Jeronim Perović
Eine globale Energiegeschichte
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
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Umschlagabbildungen: Titel des Plakats: Bol’še nefti i gaza v devjatoj pjatiletke! (Deutsch: Mehr Öl und Gas im neunten Fünfjahresplan!); Künstler: Miron Vladimirovič Luk’janov (1936 – 2007); Datum/Ort: UdSSR, 1974. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Familie.
Korrektorat: Anja Borkam, Jena
Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln
Satz: Michael Rauscher, Wien
EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-412-52445-6
Abkürzungsverzeichnis
Karten
Vorwort
Einleitung
1 Russland in der globalen Erdölgeschichte
Eine Kurzgeschichte des Erdöls
Kapitalismus, Geopolitik und der »Kohlenwasserstoffh«-Mensch
Russische Besonderheiten
2 Die Bolschewiki und das Öl
Energiepolitik in der frühen Sowjetzeit
Öl, Konzessionen und Diplomatie
Die Konferenz von Genua
Die Amerikaner in Baku
Das »rote Öl« auf dem Weltmarkt
Erdölknappheit und Weltkrieg
Zwischen Abschottung und Handel
3 Energie im Kalten Krieg
Die Welt in zwei Lager
Öl und Politik unter Chruschtschow
Sowjetische Rohstoffe und sozialistische Integration
»Lasst uns handeln!«
»Erdöloffensive« und NATO-Sanktionen
»Die Kultur der Stahlblechproduktion anheben«
Gescheiterte Exportstrategie
4 Der Weg in die Abhängigkeit
Erschütterung des globalen Ölmarkts
Détente, Handel und die sibirische Herausforderung
Energievisionen unter Breschnew
Energiekrise und Folgen für den »Ostblock«
Ende der Entspannung und Start der Sibirienkampagne
Der iranische Faktor
»Die größte Pipeline der Welt«
5 Krise, Zerfall und Wiederaufstieg
Erdölpreiszerfall und Beschleunigung der Systemkrise
Risse im »Ostblock« und der sowjetische Kollaps
Die »wilden 1990er«: Privatisierung und Oligarchen
Die Rückkehr des Staates unter Putin
Die Bedeutung von Rohstoffen im neuen Russland
Russlands Abhängigkeit von Märkten und Kapital
Das »System Putin« im Griff fossiler Energieträger
Ausblick: Russland, Europa und die »Energiewaffe«
Fazit
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archive
Primärquellen, Erinnerungen, Zeitungsartikel bis 1991
Sekundärliteratur
Personenregister
Ortsregister
Zum Autor
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BAM |
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Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation |
GOELRO |
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Gosplan |
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Gemeinschaft Unabhängiger Staaten |
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IGU |
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RGW |
Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe |
R.O.P. |
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RSFSR |
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China Petroleum and Chemical Corporation |
SMV |
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TNK |
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UdSSR |
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken |
UNO |
United Nations Organization (Vereinte Nationen) |
ZK |
Zentralkomitee (der Kommunistischen Partei der Sowjetunion) |
Abb. 1: Erdöltransportinfrastruktur Russland-Europa.
Abb. 2: Gastransportinfrastruktur Russland-Europa.
Abb. 3: Russlands Erdöl- und Gastransportinfrastruktur.
Bei Abschluss des Buchmanuskriptes im Herbst 2021 war Energie auf dem europäischen Markt so teuer wie schon lange nicht mehr. Der Erdgaspreis hatte sich im Vergleich zum Jahresbeginn zeitweise um sagenhafte 500 Prozent erhöht, 1 Barrel Erdöl kostete 50 Prozent mehr, und auch die Preise für Kohle und Strom hatten sich deutlich verteuert. Die Bilder von langen Autoschlangen vor britischen Zapfsäulen belebten Erinnerungen an die große Energiekrise von 1973/1974. Anders als in den 1970er Jahren, als es die arabischen Staaten waren, welche durch ihre Embargopolitik den Preis für Öl nach oben getrieben hatten, stand im Herbst 2021 Russland, der heute wichtigste Rohstoffversorger Europas, im Mittelpunkt der Debatten. Mit Blick auf die hohen Gaspreise war in den westlichen Medien sogar von »Erpressung« die Rede. Der Vorwurf lautete, Russlands Staatskonzern Gazprom weite trotz gestiegener Nachfrage und halbleerer europäischer Gasspeicher die Liefermengen nach Europa bewusst nicht aus, um eine schnelle Zertifizierung der im September 2021 fertig gebauten »Nord-Stream-2«-Pipeline durch die Ostsee zu erreichen. Zugespitzt ausgedrückt: Russland benutze sein Gas als Druckmittel, um seine Interessen durchzusetzen.
Dies ist nur eine Lesart der Geschichte, sie ist unvollständig und wird von russischer offizieller Seite abgelehnt. Doch die Episode zeigt einmal mehr, wie sensibel das Thema Energie ist und wie schnell die Debatte politisch werden kann, wenn es um die Energieversorgungssicherheit geht. Denn von einer ausreichenden Energieversorgung hängt letztlich das Funktionieren moderner Volkswirtschaften ab. Trotz Förderung alternativer Energien und wiederholter Bekenntnisse zur Abkehr von fossilen Ressourcen stützen sich die europäischen Wirtschaften bei der Energieproduktion noch immer hauptsächlich auf Öl, Gas und Kohle. Weil Europa davon viel zu wenig hat, ist es beim Import nach wie vor abhängig von denjenigen Staaten, die diese Vorkommen besitzen. Umgekehrt haben ressourcenreiche Staaten ein Interesse, bestehende Abhängigkeiten zu wahren, um ihre Rohstoffe auch in Zukunft möglichst gewinnbringend verkaufen zu können.
Preisvolatilität, Verknappungsängste und geopolitische Spannungen sind Merkmale, welche den globalen Energiemarkt auch in der Vergangenheit geprägt haben – und Russland ist aufgrund seines Reichtums an Öl und anderen natürlichen Ressourcen schon seit dem späten 19. Jahrhundert Teil dieser Geschichte. Mit der Rolle Russlands für die globale Energiegeschichte beschäftigt sich das vorliegende Buch. Dabei wird die Geschichte im Längsschnitt, von Lenin bis Putin, in den Blick genommen, um zu zeigen, wie es schließlich in der Spätphase des Kalten Krieges zu jener erstaunlichen energetischen Verflechtung im Bereich des Erdöls und des Erdgases zwischen Russland und Europa kommen konnte, welche die Beziehung zwischen der östlichen und der westlichen Hälfte des eurasischen Kontinents bis heute strukturiert.
