl, er müsse seinen beiden männlichen Kollegen erklären, dass sein Liebesleben mit Rosi völlig normal verlief.   

„Dr. Schneider, jetzt mal weniger Prosa, sondern klare Fakten. Was, bitteschön, ist nach Ihrer Ansicht hier gestern Nacht geschehen“, Kramer wirkte leicht ungeduldig. Der Gerichtsmediziner räusperte sich kurz, offensichtlich verwirrte ihn Rosis offene, direkte Art.

„Was hat euch die Zentrale eigentlich gesagt, Rosi?“

„Manni hat das Gespräch geführt. Die Kollegin hat von einem Lustmord gesprochen.“

Der Pathologe nickte anerkennend:

„Nicht schlecht … Kramer – vielleicht sollten Sie den Streifenführer, der diese Meldung abgesetzt hat, mal im Auge behalten – hat die Situation  offensichtlich gut eingeschätzt. Also … bei der Toten, Alter etwa Mitte dreißig, fehlen BH und Slip. Es gibt keine Hinweise, dass es einen Kampf gegeben, die Frau sich möglicherweise gewehrt hat. Sie hatte mit Sicherheit kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. Um ihren Hals lag ein zur Schlinge geschlungener Seidenschal. Ich fand auch Strangulierungsmale am Hals, die mich zu der These führen, dass wahrscheinlich auf diese Weise während des Verkehrs Lust und Erregung gesteigert werden sollten. Wenn es dann aber zwischen den Partnern keine klaren Absprachen, keine verbindlichen Zeichen gibt, wann die Strangulation sofort abzubrechen ist, kann es in der Erregung durchaus geschehen – das vermute ich zum Beispiel im vorliegenden Fall –, dass bei einem zu heftigen Ziehen an der Schlinge, eine Fraktur des Kehlkopfes die Folge ist. Es deutet einiges darauf hin, dass dies die Todesursache sein könnte. Mehr …“

„Ich weiß lieber Doktor – mehr erfahren wir nach der Obduktion“, vollendete der Oberkommissar den Satz.

„Gibt es denn irgendwelche Hinweise auf die Identität der Toten?“, schaltete sich Seydlitz ein.

„Keine Papier, nichts, rein gar nichts. Ihre Kleidung ist teuer und modisch, ihr Körper, die Hände- und Fußnägel sind ungewöhnlich gepflegt. Die Körperbehaarung in den Achseln und im Genitalbereich ist kosmetisch entfernt worden. Wir haben es hier mit einer Frau zu tun, die mit Sicherheit nicht auf dem Straßenstrich angeschafft hat. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass auch sie im Milieu gearbeitet hat. Sie war mit Sicherheit keine Edelnutte im üblichen Sinne. Kommt, schaut sie euch selbst an.“

Gewiss – ein Toter ist und bleibt ein Toter. Steht man jedoch vor einem Menschen, der gewaltsam durch ein Verbrechen sein Leben verloren hat, ist das eine völlig andere Wahrnehmung … sind die Opfer Kinder, ist der Anblick kaum zu ertragen. Es traf genau all das zu, was ihnen Dr. Schneider bereits beschrieben hatte. Die Haare der Toten waren kastanienbraun und schulterlang, ihr Gesichtsausdruck wirkte – ungeachtet der dramatischen Begleitumstände – nicht angstvoll, sondern eher erschrocken.

Kaum waren sie wieder zurück in der Keithstraße, suchten sie nach ein wenig emotionalem Abstand von den Bildern im Tiergarten, als die Tür zur Mordkommission schwungvoll geöffnet wurde und Frau Dr. Fischer unerwartet auf der Bildfläche erschien. Kramer hatte vom ersten Tag an den Eindruck gehabt, dass seine Chefin ihm die Sitzgruppe ihres Vorgängers ein wenig neidete. Würde man sie jedoch gezielt darauf ansprechen, hätte Fischer nur ungläubig den Kopf geschüttelt und denjenigen als Spökenkieker[2] bezeichnet. Jetzt war sie direkt auf die Thonet-Stühle zugesteuert und blickte erwartungsvoll hinüber zu Oberkommissar Kramer. Der war konzentriert mit einer seiner Pfeifen beschäftigt, ließ seine Chefin ganz bewusst ein wenig zappeln. 

