Astrid Schlung
Im Flow der Welle
Begegnung am Surfspot Borkum
ROMAN
Astrid Schlung
Im Flow der Welle
Begegnung am Surfspot Borkum
Roman
Namen und Handlung fiktiv, eventuelle Ähnlichkeiten
aus realem Geschehen sind unbeabsichtigt und zufällig.
Originalausgabe
EPUB-ISBN: 978-3-948218-42-3
Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich und kann
über den Handel oder über den Verlag bezogen werden.
Print-ISBN: 978-3-948218-41-6
Lektorat/Layout: Günther Döscher
Covergestaltung: Annelie Lamers mit einem
privaten Foto aus dem Besitz der Autorin
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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© 2022
Kadera Verlag, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten.
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Gedruckt in Europa
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Hermannstal 119k, 22119 Hamburg
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Inhalt
„I“
„Borkum“
„Die Surfschule“
„Der Surfkurs“
„II“
„Amsterdam“
„Kalifornien“
„III“
„Der Besuch“
„Das Angebot“
„Kitesurfen“
„Tückischer Wind“
„Eine kleine Dummheit“
„Der letzte Windsurftag“
„IV“
„Die Zeit mit Dan und Jeff“
„Big Waves in Mavericks“
„V“
„Unerwartete Begegnung“
„Neue Gesellschaft“
„Good Vibes“
„Old School“
„Ausflug mit Imke“
„VI“
„Training für die Big Waves“
„Veränderungen“
„VII“
„Kutterfahrt mit Folgen“
„»Ich habe erfahren,
was du nie erzählt hast«“
„Zurück in Berlin“
„Die Autorin“
I
MARIEKE
Borkum
Borkum war ihre Heimatinsel, doch Marieke hatte sie zuletzt vor acht Jahren besucht. Jetzt saß sie in der Ems-Fähre »Ostfriesland« in der Nähe des Tresens der Bordgastronomie und schaute den Passagieren zu, wie sie sich vor der Abfahrt mit Matjes-Brötchen, Pommes frites, Chicken-Nuggets und Pfannkuchen versorgten. Das lärmende Familiengewusel der Insel-Touristen in Outdoor-Jacken und Ringelshirts weckte ihre Vorfreude auf Strand, Meer, Seeluft – und vor allem auf eine steife Brise mit schäumender Brandung. Ihr Vater und Sabine, seine zweite Frau, hatten ihr zum 18. Geburtstag einen Surfkurs geschenkt. Genau ihr Ding! Sie war ein sportliches Naturtalent, hatte schon viele Sportarten ausprobiert und es war ihr größter Traum, nach dem Abi ein Sportstudium zu beginnen.
Als die Fähre das offene Wasser erreichte, spritzte Nordsee-Gischt an die Fenster. Es ist alles wie früher, sinnierte Marieke. Selbst von Berlin aus, wo ihr Vater Journalist bei einer großen Tageszeitung war, Sabine kennenlernte und heiratete, verbrachten sie die Sommerferien oft auf Borkum und wohnten bei ihrer Oma, die ein Häuschen direkt gegenüber der Grundschule hatte. Das änderte sich, als Imke Abels Witwe wurde und es auf der Insel nicht mehr aushalten konnte. Sie fand Unterschlupf auf dem Hof ihrer Schwester Bente in Ostrhauderfehn. Dort blieb sie acht Jahre und vermietete in dieser Zeit ihr altes Inselhäuschen an junge Lehrer. Das war keine große Schwierigkeit, denn es zogen ständig neue Lehrkräfte nach Borkum, die sich nach einiger Zeit ein eigenes Haus kauften oder wieder auf das Festland zurückkehrten. Doch jetzt war Imke zurück auf der Insel. Sie hatte ihr Haus umfassend renoviert und teilweise neu möbliert. Alles wie früher? Marieke war gespannt. Sie schmiegte sich in die Ecke der Sitzbank und sah über das gräuliche Wasser, auf dem sonnige Lichtreflexe blitzten und Schiffe durch die Wellen zogen. Die vielen durcheinanderrufenden Feriengäste steckten Marieke mit ihrer Urlaubslaune an. Gut, dass sie nicht mit Lena und Lukas zusammen nach Mallorca aufgebrochen war. Marieke hatte keine Lust, durch deren Geturtel ständig daran erinnert zu werden, dass sie selbst solo war.
»Ist dieser Platz noch frei?«, fragte eine junge Frau mit holländischem Akzent und riss Marieke damit aus ihren Gedanken. Die Holländerin kam in voller Küstenmontur offenbar gerade vom Außendeck.
»Ja, sicher«, antwortete Marieke und zog ihre Beine etwas an.
Die Frau legte ihre Jacke ab und kramte ein paar Flyer aus ihrer Tasche. Marieke musterte sie unauffällig, während die Frau in ihre Drucksachen vertieft war. Sie war hübsch, zierlich, aber durchtrainiert und braungebrannt, hatte eine niedliche Stupsnase, blaue Augen und hellblonde Haare. Die Flyer zeigten Surf-Boards, Beach-Buggys, Kitesurfing-Zubehör und dreirädrige Fahrzeuge, die mit einem Segel bestückt waren und Mariekes Interesse weckte.
