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Sophienlust, wie alles begann
– Staffel 1 –

E-Book 1-10

Marietta Brem

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74099-386-3

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Sie tanzte wie ein Schmetterling

Ein schöner Tag mit schlimmem Ende

Roman von Brem, Marietta

Denise, die spätere Verwalterin des Kinderheims Sophienlust und Mutter des Erben Dominik, wird in dieser völlig neuen Serie in ihren jungen Jahren vorgestellt. Ihr aufregendes Leben während ihrer Ausbildung zur Balletttänzerin verleiht diesen Romanen ihre eigene Note.

Die Kinderliebe der jungen Denise wird schon in der Zeit deutlich, in der sie noch bei ihren Eltern wohnt und ihren Vater als berühmten Arzt agieren sieht. Die Kavaliere stehen bei ihr Schlange, aber Denise ist sehr wählerisch und will sich nicht festlegen. Das junge Mädchen ist noch etwas scheu in Liebeshändeln, aber ihr Herz sitzt am rechten Fleck.

Denise möchte am liebsten die ganze Welt umarmen und besser machen.

Niemand weiß, dass die wunderschöne Wiese vor ihrem Elternhaus später einmal der Ort sein wird, auf dem das Kinderheim errichtet werden wird. Der erste Spatenstich dafür wird noch lange auf sich warten lassen …

Mit liebevoller Hand hatte Eva Montand die prächtigen, üppig blühenden Hibiskusbüsche auf der großen Wiese hinter dem Haus mit unzähligen Lampions geschmückt. Sie sollten bei Einbruch der Dämmerung in einem warmen Licht die Umgebung erhellen. Fünf weiße runde Tischchen, passend für jeweils vier Personen, standen in der Nähe der langen Tafel, auf der ein überaus reichliches Angebot an den verschiedensten Leckereien aufgebaut war. Aus mehreren Lautsprechern erklang leise klassische Musik, und in den Apfelbäumen, die etwas weiter weg standen, zwitscherten Amseln und Stare.

»Wo bleibt denn unser Schneewittchen? Ich hab sie heute noch gar nicht gesehen.« Ein gut aussehender, hoch gewachsener Mann um die dreißig hatte die Hände in die Hüften gestützt und schaute sich suchend um. »In einer halben Stunde werden die ersten Gäste eintrudeln. Denise muss die Begrüßung übernehmen. Immerhin ist es ihre Geburtstagsfeier.«

Eva, eine gut aussehende Frau Ende vierzig, legte ihre rechte Hand auf den Arm des Mannes. »Mach dir da mal keine Sorgen, Raoul, du weißt doch, dass deine Schwester die Pünktlichkeit in Person ist. Würdest du dich bitte um die Getränke kümmern?« Sie lächelte ihn liebevoll an. Raoul war ihr Stiefsohn, der ihr ans Herz gewachsen war fast wie ein eigener Sohn, obwohl er kaum fünfzehn Jahre älter war als sie selbst. Pierre, ihr geliebter Mann, hatte ihn als Zwölfjährigen mit in die Beziehung gebracht. Die erste Zeit mit ihm war nicht einfach gewesen, denn das gestörte Verhältnis zu seiner leiblichen Mutter hatte seine Spuren hinterlassen. Doch als sie und Pierre einige Jahre später heirateten, war keiner über diese Entscheidung glücklicher als Raoul. Noch heute ließ er Eva fühlen, wie dankbar er ihr war, dass sie stets Verständnis aufgebracht hatte für seine Probleme.

»Das hast du fantastisch hingekriegt, Liebes. Denise wird Luftsprünge machen vor Begeisterung. Wann überreichen wir den Gutschein für den Führerschein?« Liebevolle Arme umschlangen Eva von hinten, weiche Lippen küssten zärtlich ihren Nacken.

Eva machte für einen kurzen Moment die Augen zu. Wenn Pierre sie berührte, vergaß sie alles um sich herum.