Mein Interesse für Energiegeschichte wurde zu Beginn der 2000er Jahre geweckt, als der globale Erdölmarkt einen massiven Preisanstieg erfuhr und sich Russlands krisenzerrüttete Wirtschaft unter Wladimir Putin dank der wachsenden Einnahmen aus dem Erdölexportgeschäft wieder zu erholen begann. Die Beschäftigung mit gegenwärtigen Entwicklungen hat deutlich gemacht, wie wichtig der historische Kontext ist und wie wenig erforscht das Feld der russischen Energiegeschichte damals noch war. Diesem Forschungsdesiderat war mein im Zeitraum 2011 – 2017 an der Universität Zürich durchgeführtes und vom Schweizerischen Nationalfonds unterstütztes Projekt »Energie und Macht. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung von der frühen Sowjetzeit bis zum Russland der Gegenwart« gewidmet. Dank dieses Forschungsvorhabens erhielt ich Zeit, mich mit der Geschichte der russischen fossilen Rohstoffe auseinanderzusetzen.
Äußerst fruchtbar waren für mich in diesem Projekt der Gedankenaustausch mit Dunja Krempin, Felix Rehschuh und Felix Frey. Sie alle haben im Rahmen ihrer Dissertationen, die ich mitbetreuen durfte, Pionierstudien zur sowjetischen Energie- und Technikgeschichte verfasst, deren Erkenntnisse auch in dieses Buch eingeflossen sind. Für das Lesen und Kommentieren eines ersten Buchmanuskriptes beziehungsweise einzelner Kapitel möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Danken möchte ich auch meinem Kollegen Viacheslav Nekrasov, mit dem ich mich über die letzten Jahre zu Fragen der Energie in der späten Sowjetzeit ausgetauscht habe. Seine Einschätzungen haben dieses Buch inhaltlich bereichert.
Wichtige Impulse hat mein Buchprojekt durch die internationale Konferenz »Oil, Gas and Pipelines. New Perspectives on the Role of Soviet Energy During the Cold War« erhalten, die wir 2015 an der Universität Zürich durchführten. Diese Tagung hat im Resultat den Sammelband »Cold War Energy. A Transnational History of Soviet Oil and Gas« (Cham: Palgrave Macmillan, 2017) hervorgebracht. Von den Diskussionen mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern während und im Nachgang der Konferenz habe ich stark profitieren dürfen. Dafür danke ich Margarita Balmaceda, Alain Beltran, Elisabetta Bini, Nada Boškovska, Roberto Cantoni, Nataliia Egorova, Falk Flade, Rüdiger Graf, Jussi Hanhimäki, Per Högselius, Niklas Jensen-Eriksen, Suvi Kansikas, Galina Koleva, Tom Koritschan, Dunja Krempin, Giacomo Luciani, Lorenz Lüthi, Viacheslav Nekrasov, David Painter, Tanja Penter, Felix Rehschuh, Oscar Sanchez-Sibony, Benjamin Schenk, Hans-Henning Schröder, Andreas Wenger und Jean-Pierre Williot.
Erste Konzeptideen und Buchauszüge konnte ich bei verschiedenen Gelegenheiten vorstellen, so auf einer Konferenz zur Energiekrise von 1973/1974 an der Universität Potsdam (26.–28. September 2013), auf einer Tagung zur Energiegeschichte Osteuropas im Kalten Krieg an der Universität Tübingen (10. Januar 2014), auf einem Forschungskolloquium der Universität Regensburg (22. Dezember 2016), bei einer Veranstaltung zur Energiegeschichte an der Università di Napoli (30. November 2017), im Rahmen einer Vorlesungsreihe zur Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich (10. Dezember 2018) und bei einem Workshop am European University Institute in Florenz (27. September 2019). Für die Einladungen zu diesen Veranstaltungen und die gehaltvollen Diskussionen danke ich Elisabetta Bini, Frank Bösch, Alexander Etkind, Klaus Gestwa, Rüdiger Graf, Guido Hausmann und Matthieu Leimgruber.
Beim Schreiben des Manuskriptes habe ich auf meine bisher erschienen Beiträge zur russischen Energiegeschichte Bezug nehmen können. Zudem konnte ich mich an den Vorlesungen orientieren, die ich in den Herbstsemestern 2014 und 2020 an der Universität Zürich sowie im Herbst 2017 an der Universität St. Gallen gehalten hatte. Die Rückfragen und Hinweise der Studierenden haben mich dazu angeregt, einzelne Ideen zu überdenken und Aussagen neu zu prüfen. Dafür danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Lehrveranstaltungen an den Universitäten Zürich und St. Gallen.
Auf dem Weg vom Manuskript zum fertigen Buch habe ich seitens des Verlags wertvolle Hilfestellung erhalten. Für die gute Zusammenarbeit danke ich insbesondere Dorothee Wunsch, Julia Roßberg, Michael Rauscher sowie Anja Borkam für das Korrektorat.
Dieses Buch wäre ohne die Unterstützung meiner Frau nie zustande gekommen, die mich durch dieses und viele andere Projekte begleitet hat. Dir, Franca, ist diese Schrift in Liebe gewidmet.