»Darf ich mal was fragen?«, wandte sie sich an die lesende Frau.
»Klar, kein Problem.«
»Was sind denn das für Fahrzeuge da in Ihren Flyern? Ich habe vor, einen Surfkurs auf Borkum zu machen. Wissen Sie, ob es auf Borkum auch solche Fahrzeuge gibt?«
»Ach, wirklich? Dann werden wir uns sicher bald wiedersehen. Ich arbeite nämlich in der Borkumer Surfschule. Du kannst mich aber gern duzen, das machen wir in der Schule sowieso und im Alter sind wir ja nicht so weit auseinander, denke ich mal.« Sie drehte den Flyer zu Marieke und tippte auf das Bild. »Und ja, das hier sind Beach Cruiser oder Strandsegler, die haben wir auch bei uns in der Schule. Der Borkumer Nordstrand ist ideal geeignet dafür, der ist ja richtig breit und hat jede Menge Platz zum Strandsegeln. Wenn du mit deinem Kurs durch bist, kannst du bei uns auch einen Strandsegler-Führerschein ablegen, wenn du möchtest.«
»Das ist ja interessant, das würde ich total gern ausprobieren, aber ich weiß nicht, ob mein Geld dafür reicht. Ich hab zum Geburtstag von meinen Eltern Geld für einen Surfkurs bekommen – der kommt also zuerst. Ich habe noch nie gesurft, bin aber ziemlich sportlich. Eignet sich Borkum denn gut, um Kitesurfen oder Windsurfen zu lernen?«, fragte Marieke.
»Ja, total! Sonst wären wir nicht hier. Wir haben am Weststrand eine vorgelagerte Sandbank, dadurch ist die fast eingeschlossene Bucht vor dem offenen Meer geschützt. Das sind ideale Voraussetzungen für Anfänger. Die Bucht ist wie eine große Badewanne, da macht es sogar Spaß, vom Board zu fallen«, erzählte sie mit einem glucksenden Lachen. »Aber an unserem Surfspot weht öfter mal ein kräftiger Westwind. Bei fünf Windstärken gibt es schon eine beachtlich hohe Brandung. Für Fortgeschrittene ist unser Surfrevier daher ebenfalls super geeignet«, schwärmte die Surferin. »Wenn man von unserer Station ein bisschen weiter nach Norden geht, können die Fortgeschrittenen auf dem offenen Meer bei einer ordentlichen Brandung surfen. Es ist also für jeden etwas dabei.«
»Wow, das klingt gut!«, erwiderte Marieke.
Klar, dass die Surflehrerin von ihrem Surfspot schwärmte, sie lebte ja schließlich davon. Aber Marieke spürte, dass das mehr war als ein Verkaufsgespräch, sie war wirklich begeistert, hatte etwas Mitreißendes und konnte mit ihrer Art und mit dem, was sie erzählte, ehrlich überzeugen.
»Und was macht ihr, wenn mal gar kein Wind weht?«, wollte Marieke wissen.
»Das kommt auf Borkum so gut wie nie vor, aber wer Stand-Up-Paddling liebt, hat dafür in unserer ›Badewanne‹ bei etwas weniger Wind ideale Bedingungen«, entgegnete die Frau überzeugend und zwinkerte Marieke dabei verschmitzt zu. »Ich war übrigens gerade erst auf dem Festland, um neues Equipment einzukaufen, auch neue Stand-Up-Paddling-Boards, daher habe ich hier auch so viele Flyer. Ich bin dafür zuständig, die auswärtigen Gespräche mit den Geschäftspartnern zu führen und ich erledige unsere Buchhaltung, die Finanzen und sowas. Mein Freund ist ein Surfer par excellence, auf Buchhaltung und andere Büroarbeit hat er nicht so viel Lust«, meinte sie schmunzelnd. »Na ja, er ist der Chef der Surfschule, er muss mehr vor Ort sein und dort nach dem Rechten sehen. Er kennt sich sehr gut aus mit dem Zubehör und sucht das Material im Internet aus. Ich sehe es mir dann real an und verhandle mit den Fabrikanten. Wir sind immer up to date, um unseren Schülern das beste und neueste Equipment zu bieten.«
»Tja, dann ist es ja die richtige Entscheidung, bei euch meinen ersten Surfkurs zu belegen«, stellte Marieke fest.
»Ja, ich freue mich schon darauf, dass du zu uns kommst.« Sie suchte etwas in ihrer Tasche und gab Marieke einen Flyer ihrer Surfschule. »Hier stehen unsere aktuellen Termine für die neuen Anfängerkurse drin. Ich bin übrigens Fiene, du kannst mich immer montags, mittwochs und freitags in der Surfschule antreffen, ansonsten bin ich im Home-Office und anderweitig beschäftigt, aber Keno ist fast immer da.«
»Freut mich, ich heiße Marieke, wir sehen uns dann demnächst.«
Sie raffte ihre Sachen zusammen, denn die Fähre drosselte bereits die Fahrt für die Anlegeroutine.