„Herr Kramer, wollen Sie vielleicht vorher noch ne Zeichnung machen“, Frau Dr. Fischer wirkte leicht genervt. Als die Pfeife endlich qualmte, wandte sich der Oberkommissar ihr lächelnd zu.

„Frau Doktor, auch für eine Pfeife braucht es viel Liebe und Sorgfalt, damit das Rauchen anschließend auch Genuss bringt. Aber … ich denke, es ging Ihnen weniger um die hier“, er hob schmunzelnd kurz die Pfeife, „sondern um die Leiche im Tiergarten.“

Die Kriminalrätin überging die kleine Spitze charmant:

„Genau, Herr Oberkommissar, genau deshalb sitze ich hier.“

„Die junge Frau ist nach Dr. Schneiders Einschätzung …“ Kramer berichtete ausführlich über seinen Besuch am Tat- bzw. Fundort und das Gespräch mit dem Pathologen.

„Wir gehen davon aus, dass bereits eine Vermisstenmeldung erfolgt ist oder im Laufe des Tages eingehen wird. Die Kriminaltechnik ist noch mit der Auswertung der Spuren beschäftigt. Sehr hilfreich wäre es, wenn Sie aus den Reifenabdrücken auf das Model des Wagens schließen könnten. Frau Manthey und Herr Seydlitz kümmern sich  um die bereits vorliegenden Vermisstenmeldungen, ich selbst warte auf die beiden Berichte von der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik.“

Nachdem er geendet hatte, lehnte sich Kramer entspannt in seinem Stuhl zurück und zog genüsslich an seiner Pfeife.

„Na, das sieht doch alles gut strukturiert aus, Herr Oberkommissar. Ich weiß nicht, warum Sie in meiner Gegenwart hin und wieder so hibbelig sind?“

Sie blickte ihn leicht amüsiert an. Kramer schien überrascht, fühlte sich auch ein wenig ertappt.

„Hibbelig – meinten Sie?“ Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Gut – vielleicht stimmt das ja sogar ein bisschen – aber Sie sind ganz sicher nicht der Grund dafür. Es ist im Moment alles sehr nervig für meine Frau und mich. Maggi ist … war … mit Leib und Seele Kriminalpolizistin. Jetzt, wo Paula da ist, geht sie unerwartet entspannt in ihrer neuen Rolle als Mutter auf. Dennoch spüre ich natürlich, wie sehr ihr das hier alles fehlt. Wir suchen jetzt seit längerer Zeit erfolglos nach einer neuen Wohnung, weil es in der alten von Tag zu Tag unerträglicher wird. Als Paula auf die Welt kam, haben wir mit allen Mietern in unserem Haus darüber gesprochen, ob wir unseren Kinderwagen unten im Erdgeschoß – da gibt es einen Gang, der auf den Innenhof führt – abstellen dürfen. Den Wagen jeden Tag ein paar Mal vom ersten Stock hinauf- und hinunterschleppen … das geht gar nicht. Alle waren super freundlich und verständnisvoll. Seit zwei Wochen macht uns jedoch plötzlich der Hausmeister die Hölle heiß. Der Wagen müsse sofort verschwinden, wir würden den Fluchtweg blockieren. Ist völliger Schwachsinn, denn zwischen Wagen und Hoftür sind fast zwei Meter Platz. Jeden Morgen, wenn ich hierherfahre, mache ich mir Gedanken, ob der Penner meiner Frau wieder den Tag versaut, während ich selbst hilflos zuschauen muss.“ Wütend schob er ein paar Hefter quer über den Schreibtisch.

„Kramer, das kann ich gut nachvollziehen. Mein Mann und ich haben zwei Jungs. Als der erste im Alter von Ihrer Paula war, lief das Ganze ähnlich ab … nur bei uns war es nicht der Hausmeister. Ein Mieter in unserem Haus hat uns von Anfang an terrorisiert. Gott sei Dank sind wir recht bald dort weggezogen, aber bis dahin … nee kein zweites Mal so einen Stress. Also mein Lieber“, Dr. Fischer war aufgestanden, „ich wünsche Ihnen bei allem, was Sie demnächst anpacken, viel Erfolg.“

Als sie durch das Nebenzimmer, in dem Rosi und Seydlitz saßen, zur Tür ging, nickte sie ihnen freundlich zu und hob einen Daumen als Zeichen ihrer Anerkennung.

