Das Leuchten vergangener Sterne

Rena Fischer

Das Leuchten vergangener Sterne

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Rena Fischer

Rena Fischer absolvierte ein Wirtschaftsstudium und lebte und arbeitete in Irland und Spanien, bevor sie mit ihrer Familie nach Deutschland zurückkehrte und anfing, Bücher zu schreiben. Auf Reisen kommen ihr nach wie vor die besten Ideen, sagt sie. Bei dtv ist ihr erfolgreicher Roman ›Das Lied der Wölfe‹ (2021) erschienen. Die Autorin lebt in München.

Über das Buch

Frühling in Andalusien. Nina Winter freut sich auf Sevilla. Dort soll die junge, erfolgreiche Unternehmensberaterin für einen wichtigen Großkunden die Seriosität eines archäologischen Ausgrabungsprojekts prüfen. Es geht um Imagepflege und vor allem um sehr viel Geld. Grabungsleiter vor Ort ist der so attraktive wie eigenwillige Dr. Taran Sternberg, der sich mit Leib und Seele der Wissenschaft verschrieben hat. Er sorgt sich um die finanzielle Absicherung seiner Grabung, aber auch um seine berufliche Karriere. Ist er wirklich einem sensationellen phönizischen Goldschatz auf der Spur? Und welche gefährliche Rolle spielt dabei der zwielichtige Archäologe Orlando Torres? Ninas Professionalität droht an einem intriganten Spiel zu scheitern, denn längst steht sie auch mit dem Herzen zwischen den beiden rivalisierenden Männern. Sie muss eine folgenschwere Entscheidung treffen …

Impressum

Diese Veröffentlichung wurde im Rahmen des Stipendienprogramms NEUSTART KULTUR durch die VG WORT unterstützt.

 

Originalausgabe 2022

© 2022 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Brauer

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Umschlagmotive: FinePic®, München; Jeremy Woodhouse / Getty Images;

A. Martin UW Photography / Getty Images

 

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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-44585-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26336-8

ISBN (epub) 9783423445856

Für Christine,

ohne dich würden meine Sterne nicht leuchten

Eine Frau, die mit einem Archäologen verheiratet ist,

darf sich glücklich schätzen, denn je älter sie wird,

desto interessanter wird sie für ihren Mann.

Agatha Christie

Salz mischt sich mit dem Geschmack von Blut, als ich mir vor Aufregung auf die Unterlippe beiße. Die eben noch von meinem Bord aufgewirbelte Gischt, hunderte von winzigen Wasserkristallen, kann meine Füße nicht mehr erreichen. Sie funkeln sekundenlang unter mir wie die Steinchen in dem nachtblauen Swarovski-Füller, den Paps mir zum Übertritt aufs Gymnasium geschenkt hat. Dann fallen sie zurück ins Meer. Aber ich schwebe weiter über ihnen, und das Herz klopft mir so heftig in der Brust, wie der Wind an meinen Haaren reißt.

Vier Tage lang hieß es, Zähne zusammenbeißen. Trockenübungen am Strand, um ein Gefühl für die Bar, das Trapez und den Kite zu bekommen. Dann Bodydrags im Wasser. Und Theorie: Upwind. Downwind. Luv und Lee. Sicherheitschecks.

»Ist das ätzend«, hat Charlie gestöhnt und sich eine ihrer schwarzen Locken aus der Stirn gepustet. »Wann dürfen wir endlich aufs Bord? Wann lernen wir die Jumps?«

Heute ist es so weit.

Aber ausgerechnet heute ist Charlie mit ihren Eltern im Archäologischen Museum von Empúries, nur etwa zehn Gehminuten vom Sant-Martí-Strand entfernt, um die Ruinen und irgend so eine doofe Statue von Asklep-Irgendwas anzuschauen, dem griechischen Gott der Heilkunst. Darauf hat ihr Vater bestanden, weil der nämlich Arzt ist.

»Ein wenig Kultur sollte jeden Urlaub bereichern, liebe Charlotte«, erklärte er, als sie protestiert hatte. »Du kannst morgen wieder kiten.«

Das finde ich auch. Gleich am ersten Tag des Kitesurf-Kurses habe ich mich mit Charlie angefreundet. Mit elf sind wir die Jüngsten in der Gruppe. Die vier Jungs sind alle zwischen dreizehn und fünfzehn. Ich ärgere mich, weil sie jetzt nicht hier ist, um zu sehen, was für einen phänomenalen Start ich mit dem Bord auf dem Wasser hingelegt habe. Das soll sie mir morgen erst mal nachmachen! Klatsch. Ich komme wieder auf dem Meer auf, verlagere das Gewicht, um auszubalancieren, gehe stärker in die Knie und beuge mich nach hinten, überlege, ob es mir gelingen wird, mit den Spitzen meiner Haare das Wasser zu berühren. Die Geschwindigkeit raubt mir den Atem, der Himmel wölbt sich in einem perfekten, wolkenlosen Blau über mir, und ich möchte schreien vor Glück. Aber es ist jemand anderes, der schreit.