Schaffhausen, im Oktober 2021
Russland ist der größte Rohstoffspeicher der Welt. Kein anderes Land besitzt in der Summe einen derartigen Reichtum an natürlichen Ressourcen. Die Geschichte der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung und Modernisierung Russlands ist auch die Geschichte einer beginnenden Erschließung und Nutzbarmachung des gigantischen energetischen Potentials dieses heute noch flächenmäßig größten Landes der Erde. Um mit der Entwicklung westlicher Industriestaaten mithalten zu können, musste sich Russland modernisieren und dafür brauchte es Energie in immer größeren Mengen. Auch die Führer der Russischen Revolution wussten, dass das Gelingen ihres großen sozialistischen Umgestaltungsprojektes maßgeblich vom Tempo des Wachstums der Rohstoffproduktion und des Aufbaus einer modernen Energieindustrie abhängig sein würde. Lenins berühmte Losung von 1920, »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«,1 stand für eine Politik, die sich von Beginn an einem energetischen Imperativ verschrieben hatte. Der erste sozialistische Staat der Welt konnte nur erfolgreich und mächtig sein, wenn er über eine ausreichend große Energiebasis verfügte. Lenins Satz brachte aber auch einen zentralen sozialutopischen Leitgedanken der bolschewistischen Modernisierungsidee zum Ausdruck, wenn dazu aufgerufen wurde, das rückständige Russland, seine Gesellschaften wie auch seine Landschaften und die Natur nach rationalen Kriterien der Technik und der Naturwissenschaften umzuformen.2
Die energetische Erschließung Russlands beschreibt die Geschichte eines umfassenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Energiegewinnung ging jedoch auch Hand in Hand mit einer immer engeren internationalen Verflechtung: Die Förderung von Rohstoffen und der Aufbau einer modernen Energieindustrie bildeten die Basis für Russlands Entwicklung zur modernen Großmacht; gleichzeitig begab sich das Land damit aber in grenzüberschreitende Beziehungen und Abhängigkeiten. Für die Modernisierung war Russland nicht nur auf Arbeitskräfte angewiesen, sondern auch auf Kapital, Technik und Wissen. Schon Graf Sergei Witte, Finanzminister und Regierungschef unter Zar Nikolaus II., wusste, dass ohne ausländische Hilfe das enorme Potential an natürlichen Ressourcen nicht genutzt werden konnte. In seinen posthum veröffentlichten Memoiren fasste er das Kerndilemma Russlands mit Blick auf die Erschließung der natürlichen Ressourcen treffend zusammen:
Der ökonomische Wohlstand und folglich auch die politische Macht eines Landes hängen von drei Faktoren ab: natürliche Ressourcen, Kapital und Arbeitskraft […]. Hinsichtlich der natürlichen Ressourcen ist Russland extrem reich, allerdings ist es ungünstig situiert aufgrund des rauen Klimas, das in vielen Landesteilen herrscht. Hinsichtlich des Kapitals […] ist [Russland] arm, was damit zu tun hat, dass sich die Geschichte des Landes als eine Abfolge von Kriegen darstellt, von anderen Gründen ganz zu schweigen. Was die Bevölkerung angeht, so besitzt [Russland] einen großen Reichtum an physischer Arbeitskraft und intellektuellen Ressourcen, denn die Russen sind begabte, vernünftige und gottesfürchtige Leute.3
Die drei von Witte genannten Kategorien – natürliche Ressourcen, Finanz- und Humankapital – waren in ihrem Zusammenwirken nicht nur im spätzaristischen Russland, sondern über die gesamte Zeitspanne der neueren russischen Geschichte hinweg zentral für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren es westliche Firmen wie die Gebrüder Nobel (Branobel), Rothschild und Shell, dank deren Engagement im Kaukasus nicht nur eine Industrie zur Förderung und Verarbeitung von Erdöl, sondern eine weitgespannte Infrastruktur mit Pipelines, einer Tankerflotte und einem Eisenbahnnetz aufgebaut werden konnte. Nach der Oktoberrevolution 1917 verstaatlichten die Bolschewiki die Industrie, drängten ausländische Unternehmer aus dem Land und verboten Privateigentum. Zwar verfolgten die Führer des neuen Sowjetstaates schon früh das Ziel, ihr Land möglichst unabhängig von der kapitalistisch dominierten Weltwirtschaft zu machen. Doch Lenin und seine Genossen erkannten bereits Anfang der 1920er Jahre, dass Sowjetrussland ohne Unterstützung aus dem Ausland nicht in der Lage sein würde, zu den fortgeschrittenen kapitalistischen Mächten aufzuschließen. Sie suchten deshalb den internationalen Handel, der während des Bürgerkrieges praktisch zum Erliegen gekommen war, wieder anzukurbeln, um Fremdwährung für den Einkauf von dringend benötigter Technik und Ausrüstung zu generieren. Die Bolschewiki vergaben Konzessionen an ausländische Firmen, mit deren Hilfe die Industrie in Schwung gebracht werden sollte, und sie bemühten sich um eine Weiterführung der unter den Zaren begonnenen technisch-wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit europäischen und amerikanischen Unternehmen.
Das Erdöl nahm im Kontext dieser Modernisierungsbestrebungen eine besondere Stellung ein. Erdöl wurde als Brenn- und Treibstoff im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht nur zunehmend wichtiger für Russlands eigene wirtschaftliche Entwicklung. Es war auch ein auf den Weltmärkten immer stärker nachgefragtes Handelsgut. Die Bolschewiki verurteilten zwar die imperialistische Gier nach Öl, doch auch Lenin und seine Mitstreiter waren sich dem volkswirtschaftlichen Stellenwert des »schwarzen Goldes« bewusst. Denn Öl erzielt bei der Verbrennung einen höheren Effizienzgrad als Kohle, lässt sich vielfältiger nutzen, und weil es leichter als die Kohle ist, kann es einfacher und kostengünstiger transportiert werden. Spätestens während des Ersten Weltkrieges wurde deutlich, wie wichtig der aus Erdöl gewonnene Treibstoff in einem modernen Krieg mit mobilen Truppen war. Zwar erwirtschaftete die Sowjetunion in den 1920er Jahren mit dem Export von Erdöl noch bei weitem nicht die Renditen, die sie in der späten Sowjetzeit erzielen sollte. Doch Öl war weltweit derart begehrt, dass es sich auch an Staaten verkaufen ließ, die den Bolschewiki und ihrer Ideologie ablehnend gegenüberstanden. Selbst die wiederholten Boykottversuche westlicher Erdölfirmen vermochten den internationalen Eroberungszug des sowjetischen Öls nicht zu verhindern. Zu attraktiv war das billige Erdöl aus dem Osten, als dass es sich vom Weltmarkt fernhalten ließ.