Im Spätsommer waren sie zwanzig Jahre verheiratet, und dennoch fühlte sich ihre Liebe an wie am ersten Tag. Sie ahnte, dass Pierre für dieses besondere Ereignis bereits einige Pläne machte, doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Ihre gemeinsame Tochter Denise war an diesem Tag die Hauptperson, denn sie feierte ihren 18. Geburtstag. Gemeinsam hatten sie alles geplant und die anfallenden Arbeiten aufgeteilt. Lediglich Catherine hatte sich aus allem herausgehalten, denn ihre vierte Schwangerschaft machte ihr sehr zu schaffen.

Nervös schaute Pierre auf seine Armbanduhr. »Soll ich nach ihr sehen?«

Eva brach in helles Lachen aus. »Mir scheint, du kennst unsere Tochter noch immer nicht. Was Pünktlichkeit anbelangt, stellt sie sogar dich in den Schatten.« Sie schaute zur Tür und atmete erleichtert auf. »Da kommt sie ja.«

Aus dem hübschen Haus im Bungalowstil trat jetzt ein junges Mädchen, das langsam die Treppe zum Garten hinunterstieg. Denise Montand wirkte auf den ersten Blick fast wie ein kleines Mädchen. Ihre Gestalt war zierlich und überaus schlank, was die hellblaue Jeans und die weiße, locker fallende Bluse noch unterstrichen. Ihre schwarzen, fast hüftlangen Haare hatte sie im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten.

»Mir ist, als würde ich träumen«, flüsterte sie vor sich hin. Hilfe suchend blickte sie zu ihren Eltern, die jetzt mit raschen Schritten auf sie zukamen. »Deshalb also durfte ich seit gestern Abend nicht mehr aus dem Fenster sehen«, stellte sie lächelnd fest. Dann fiel sie beiden jubelnd um den Hals. »Ihr verwöhnt mich so sehr, das hab ich doch gar nicht verdient. Aber ich hab euch so lieb, dass ich es gar nicht mit Worten ausdrücken kann.« Denise war den Tränen nahe. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie müsste sich in den Arm zwicken, damit sie feststellen konnte, dass sie nicht träumte. Ihr bisheriges Leben war, bis auf kleine Ausnahmen, einfach und glücklich verlaufen. Manchmal hatte sie Angst, dass irgendwann irgendetwas passierte, was ihre kleine heile Welt zerstörte.

Gerührt machte sich Pierre von seinen beiden Frauen los. Auch ihm waren Tränen in die Augen gestiegen, doch er wollte nicht, dass es jemand bemerkte. Das gehörte sich nicht für einen Mann, noch dazu den einzigen Allgemeinarzt im Ort, der stets breite Schultern zum Anlehnen und offene Ohren für all die Probleme seiner Familie und seiner Patienten haben musste. Das Wort Schwäche kam nicht in seinem Vokabular vor, zumindest nicht für ihn selbst. »Ich glaube, ich höre die ersten Autos vorfahren. Mach dich bereit, kleine Prinzessin.« Er drehte sich um und marschierte mit kräftigen, weit ausgreifenden Schritten davon.

»Ich bin so stolz auf dich, mein Kind. Manchmal nachts, wenn ich nicht schlafen kann, sehe ich dich auf einer großen Bühne, wie du vor hunderten Zuschauern dein geliebtes Schwanensee tanzt. Ein Jahr noch, dann hast du es geschafft.« Sie nahm Denise bei der Hand und zog sie mit sich. »Kontrolliere bitte noch einmal, ob alles in Ordnung ist. Raoul findest du in der Küche. Er hat dich auch schon gesucht. Ich werde mich rasch umziehen, damit wir alle gemeinsam die Gäste begrüßen.« Eva küsste ihre einzige Tochter zärtlich auf die Stirn, dann lief auch sie davon.