»NINA

Als ich meinen Blick vom Himmel abwende, um zu sehen, was mein Kite-Lehrer von mir will, ist es zu spät. Ich verstehe nicht, wieso der Strand plötzlich so nah herangekommen ist und ich unmittelbar darauf zurase. Hektisch reiße ich an der Bar, schlenkere sie nach rechts und links. In meinem Kopf herrscht angsterfüllte Leere. Nichts von dem, was Antonio uns für solche Notfälle eingetrichtert hat, kommt mir wieder in den Sinn. Stattdessen hebe ich mit der nächsten Windbö erneut ab, aber jetzt erfasst mich kein Gefühl von Freude mehr, nur noch Panik, als Wasser hellem Sand weicht und ich plötzlich einen Jungen vor mir am Strand sehe. Er bemerkt mich nicht. Er hält einen Stab in der Hand, den er über den Boden bewegt, und schaut konzentriert nach unten. Vielleicht ist er blind?

»WEG DA!«, brülle ich und denke zu spät daran, dass er vermutlich überhaupt kein Deutsch versteht.

»Alles okay?«

Ich stemme mich mit zitternden Händen auf die Knie. Dann starre ich in schilfgrüne Augen mit winzigen goldenen Punkten um die Pupille. Sie leuchten unglaublich hell in dem sonnengebräunten, sommersprossigen Jungengesicht.

»Tut mir leid«, murmele ich zerknirscht. Ein Lächeln huscht über seine Miene, dann runzelt er die Stirn. Blut klebt an seiner Unterlippe, und er streicht es sich zusammen mit Sandkörnern vom Mund. Der Sand ist durch seinen unfreiwilligen Sturz einfach überall, auf seinen Wangen, dem schwarzen T-Shirt und in seinem Haar. Vor Scham möchte ich im Boden versinken. Mein Blick bleibt an seinem Handgelenk hängen, an einem Armreif aus braungolden schimmerndem Metall. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Filigrane ineinander verschlungene Stränge, wie geflochten oder verknotet, und in ihrer Mitte ein Rad. Seine vier Speichen umfassen einen grünen, mattgeriebenen Stein und auch das Metall sieht ganz schön verwittert aus.

Jemand berührt mich an der Schulter und ich drehe mich um.

»Dreh dich um!«, wispert eine Stimme in mir.

Aber der schlaksige Junge geht neben dem Mann weiter, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, und da fällt mir ein, dass ich mich noch nicht einmal für seine Hilfe bedankt habe.

Nina Winter war stolz darauf, alles in ihrem Leben richtig gemacht zu haben. Sie sah von ihrem Schreibtisch auf und ließ den Blick zu der gewaltigen, bis zum Boden reichenden Panoramascheibe wandern. Der Frühlingshimmel präsentierte sich im hymnenverklärten Weiß und Blau, die Zugvögel kehrten allmählich zurück und weckten sie morgens mit ihrem fröhlichen Gezwitscher, und sicher würde sie sich auch bald an ihr neues Büro bei Macmillan & Richardson gewöhnt haben. Kurz nach Weihnachten hatte die deutsche Zentrale der weltweit führenden Unternehmensberatungsgesellschaft ihre neuen Geschäftsräume in München bezogen. Als diese von einem spanischen Architektenduo geplant worden waren, hatte Nina noch für ihren Bachelor in Betriebswirtschaftslehre gebüffelt und von einem Job bei einer der Big Five im Consulting nach ihrem Master geträumt. Jetzt, nach vier Jahren Projektlaufzeit und drei Jahren Bauarbeiten, saß Nina nicht nur in einem futuristischen, energiesparenden Glaspalast mit Solardach, neuester Belüftungstechnik und begrüntem Innenhof, ihr war auch eines der wenigen Blue Offices zugeteilt worden. Ein Einzelbüro war eine Auszeichnung und unterstrich ihre neue Position in der Firma. Zeitgleich mit dem Umzug hatte sie nämlich den Ritterschlag zur Projektleiterin, das interne »Beraterdiplom«, errungen. Und das mit achtundzwanzig Jahren! Die Blue Offices waren die gläsernen Wellenbrecher zur Außenwelt mit Panoramablick zum Münchner Hofgarten und der Bayerischen Staatskanzlei auf der einen und dem Karolinenplatz auf der anderen Seite des Gebäudes. Nach innen umarmten sie mit ihren blaugetönten

Notizen wurden mit elektronischen Eingabestiften auf dem Tablet notiert, in Druckschrift umgewandelt und interne Anweisungen über das Firmennetzwerk verschickt und in diversen Chatgruppen diskutiert. Hierarchische Bürostrukturen waren aufgebrochen worden, mehr Interaktion und Kommunikation wurden gefordert. Wer zu häufig den Großraumarbeitsplatz verließ und die privatere Atmosphäre in den gemütlichen Lounges suchte, wurde misstrauisch beäugt. Auch Nina fühlte sich manchmal beobachtet in ihrer Käseglocke, wie sie ihr neues Büro insgeheim nannte. Links konnte sie durch das Panoramafenster zu dem Obelisken auf dem Karolinenplatz spähen, rechts lagen Schreibtische wie bunte Inselgruppen im Meer des Open-

Ein Signalton ließ sie zurück auf ihren Monitor schauen. In fünf Minuten Team-Meeting Area 11 poppte als Erinnerung auf. Seufzend stand sie auf, steckte das Smartphone in die Tasche ihrer marineblauen Stoffhose, nahm das Tablet und wandte sich zur Tür. Um ein Haar wäre sie zurückgeprallt, denn dort wartete schon ihr Vorgesetzter, mit einem Lächeln so breit wie seine Schultern. Nils öffnete die Glastür und hielt sie ihr auf. Wie immer ganz der Gentleman.