Eine fehlgeleitete Investitionspolitik führte in den 1930er Jahren dazu, dass die Sowjetunion über zu wenig Erdöl verfügte, um angesichts des stark gewachsenen heimischen Bedarfs auch die ausländische Nachfrage zu befriedigen. Nach dem Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion und dem Versuch Hitlers, die kaukasischen Ölfelder zu erobern, brach die sowjetische Erdölproduktion markant ein. Moskau importierte im Zweiten Weltkrieg im Rahmen des amerikanischen Lend-Lease-Programms sogar große Mengen an Treibstoff aus den USA, um seine Panzer und Flugzeuge zu betanken. Doch die Kriegserfahrung rückte die Bedeutung des Erdöls nun endgültig ins Bewusstsein der sowjetischen Führung. Noch während des Krieges ließ Stalin im Wolga-Ural-Gebiet im Schnellverfahren eine neue Erdölförderregion – das »Zweite Baku« – aufbauen. Zwar begann die Sowjetunion bereits im Laufe der 1950er Jahre, wieder Erdöl im großen Stil nach Europa zu exportieren. Zur Rohstoffmacht von internationaler Bedeutung stieg das Land aber erst nach der Erschließung der großen westsibirischen Erdgasfelder in den 1970er Jahren auf. Mit dem 1983 fertiggestellten Bau einer Exportpipeline, über die Gas vom gigantischen Urengoi-Feld im nördlichen Tjumen direkt nach Westdeutschland und in andere europäische Staaten transportiert wurde, wurde die Sowjetunion zum wichtigsten Energielieferanten Europas. Russland hat diese Stellung seither nicht mehr eingebüßt. Fossile Energieträger sind noch immer Russlands wichtigste Exportgüter, und der russische Staat generiert einen substantiellen Teil seiner Einnahmen durch Steuern auf die Produktion und den Handel mit Öl und Gas. Im Gegensatz zu den USA und anderen großen Volkswirtschaften stellt Russland zudem die einzige Industrienation dar, die sich im gesamten 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart weitgehend selbst mit Energie aus eigener Rohstoffproduktion versorgen konnte.
Rohstoffe bildeten schon zu Sowjetzeiten eine zentrale Basis der Wirtschaft und einen Pfeiler der staatlichen Macht. Über den Handel mit Öl und später Gas und den Ausbau der dafür nötigen Infrastruktur stellten sich aber auch grenzüberschreitende Abhängigkeiten ein, die den außenpolitischen Spielraum Russlands konditionierten. Schon den Planern der frühen Sowjetzeit galt der enorme Ressourcenreichtum des Landes als Ausgangspunkt dafür, die Rückständigkeit ihres agrarisch geprägten Landes gegenüber dem kapitalistischen Westen aufzuholen und diesen nach Möglichkeiten sogar zu überholen. Keineswegs sollte die Sowjetunion aber lediglich Rohstoffversorger der Kapitalisten sein. Insbesondere die stark ansteigenden Weltmarktpreise für Öl in den 1970er Jahren hatten jedoch zur Folge, dass die sowjetische Wirtschaft zunehmend von Renditen aus dem Rohstoffexportgeschäft abhängig wurde. Um den steigenden heimischen Bedarf, die Verpflichtungen gegenüber den energiehungrigen sozialistischen »Bruderstaaten« in Osteuropa sowie den kapitalistischen Ländern zu bedienen, sah sich die Sowjetunion gezwungen, immer neue und kostspieligere energetische Großprojekte in Angriff zu nehmen.
Insbesondere die Erschließung der riesigen Gasvorkommen im nördlichen Teil Westsibiriens stellte die Sowjetunion vor immense Herausforderungen. Ohne Stahlröhren und Technik aus dem Westen, die mit milliardenschweren Krediten westeuropäischer Bankenkonsortien finanziert wurden, wären die sibirischen Rohstoffe vermutlich noch einige Jahrzehnte länger im Boden geblieben. Der Westen stieg ins große Geschäft ein, weil die Sowjetunion im Gegenzug langfristige Rohstofflieferungen in Aussicht stellte. Die Ausdehnung der Handelsaktivitäten, die in den 1970er Jahren von der Entspannungspolitik zwischen Ost und West begünstigt wurde, war begleitet von einem Ausbau eines grenzüberschreitenden Pipelinesystems, womit auch im Bereich der Infrastruktur immer engere Verknüpfungen über den Eisernen Vorhang hinweg geschaffen wurden.
Der Aufstieg der Sowjetunion zur Energiegroßmacht verlief damit gleichzeitig zu einer stetig ansteigenden Abhängigkeit des Landes von internationalen Märkten. Dies bedeutete, dass sich die sowjetische Wirtschaft auch den Preisvolatilitäten und den oft unberechenbaren Schwankungen von Angebot und Nachfrage im globalen Energiemarkt ausgesetzt sah. Dabei erschien der Sowjetunion der Handel mit den westeuropäischen Ländern mit steigenden Weltmarktpreisen immer attraktiver, wogegen Moskau die Versorgung der sozialistischen Staaten Osteuropas zunehmend als Verlustgeschäft betrachtete. Anstatt in dieser Zeit ernsthaft über umfassende Reformen und Modernisierung nachzudenken, wurden mit den Deviseneinnahmen aus dem Rohstoffgeschäft vor allem die Unzulänglichkeiten eines starren und ineffizienten zentralistischen Planwirtschaftsmodells ausgeglichen. Um den Zusammenhalt des »Ostblocks« zu sichern, versorgte Moskau aus politischen Erwägungen heraus die darbenden Wirtschaften im kommunistischen Osteuropa weiterhin mit subventionierter Energie im Austausch für minderwertige Ware. Als die Preise für Erdöl Mitte der 1980er Jahre einbrachen, ließen sich die systemischen Mängel der Planwirtschaft nicht mehr kurzfristig ausgleichen und traten die Defizite nun derart deutlich zutage, dass auch die Reformanstrengung Gorbatschows zu spät kamen. Der »Ostblock« löste sich auf, die Sowjetunion zerfiel 1991 in ihre Einzelteile.
Das Vorhandensein von natürlichen Ressourcen sagt noch nichts darüber aus, weshalb ein Land in seiner Vergangenheit einen bestimmten Entwicklungsweg beschritten hat. Die Frage, wie energetische Potentiale genutzt werden, hängt vielmehr davon ab, wie Menschen diese Möglichkeiten in bestimmten kulturellen und historischen Kontexten wahrnehmen und deuten. Vereinfacht ließe sich der Annäherungsprozess zwischen der westlichen und östlichen Hälfte Europas im Kalten Krieg als ein erneutes wirtschaftliches Zusammenwachsen zweier Teile eines eurasischen Kontinents beschreiben, dessen Handelsbeziehungen nach der Russischen Revolution von 1917 und erneut mit dem Beginn des Kalten Krieges nach 1945 stark zerrüttet worden waren. Doch dieser Annäherungsprozess beruhte auf Plänen und Entscheidungen konkreter politischer und wirtschaftlicher Akteure. In der Spätphase des Kalten Krieg wurden verschiedene internationale Energieprojekte verhandelt, darunter Anfang der 1970er Jahre auch ein großes Erdgasprojekt zwischen der Sowjetunion und den USA, und die Frage ist, weshalb einige dieser Vorhaben schließlich realisiert wurden, andere aber nicht. Um dies zu verstehen, muss untersucht werden, wie Entscheidungsträger in Ost und West über Öl und Gas und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten für den Handel und die internationalen Beziehungen nachdachten.