An der Borkumer Reede stand Mariekes Oma schon heftig winkend hinter der Absperrung, um Marieke abzuholen. Fiene fuhr mit den meisten anderen Passagieren mit der Kleinbahn in den Ort.
Imke empfing ihre Enkeltochter mit weit ausgebreiteten Armen. »Hallo, meine Süße, endlich sehe ich dich mal wieder, das letzte Mal ist ja schon wieder eine ganze Ewigkeit her, wann war das noch mal?«
»An Weihnachten, Oma, das musst du doch noch wissen«, frotzelte Marieke. »Aber das war bei Tante Bente in Ostrhauderfehn«, erinnerte sie sich mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ach, wirklich? Da siehst du es mal wieder. Hier ticken die Uhren anders. Die Zeit auf Bentes Hof kam mir fast wie ein ganzes Leben vor, dabei waren es nur acht Jahre. Und zurück auf der Insel, war mir, als hätte ich nur mal für drei Tage einen Festlandausflug unternommen. Hier hat sich gar nichts verändert. Aber wenn man genau hinschaut, stimmt das auch nicht. Zeit ist ein komisches Element, meine Süße. Ach, jetzt fange ich an zu philosophieren … Was schleppst du denn alles mit dir? Gib mir mal eine Tasche ab.« Imke griff zu, bevor Marieke die Tasche von der Schulter gezogen hatte und war schon einen Schritt voraus. »Das Auto steht da drüben auf dem Parkplatz, es ist nicht weit weg, wir haben Flut, das Schiff konnte weit in den Hafen hineinfahren … Na, dann kann ich dir ja gleich zeigen, wie ich das Haus umgestaltet habe. Auch im Garten habe ich tüchtig geschuftet, es wird dir bestimmt gefallen«, erzählte Imke begeistert.
»Davon bin ich überzeugt, Oma!«
Das alte Häuschen sah äußerlich genau so aus, wie Marieke es in Erinnerung hatte. Es wirkte jedoch etwas kleiner, aber so ist es ja oft, wenn die Erinnerung in kindlicher Perspektive aufgenommen wurde. Drinnen hatte ihre Oma wirklich Veränderungen geschaffen. Die alten Tapeten hatte sie heruntergerissen und die Wände in hellem Gelb angestrichen. Es gab mehrere neue Möbelstücke. Alles war im Landhausstil eingerichtet und hatte durch ausgewählte Requisiten und Bilder einen maritimen Touch. Weiß und Blautöne überwogen und gaben den hellgelben Wänden eine ausgewogene Frische.
»Na, was sagst du jetzt?«, fragte Imke.
»Oh! Es ist fantastisch!«, staunte Marieke. »Du hast das Haus ja wirklich stilvoll eingerichtet, Oma. Perfekt! Aber hattest du mich nicht gebeten, dass ich dir dabei etwas helfe? Wie ich sehe, hast du selbst schon ganze Arbeit geleistet, da bleibt doch gar nichts mehr für mich zu erledigen«, stellte Marieke fest.
»Ja, ja. Ich weiß ja, dass du mir gern hilfst – und so habe ich dich nach Borkum gelockt, meine Süße«, sagte Imke zärtlich und strich Marieke über die Wange.
»Aber, Oma, solche Tricks hast du gar nicht nötig!«, erwiderte Marieke entrüstet. »Ich besuche dich doch gern, egal, ob du meine Hilfe brauchst oder nicht. So wie du bei Tante Bente auf dem Hof angepackt hast, habe ich mir schon vorgestellt, dass ich dir beim Helfen eher im Wege stehe.«
»Du kannst mir gern im Garten helfen, wenn du möchtest, da ist immer etwas zu tun«, entgegnete Imke, »aber nun komm erstmal an. Dein Zimmer ist da oben – wie gehabt«, sie zeigte auf die Stiege. »Jetzt frag ich mal, ob du dich daran überhaupt erinnern kannst. Bring am besten erstmal dein Gepäck hoch, und dann lass uns ein bisschen Kuchen essen. Ich habe extra Erdbeerkuchen gebacken, den magst du doch so gern.«
Marieke stieg die schmale Treppe zu ihrem Zimmer hoch, die Dielen knarzten wie eh und je. Das Gästezimmer, das in den folgenden Wochen ihr Zimmer sein sollte, hatte ihre Oma ähnlich hergerichtet, wie Marieke es in Erinnerung hatte.
Marieke fühlte sich in diesem Raum sofort wie zu Hause, streifte ihre Schuhe ab und warf sich für einen Augenblick auf das Bett, schloss die Augen und atmete in tiefen Zügen ihre Erinnerungen ein. Dann ging sie barfuß in den Garten, um mit ihrer Oma Kaffee zu trinken, Erdbeerkuchen zu essen und zu plaudern.