„Kalle, ich weiß gar nicht, was du mit der Fischerin hast – ist doch richtig nett, die Hamburger Deern“, Seydlitz blickte grinsend um die Ecke.

Aus den Vermisstenanzeigen stach eine besonders hervor. Eine Agnes Arendt aus der Regensburger Straße – direkt am Viktoria-Luise-Platz – hatte ihre Freundin Sibylle Wagner für die Zeit seit Freitagabend als vermisst gemeldet. Die Personenbeschreibung, die Haarfarbe, das Alter auch die Hinweise auf ihre Kleidung, alles deutete auf die Tote aus dem Tiergarten hin. Nach ihrer morgendlichen Lagebesprechung gab Kramer schnell die Richtung vor:

„Manni, schnapp dir bitte Rosi und fahr mit ihr zu der Arendt. Ich denke ihre Freundin ist die Frau ohne Namen aus der Gerichtsmedizin.“

Wenig später liefen die beiden Ermittler zum U-Bahnhof Wittenbergplatz. Am Nollendorfplatz stiegen sie um und fuhren von dort nur eine Station bis zum Viktoria-Luise-Platz. Die angegebene Adresse war ein großes, altes Eckhaus in der Regensburger Straße. Es gehörte zur Randbebauung des Platzes und war somit Teil dieses städtebaulichen Ensembles. Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, hätte der wunderschönen alten Fassade zwanzig Jahre nach Kriegsende ein frisches Make-up gut gestanden. Als sie den Hausflur betraten, waren sie jedoch positiv überrascht. Helle, freundliche Wände, ein Mosaikfußboden – die Farben von Weiß über Anthrazit bis hin zum Schwarz beherrschten das Bild. Die schöne Holztreppe aus Eiche, die gedrechselten Stützen des Geländers und der makellose, polierte Handlauf zeugten von bester Handwerkskunst. Die Wohnungstüren, vermutlich Kiefer oder Buche, mit ihren dekorativen Kassetten, die Briefklappen aus blankem Messing und die kunstvollen Türknaufe rundeten das edle Bild des Treppenhauses ab. In der ersten Etage fanden sie das Türschild mit den Namen Arendt und Wagner. Nachdem sie geklingelt hatten, dauerte es eine Weile, bis sich innerhalb der Wohnung Schritte näherten. Als die Tür geöffnet wurde, stand ihnen eine junge, große, dunkelhaarige Frau gegenüber. Ihre leicht hochgezogenen Wangenknochen und die mandelförmigen Augen verliehen ihr ein leicht fernöstliches Aussehen. Sie trug ein elegantes bordeauxfarbenes, hochgeschlossenes Kleid. Rosi und Seydlitz zogen ihre Dienstausweise hervor. 

„Guten Tag. Ich bin Kriminaloberinspektor Seydlitz und das ist meine Kollegin Frau Manthey. Sind Sie Frau Arendt?“

Die Angesprochene nickte.

„Trifft es zu, dass Sie am Samstag Ihre Freundin Sibylle Wagner als vermisst gemeldet haben?“

Frau Arendt sah sich die beiden Ausweise noch einmal etwas genauer an, wirkte unsicher und nervös.

„Ja, das ist richtig – ich vermisse meine Freundin seit Freitagnacht. Sie hat sich leider bis heute nicht bei mir gemeldet. Haben Sie denn etwas herausgefunden? Wissen Sie, wo sie ist?“

„Deshalb sind wir ja zu Ihnen gekommen, Frau Arendt. Ich denke, es wäre besser, wenn wir unser Gespräch nicht hier im Hausflur fortsetzen würden“, wandte Rosi ein.

„Entschuldigung … tut mir leid – ja natürlich, kommen Sie doch bitte herein.“

Es war eine typische Berliner Altbauwohnung mit hohen Räumen, Parkettfußboden, großen Fenstern und Stuckelementen an den Decken. Frau Arendt führte die beiden in eine Art Salon, der elegant und geschmackvoll, mit sehr viel Liebe zum Detail gestaltet worden war. Die Sitzgruppe eines italienischen Designers und davor ein runder Glastisch. Das Außergewöhnliche an ihm war der Fuß, auf dem die dicke Platte ruhte. Es war das Teilstück einer alten Berliner Gaslaterne. Stand- und Auflagefläche bildeten zwei größere runde Metallplatten – Material und Farbe waren auf das Fragment dieses alten Laternenpfahls perfekt abgestimmt.

„Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?“

Rosi und Seydlitz entschieden sich für Kaffee. Wenig später saßen sie sich zu dritt gegenüber.

„Ich hoffe, Sie empfinden meine Frage als nicht zu indiskret, Frau Arendt … das ist eine Riesenwohnung, die sehr geschmackvoll, aber sicher auch mit großem finanziellen Aufwand eingerichtet worden ist. Wie finanzieren Sie das Ganze hier?“ Rosi schaute sie aufmerksam an.

„Sibylle und ich waren früher mit recht wohlhabenden Männern verheiratet. Bei den Scheidungen haben sich unsere beiden Ex – waren wohl die ersten anständigen Regungen in unseren verkorksten Ehen – als durchaus großzügig erwiesen. Wir beide haben uns dann hier rein zufällig bei der Besichtigung dieser Wohnung kennengelernt. Für jede von uns war die Miete  jenseits von Gut und Böse. Als wir dann wenig später hier in der Nähe in einem Café noch zusammengesessen haben, verstanden wir uns beide vom ersten Moment an. Wir waren uns sehr schnell einig, dass wir zusammen in diese Wohnung einziehen wollen. Genau so einig waren wir uns auch, wie das Geschäftsmodell aussehen sollte, um unser kleines Vermögen einerseits nicht aufzubrauchen und uns anderseits auch künftig einen hohen Lebensstandard bewahren zu können. Da wir auch in sexueller Hinsicht auf der gleichen Welle waren, haben wir uns relativ schnell im hinteren Bereich der Wohnung ein kleines, sehr spezielles Studio für Kunden mit sadomasochistischen Neigungen eingerichtet. Wir beide hatten während unserer Ehen Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht. Es war für uns auch nicht schwer, entsprechende Kunden zu finden. Es sind ausschließlich Stammkunden. Wir werden von ihnen weiterempfohlen, aber wir entscheiden am Ende, wen wir in den vorhandenen Kreis aufnehmen. Wenn es Sie interessiert, können Sie gerne  einen Blick in das Studio werfen?“

Während Seydlitz freundlich dankend ablehnte, war Rosi sofort bereit, die Einladung anzunehmen. Die beiden Frauen verschwanden unverzüglich, Manni blieb verunsichert und nachdenklich allein zurück. Nach gut fünf Minuten kamen die beiden wieder und setzten sich zu ihm.

„Wann haben Sie denn Ihre Freundin das letzte Mal gesehen?“, lenkte Seydlitz das unterbrochene Gespräch wieder hin zum eigentlichen Anlass ihres Besuches.

„Ich hatte am Freitag, dem 23. April, gegen 19 Uhr meinen einzigen und letzten Kunden. Der ist gegen 20.30 Uhr wieder gegangen. Sibylle hingegen – und das war sehr ungewöhnlich, weil wir immer ab 21 Uhr unser gemeinsames, langes Wochenende einläuten – war am Freitag noch für 21.30 Uhr verabredet. Ich habe gegen 21 Uhr die Wohnung verlassen und bin mit einem Taxi zum Kempinski am Ku’damm gefahren. In der Regel essen wir dort zusammen und fahren anschließend hin und wieder von dort zum Hilton in die Dachbar, um den Abend ausklingen zu lassen. Ich habe sehr lange im Kempi gewartet, weil ich davon ausging, dass Sibylle dort spätestens kurz nach 23 Uhr aufschlägt. Sie ist aber nicht gekommen. Als ich hier gegen 23.30 Uhr wieder eintraf, war sie nicht da … auch kein Zettel … keine Nachricht für mich.“

„Frau Arendt, wir haben keine letzte Gewissheit – dennoch deutet vieles darauf hin, dass die tote Frau, die am Montagmorgen in der Nähe der John-Forster-Dulles-Allee gefunden wurde, Ihre vermisste Freundin sein könnte. Endgültig wissen wir es erst dann, wenn Sie bereit wären, die Leiche zu identifizieren.“

Seydlitz hatte ganz ruhig und sachlich mit ihr gesprochen. Jetzt waren ihre Augen voller Tränen, trotzdem wirkte Frau Arendt sehr gefasst.