Der hier vertretene Ansatz korrigiert und ergänzt die unter westlichen Beobachtern im Kalten Krieg verbreite Sichtweise, die im sowjetischen Rohstoffpotential und der Ausweitung der Energielieferungen eine Funktion im Streben nach wirtschaftlicher Macht und Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereichs erkennen wollten. Für die sowjetischen Entscheidungsträger war Handel zwar immer auch Teil des globalen Systemkampfs zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Über die Steigerung der Rohstoffexporte und den Ausbau der Energietransportinfrastruktur ging die Sowjetunion aber auch Verpflichtungen gegenüber Abnehmerstaaten ein. Mit dem Bau von internationalen Pipelines und über den Abschluss langfristiger Handelsverträge begab sich das Land in wirtschaftliche Abhängigkeiten. Erdöl und Erdgas wurden zwar wiederholt zum Gegenstand von wirtschaftspolitischen Konflikten und standen im Zentrum internationaler Krisen. Im Fall der sowjetisch-westeuropäischen Beziehungen stellte Energie aber trotz wiederholter Spannungen und Sanktionen das Schmiermittel dar, das gegenseitige Annäherung begünstigte und Verbindungen schuf, die über das Ende des Kalten Krieges hinaus bestehen blieben. Handel war nicht nur materiell bedeutend, er eröffnete auch Kanäle für Dialoge unter Politikern, Wirtschaftsleuten und Wissenschaftlern. Dies trug zur Vertrauensbildung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs bei und wirkte sich insgesamt stabilisierend auf die politischen Beziehungen aus.
Die Energiegeschichte und die Geschichte des sowjetischen Außenhandels treten in den gängigen Darstellungen zur russischen Geschichte meist nur als Nebenschauplätze in Erscheinung. Das vorliegende Buch rückt sie in den Mittelpunkt der Erzählung. Denn wirtschaftliche und energiepolitische Aspekte sind zentral, um den Entwicklungsweg Russlands und sein außenpolitisches Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen. Dieses Buch zeigt auf, dass das Denken über Energie einen großen Einfluss auf die Dynamik der Ost-West-Beziehungen hatte. Es war im Bereich des Energiehandels, wo trotz Differenzen sogar zur Zeit des Kalten Krieges und über den Eisernen Vorhang hinausgehend Zusammenarbeit möglich war und angestrebt wurde. Dieses Buch fragt nach den Gründen dafür und leistet damit einen Beitrag zu einem neueren Trend in der Geschichtsschreibung, der wirtschaftlichen und transnationalen Aspekten größere Beachtung schenkt. Denn trotz der Bedeutung von Energiefragen für die Ost-West-Beziehungen lässt sich feststellen, dass Autoren, die zum Kalten Krieg geforscht haben (etwa John Lewis Gaddis und Odd Arne Westad), dazu tendieren, solche Themen in ihren Arbeiten fast gänzlich auszuklammern.4 Mit Energie und Handel beschäftigte sich die westliche Historiographie zwar schon zur Zeit des Kalten Krieges in vielen Einzelstudien, doch diese haben kaum Eingang in allgemeine geschichtliche Darstellungen gefunden.5 Dagegen zeichnen sich die einschlägigen globalen Energiegeschichten (etwa diejenige von Daniel Yergin) dadurch aus, dass sie die Bedeutung des Kalten Krieges – und damit auch die Rolle der Sowjetunion – weitgehend ausblenden.6
Doch auch die zahlreichen Überblicksdarstellungen zur modernen Geschichte Russlands (zuletzt diejenige von Dietmar Neutatz) schenken wirtschaftlichen und energiepolitischen Fragen oft wenig Aufmerksamkeit.7 Auch strukturgeschichtlich angelegte Werke (etwa das von Carsten Goehrke) unterlassen es, eine eingehende Diskussion über die Bedeutung des Handels für die sowjetische Wirtschaftspolitik und die Ausgestaltung der sowjetischen Außenbeziehungen zu führen, denn zu marginal und deshalb vernachlässigbar schien der Beitrag des Handels an der sowjetischen Wirtschaftsleistung.8 Erst in jüngster Zeit sind Studien erschienen, welche die Relevanz wirtschaftlicher Aspekte – und insbesondere fossiler Rohstoffe – für die Ausgestaltung der internationalen Beziehungen betonen und sich dabei auf die Auswertung neuer Archivdokumente stützen (namentlich von Falk Flade, Per Högselius, Dunja Krempin, Jeronim Perović und Felix Rehschuh).9 Dabei wird auch das Prinzip der Autarkie als Maxime sowjetischer Wirtschaftspolitik bereits für die 1950er und 1960er Jahre in Frage gestellt (jüngst etwa von Oscar Sanchez-Sibony)10 und werden auch die offiziellen sowjetischen Statistiken, welche die Bedeutung des internationalen Handels für die sowjetische Wirtschaft bewusst heruntergespielt haben, zunehmend kritisch diskutiert.11
Die vorliegende Untersuchung knüpft an diese Forschungsleistungen an und argumentiert, dass die Tatsache, dass Russland über große Mengen an Öl, Gas und anderen, auf dem Weltmarkt begehrten natürlichen Ressourcen verfügt, historisch gesehen in bedeutender Weise Einfluss darauf genommen hat, wie in Moskau über den Platz und die Rolle des Landes in den internationalen Handelsbeziehungen nachgedacht wurde. Die Analyse der Energiepolitik über einen längeren Zeitraum hinweg erlaubt somit Tiefenblicke in das sich verändernde Selbstverständnis der Sowjetunion als Teil einer zunehmend interdependenten Welt. Die Geschichte des sowjetischen Außenhandels ist aber auch deshalb wichtig, weil die immer enger werdenden wirtschaftlichen Verflechtungen in der Spätphase des Kalten Krieges auch die Diskussionen innerhalb der Sowjetunion zu grundsätzlichen Fragen der Handelspolitik, der Profitabilität, der Wechselkurse, des internationalen Kreditmarktes und des staatlichen Außenhandelsmonopols ankurbelte – also im Kern genau die Themen, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre im Zuge der schrittweisen Privatisierung und der Liberalisierung der Wirtschaft unter Michail Gorbatschow relevant wurden.