Als Marieke abends wieder im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Durch das Fenster wehte ein leichter Wind, der nach Sommer roch, nach gemähtem Gras, nach salzigem Meer und Strand, und nach Holz von den Dielen und dem Bauernschrank in ihrem Zimmer. Marieke konnte die Grillen im Garten zirpen hören, und wenn sie den Atem anhielt, hörte sie sogar den Wellenschlag des Meeres. Oder war es zu weit weg und sie bildete es sich nur ein? So, wie man meint, in einer Meeresschnecke am Ohr das Rauschen der See zu hören, obwohl es nur Luft ist, die im gedrehten Gehäuse hin- und herschwingt.
Besonders liebte sie an diesem Zimmer die Strahlen des Neuen Leuchtturms, die in regelmäßigen Abständen durch das Fenster auf den Fußboden geworfen wurden, dort einmal durch den ganzen Raum wanderten und dann wieder verschwanden, um nach etwa drei Atemzügen am anderen Ende des Zimmers erneut zu erscheinen. Marieke beobachtete diese Strahlen minutenlang, diese immer wiederkehrenden Lichter hatten etwas Beruhigendes. Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie die Leuchtturmstrahlen zum Einschlafen benutzte, so wie manche Leute Schafe zählten, wenn sie auf den Schlaf warteten. Trotzdem lag sie manchmal lange wach und dachte an ihre Mutter. Warum war sie nicht mehr da? Sie war kaum drei Jahre alt, als ihre Mutter verschwand. Marieke hatte den Kopf voller fröhlicher Momente mit ihrer Mutter: Plätzchenbacken in der Vorweihnachtszeit. Ein Lebkuchenhaus hatten sie gebaut. Und sie hatte zu viele Smarties, Lakritzschnecken und Gummibärchen genascht, bis ihr am Ende ganz übel war. Ihre Mutter hatte sie geneckt und immer wieder »meine kleine Naschkatze« gesagt und sie in die Seite gepikst, sodass sie laut gluckste und ihr noch übler wurde.
Aber waren das überhaupt wirkliche Erinnerungen oder hatte sie sich das ausgedacht, nachdem sie die Fotos gesehen hatte, auf denen all das abgebildet war? Ab welchem Alter können sich Kinder an Erlebnisse zurückerinnern?
Als ihre Mutter plötzlich weg war, hatte Marieke im Schlaf lange Zeit immer wieder Weinkrämpfe bekommen. Deshalb hatte ihr Vater eine Zeit lang zusammen mit Marieke in diesem Zimmer geschlafen. Sein Bett stand gegenüber ihrem Bett unter dem Fenster, damit er sie sofort wecken konnte, wenn die Weinkrämpfe anfingen. Dann nahm er sie in den Arm und versuchte so, gleichzeitig Vater und Mutter zu sein. Er sagte dann wohl hundertmal hintereinander immer wieder nur »meine Kleine, meine Kleine, meine Kleine …«, mehr nicht, bis es zu einem monotonen, immer leiser werdenden Mantra wurde und sie in seinen Armen wieder einschlief.
Bald darauf zogen Mariekes Vater, Hendrik, und Marieke zurück nach Berlin. Hendrik beendete sein Journalismusstudium und eine Berliner Tageszeitung bot ihm überraschend eine feste Stelle an. Dieses Angebot konnte er nicht ausschlagen. Noch etwas später kam immer häufiger Sabine in die kleine Vater-Tochter-Wohnung in Charlottenburg zu Besuch, die Hendrik seiner Tochter als »eine Bekannte« vorstellte, womit Marieke nichts anfangen konnte. Aber es gefiel ihr, wenn sie zu dritt durch den Grunewald radelten – Marieke bei ihrem Vater auf dem Rad im Kindersitz und Sabine daneben. Sabine organisierte an Mariekes drittem Geburtstag ein gigantisches Picknick im Grünen und im Sommer badeten sie zusammen in der Havel und aßen auf dem Restaurantschiff »Alte Liebe« am Stößensee Schnitzel mit Bratkartoffeln und Spiegelei. Sie mieteten sich am Wochenende Kanus und paddelten damit auf der Havel, Sabine suchte mit ihr zahlreiche Spielplätze auf, während Papa arbeitete. Als sie bereits in ihrem Haus mit dem Garten wohnten, bauten sie zu dritt ein Baumhaus und aßen im Garten Obstkuchen, den Sabine gebacken hatte. Schließlich heirateten Papa und Sabine.
Marieke konnte es nicht anders ausdrücken: Sabine war die beste Stiefmutter, die sie sich vorstellen konnte! Sie verdiente diesen merkwürdigen Namen »Stiefmutter« nicht, der an gemeine Figuren aus Grimms Märchen erinnerte. Sabine hatte sich ihr gegenüber von Anfang an wie eine leibliche Mutter verhalten.
Ihre Großeltern hatten weiterhin in ihrem Haus am Schulgang auf Borkum gewohnt und Papa, Sabine und Marieke hatten sie dort oft besucht. Dieses Zimmer war Mariekes Zimmer geblieben, sie hatte es immer besonders deshalb gemocht, weil sie hier auf der Westseite des Hauses jeden Abend die Strahlen des Neuen Leuchtturms beobachten und zählen konnte, bis sie eingeschlafen war. Und so war es auch jetzt.