„Wann kann ich sie sehen?“

„Melden Sie sich einfach morgen Vormittag bei uns im Büro. Wir kümmern uns dann um alles.“

Sie hatten soeben das Haus in der Regensburger Straße verlassen, als Seydlitz abrupt vor Rosi stehen blieb und ihr etwas unsicher in die Augen blickte. Sie war völlig perplex, konnte sein Verhalten überhaupt nicht einordnen.

„Sag mir bitte ganz ehrlich, ob du mit mir glücklich bist – oder ob dir das alles … unser Liebesleben zu langweilig ist? Vielleicht würdest du auch … na ja ob du es vielleicht auch lieber so treiben würdest wie die beiden Frauen?“

Sie blickte ihn erstaunt und verwirrt zugleich an:

„Sag mal, spinnst du? Manni, wie kommst du denn nur auf diese absurde Idee? Und übrigens, mein Schatz – ich bin mit dir glücklich … und das in jeder Hinsicht.“

Seydlitz schien noch immer nicht ganz überzeugt:

„Erst dein kesser Spruch zu Dr. Schneider und jetzt warst du auch ganz wild darauf, dir das Studio von der Arendt anzusehen.“

„Mensch Manni, du weißt selbst, dass man den Schneider ein bisschen anschieben muss. Der Doc quatscht einem sonst das Ohr an die Backe. Bei der Arendt war ich einfach neugierig. Geht’s da richtig zur Sache oder ist das nur so’n Pseudoscheiß, bei dem mit Wattebällchen geworfen wird.“

„Und, wie war dein Eindruck?“

„Ich denke, die zieht ihr Programm knallhart durch. Da hingen Sachen – nee, das will man sich gar nicht vorstellen. Also – ich brauch so etwas nicht, mein Schatz.“

Seydlitz drückte sie fest an sich und vergrub sein Gesicht in ihren blonden Haaren.

Als Frau Arendt am nächsten Vormittag kurz nach 10 Uhr die Räume der Gerichtsmedizin verließ, war es amtlich. Die Tote aus dem Tiergarten war Sibylle Wagner. Kramer hatte inzwischen auch Martens Bericht von der Kriminaltechnik erhalten. Danach gehörten die Reifenspuren zu einem Citroen DS 19. Er rief sofort Dr. Schneider an und bat ihn darum, Frau Arendt noch einmal zu ihm in die Mordkommission zu schicken. Nachdem er ihr sein Beileid ausgesprochen hatte, fragte er sie, ob ihr auch die Stammkunden ihrer Freundin bekannt seien.

„Natürlich kennen wir beide die Kunden des anderen – ich denke, es hat zum einen mit Vertrauen zu tun, vielleicht war es aber auch ein Gefühl der Sicherheit.“

„Wissen Sie, ob einer von Frau Wagners Kunden einen Citroen DS 19 fährt?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Bruno Bastian – er ist Schauspieler hier in Berlin – einen roten Citroen dieser Marke fährt. Er ist auch einer der wenigen, die immer zuletzt erscheinen. Ob er jener Kunde war, der sich am Freitagabend für 21.30 Uhr angemeldet hatte … keine Ahnung.“

Jetzt war die Lage etwas knifflig. Es gab innerhalb kurzer Zeit sehr viele Ermittlungsergebnisse, vielleicht sogar Indizien dafür, die auf eine enge Verbindung der Toten zu einem – über die Grenzen West-Berlins hinaus – populären Schauspieler hindeuteten. Wie sollten sie vorgehen? Gegen Bastian konsequent ermitteln, dabei vielleicht reichlich Porzellan zerschlagen und darüber hinaus die Karriere eines unter Umständen Unschuldigen in die Tonne treten? Ungeachtet all dieser Fallstricke mussten sie jedoch professionell und ohne Ansehen der Person an der Aufklärung dieses Mordes weiterarbeiten.