Dass noch relativ wenige Studien aus westlicher Feder vorliegen,12 welche sich in historischer Perspektive mit der Rolle der Energie für sowjetische Großmachtvorstellungen und die Gestaltung der sowjetischen Außenbeziehungen befassen, ist insofern erstaunlich, als Russland mit einer Vielfalt an natürlichen Ressourcen ausgestattet ist, die in der Welt ihresgleichen sucht. War noch im imperialen Russland des 18. und 19. Jahrhunderts die Vorstellung verbreitet, dass es die schier unendliche Größe des Landes sei, die es anderen Staaten überlegen mache, so wurde Geographie in der sowjetischen Großmachtideologie zunehmend um die Geologie – den Besitz eines fast unerschöpflichen Rohstoffreichtums – ergänzt.13 Rohstoffe schufen Möglichkeiten für Modernisierung, Umgestaltung und Handel; sie manifestierten sich aber auch im staatlichen Großmachtverständnis und galten als eine Art »Rückversicherung« für den Fall von Krisen oder gar eines feindlichen Angriffs. Dem Rohstoffreichtum kam jedoch nicht nur eine konstitutive Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und im militärstrategischen Denken zu. Das Bewusstsein um das Vorhandensein immenser Bodenschätze wurde namentlich in der Sowjetzeit Teil einer gesellschaftspolitischen Identität. Dies ließ sich etwa daran erkennen, dass Städte, die um Rohstoffquellen errichtet worden waren, die Namen des jeweils relevanten Rohstoffes übernahmen: In den 1930er Jahren wurde etwa Magnitogorsk, die Stadt am »Magnetberg«, für den Abbau von Magnetiteisenerz errichtet. Norilsk im entfernten Norden Russlands wurde nach seinen riesigen Nickelvorkommen benannt. Das erst 1967 gegründete Neftejugansk erhielt seinen Namen vom Öl (neft’), welches wenige Jahre zuvor an einem Seitenarm des Flusses Ob in Zentralsibirien entdeckt worden war.
Energie und Macht standen historisch betrachtet in wechselseitigen und manchmal auch spannungsgeladenen Verhältnissen. Mit Blick auf die beiden fossilen Energieträger Öl und Gas wird deutlich, dass die Geschichte Russlands nur dann verstanden werden kann, wenn sie in ihre vielfältigen Bezüge zur Außenwelt gesetzt und damit als Teil einer größeren, internationalen und globalen Geschichte gelesen wird.14 Ausgehend vom späten 19. Jahrhundert beginnt das vorliegende Buch die Erzählung mit der bolschewistischen Machtergreifung von 1917 und zeichnet den geschichtlichen Entwicklungsweg Russlands im Kontext von fossilen Energieträgern, Handel und grenzüberschreitendem Austausch bis in die heutige Zeit nach.
Energie ist das Lebenselixier moderner Volkswirtschaften. Die Bereitstellung von Energie hat die industrielle Revolution und den Übergang von der agrarisch geprägten Gesellschaft hin zur industrialisierten Welt ermöglicht. Dabei hat kein anderer Energieträger im 20. Jahrhundert eine derart große Bedeutung erlangt wie das Erdöl. Öl bildete die Voraussetzung für das Aufkommen der mechanisierten Kriegsführung mit mobilen Truppen, Panzern und Flugzeugen und war nicht minder bedeutsam für die technologische Revolution im Landwirtschaftssektor durch die Einführung benzin- und dieselbetriebener Traktoren. Als Treibstoff für den Güter- und Personenverkehr hat Öl die Mobilität von Waren und Menschen in einem bis zu diesem Zeitpunkt ungekannten Ausmaß beschleunigt. Als Gut, das in zunehmendem Maße global gefördert und gehandelt wurde, war Erdöl schließlich auch begleitet vom Aufstieg multinationaler Großunternehmen, von der Ausbreitung des Kapitalismus und von gesamtglobalen wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten. Aufgrund seiner enormen strategischen Bedeutung war das Erdöl wiederholt Objekt staatlicher Begehrlichkeiten und Konflikte und stand damit immer auch im engsten Umfeld des Politischen und der Politik.
Die westlichen Industrienationen wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts geradezu süchtig nach Öl. Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verbrauchten die USA erstmals mehr Erdöl als Kohle, was deren lange Vorherrschaft als die »Königin« unter den Energieträgern beendete. Obwohl die USA mehr Erdöl als jedes andere Land produzierten, überstieg der nationale Bedarf schon Anfang der 1950er Jahre die heimische Förderung. Deshalb ging das Land in diesem Zeitraum daran, immer größere Mengen einzuführen – namentlich aus Venezuela und den Staaten am Persischen Golf. Zeitgleich wurde auch Europa immer abhängiger von Erdölimporten. Zwar wurde das Erdöl hier erst in den 1960er Jahren zum dominanten Energieträger. Doch weil Europa nur über geringe eigene Vorkommen verfügte und die USA nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr Erdöl nach Europa exportierten, geriet der Kontinent in immer stärkere Abhängigkeit von Erdölimporten aus anderen Weltteilen, namentlich aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Nordafrika. In den 1970er Jahren nahm die Bedeutung der Sowjetunion für die europäische Energieversorgung markant zu. Neben Erdöl, das Russland bereits in der späten Zarenzeit in großem Stil exportiert hatte, lieferte die Sowjetunion ab den 1970er Jahren in vermehrtem Maße auch Erdgas nach Europa. Russland ist auch heute noch der wichtigste Lieferant von Energieträgern nach Europa, darunter neben Rohöl, Erdölprodukten und Erdgas auch Kohle und Uran. Dabei versorgt Russland in der Zwischenzeit auch Länder außerhalb Europas mit fossilen Brennstoffen, in erster Linie China, Japan und Südkorea.
Auch wenn die Dominanz des Erdöls aufgrund der Förderung erneuerbarer Energien und der Abkehr von fossilen Rohstoffen in den letzten Jahren abgenommen hat, so war es mit einem Anteil von 31 Prozent am Gesamtenergieverbrauch auch im Jahr 2019 der noch immer weltweit bedeutendste Energieträger, gefolgt von Kohle (25 Prozent) und Erdgas (23 Prozent). Während rund ein Viertel der geförderten Kohle und etwa 30 Prozent des Erdgases ins Ausland verkauft werden, so landet rund die Hälfte der globalen Erdölproduktion auf dem Weltmarkt.1 Als das wichtigste global gehandelte Gut wird Erdöl zum größten Teil auf Meereswegen rund um den Globus verschifft. Denn Erdöl ist mobiler als die schwere Kohle und lässt sich in Barrels abgefüllt an jeden Punkt der Welt transportieren. Dies macht das Erdöl auch gegenüber dem Erdgas flexibler, das beim Transport noch immer vorwiegend auf ein Pipelinenetz angewiesen ist. Demzufolge gestalten sich auch die Beziehungen zwischen Produzenten, Lieferanten und Konsumenten im Fall des Erdöls anders als beim Erdgas, da das »schwarze Gold« auch spontane Geschäfte und die kurzfristige Umleitung der Warenströme ermöglicht. Dies dürfte sich erst ändern, wenn das global gehandelte, aber noch immer relativ teure Flüssiggas einen größeren Stellenwert gegenüber dem Pipelinegas erlangt.