Die Surfschule
Der nächste Tag war ein Mittwoch. Hatte Fiene nicht gesagt, dass sie am Mittwoch in der Surfschule ist? Jetzt machte es Marieke froh, gestern Fiene kennengelernt zu haben, denn ihre überschäumende Courage, mit der sie in der Surfschule auftauchen und die coolen Surfertypen locker nach der Teilnahme an einem Surfkurs fragen wollte, war schlagartig verflogen. Dass sie Fiene schon kannte, erleichterte ihr die Sache ungemein.
Marieke nahm das klapperige Zweitrad ihrer Oma und radelte durch die Wilhelm-Bakker-Straße und dann auf der Strandstraße am Neuen Leuchtturm vorbei zur Promenade am »Nordbad« am Weststrand der Insel. Dort stellte sie das Fahrrad ab und lief an Milchbuden und Trampolinen vorbei bis zur Surfschule. Auch wenn sie das letzte Mal als Zehnjährige auf der Insel war, kannte sie dort immer noch alle Wege – es war ihr alles so vertraut wie eh und je. Doch eine Surfschule gab es damals noch nicht.
»Oh, hallo, da bist du ja schon!«, rief Fiene euphorisch, als sie Marieke sah, »wie war noch gleich dein Name?«
»Marieke Janssen …«, sagte sie.
»Keno, schau mal, das ist das Mädchen, das mir gestern auf der Fähre erzählte, dass sie einen Surfkurs belegen möchte – und voilà, schon ist sie da«, plauderte Fiene locker weiter.
Aus der Bude, in der sich das provisorische Büro befand, kam Keno de Buhr hervor, der Inhaber der Surfschule. Marieke verschlug es auf der Stelle den Atem. Na klar, sie hatte aus Filmen eine Vorstellung davon, wie die verwegenen Wellenreiter aussahen, und in Berlin gab es auch ein paar attraktive Männer, aber so real hatte sie noch keinem derartig umwerfend aussehenden Mann gegenübergestanden. Er trug knielange Shorts, hatte einen braun gebrannten, muskulösen Oberkörper, um den Hals ein paar Lederbänder mit verschiedenen Anhängern, dunkelblonde Haare, die wellig bis zum markanten Kinn reichten – und tiefblaue, funkelnde Augen, mit denen er Marieke so eindringlich ansah, dass es ihr durch Mark und Bein ging.
Er sagte nichts, kein »Hallo«, nickte nicht einmal, rein gar nichts – er sah sie nur an.
»Äh, ja, ich bin Marieke Janssen und komme, äh, aus Berlin und ja …«, stotterte Marieke.
»… und du möchtest einen Anfängerkurs belegen«, beendete Keno jetzt ganz präsent ihren Satz, ohne dass es eine Frage sein könnte.
»Ja, äh, sieht man das?«, fragte Marieke verunsichert.
»Dass du Anfängerin bist?«, fragte Keno lachend, wobei sich in seinen Wangen attraktive Grübchen bildeten, »nein, nein, das hat Fiene mir erzählt. Dann komm doch mal mit rein, dann kannst du gleich den Anmeldebogen ausfüllen. Du hast Glück, der nächste Kurs startet morgen um zehn.« Er machte eine kurze Pause. »Du kommst also aus Berlin, aber wir brauchen eine Telefonnummer, unter der du hier zu erreichen bist und eine Adresse von dir auf Borkum. Wo wohnst du denn hier?« Keno war inzwischen hinter einen Anmeldetresen getreten, dessen Oberseite ein offenbar ausrangiertes Surfbrett war. Er hatte Marieke den Rücken zugekehrt und fischte aus einem Kieferregal einen Anmeldebogen heraus.
»Hier wohne ich bei meiner Oma, Imke Abels, im Schulgang 16«, antwortete Marieke, die ihre Sprache inzwischen wiedergefunden hatte.
Marieke bemerkte, dass ein Zucken über Kenos Rücken lief und sich seine Muskeln anspannten. Er drehte sich langsam um und sah ihr tief in die Augen. Es entstand eine unbehagliche Pause, in der Marieke ein schwitziges Kribbeln unter der Haut empfand. Sie wusste nicht, wohin sie gucken sollte, die Anwesenheit dieses Mannes verwirrte sie.
Doch Keno schien inzwischen seine Fassung wiedergewonnen zu haben, er räusperte sich, klopfte ein paarmal mit dem Kugelschreiber in der Hand auf den Surfbrett-Schreibtresen und sagte knapp: »Aha!«
Er schob Marieke den Anmeldebogen übers Brett, reichte ihr den Kugelschreiber und forderte sie mit forschem Blick auf, die leeren Felder auszufüllen. Währenddessen lehnte er sich mit dem linken Unterarm auf den Tresen, rieb sich mit der rechten Hand das Kinn und schien mit seinen Gedanken zu verreisen.