Ehe sie das Haus betrat, drehte sie sich noch einmal um. Einen letzten Blick wollte sie auf ihr wunderschönes Kind werfen, das heute volljährig geworden war. Noch gut erinnerte sie sich daran, als sie Pierre gestand, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Seine Freude war unbeschreiblich groß gewesen, denn er hatte sich immer viele Kinder gewünscht. Aus seiner ersten Ehe hatte er Raoul mit in die Familie gebracht, was sich für alle Beteiligten als großes Glück herausstellte.

Anfangs hatte der damals mitten in der Pubertät steckende Junge etwas Bedenken gehabt, ob nach Ankunft eines Geschwisterchens für ihn noch genügend Liebe übrig bleiben würde, doch als Denise geboren war, waren diese Zweifel sofort weggewischt. Liebevoll kümmerte sich der Junge um sein kleines Schwesterchen und war vom ersten Tag an ihr aufmerksamer Beschützer.

Eva traten Tränen in die Augen. Sie liebte ihre kleine Familie so sehr, dass es wehtat im Herzen. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte, kamen manchmal so dumme Gedanken wie ein Unfall, Streit oder die Angst, Pierre könnte sich in eine andere Frau, vielleicht eine attraktive Patientin, verlieben. Angebote gab es genügend, doch wenn sie ihre Bedenken mitteilte, nahm er sie nur lachend in die Arme und versicherte ihr glaubhaft, dass sie, Eva, die einzige Frau auf dieser Welt war, die sein Herz berühren konnte.

Rasch lief Eva die Treppen hinauf in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Das Kleid, das sie sich für diesen Anlass heute gekauft hatte, gefiel ihr besonders gut. Der feine Stoff schimmerte wie Porzellan und betonte ihre noch immer schlanke Figur. Dann öffnete sie den Haarknoten, und ihre langen dunkelbraunen Haare fielen in weichen Wellen über ihre schmalen Schultern. Ein Blick in den Badezimmerspiegel versicherte ihr, dass sie sich noch immer sehen lassen konnte. Sie hatte ein schmales Gesicht, große, veilchenblaue Augen, und ihre Haut war glatt und rosig, ohne eine Falte. Zur Feier des Tages steckte sie sich noch eine Seidenblüte ins Haar, passend zu ihrer Augenfarbe. Jetzt war sie zufrieden.

Pierre erwartete sie bereits in der Diele. Seine Augen leuchteten, als er ihre bezaubernde Erscheinung erblickte. »Mit jedem Tag, der vergeht, wirst du schöner, Liebes«, stellte er bewundernd fest und nahm sie in die Arme. »Dann lass uns jetzt zu unseren Gästen gehen. Wir wollen unserer Tochter einen unvergesslichen Geburtstag bereiten.« Er bot Eva seinen Arm, und gemeinsam verließen sie das Haus.

»Da seid ihr ja endlich.« Raoul kam mit einem Tablett voller Sektgläser aus der Küche. Er strahlte über das ganze Gesicht. Die Ähnlichkeit mit seiner Halbschwester Denise war unübersehbar. Auch er hatte diesen sehnsuchtsvollen Blick, dunkle Haare und eine leicht getönte broncefarbene Gesichtshaut, genau wie Pierre. Er lief an den Eltern vorbei und platzierte das Tablett auf eines der kleinen Tischchen, das extra für Getränke bereitstand. Dann entdeckte er Denise, die ein wenig verloren das umfangreiche Buffet betrachtete.

»Wo hast du denn den ganzen Morgen gesteckt, Schneewittchen?«, fragte er und grinste schelmisch. »Sag bloß, du fürchtest dich vor deinem Ehrentag. Musst du nicht, achtzehn ist kein Unglück. Freu dich lieber, dass du von allen so sehr gemocht wirst, dass sie unbedingt mit dir feiern möchten.« Spontan nahm er Denise in die Arme. Das war nicht ganz einfach, denn sie reichte ihm gerade mal bis zur Brust.