»Guten Morgen, Nina! Haben wir noch Zeit für einen Espresso in der Lounge?«

Sie sah demonstrativ auf ihre Uhr, auf deren Display ebenfalls die Terminerinnerung aufleuchtete.

»Lass uns lieber pünktlich sein, heute steht wirklich viel auf der Agenda.«

In der Nacht nach der Eröffnungsfeier der neuen Büroräume und anlässlich ihrer Beförderung hatte sie sich beschwipst von Nils nach Hause fahren lassen und sich seither oft dafür verflucht, kein Taxi genommen zu haben.

»Ich gratuliere dir von Herzen«, hatte er an jenem Abend mit seinem einnehmenden Lächeln gesagt und ihr ein weiteres Glas Champagner gebracht.

»Danke, aber ich muss noch fahren.«

»Unsinn, Nina. Darauf musst du doch mit allen anstoßen! Mach dir keine Sorgen, ich kann dich später auch nach Hause bringen.«

Ein verdammter Moment der Schwäche!

Never fuck the company.

Nina konnte sich immer noch nicht richtig erklären, wie es damals zu dem Kuss in Nils’ BMW und danach zu der gemeinsamen Nacht in ihrer Wohnung gekommen war. Sie hatte ihre Prinzipien und hatte sich bis dahin niemals auf einem Firmenevent betrunken. Vielleicht hatte auch das Weihnachtsessen mit Paps zwei Wochen zuvor eine nicht unerhebliche Rolle bei diesem verhängnisvollen Ausrutscher gespielt.

»Erinnerst du dich noch an die kleine Charlie und euren Kitesurf-Kurs in unserem ersten Urlaub an der Costa Brava?«, hatte er zwischen Gans mit karamellisiertem Apfel und Maronenpüree und dem Spekulatius-Tiramisu gefragt. Colette, seine

Nina hatte an dem Spätburgunder genippt. »Nur noch vage. Warum?«

»Ich bin ihrem Vater letzte Woche zufällig in Düsseldorf begegnet. Er sagte, sie erwarte ihr drittes Kind.«

Um ein Haar hätte Nina den Wein auf die Damast-Tischdecke gespuckt.

»Schau nicht so schockiert. In deinem Alter waren deine Mutter und ich auch schon seit drei Jahren verheiratet und du hast gerade laufen gelernt.«

»Die Zeiten haben sich geändert, Paps.«

»Nein. Du lässt nur niemanden an dich ran.«

»Nicht schon wieder dieses Thema!«

»Du bist bald dreißig.«

»Runden wir jetzt mathematisch auf?«

»Wenn du dich nicht beeilst, sind alle attraktiven Kerle weg und du musst dich mit der zweiten Wahl begnügen.«

Nina trank den Wein in einem Zug aus und zählte innerlich bis zehn. An jedem anderen Tag hätte sie keine Skrupel gehabt, aufzustehen und einfach zu gehen, wenn ihr seine als Ratschlag getarnten Vorwürfe zu bunt wurden. Aber Paps wusste ganz genau, dass er an Weihnachten bis zu einem gewissen Grad Narrenfreiheit hatte, und das hatte er bei jenem Mittagessen in vollen Zügen ausgekostet.

»Schau, ich will doch nur dein Bestes, Nina. Wenn jemand weiß, wie es sich anfühlt, auf Dauer allein zu leben, dann ich.«

Die Worte und sein trauriger Blick rissen ein Loch in ihre innere Abwehr, wie jedes Mal, wenn das Gespräch auf den frühen Tod ihrer Mutter zu sprechen kam. Als sie starb, war Nina vier Jahre alt gewesen. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass zwischen

Du bist eine naive Träumerin! Auf einen Märchenprinzen zu warten – einfach lächerlich!

»Weißt du, Spatz«, hatte ihr Vater gesagt und damit auch noch Öl in das Feuer ihrer weihnachtsmelancholischen Stimmung gegossen, »das Leben ist einfach zu kurz, um nicht nach dem einen Menschen zu suchen, der dich ohne Worte versteht, die eigenen Interessen und Ziele teilt, mit dem du lachen, weinen oder auch einfach mal schweigen kannst, ohne dass du dir langweilig dabei vorkommst.«

Ihrem Vater gehörte ein großes Abbruchunternehmen in Deutschland. Er war ein eiskalt kalkulierender Geschäftsmann und harter Verhandlungspartner. Diese verletzliche Seite von ihm kannte nur sie und womöglich noch Colette. Vielleicht hatten seine eindringlichen Worte an diesem Weihnachtstag

Oder du warst einfach nur vollkommen betrunken gewesen!

 

Das Erwachen neben ihm im Bett tags darauf hatte sie jedenfalls so ernüchtert wie ein unfreiwilliger Sturz in die Isar Mitte Januar. Nina war auf Zehenspitzen ins Bad gehuscht, hatte sich in Windeseile angezogen und war aus ihrer eigenen Wohnung geflüchtet, ohne noch einen letzten Blick auf das zerwühlte Bett und Nils’ fitnessclubgestählten Oberkörper zu werfen. Erst nach zwei Kopfschmerztabletten, Kaffee mit Sojamilch beim Bäcker und einem ausgiebigen Spaziergang an der Isar hatte sie sich so weit wieder im Griff gehabt, dass sie zurückgegangen war. Nils hatte schon in seinem Anzug mit übereinander verschränkten Armen am Auto gelehnt und auf sie gewartet. »Nina …«, hatte er in einem für ihn ungewohnt weichen Tonfall begonnen und sie mit seinen eisblauen Augen intensiv gemustert. Sie hatte sofort die Schultern gestrafft und abwehrend die Hände gehoben. »Du musst mir nichts erklären. Wir sind beide erwachsen genug, um zu wissen, welchen Stellenwert wir der gestrigen Nacht beimessen sollten.« Er hatte die Augenbrauen hochgezogen, und sie hatte schnell ergänzt: »Versteh mich bitte nicht falsch, es war wirklich …« Sie hatte innerlich nach einem Wort gerungen, das ihn nicht verletzen, aber ihm auch nicht Hoffnung machen würde. »… einzigartig. Und das muss es auch bleiben. Also lass uns jetzt bitte zu M&R fahren und unsere hervorragende Teamarbeit und gute Freundschaft nicht durch so einen Ausrutscher gefährden.«