„Also Frau Dr. Fischer, wenn Sie mich fragen, klingt das wie die Quadratur des Kreises oder haben Sie vielleicht schon den Durchsuchungsbeschluss für Bastians Haus und sein Auto mitgebracht?“

Der Sarkasmus des Oberkommissars war auch bei wohlwollender Betrachtung nicht zu überhören. Die Staatsanwältin überging seinen gereizten Ton relativ entspannt und blickte sich im Kreis ihrer Ermittler gelassen um.

„Herr Kramer – Mensch – sehen Sie das alles doch nicht so verkniffen. Wenn ich mir Ihre alten Fälle anschaue, – na – da waren Sie oft sehr kreativ. Sicher … der Wagen von Bastian wäre durchaus interessant für unsere Kriminaltechniker – ganz besonders die Reifen. Decken sich die am Tatort entnommenen Bodenproben mit denen aus seinen Reifen? Aber selbst dann, wenn wir im Auto den Slip und den BH der Toten finden sollten, ist das natürlich kein Beweis für die Tat. Der Mann war ihr Kunde, die Sachen könnten zu einem früheren Zeitpunkt dort zurückgeblieben sein. Ich werde mal meine bessere Hälfte ansetzen. Der fährt ihm ne kleine Beule in seine Kiste. Dann überredet ihn mein Mann – Bastian kennt ihn ja nicht – das Malheur in unserer Werkstatt beheben zu lassen. Wir könnten uns dann in aller Ruhe seine Reifen anschauen.“

Während sie allen ihre Theorie erläuterte, war der Oberkommissar immer unruhiger geworden.

„Mann, Frau Doktor – so geht das doch nicht. Das klingt ja wie aus einem schlechten amerikanischen Krimi. Keiner dieser Beweise hätte vor einem Gericht Bestand. Vielleicht sollten wir erst einmal sein Alibi überprüfen – kann doch sein, dass der Mann an diesem Abend auf einer Theaterbühne stand … oder?“ Seine Chefin vollführte auf dem drehbaren Bürostuhl eine elegante Wende, schlug ihre ohne Zweifel sehr schönen Beine lässig übereinander und grinste ihn herausfordernd an.

„Na Kramer … geht doch. Vor fünf Minuten lamentierten Sie noch wegen eines Durchsuchungsbeschlusses und der Quadratur des Kreises herum – und jetzt? Jetzt wissen wir alle plötzlich, wie es geht. Sauber – natürlich absolut sauber und korrekt – Schritt für Schritt … wenn Sie wissen, was ich meine.“

Rosi und Seydlitz waren von dem Auftritt ihrer Chefin sichtlich beeindruckt, Kramer hingegen blickte leicht zerknirscht und schuldbewusst.

„Frau Dr. Fischer – ich muss mich entschuldigen – war totaler Blödsinn vorhin. Ich …“

Fischer unterbrach ihn:

„Kramer, Sie sind ein erstklassiger Polizist und Ihre Leute hier machen einen hervorragenden Job. Ich kann mich nur wiederholen. Ich habe es Ihnen vor ein paar Tagen schon einmal gesagt: Mann – lösen Sie endlich Ihr blödes Wohnungsproblem, dann lösen sich mit einem Schlag all Ihre Sorgen in Luft auf. Ihre Frau könnte hier wieder arbeiten und Sie … Sie kommen wieder in Form.“ Bei ihren letzten Worten stand sie auf, nickte allen freundlich zu und ging hinaus. Rosi unterbrach als Erste die peinliche Pause, die nach Fischers Abgang entstanden war.

„Was haltet ihr davon, wenn ich mich mal mit den Kollegen der beiden Reviere unterhalte, die im Bereich des Tiergartens liegen. Vielleicht weiß einer von ihnen, ob es dort in der Gegend ein paar Obdachlose oder Stadtstreicher gibt, die nachts in den Grünanlagen übernachten. Sollte es diese geben, könnte man sie befragen, ob sie in der Tatnacht irgendetwas beobachtet haben?“

„Interessanter Ansatz, Rosi. Ich versuche mal etwas über das Alibi von Herrn Bastian in Erfahrung zu bringen“, ihr Chef nickte anerkennend.

„Ich fordere von der Zulassungsstelle eine Liste aller hier zugelassenen Citroen DS 19 an“, schlug Seydlitz vor.

Der Oberkommissar hatte sich inzwischen wieder etwas berappelt, nickte beiden jeweils mit einem leichten Lächeln zu.