Sie waren sich nun recht nah und Marieke nahm einen sandelholzartigen Geruch an ihm wahr. Er machte sie nervös und sie beeilte sich, den Bogen auszufüllen. Sie war noch bei der Unterschrift, da sprang Keno abrupt auf und beendete die Anmeldung: »Leg den Bogen da hin. Dann sehen wir uns also morgen um zehn«, sagte er fast ruppig und war im nächsten Moment schon draußen, um sich dem Gestell mit den Windsurf-Segeln zuzuwenden.
Marieke war überrascht. »Äh, ja, dann bis morgen«, rief sie ihm hastig hinterher. So plötzlich wegzugehen, das war jetzt irgendwie unhöflich, empfand sie. Vermutlich hatte er es nicht nötig, sich besonders um seine Kunden zu bemühen, weil diese ihm die Tür einrannten.
Das Umgarnen der Kunden war ja Fienes Job, wie sie es ihr schon auf der Fähre erzählte. Und prompt kam Fiene in die Bude. »Super! Ich freue mich schon, dir beim Surfen zuzusehen. Du lernst das bestimmt schnell, das sehe ich dir an«, trällerte Fiene, als bestätigte sie Mariekes Überlegung. »Morgen bin ich zwar nicht hier, aber am Freitag werden wir uns dann wiedersehen. Ich geb dir hier schon mal ein bisschen was zur Theorie des Surfens zum Lesen mit. Damit bist du morgen bestens vorbereitet! Das ist wie in der Fahrschule, ohne Theorie keine Praxis.« Fiene lachte vergnügt über ihren kleinen Scherz und drückte Marieke eine Broschüre über das Wind- und Kitesurfen mit verschiedenen Abbildungen und Handlungsanweisungen in die Hand.
»Ja, danke und bis dann«, sagte Marieke und machte sich etwas verdattert auf den Weg zu ihrem Fahrrad. Auf halber Strecke holte sie sich an einer Milchbude ein Eis und setzte sich beim Musikpavillon auf eine Promenadenbank, um schon etwas in der Broschüre zu blättern.
Von hier hatte sie einen grandiosen Blick über den gesamten Weststrand. Sie sah, wie der Sandhaken die Bucht inzwischen weit umschloss. Früher war er viel kürzer und weiter vom Ufer entfernt, jetzt kam er der Buhne gegenüber erheblich nah. Ob man bei Ebbe von dort zur Spitze des Sandhakens hinübergehen konnte? Aber sicher war das verboten, denn auf der Sandbank lagen zahlreiche Robben und Seehunde. Auf der Buhne liefen Kinder mit Keschern herum und versuchten, Krebse zu fangen, andere bückten sich nach Muscheln, den beliebtesten Souvenirs vom Nordseestrand.
Wenn der Sandhaken in ein paar Jahren die Küste erreicht, wird aus der Bucht vielleicht ein Binnensee, stellte Marieke fest. Der gesamte Strand war von Strandkörben mit bunt gestreiften Planen gesäumt. Sie erinnerte sich zurück, als sie selbst solch einen Strandkorb hatten. Meistens waren sie am Südstrand gegenüber der holländischen Küste und hatten sich eine Sandburg gebaut, um sich ihr eigenes kleines Urlaubsreich zu sichern. Das wurde heute offensichtlich nicht mehr gemacht. Damals gab es sogar Wettbewerbe, wer die schönste Sandburg gebaut hatte. In einigen Sommern waren Tante Maike, Onkel Heiko und ihre Cousinen Svenja und Merle auf Borkum. Maike war die ältere Schwester von Mariekes Mutter. Dann wurde es eng bei Imke und Frerik im Haus, aber für Marieke waren es die besten Sommer, wenn ihre Cousinen dabei waren.
Sie waren dann den ganzen Sommer über nur am Strand und arbeiteten hart daran, den Sandburgenwettbewerb zu gewinnen, indem sie ihre Burg täglich mit Muscheln verschönerten, den Sand begossen, um ihn zu formen und Türme und Gräben zu bauen. Schaufeln und Förmchen, Eimer, Handtücher und was sie sonst noch am Strand benötigten, brachten sie im Bollerwagen an den Strand. Damit sie alles verstauen konnten und jeder seinen Platz hatte, mieteten sie zwei Strandkörbe, in denen man Bretter herunterklappen konnte, die als Tisch dienten. Svenja, Merle und Marieke besorgten oft für alle in der nächstgelegenen Milchbude Dickmilch, Suppe oder Quark mit Früchten, die sie dann an den Tischbrettern im Strandkorb aßen. Marieke und ihre Cousinen ließen es sich nicht zweimal sagen, die Milchspeisen und Suppen von der Bude zu holen. Das lag an den dort aufgestellten kugelförmigen Glasbehältern mit schwarzen Lakritzschnecken, Gummischlangen oder anderen Süßigkeiten, bei denen sie sich mit dem Restgeld bedienen durften. Die Lakritzschnecken wickelten sie zuerst ab, um sie dann vorsichtig in die Speiseröhre hinunterzuschlucken und anschließend wieder herauszuziehen. Wie beim Burgenbauen, wurde auch daraus ein Wettbewerb, bei dem es darum ging, wer das längste Stück der Lakritzschlange hinunterwürgen und unbeschadet wieder hervorzaubern konnte.