Sie hatte ihr kollegialstes Lächeln aufgesetzt und seinem Blick

Das war nicht die Antwort gewesen, die sie hatte hören wollen. Anfangs hatte Nina sogar befürchtet, er würde sich vor anderen in der Firma damit brüsten, sie erobert zu haben. Schließlich hatte sie bislang jeden im Team abblitzen lassen, der sich ihr hatte nähern wollen. Aber auch in dieser Hinsicht verhielt sich Nils vorbildlich. Kein Wort über jene gemeinsame Nacht kam ihm über die Lippen und er unterließ weitere Annäherungsversuche. Ein Mann mit Anstand. Und das machte die ganze Situation nur noch schwerer für sie. Denn an der Art, wie er sie manchmal verstohlen musterte, wenn er sich unbeobachtet fühlte, erkannte sie, dass nur ein Wort von ihr genügen würde, um jene verhängnisvolle Nacht zu wiederholen und mehr daraus werden zu lassen.

 

Nils’ herber Rasierwasserduft, Sandelholz mit einem Hauch frischer Zitrone, streifte sie, als sie an ihm vorbeischritt, und weckte die verschwommene, alkoholvernebelte Erinnerung daran, wie seine warme Haut sich unter ihren Fingern angefühlt hatte. Einen Moment lang versuchte Nina sich vorzustellen, dass Nils der Mann sein könnte, mit dem sie zusammen alt werden würde. Das klickende Geräusch, als er hinter ihr die Glastür ihres Büros schloss, brachte sie glücklicherweise in die Realität zurück, bevor ein Nils mit Halbglatze, Falten und gemütlichem Meister-Eder-Bauch sich vor ihrem inneren Auge aufbauen konnte. Konzentriere dich mal lieber auf das Meeting!

Sie liefen an den Schreibtischen des Open-Space-Bereichs zur Area 11 vorbei wie durch ein Labyrinth. Die Team-Meeting-Räume lagen alle zum Innenhof, in dem ein Springbrunnen, Ahornbäume und mehrere Skulpturen moderner Künstler die Tristesse aus Pflastersteinen auflockerten.

Nina grinste. »Es gibt keine schwierigen Mandanten, nur falsche Strategien!«, zitierte sie einen seiner Mentor-Leitsprüche.

»Wäre nicht das erste Mal, dass du mich überraschst.«

Taran hatte aus der Erforschung vergangener Kulturen vor allem eines gelernt: für die Magie des Augenblicks zu leben. Sonnenstrahlen fielen durch das Jugendstilgewölbe aus Gusseisen und Glas, während er an seinem Café Cortado nippte und die winzigen Tropfen des Wassersprühnebels betrachtete, die einen zarten Regenbogen erblühen ließen. Sie landeten auf den breiten Blättern von Palmen, Bananenstauden und anderen Pflanzen des tropischen Gartens vor ihm und versanken im glitzernden Wasser des Bassins. Jede Menge Kinder tummelten sich davor, um die kleinen Schildkröten und bunten Fische zwischen den Wasserpflanzen zu bestaunen – und sie hoffentlich nicht mit ihren fettigen Churros zu füttern. Einige Palmen ragten so hoch auf, dass sie fast die Metallstreben der Decke berührten. Kinderlachen, das vielstimmige Gemurmel von Reisenden, ein unregelmäßiges Staccato diverser Schuhabsätze, Rollgeräusche von Trolleys, Durchsagen von ankommenden und abfahrenden Zügen und das Zischen des Kaffeevollautomaten in nächster Nähe vereinigten sich in der gewaltigen alten Bahnhofshalle Atocha von Madrid zu einer einzigartigen Sinfonie.

»Wir müssen los«, riss Ramón ihn aus seinen Betrachtungen und schob sich den letzten Bissen seines Croissants in den Mund. Ein paar Blätterteigkrümel verfingen sich in dem schwarzen Vollbart, den er sich neuerdings hatte wachsen lassen.

»Macht du jetzt auf Álvaro Morte?«, hatte er ihn vor ein paar Wochen aufgezogen. Er sah dem spanischen Schauspieler tatsächlich ein bisschen ähnlich.

»Ja, aber nur weil ich zu faul bin, mich täglich zu rasieren.« Unter der Woche kam er einfach nicht dazu und rasierte sich dafür an beiden Wochenendtagen.

Taran winkte der Kellnerin zu, als sein Kollege den Geldbeutel aus dem Rucksack fischen wollte, und erklärte rasch: »Heute bin ich dran.«

Lächelnd dachte er an das langwierige Bezahlen, wenn er in Deutschland mit Kollegen essen gegangen war. Zum Glück war es hier in Spanien unüblich, Einzelrechnungen auszustellen.