»Ich habe nicht Angst vor der Feier. Ich habe Angst davor, erwachsen zu werden. Kannst du das verstehen?« Denise war in diesem Moment froh, dass noch keine Gäste gekommen waren. Sosehr sie sich auf ihr Fest freute, der Gedanke, dass sie ab jetzt alles selbst unterschreiben durfte, bereitete ihr Unbehagen. Sie war gern Kind, vor allem das Kind ihrer Eltern. Nur manchmal dachte sie an all die anderen Kinder in der Welt, die es nicht so gut getroffen hatten wie sie selbst. Wie gern würde sie etwas von ihrem Glück abgeben, denn dann könnte sie sich mit Sicherheit besser fühlen.

»Ein Königreich für deine Gedanken, Schneewittchen. Du siehst gerade nicht so aus wie ein glückliches Geburtstagskind, dem gleich eine Menge Besucher huldigen werden. Mach doch nicht so ein finsteres Gesicht. Damit änderst du auch nichts.« Wie immer war Raoul derjenige, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand und meist auch die richtigen Worte fand, um eine Situation zu entschärfen. Für Denise war der große starke Bruder der Freund, auf den man sich immer und in jeder Lebenslage verlassen konnte. »Was ist denn los?«, fragte er lächelnd und schubste sie verschwörerisch an. »Mir kannst du alles anvertrauen, das weißt du doch.«

»Manchmal habe ich Angst, dass ganz plötzlich ein Blitz in meine kleine heile Welt einschlägt und alles in sich zusammenfällt. Kannst du das verstehen? Geburtstag bedeutet für mich nicht nur Beginn eines neuen Lebensjahres, sondern auch Abschied vom alten.« Plötzlich schimmerten Tränen in ihren schönen Augen.

Behutsam legte Raoul einen Arm um ihre schmalen Schultern. »Ach, Kind, das musst du nicht denken«, ahmte er den Tonfall seines Vaters nach. So redete Pierre manchmal mit Eva, wenn sie ihm ähnliche Fragen stellte.

»Das war ganz bestimmt nicht die Antwort, die ich mir von dir erhofft habe, Raoul«, knurrte Denise verärgert. Sie wusste ganz genau, dass der Bruder ihr mit diesen flapsigen Worten einfach nur die Angst nehmen wollte. Dennoch hatte sie eine etwas andere Reaktion erwartet.

»Was wolltest du dann hören, Schwesterchen? Ich bin kein Hellseher und kann dir auch nicht versprechen, dass unser kleines Paradies auf ewig erhalten bleibt. Natürlich hoffe ich ebenfalls, dass uns in Zukunft nichts Schlimmeres trifft als ein Schnupfen oder eine Magenverstimmung. Der einzige Wermutstropfen ist im Augenblick Catherine. Ich werde froh sein, wenn Kind Nummer vier vor mir auf dem Tisch liegt und ich es wickeln darf. Ich finde es schade, dass sie jetzt nicht bei uns sein kann, aber es ging ihr heute Morgen gar nicht gut.« Das Lachen in seinem Gesicht hatte plötzlich seine Fröhlichkeit etwas verloren.

»Wenn die Gäste alle versorgt sind, werde ich rasch rüberlaufen und nach ihr sehen. Es tut mir von Herzen Leid, dass sie nicht dabei sein kann. Vielleicht freut sie sich ja, wenn ich ihr etwas von dem Salat bringe und ein Stück Torte.« Sofort hatte Denise ihren eigenen Kummer vergessen. Sie liebte die Schwägerin von Herzen, und auch ihr bereitete es Sorge, dass diese Schwangerschaft so voller Probleme war. Eine Zeit lang hatte der Arzt sogar gemeint, dass diese Schwangerschaft lebensgefährlich werden könnte. Zum Glück hatten sich diese Befürchtungen bis jetzt jedoch nicht bewahrheitet.