Unabhängig davon, welche Bedeutung fossile Energieträger in der Zukunft spielen werden – das 20. Jahrhundert geht als das Zeitalter des Erdöls in die Geschichte ein. Dabei hat die Verfügbarkeit von immer größeren Mengen an Erdöl nicht nur die Politik, die Art der Kriegsführung und die Globalwirtschaft beeinflusst, sondern auch die Lebensweisen von Gesellschaften geprägt und damit Einfluss auf die Herausbildung der Moderne schlechthin genommen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht losgelöst von der Geschichte des Erdöls erzählen – und Russland ist als Rohstoffspeicher, Produzent, Verbraucher und Exporteur aus dieser Geschichte nicht herauszudenken. Dieses Kapitel bietet eine kurze Übersicht über die Geschichte des Erdöls und erklärt, wie sich Russland darin einfügt.
Erdöl war als ein an der Erdoberfläche auftretendes Material der Menschheit schon lange bekannt. Es wurde bereits in der Antike vermischt mit Sand als Bitumen (Pech) zum Abdichten von Holzschiffen verwendet. Schon die Römer hatten Öl vermutlich als Schmierstoff für Wagenräder entdeckt, und es wurde auch als Medizin gegen alle möglichen Leiden eingesetzt. Als Brennstoff wurde das Erdöl vermutlich ebenfalls schon lange verwendet; die Griechen sollen es für eine Vorform des Flammenwerfers benutzt haben.2 Wegen des geringen Leuchteffekts und der starken Geruchs- und Rußentwicklung wurde Erdöl aber nur selten zur Beleuchtung eingesetzt. Als Lampenöl bediente man sich in der Antike vor allem dem aus Pflanzen gewonnenen Öl (Olivenöl, Rapsöl), in der Neuzeit kam das hochwertige Öl von Walen hinzu. Das Schlachten dieser Tiere zur Gewinnung von Waltran nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts derart große Ausmaße an, dass die Walfangschiffe immer weiter hinausfahren mussten, einige Populationen stark zurückgingen und damit auch der Preis für Waltran stark anstieg.3
Bei der Suche nach einer Alternative zum teuren Walöl waren es Entdeckungen wie diejenige des kanadischen Arztes und Geologen Abraham P. Gesner, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts herausfand, wie sich aus Kohle und Erdöl durch fraktionierte Destillation Petroleum (amerikanisch kerosene) herstellen ließ. Diese Erfindung gilt gleichsam als Startschuss der modernen Erdölindustrie.4 Das Petroleum wurde fortan als preisgünstige Variante für Lampenöl verwendet und in immer größeren Mengen hergestellt. Erdöl wurde zunächst nur an der Oberfläche abgebaut. Erst mit der beginnenden Kommerzialisierung wurden Bohrtechniken entwickelt, die es erlaubten, auch im Erdinnern nach Öl zu suchen. Dabei machte man sich eine Technik zunutze, die schon die Chinesen vor rund 2000 Jahren bei der Salzbohrung verwendet hatten.5 Man ahnte schon früher, dass Öl tief im Erdreich vorhanden sein könnte, denn dieses kam wiederholt bei Bohrungen nach Salz und Wasser zum Vorschein. Die Vorstellung, dass Öl in Seen unter der Erdoberfläche liegen und abgepumpt werden könnte, galt lange als abwegig und musste erst bewiesen werden. Erste erfolgreiche Bohrungen fanden in den 1850er Jahren zeitgleich in den USA, in Europa (etwa im damals zu Polen gehörenden Galizien) und im Russischen Reich (vor allem bei Baku) statt. Die größte Berühmtheit erlangte die 1859 von Colonel Edwin Drake bei Tiefenbohrungen in Pennsylvania gemachte Entdeckung von Erdöl, die in den USA den ersten kommerziellen Erdölboom auslöste.6
Verwendet wurde das Petroleum bis Anfang des 20. Jahrhunderts weiterhin als Leuchtmittel, das vor allem in den Städten Nordamerikas und Europas immer größere Verbreitung fand. Mit dem Aufkommen der Glühbirne sah es zunächst danach aus, als würde das elektrische Licht das Ende des Erdölbooms einläuten. Gleichzeitig zur Ausbreitung der Glühbirne setzte jedoch auch die Entwicklung der Automobilindustrie ein und spätestens bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde deutlich, welch zentrale Rolle der aus Erdöl gewonnene Treibstoff für die Motoren von Schiffen, Panzern, Lokomotiven, Truppentransportern und Flugzeugen spielte. Dank seines hohen Wirkungsgrades war Erdöl schon deshalb ein ideales Antriebsmittel, weil im Gegensatz zur Kohle mit weit geringeren Mengen derselbe Hitzeeffekt erzeugt werden konnte. Auch Winston Churchill stellte fest, dass ölbetriebene Kriegsschiffe deutlich schneller fuhren als diejenigen, die auf Kohle basierten. In seiner damaligen Funktion als Vorsteher der britischen Kriegsmarine drängte er deshalb schon 1911 darauf, die gesamte Kriegsflotte auf Öl umzurüsten.7 Als Seeimperium war Großbritannien wie keine andere Nation auf eine starke Marine angewiesen, um Meeresrouten, Handelswege und Stützpunkte in aller Welt zu sichern. Auch die US-Navy stellte noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Betrieb ihrer Kriegsschiffe, Zerstörer und Unterseeboote auf Öl um.8 Benzin- und dieselbetriebe Fahrzeuge machten aber auch die Landarmeen mobiler, die sich überall hin in kurzer Zeit verschieben ließen und nicht mehr zwingend auf ein Eisenbahnnetz angewiesen waren.