»Denkst du, sie verlängern das Projekt?«, fragte Ramón und kratzte sich am Bart, während sie in die Neubauhalle eilten, die kathedralenhoch und mit kalten, schmucklosen Bahnsteigen und Betonsäulen keinen größeren Gegensatz zum alten Bahnhofsteil hätte bilden können. »Elena schien gestern Abend ziemlich beeindruckt von deinen Grabungsfortschritten.«

Taran zuckte die Schultern und musterte die Anzeige, um das richtige Gleis zu finden, auf dem der Schnellzug zwischen Madrid und Sevilla einfahren würde. Er liebte seine Arbeit, aber das ewige Zittern darum, wie lange er sie fortführen konnte, war bei jeder Ausgrabung von Neuem zermürbend. Und gleichgültig, wie die Direktorin des Deutschen Archäologischen Instituts in Madrid persönlich zu ihm und seinen Fortschritten stand, sie konnte schließlich nicht allein über eine Verlängerung entscheiden. Dr. Elena Munez war vor knapp sieben Jahren zur Leiterin der spanischen Zweigstelle des DAI aufgestiegen. Sie war Mitte fünfzig und brannte für die Archäologie wie er selbst, besonders für Tarans Spezialgebiet über die Phönizier und ihre Expansion in den westlichen Mittelmeerraum. Sie hatten schon unzählige Diskussionen über das antike Seefahrervolk geführt.

»Ich bin Archäologe – wir sind es gewohnt, Steine, die uns im Weg liegen, freizuräumen«, spottete er. »Ich habe mein

Sie hatten das Gleis erreicht, an dem gerade ein Zug im schnittigen ICE-3-Design einrollte. Der AVE fuhr bis zu dreihundert Stundenkilometer schnell, weshalb sie für die knapp fünfhundert Kilometer zurück nach Sevilla nur unglaubliche zweieinhalb Stunden brauchen würden. Ramón hatte die Tickets gebucht. Taran hätte auch nichts gegen gemächlicheres Reisen in langsameren Zügen einzuwenden gehabt. Er mochte Bahnfahren und genoss es, aus dem Fenster zu blicken und die Landschaft auf sich wirken zu lassen. Zumindest waren die Fahrkarten für den AVE nicht wesentlich teurer, sodass selbst er sich regelmäßige Fahrten mit dem Schnellzug leisten konnte. Bei dem Gedanken an seine finanzielle Lage huschte ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht.

»Schon Wahnsinn, von wie vielen Dingen bei euch eine Verlängerung des Arbeitsvertrags abhängt«, erklärte Ramón kopfschüttelnd. »Noch schlimmer als der Kampf um öffentliche Aufträge bei uns Geophysikern.«

»Eine meiner Professorinnen an der Uni hat mal gesagt: Wer die Bruchstücke der Vergangenheit finden und zusammensetzen möchte, muss geduldig, anspruchslos und ein Glückspilz sein.«

»Glück wirst du hier in Andalusien auf jeden Fall brauchen. Am Ende verweigert dir nämlich sonst das Denkmalpflegeamt die Genehmigung weiterer Grabungen, weil sich jemand von privaten Bauträgern hat bestechen lassen, und all deine Bemühungen um Geldgeber waren umsonst.«

Sein Freund verdrehte die Augen und schwenkte die Zeitung, auf deren Titelseite von einem Bestechungsskandal in Regierungskreisen die Rede war. »Eher realistisch.«

Er stieg schwungvoll vor Taran in den Zug. Es war ihm anzusehen, wie sehr er sich auf zu Hause freute. Im Bahnhofsshop hatte er Süßigkeiten für seine Kinder und ein Buch von Carlos Ruiz Zafón für seine Frau gekauft. Dabei waren sie keine zwei Tage lang getrennt gewesen! Taran folgte grinsend dem spanischen Romantiker. Aber leider hatte Ramón recht. Auch die Genehmigung des Denkmalpflegeamts stand bei einer Verlängerung der Ausgrabung noch in den Sternen. Der andalusische Bauunternehmer, der ursprünglich eine Urbanisation mit Ferienhäusern auf dem Grabungsareal hatte bauen wollen, drängte seit der Notgrabung vor zwei Jahren darauf, dass die archäologischen Arbeiten zu einem Abschluss kamen und er mit dem ersten Spatenstich beginnen konnte. Sicher bereute er es mittlerweile, den Fund von Fragmenten einer antiken Amphore überhaupt gemeldet zu haben. Wahrscheinlich hatte er gehofft, schnelles Geld zu machen, indem er die andalusische Regierung auf Entschädigung verklagte. Manchmal war der bürokratische Berg von Steinen, der ihre Funde verbarg, tatsächlich höher als die einzelnen Bodenschichten, die sie hinterher bei der Ausgrabung abtrugen.