Ständig waren sie in irgendeinem Wettbewerb. Es ging darum, wer am Tag die meisten Krebse fing oder wer am längsten und weitesten auf der Buhne ins Meer hinausbalancieren konnte. Die Buhnen waren aus sechseckigen oder achteckigen Eisenträgern geformt, die im Inneren hohl waren. In diesen Hohlräumen befand sich modriges Wasser und Seetang und außen waren die Buhnen voller Seepocken. Man musste die Füße genau auf die schmalen Ränder der Eisenträger aufsetzen, was etwas an den Fußsohlen schmerzte. Um den Wettbewerb etwas anspruchsvoller zu gestalten, ging es auch um die Geschwindigkeit, mit der sie auf den Buhnen ins Meer hinausbalancierten. Dadurch konnte man aber nicht mehr genau hinsehen, wohin man trat.
Das wurde Marieke in einem Sommer zum Verhängnis, als sie von der Buhne fiel, aber leider nicht auf die Seite, auf der das Meereswasser war, sondern auf die andere, auf der sich der harte Sand inzwischen bereits fast zwei Meter weiter unten befand. Dabei brach sie sich einen Arm und bekam einen Gips, auf den nachher alle Kinder aus ihrer Klasse unterschrieben. Den Gipsarm hatte sie danach noch lange als Trophäe aufgehoben und über ihr Bett gehängt, bis er irgendwann schimmelte. Aus ihr damals unerklärlichen Gründen hing er eines Tages nicht mehr über ihrem Bett, als sie aus der Schule kam.
Sie fragte sich, was Svenja und Merle in diesem Sommer wohl machten; sie hatten sich in den letzten Jahren aus den Augen verloren, weil sie durch unterschiedliche Ferienzeiten nur selten gleichzeitig ihre Oma besuchen konnten. Und schließlich war Imke nicht mehr auf Borkum, sondern bei ihrer Schwester auf dem Hof in Ostrhauderfehn, weitab vom Meer.
Öfter war Imke auch zu ihnen nach Berlin gekommen. Sie sagte, das wäre immer eine willkommene Abwechslung von ihrer Arbeit auf Bentes Hof gewesen. Imke genoss das Stadtleben und die kulturellen Aktivitäten, die Berlin zu bieten hatte. Sie fuhr jedoch auch oft zu ihrer Tochter Maike und deren Familie nach Freiburg.
Als Marieke ihre Rast auf der Bank beendet hatte und zum abgestellten Fahrrad ging, nahm sie sich vor, ihre Oma danach zu fragen, was inzwischen aus ihren Cousinen geworden ist.
Imke war im Garten beschäftigt, als Marieke ihr Fahrrad durch die Pforte schob. »Du kannst mir gleich mal behilflich sein und mit mir die Hecke stutzen«, sagte Imke zwar freundlich, aber bestimmt und drückte Marieke gleich eine Heckenschere in die Hand. »Svenja hat vorhin angerufen und sich nach dir erkundigt«, fügte sie hinzu.
»Ach«, sagte Marieke, »Gedankenübertragung! Ich habe gerade an sie und Merle gedacht.«
»Ich hatte Svenja erzählt, dass du mich hier auf Borkum besuchen würdest. Ich soll dir schöne Grüße bestellen. Merle hat ja dieses Jahr ihr Abitur mit einem Schnitt von 1,2 gemacht und ist mit ihrem Freund zu einem Work-and-Travel-Jahr nach Australien aufgebrochen. Momentan helfen sie irgendwo in der Landwirtschaft aus, hat Svenja erzählt. Und Svenja selbst macht gerade ihren Führerschein in einer Ferienfahrschule. Du weißt ja, sie ist wie du erst im nächsten Jahr mit ihrem Abi dran«, erklärte Imke.
»Oh«, erwiderte Marieke einsilbig und schnitt dabei aus der Hecke herausragende Äste ab, die der Sonne ein bisschen zu schnell entgegenstrebt waren.
»Warum schreibst du den beiden nicht einfach mal eine Nachricht?«, fragte Imke, »ihr habt euch doch früher immer gut miteinander verstanden. Ich kann gar nicht verstehen, warum ihr heute keinen Kontakt mehr zueinander habt.«
»Na ja, Berlin und Freiburg liegen nun einmal ziemlich weit auseinander. Da fährt man nicht mal so eben hin«, verteidigte sich Marieke. Sie hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
»Du musst sie ja nicht gleich besuchen, ich meine, gerade heute, im Zeitalter der neuen Medien, ist es doch so einfach, den Kontakt zueinander aufrechtzuerhalten. Du schreibst mir doch auch über das Handy, was dich beschäftigt«, beharrte Imke auf ihrer Meinung.