Die wachsende militärstrategische Bedeutung des Erdöls hatte zur Folge, dass Länder, die sich nicht selbst mit ausreichend Erdöl aus heimischer Produktion versorgen konnten, nach ausländischen Einfuhrquellen Ausschau halten mussten. Um Zugriff auf das begehrte Gut zu erhalten, gingen westliche Energiekonzerne schon Anfang des 20. Jahrhunderts daran, sich über Konzessionen Abbaurechte in Produktionsländern zu sichern. Eine ausreichende Versorgung mit Erdöl war nicht nur eine militärstrategische Frage, sondern gewann mit dem Aufkommen der schnell wachsenden Automobilindustrie zunehmend auch in gesamtwirtschaftlicher Hinsicht an Bedeutung. Der globale Kampf ums Erdöl sollte sich mit der Zeit noch verschärfen, als dieses zusammen mit dem verwandten Erdgas auch als Heizstoff immer wichtiger wurde. Öl erzielt im Vergleich zur Kohle nicht nur einen höheren Wirkungsgrad, sondern lässt sich auch sauberer verbrennen. Gerade in den unter dreckiger Luft und Rauch leidenden Großstädten bot sich Öl deshalb als alternativer Heizstoff zur Kohle an. Dies sollte später noch mehr für das Erdgas gelten, das sich mit noch weniger Rückständen verbrennen lässt. Erdöl entwickelte sich zudem zum Ausgangsstoff für die Herstellung zahlreicher Produkte der chemischen Industrie wie Düngemittel, Kunststoffe, Lacke, Farben, Medikamente und sogar Lebensmittel. Spätestens im Laufe der 1960er Jahre hatte sich das Erdöl als wichtigster Rohstoff der globalen Industriegesellschaften durchgesetzt.
Anders als beim Erdöl handelt es sich beim Erdgas um ein Gut, das lange Zeit vor allem regional gehandelt wurde. Erdgas war den Menschen zwar ebenfalls schon seit Jahrhunderten bekannt. Doch im Gegensatz zum Öl wurde Gas industriell zunächst wenig genutzt. Auf Gas stieß man üblicherweise bei den Bohrungen nach Öl. Erdgas kann mit Öl assoziiert sein oder findet sich in Lagerstätten, in denen nur Erdgas vorhanden ist. Daneben kommt Erdgas auch vermischt mit Gestein oder Kohle vor (»Schiefergas«, »Tight Gas«, »Kohleflözgas«). Der Abbau dieser so genannten nichtkonventionellen Vorkommen lohnte sich historisch gesehen jedoch kaum, solange Öl in großen Mengen zur Verfügung stand. Kam das Gas zusammen mit dem Öl an die Oberfläche in der Form von assoziiertem Gas, dann wurde es manchmal zurückgepumpt, um es für eine spätere Verwendung aufzubewahren. Oft aber wurde das Gas einfach abgebrannt, weil sich der Bau einer Pipeline vom Feld bis zum Endverbraucher kommerziell nicht lohnte. Auch heute noch fackeln gasreiche Länder wie Russland, der Irak, der Iran und die USA noch immer jährlich Milliarden von Kubikmeter Erdölbegleitgas ab, anstatt dieses kommerziell zu verwenden.
Eine Pionierrolle in der industriellen Nutzung von Erdgas spielten wiederum die USA, wo bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts erste Erdgasgesellschaften gegründet worden waren, und über lange Zeit verfügten nur die USA über eine bedeutende Erdgasindustrie. Allerdings exportierten die USA lange kaum Erdgas und nur in geringen Mengen via Pipelines nach Mexiko und Kanada. Erst mit dem Ausbau der Produktion und des Pipelinenetzes nahmen auch die Exporte ab den 2000er Jahren markant zu. Dabei spielt auch der Handel mit Flüssiggas (Liquefied Natural Gas – LNG) eine immer wichtigere Rolle. Die Flüssiggasindustrie kam in den USA zwar bereits Mitte der 1960er Jahre auf, doch erst seit 2015 versorgen amerikanische Unternehmen den globalen Markt mit immer größeren LNG-Mengen. 2020 war amerikanisches LNG bereits für rund 45 Prozent der gesamten US-Gasexporte verantwortlich und die USA gehören heute zusammen mit Katar, Australien und Russland zu den wichtigsten Flüssiggasexporteuern der Welt.9
Im Gegensatz zu den USA war die Sowjetunion hinsichtlich der Gasförderung ein Spätzünder. Eine moderne Gasindustrie begann sich erst im Zweiten Weltkrieg zu entwickeln. 1944 gilt in der Sowjetunion diesbezüglich als wichtiges Jahr, als mit dem Beginn des Baus einer 800 Kilometer langen Pipeline von Saratow nach Moskau begonnen wurde, die schließlich 1946 eröffnet werden konnte.10 Die wichtigsten Fördergebiete lagen nach dem Zweiten Weltkrieg im westlichen Teil der ukrainischen Sowjetrepublik. Doch erst mit der Erschließung der Öl- und Gasfelder des Wolga-Ural-Gebiets in den 1950er und 1960er Jahren, noch mehr aber der riesigen westsibirischen Vorkommen in den 1970er Jahren sollte die Sowjetunion zum größten Gasproduzenten der Welt und wichtigsten Rohstoffversorger Europas aufsteigen. Als Kontinentalmacht hatte die Sowjetunion dabei die Möglichkeit, ihr Gas über Pipelines bis weit nach Europa hinein zu transportieren, vorausgesetzt, die dafür nötigen Stahlrohre standen in ausreichendem Umfang und in der nötigen Qualität zur Verfügung.
An dieser Situation hat sich bis heute kaum etwas geändert, nur dass seit den frühen 1990er Jahren zusätzlich zum Erdöl und Erdgas auch die Kohle eine größere Bedeutung im russischen Handel mit fossilen Energieträgern erfahren hat und Asien neben Europa als neue und zunehmend wichtige Exportdestination für Russland hinzugekommen ist. Flüssiggas hat zwar in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, und der Anteil Russlands an der globalen Flüssiggasproduktion betrug 2019 bereits rund 10 Prozent – und könnte in den nächsten Jahren noch zunehmen.11 Doch das meiste Erdgas exportiert Russland nach wie vor über seine riesige Pipelineinfrastruktur und noch immer vorwiegend nach Europa. Dabei hat der Transport von Gas via Pipeline den Vorteil, dass es zu preislich günstigeren Konditionen angeboten werden kann als Flüssiggas, was Russland gegenüber den LNG-Anbietern einen Vorteil auf dem europäischen Markt verschafft. Damit bestehen im Erdgasbereich zwischen Russland und Europa viel engere Abhängigkeiten als im Fall des Erdöls, das Russland zum größten Teil via Pipelines zuerst an seine maritimen Häfen transportiert, von wo es abgefüllt in Fässern nach Europa und in andere Teile der Welt verschifft wird.
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