 

Sie wanderten die Sitzreihen entlang bis zu ihren Plätzen, als der Zug sich mit einem leichten Ruck in Bewegung setzte. Die beigefarbenen Stoffsitze waren bequem und boten angemessene Beinfreiheit für Ramón. Taran, mit seinen knapp ein Meter neunzig, stieß jedoch mit den Knien an den Vordersitz. Er gähnte, strich sich die Haare aus der Stirn und warf einen müden Blick aus der dunkel getönten Scheibe. Es war

 

Ramóns Handy klingelte und als sich seine Miene aufhellte und dieses gewisse Leuchten in seine Augen glitt, wusste Taran sofort, dass er mit Sofía sprach. Er fühlte einen leichten Stich in der Brust. Im vergangenen Jahr war er oft genug bei der Familie Pérez zu Gast gewesen, um zu wissen, dass dieses glückliche Funkeln in Ramóns Augen echt war. Früher hatte Taran sich nicht so viele Gedanken über feste Beziehungen gemacht. Er wusste auch nicht, woher das plötzlich kam, schließlich fühlte er sich seit Jahren mit der Archäologie verheiratet. Heute hier, morgen da. Flexibilität war in seinem Job ebenso unverzichtbar wie gute Sprachkenntnisse und meist auch der Verzicht auf Familie. Taran wurde dieses Jahr dreißig, und viele seiner ehemaligen Studienkollegen hatten die Forschungsarbeit inzwischen an den Nagel gehängt, um ihr privates Glück zu finden, sesshaft zu werden, in einem Museum oder fachfremd zu arbeiten und eine Familie zu gründen. Die Frauen, mit denen Taran in den vergangenen Jahren zusammen gewesen war, hatten alle auch im Bereich der Archäologie gearbeitet. Gemeinsame Interessen waren zwar eine großartige Sache, aber führten am Ende dazu, dass sie sich etliche Monate nicht sehen konnten, weil entweder er oder sie gerade irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs waren. Wortwörtlich. Man hatte gar nicht die Möglichkeit, den anderen näher kennenzulernen, um die Beziehung zu

Während er mit seiner Frau telefonierte, drehte Taran gedankenverloren den keltischen Metallarmreif an seinem Handgelenk und betrachtete die vorbeifliegenden Felder, auf denen der Winterweizen langsam in die Höhe schoss. Über fünftausend Hektar ökologische Landwirtschaft befanden sich rund um Madrid, und in Andalusien betrug das landwirtschaftlich genutzte Land sogar das Hundertfache. Kein Wunder, dass deshalb Bauern beim Umgraben ihrer Felder vereinzelt auf archäologische Artefakte stießen. Im Vorbeifahren erhaschte Taran einen Blick auf einen Landarbeiter, der die langen schwarzen Kunststoffschläuche für die Tröpfchenbewässerung inspizierte, und zwei kleine Jungen in Jeans, T-Shirt und Baseballcap, die dem Zug nachwinkten. Er hob lächelnd seine Hand an die Scheibe und winkte zurück. Es war unwahrscheinlich, dass sie ihn hinter den spiegelgetönten Fenstern bei dieser Geschwindigkeit gesehen hatten. Dennoch weckten die beiden in ihm die Erinnerung daran, wie er selbst als Kind mit seinem Vater über Ackerfurchen gewandert war und hinterher Schlamm und Steine aus dem Profil seiner Wanderschuhe gekratzt hatte. Erde war so früh sein Element gewesen wie die See für Fischerkinder. Sie kannten die Gezeiten auswendig, er die unterschiedlichen Bodentypen und wie man sie am besten bearbeitete, um an die verborgenen Schätze zu gelangen.

»Hör endlich auf, dem Jungen deine albernen Hirngespinste in den Kopf zu setzen!« Das Gesicht seiner Mutter tauchte wie ein Gespenst aus der Vergangenheit vor Tarans innerem Auge auf, ihre schmalen Lippen abfällig verzogen, der Tonfall hart. Schatzsucher hatte sie ihren Mann genannt. Nachts, wenn Taran und seine Schwester Jennifer in ihren Betten lagen, hatte sie allerdings noch ganz andere Bezeichnungen für ihn

»Na und? Die reden doch immer irgendwas«, hatte Taran eingewandt. Er war drei Jahre jünger als seine Schwester. Ihr war damals alles peinlich gewesen. Die Pickel im Gesicht, die Umarmungen der Mutter vor ihren Freundinnen, das immer mehr Raum einnehmende Hobby ihres Vaters. Taran hatte es nichts ausgemacht, ein Außenseiter zu sein. Das galt auch heute noch. Vielleicht hatte ihr das die Geborgenheit vermittelt, die ihr das Elternhaus nicht geben konnte. Er schob die Gedanken an seine Schwester beiseite. Sie gingen immer mit dem schlechten Gewissen einher, sich viel zu lange nicht bei ihr gerührt zu haben.

Ramón hatte aufgelegt und grinste ihn an.

»Was?«, fragte Taran.

»Sofía hat mich gefragt, wie mein Vortrag gestern lief, und ich habe nur gesagt: Kroak!«

Taran lachte und schüttelte den Kopf. »Du wirst ihr das erklären müssen.«

»Sie hat behauptet, wenn das ein Hinweis darauf ist, dass sie mich bei meiner Ankunft küssen und künftig Tisch und Bett mit mir teilen muss, würde sie es sich lieber noch einmal gründlich überlegen.«

»Sofía würde dich selbst dann aufnehmen, wenn du dich tatsächlich in eine glitschige, fette Kröte verwandeln und nach Schlick riechen würdest.«

Ramón grinste noch ein Stück breiter.

Die Stimmung am Abend in der Tapas-Bar war ausgelassen gewesen und irgendwann hatte sein Freund ihm zugeprostet und erklärt: »Ich meine das ernst, Taran! Während du dir in aller

Ramón war wirklich kein besonders guter Redner, aber so schlimm, wie er tat, war er nun auch wieder nicht gewesen. Immerhin nahm er es mit Humor.