»Ja, ich weiß auch nicht«, erwiderte Marieke etwas gereizt. In ihr stieg schlechte Laune auf und sie hatte keine Lust mehr, sich über ihre Cousinen zu unterhalten. »Kann ich dir noch woanders helfen? Mit der kleinen Hecke hier kommst du ja sicher auch allein klar«, schloss Marieke das Thema daher resolut ab.
»Nein, nein, lass nur«, lenkte Imke schnell ein. »Du hast recht, ich bin ja schon fast fertig mit der Hecke.« Anscheinend hatte sie verstanden, dass Marieke allein entscheiden wollte, ob sie den Kontakt zu ihren Cousinen pflegen wollte oder nicht und dass sie ihr diesbezüglich besser nicht reinreden sollte.
»Na, dann ziehe ich mich jetzt mal wieder zurück«, meinte Marieke und ging ins Haus.
Im Haus schnappte Marieke sich einen Apfel, setzte sich auf die Wohnzimmercouch und legte die Füße auf den Couchtisch. Dort lagen diverse Klatschzeitschriften, die ihre Oma gern las. Sie blätterte in den bunten Zeitschriften und las die Schlagzeilen über den knappen Texten. »Die Queen und Harry reden nicht mehr miteinander«, wurde als fette Wichtigkeit präsentiert, drohendes Unheil auch auf dem Festland: »Ein neuer Schlag für das spanische Königshaus«. Die Texte schienen austauschbar zu sein, sie waren umgeben von übergroßen Bildern, die den weiteren Text überflüssig machten, weil die Kerninformation bereits in der Überschrift stand. Alles zusammen war nicht mehr als aufgeblasene Banalität. Hinter dem Schicksalsschlag des spanischen Königshauses steckte schließlich die Tragik, dass der Lieblingschauffeur des Monarchen wegen eines Schnupfens einen Tag ausgefallen war, las Marieke.
Sie legte die Zeitschriften nach gelangweiltem Durchblättern beiseite und stellte für sich fest, dass sie absolut keine Lust hatte, Svenja und Merle zu schreiben. Sie wusste nicht recht, warum sie überhaupt nicht wissen wollte, dass Merle nach ihrem Super-Abitur ein vergnügtes Work-and-Travel-Jahr mit ihrem Freund in Australien unternahm und dass Svenja bereits mit ihrem Führerschein angefangen hatte, obwohl sie erst siebzehn war. Es interessierte sie einfach nicht. Es ärgerte sie sogar. Und es wurmte sie ebenso, dass sie sich darüber ärgerte.
Ihre Oma hatte recht, die Cousinen hatten sich früher prima verstanden und den ganzen Sommer miteinander verbracht, ohne sich jemals ernsthaft zu streiten. Warum war der Kontakt bloß abgebrochen? Nach einer Weile kam ihr die Erkenntnis, dass das eine blöde Frage war. Natürlich war der Kontakt eingeschlafen, die Verbindung zwischen ihnen bestand ja ausschließlich über ihre Oma, und als die weg von Borkum und auf Bentes Hof gezogen war, gab es keine Möglichkeit mehr, gemeinsam die Ferien bei ihr zu verbringen. Und war es nicht verständlich, dass Mariekes Vater keinen Kontakt zu Maike und ihrer Familie gepflegt hat? Maike war ja schließlich nicht seine Schwester, sondern die von Mariekes Mutter. Warum sollte Hendrik den Kontakt zur Schwester seiner früheren Frau aufrechterhalten, nachdem diese ihm durchgebrannt war und ihn mit der kleinen Marieke im Stich gelassen hatte? Vermutlich erinnerte Maike ihn auch noch an ihre Mutter und dieser Erinnerung wollte er sich wohl nicht unbedingt aussetzen.
Wer möchte sich denn ständig an sein eigenes Desaster erinnert fühlen?
Und überhaupt: Immer war alles »super« gelaufen in Maikes Familie. Heiko und Maike verstanden sich ausgezeichnet und Svenja und Merle hatten nie irgendwelche Schwierigkeiten gehabt, immer sehr gute Noten bekommen und beide hatten einen Freund. Eine Bilderbuchfamilie aber ist nur auszuhalten, wenn man selbst ein Teil davon ist, nicht jedoch als leuchtendes Beispiel, das einem die eigenen Unvollkommenheiten vor Augen führte.
Es war nachvollziehbar, dass bei Svenja und Merle immer alles gut lief, sie kamen schließlich aus einer intakten Familie. Marieke ärgerte sich darüber, dass nicht ihnen die Mutter weggelaufen war, sondern ihr – und schämte sich im nächsten Moment für diesen Gedanken. Wie konnte sie so kindisch und missgünstig sein? Außerdem brauchte sie sich doch nicht zu beschweren, sie hatte schließlich einen liebevollen Vater und Sabine war die beste Mutter, die man sich vorstellen konnte, sie wohnten in einem schönen Haus und alles war in Ordnung. Was wollte sie eigentlich sonst noch?