„Sie hat ja vollkommen recht. Ich steh’ mir – oder besser uns – mit dieser bescheuerten Wohnungsnummer total im Weg. Ist aber keine wirkliche Entschuldigung. Ihr beide macht euer Ding und ich versuche mal bei unserem Freund Meise etwas über Bruno Bastian zu erfahren. Also, wenn der auf SM[3] steht, wird der Mann nicht gerade im Cherie seinen Spaß suchen, aber Elvira und Meise kennen sicher ein paar Leute, die uns vielleicht einen kleinen Einblick in sein privates Umfeld geben können.“

Kramer griff zum Telefon. Er hatte nicht die Absicht, Meise bei einem spontanen Treffen vor Rogacki[4], begleitet von Fischbrötchen und geräucherter Makrele, über Bruno Bastian zu befragen. Frau Herrmann, Meises Sekretärin, nahm ab. Sie erklärte ihm, dass ihr Chef heute nicht mehr ins Büro komme, der Oberkommissar ihn aber durchaus zuhause in Dahlem erreichen könne.

„Wann ist er denn morgen in der Bismarckstraße Frau Herrmann?“

„Ich sage ihm ganz einfach, dass Sie ihn um 11 Uhr gerne sprechen möchten – na – wie klingt das?“

„Absolut perfekt, Sie kennen ja seinen Terminkalender.“

„Herr Oberkommissar – ich kenne ihn nicht nur – ich führe ihn auch“, entgegnete sie ihm lachend.

Punkt 11 Uhr drückte er in der 2. Etage der Bismarckstraße 79–80 die Türklinke zu den Geschäftsräumen der Meise-Immobilien hinunter und blickte nur Sekunden später in das lächelnde Gesicht von Margot Herrmann.

„Hallo Herr Oberkommissar, der Chef erwartet Sie schon.“

„Hallo Frau Herrmann – schön Sie wiederzusehen.“

„Geht mir auch so, Herr Kramer. Darf ich Ihnen einen Espresso bringen?“

„Ja gerne.“

„Herr Kramer, geben Sie sich keine Mühe, Margot wird auf keinen Fall zur Kripo wechseln.“

Meise war während ihres kurzen Gesprächs aus seinem Büro gekommen und stemmte lachend seine Hände an jene Stellen, wo nach seiner Erinnerung die Hüften sein mussten. Wenig später saßen sich die beiden Männer in der dem Oberkommissar inzwischen durchaus vertrauten Sitzgruppe gegenüber. Kramer zog an seiner Pfeife, Meise an seiner Havanna, beide vor einem frischen Espresso. Sie kannten sich jetzt seit über vier Jahren, wenngleich sie zu Beginn genau genommen Gegner gewesen waren. Kramer, der Vertreter des Gesetzes, und Meise – eher jenseits von Gesetz und Ordnung. Als ungekrönter Ruinenkönig Berlins zierten illegaler Buntmetallhandel und Erpressermethoden im Cherie sein Geschäftsmodell. Zur Überraschung vieler hatte er es jedoch geschafft, all dies wie lästige Altlasten abzuschütteln und zu einem seriösen, in Berlin hoch geschätzten Immobilienmakler aufzusteigen. Seine Clubs hatte er – wie mit einem Hochdruckreiniger – durchgeputzt und in angesagte Etablissements des West-Berliner Nachtlebens verwandelt. Er war auch fair mit seiner alten Abriss-Kolonne umgegangen. Conny Heilmann, Meises Ex-Vorarbeiter, konnte dank der finanziellen Unterstützung seines ehemaligen Chefs mit einigen anderen Kollegen eine kleine – inzwischen recht erfolgreiche – Speditionsfirma gründen. Der Oberkommissar hatte – besonders in den letzten beiden Jahren – die stets direkte und hilfsbereite Art des Mannes mit dem er jetzt Espresso trank, schätzen gelernt. Er hatte sich eine Pfeife angezündet und blickte nachdenklich den Rauchkringeln hinterher. Meise stand auf und ging zu dem kleinen Glastisch, auf dem einige Flaschen mit edlem Whisky und Cognac standen.

„Ich frage nur der Form halber, mein lieber Kramer – Ihre Antwort – die kenne ich ja schon … oder?“ Er zeigte einladend auf das Flaschensortiment. Als der Oberkommissar wie erwartet dankend ablehnte, lächelte der Gastgeber.