»Also ich fand deine Ausführungen zur Verlandung und der Veränderung der Küstenlinie in den letzten dreitausend Jahren durchaus spannend, Ramón«, hatte Elena augenzwinkernd eingeworfen und beruhigend seine Hand getätschelt.

»Du würdest es auch spannend finden, 50 000 Tonscherben in den nächsten zwei Jahren zu sichten und zu katalogisieren«, hatte Ramón gebrummt und die Augen verdreht.

»Ich bin Archäologin, das kannst du mir wohl kaum vorwerfen«, hatte sie kichernd erwidert.

»Das nicht. Aber dass du mich ausgerechnet mit Taran zusammen hast vortragen lassen.«

»Was habe ich denn schon wieder falsch gemacht?«, hatte Taran nachgehakt.

»Ach, du warst nur der Prophet, der über das Wasser gewandelt ist und mit seiner flammenden Rede die Kröten zum ehrfürchtigen Verstummen gebracht hat«, hatte Jorge gespottet und sein Glas in Richtung der Direktorin erhoben. »Lass Taran das nächste Mal an der Autónoma vortragen, Elena, und die Studentenzahlen für archäologische Studienrichtungen werden explodieren.«

Die Phönizisch-punischen Donnerstage fanden entweder am DAI – wie vergangenen Abend – oder an einer der beiden Madrider Universitäten Autónoma oder Complutense für

»Ihr übertreibt wieder einmal alle maßlos«, hatte Taran sich grinsend verteidigt. Er konnte auch nicht sagen, warum ihm das Reden über seine Projekte so leichtfiel. Vorträge zu halten, war für Taran Routine. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Forschung war so rar, dass es nicht genügte, fachlich zu brillieren. Man musste seine Arbeit auch gut präsentieren können. Mittlerweile war er im Bereich der Phönizier-Forschungen ein gefragter Redner auf dem Internationalen Kongress der Klassischen Archäologie. Meistens blendete er das Publikum einfach aus und stellte sich vor, er würde mit seinem Vater bei einem Glas Bier zusammensitzen und ihm von seinen neuesten Ergebnissen erzählen. Er genoss diese gemeinsamen Vater-Sohn-Abende. Denn obwohl Max Sternberg, der seinen Sohn nach Taranis, dem keltischen Donnergott, genannt hatte, seine Leidenschaft für die Archäologie so teuer hatte bezahlen müssen, war sie auf seinen Sohn übergesprungen wie der Funke des olympischen Feuers. Taran hatte schon in archäologischen Fachzeitschriften geblättert und mit seinem Vater über römische Feldzüge in Germanien diskutiert, als seine Klassenkameraden noch Nintendo gezockt und den Limes für einen alkoholischen Drink mit Fruchtgeschmack gehalten hatten. In der Schule hatte er deshalb als Sonderling gegolten, woran auch seine guten sportlichen Leistungen nur wenig ändern konnten.

»Wenn wir dieses ganz besondere Timbre, das sich immer in deine Stimme schleicht, sobald du von deiner Forschung sprichst, und das jedem eine Gänsehaut über den Rücken jagt,

Er hatte sich an dem Blätterteig mit Aioli und scharfer Chorizo-Wurst verschluckt und verzweifelt versucht, den Hals wieder mit einem Schluck Rioja freizubekommen.

»Danke, Clara. Jetzt fühle ich mich endgültig wie die ungeliebte, hässliche Kröte«, hatte Ramón gelacht.

»Ich darf das sagen.« Die Bibliothekarin hatte grinsend ihre beringte Hand gehoben. »Schließlich bin ich ebenso glücklich verheiratet wie du, mein Lieber.«

Phönizier-Archäologie?« Nils riss den Kopf zu Nina herum, die gelassen die Überschrift mit dem antiken Segelschiff und der Amphore auf ihrem Tablet beiseitestrich und die nächste Präsentationsseite auf dem Whiteboard aufrief. Sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann.

»Ganz recht.«

»Ich dachte, Roth hält nichts von kulturellem Engagement?«, warf Maren zaghaft ein und drehte den Stift ihres Tablets nervös zwischen den Fingern. Ihre Stimme klang ein wenig schrill. Sie und Yannik waren die jüngsten Fellows in ihrer Runde und noch nicht einmal ein halbes Jahr bei Macmillan & Richardson. Vor Ninas Präsentation hatten sie die Gelegenheit bekommen, eigene Vorschläge zu machen, die zum Aufpolieren des Images der Alexander Roth AG in der öffentlichen Wahrnehmung beitragen sollten. Bei diesem Mandanten wahrlich kein leichtes Unterfangen. Dennoch fragte Nina sich, ob sie ähnlich defensiv bei ihren ersten Teamsitzungen geklungen hatte. Marens und Yannicks Vorschläge waren solide gewesen – für einen Durchschnittsmandanten. Sie hatte die altbewährte KTU-Strategie vorgetragen: Spenden an Kinder-, Tier- oder Umweltschutzorganisationen, also alles, was sich in den sozialen Medien emotional gut verkaufen ließ. Kundenbindung durch Corporate Social Responsibility. Nicht nur das Produkt, auch der Ruf einer Firma selbst müsse Qualität und gesellschaftliche Verantwortung aufweisen, um die Kunden dauerhaft für sich einzunehmen. Maren hatte allerdings nicht bedacht, dass sich die typische Kundschaft von Roths Werft nicht mit denen eines