„War mir klar – kein entspannter Besuch – wieder mal dienstlich hier … schade eigentlich.“

„Ja – wenn ich ehrlich bin – empfinde ich es inzwischen auch ein bisschen blöd, dass ich immer mit meiner Arbeit hier bei Ihnen aufkreuze.“

„Mensch Kramer, Sie müssen sich doch nicht entschuldigen. Alles ist gut. Ich freue mich wirklich, wenn Sie kommen und mich bitten, Ihnen ein wenig behilflich zu sein. Ist doch so? Sie brauchen mal wieder ein paar kleine Informationen … oder?“

Meise kam mit einem Glas Whisky in der Hand wieder zurück. Der Oberkommissar legte die Pfeife sanft auf dem Glastisch ab und berichtete dann kurz über die Tote aus dem Tiergarten und deren Verbindung zu Bruno Bastian.

„Das wäre ja in der Tat ein dickes Ding, wenn einer der populärsten Schauspieler unserer Stadt darin verwickelt wäre“, Meise schüttelte ungläubig seinen Kopf.

„Genau das ist unser Problem. Ermitteln, ohne viel Staub aufzuwirbeln, weil die Presse, sobald sie davon Wind mitbekommt, einen Riesenaufriss veranstalten wird. Sollte der Mann aber am Ende nicht für den Tod der jungen Frau verantwortlich sein“, er machte eine kleine Pause, „dann kann er wahrscheinlich seine Karriere in den Rauch schreiben.“

„Soll heißen“, nahm Meise den Gedanken auf, „dass Sie möglichst unauffällig Bastian und sein unmittelbares Umfeld ausleuchten wollen?“

„Richtig. Wir wollen erfahren, mit wem er wo und wann unterwegs ist. Was ist er abseits der Bühne für ein Typ, wie ist er sexuell orientiert? Alles, was wir erfahren können, ohne hier gleich die große Welle zu schieben, wäre für uns sehr hilfreich.“

Der Makler stand auf, öffnete die Tür zu seinem Vorzimmer und bat Frau Herrmann, ihnen zwei frische Espresso zu bringen. Als er wieder in seinem Sessel saß, blickte er den Oberkommissar nachdenklich an.

„Na klar kenne ich Bastian … was heißt kennen – bin ihm einige Male bei irgendwelchen Veranstaltungen begegnet. Habe mich mit ihm auch ein-, zweimal bei uns im Cherie unterhalten. Ein bunter Vogel, würde ich sagen. Kommt dort hin und wieder mit einigen Leuten in den Club und sitzt dann ausschließlich an der Bar. Ich habe noch nie mitbekommen, dass er eins von unseren Mädchen gebucht hat. Andererseits … der Typ ist durch und durch hetero. Ich weiß mit Sicherheit, dass sein Stammlokal das Pigalle in der Motzstraße ist. Kennen Sie das, Kramer?“

Der Oberkommissar schüttelte den Kopf, wirkte sehr aufmerksam.

„Die Bar hat inzwischen den Ruf, einer der angesagtesten Treffpunkte im West-Berliner Nachtleben zu sein. Kramer, da finden Sie alles. Im hinteren Bereich der Bar trifft sich die Fraktion Straßen-Strich – Zuhälter – einige kommen manchmal in Begleitung ihres besten Pferdchens. Da ist aber auch die Innung Klau und Bruch am Start. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dort schon das eine oder andere Ding ausbaldowert worden ist. Der vordere Teil des Pigalle ist eine richtig nette Bar. Hier treffen sich Journalisten, Schauspieler und Leute aus der Wirtschaft – Sie sehen ja – war ja auch schon ein paar Mal dort. An jedem dieser Abende habe ich auch Bastian gesehen. Er war aber nicht an der Bar, sondern saß mit drei, vier Kumpels an einem Tisch und spielte Poker. Ich hatte den Eindruck, dass Bastians Mitspieler Taxifahrer sind, die ihn vermutlich häufig durch Berlin kutschieren und mit denen er ganz offensichtlich gut befreundet ist. Tja – mehr fällt mir im Moment zu unserem Freund nicht ein“, Meise lehnte sich in seinem Sessel zurück.

Pigalle