Während nun auf Marens Wangen rote Flecken aufblühten und sie an ihrem grünen Seidenschal zupfte, lehnte sich Yannik in seinen Stuhl zurück, breitbeinig, die Arme siegessicher über der Brust verschränkt – ganz der vor Selbstüberschätzung strotzende Mann. Ninas Präsentation auf dem Whiteboard betrachtete er mit einer Miene, als hätte sie vorgeschlagen, Roth solle an Straßenmusiker in der Spitalerstraße oder gar an die Skateboard-Kids an Hamburgs Jungfernstieg Geldscheine verteilen. Selbst das konnte eine gute Strategie sein, wenn sie entsprechend medienwirksam in Szene gesetzt wurde. Sie unterdrückte ein Schmunzeln. Nils bewahrte seine unverbindliche Pokermiene, aber die beiden Neulinge im Team hatten das »Körpersprache-in-Verhandlungen«-Modul noch nicht besucht, sonst würden sie ihre Verunsicherung und Ablehnung nicht so offen zur Schau stellen und damit eine verhängnisvolle Angriffsfläche bieten. Die Angst der Uniabsolventen, die Probezeit bei Macmillan & Richardson nicht zu bestehen, war in den vergangenen Jahren bedauerlicherweise noch gewachsen. Dabei hatte sie selbst schon die Spannungen innerhalb der Teams und die

»Wir fahren ein hohes Tempo in einem sich ständig wechselnden Beratungsumfeld. Wer nicht flexibel ist und mit der Mannschaft mithalten kann, fliegt eben raus«, hatte Nils erst kürzlich zu ihr gesagt, als sie ihn auf die Kündigung von Jan, einem Mitarbeiter im Risikomanagement, angesprochen hatte.

»Na ja, ich glaube, er hatte privat ein paar Wochen ziemlich viel Druck«, hatte sie eingewandt. Eine Kollegin hatte ihr nämlich verraten, dass seine Zwillingsschwester einen schweren Autounfall gehabt hatte. Sie war im Koma gelegen und die Familie hatte wochenlang um ihr Leben gebangt. Zum Glück war sie mittlerweile auf dem Weg der Besserung.

»Dann hätte er eben unbezahlten Urlaub nehmen und seine privaten Dinge in Ordnung bringen müssen, statt nur mit halbem Kopf hier bei der Sache zu sein.«

Als ob er das mehr gebilligt hätte! Sie seufzte innerlich. Vermutlich hatte Nils recht und Maren und Yannik mussten lernen, mit der internen Konkurrenzsituation einer Teamsitzung klarzukommen, um künftig einem waschechten Hamburger Unternehmer-Haudegen wie Alexander Roth gegenübertreten zu können. Letzterer hatte Nina bei ihrem ersten Treffen zusammen mit Nils so viel Beachtung geschenkt wie eine Spinne einer leichten Sommerbrise, die zufällig an ihrem Netz zupfte. In den vergangenen zwei Jahren hatte es sie ein hartes Stück Arbeit gekostet, Roth von ihrer Kompetenz zu überzeugen. Sie hatte die Fusion mit zwei anderen Werften erfolgreich für ihn abgewickelt, Konzepte zur Kostensenkung und Reduzierung der Mitarbeiterzahl entwickelt und war dennoch überrascht gewesen, dass er sich nun erstmalig direkt an sie und nicht zuvor an

Roths Familie hatte sich den Erfolg ihrer Werft über drei Generationen hinweg erwirtschaftet, war zweimal kurz vor der Insolvenz gestanden und hatte sich wieder hochgekämpft. Der Unternehmergeist war Alexander Roth schon in seiner Schulzeit im Eliteinternat Schloss Salem eingetrichtert worden und seither war er der Ansicht, dass es jeder, der sich nur den Herausforderungen des Lebens stellte, auch ohne Zuwendungen zu etwas bringen könne. Ausgerechnet die Begegnung mit einem ehemaligen Schulkameraden aus Salem hatte diese Meinung jedoch ins Schwanken gebracht, wie sich bei ihrem Treffen herausstellte.

»Mark ist jetzt im Lions Club«, hatte er geschnaubt, als sie eine Woche nach dem Telefonat bei einem Kaffee in dem Verwaltungsgebäude seiner Werft mit Blick auf die Alster zusammensaßen. Es hatte geklungen, als würde er von einem anrüchigen Nachtclub sprechen, in den sein Freund da geraten war, und nicht von einem konservativen ehemaligen Herrenclub, der erst Ende der Achtzigerjahre überhaupt zögerlich begonnen hatte, Frauen in seinen Reihen als Mitglieder willkommen zu heißen, und der sich diversen karitativen Aufgaben widmete.

»Außerdem will er einen Teil seines Firmenvermögens in eine Stiftung einbringen und schwärmt von der Steuerersparnis, steigenden und beständigen Kundenzahlen und einem besseren Image, das sich auch in überschwänglichen Pressemitteilungen niederschlägt. Kurz und gut, er unterstellt mir, nicht mehr zeitgemäß zu sein. Was halten Sie davon? Glauben Sie auch, ich sollte Rumschlunzer unterstützen, nur um nicht als Steinzeitunternehmer zu gelten?«

Nina hatte sich um ein Haar an ihrem Kaffee verschluckt. Vorsichtig hatte sie die Tasse auf den Mahagonitisch mit