Raoul strich seiner Schwester liebevoll über das schwarze Haar, das sich an ihren Schläfen leicht kringelte. »Da wirst du ihr ganz sicher eine große Freude machen. Aber jetzt kümmere dich um die Gäste.« Er grinste sie verschwörerisch an. »Du machst das schon, Schneewittchen. Ich vertraue dir.« Er schob sie liebevoll vor sich her, flüsterte ihr noch etwas ins Ohr und blieb dann am Buffettisch stehen, während sie ein wenig zögerlich auf die ersten Besucher zuging.

Eine halbe Stunde später war auch der letzte Gast bereits an seinem Platz. Denise hatte mit Bravour die Zeremonie geschafft. Auf dem Tisch, der extra für Geschenke aufgestellt worden war, türmten sich die bunten Schachteln und Blumen. Zwei junge Frauen, die der Gasthof, der auch einen Großteil der Speisen lieferte, gestellt hatte, kümmerten sich darum, dass alle sich wohlfühlten.

Eva und Pierre, die ihren Platz nicht an Denises Tisch hatten, sondern gleich daneben, warteten aufgeregt auf ihren Einsatz. Endlich waren alle Gratulationen beendet, und jeder hielt ein Sektglas in der Hand. Pierre erhob sich und zeigte damit an, dass er eine kurze Rede halten wollte. Eva schaute liebevoll zu ihm auf und ergriff seine Hand.

Denise liefen Tränen über das Gesicht, während ihr Vater im Zeitraffer die letzten achtzehn Jahre Revue passieren ließ. Aus jedem seiner Worte konnte man die Liebe und den Stolz hören, die er für seine Tochter empfand. »Danke, geliebtes Töchterchen, dass du bei uns bist. Und, bitte, versteh unser Geschenk nicht falsch. Am liebsten würden wir dich für immer bei uns behalten, doch so ganz wird sich das auf Dauer nicht machen lassen. Du hast deinen eigenen Weg vor dir, den du gehen musst. Und damit du den nicht nur zu Fuß machen musst, schenken deine Mutter, dein Bruder und ich dir deinen Führerschein. Machen musst du ihn natürlich selbst«, fügte er lachend hinzu, weil er von der Traurigkeit ablenken wollte, die plötzlich in der Luft lag.

Denise konnte erst mal nicht antworten. Sprachlos starrte sie ihren Vater an. Plötzlich sprang sie auf und fiel ihm um den Hals. Danach kam die Mutter dran und am Schluss der Bruder, der sie liebevoll in den Armen hielt. »Versprich mir, dass du immer schön langsam fährst, Schwesterchen.« In seiner Stimme lag Besorgnis.

»Das kann ich dir versprechen, Brüderchen. Schließlich will ich noch sehr, sehr lange mit meiner Familie zusammen sein.« Sie wischte ihr von Tränen nasses Gesicht an seinem Ärmel ab. Dann schaute sie ihn an und lächelte. »Danke, Brüderchen.«

»Gerne, Schneewittchen«, flüsterte er und streichelte über ihre Wange. »Jetzt lass uns aber diese Rührseligkeiten beenden und zu Taten schreiten, was heißt, lass uns endlich anfangen zu essen.« Er lachte und brachte Denise zu ihrem Stuhl zurück.

Mehrmals während des Essens verschwand Raoul im Haus, um Catherine anzurufen. Jedes Mal nickte er erleichtert seiner Familie zu, um zu signalisieren, dass sich am Zustand der Schwangeren nichts verändert hatte. Am späten Nachmittag brachte Denise, wie sie versprochen hatte, der Schwägerin einige Leckereien in der Hoffnung, ihr damit eine Freude zu machen.

Catherine freute sich wirklich, weniger über die Torte als über Denises Besuch. Sie unterhielten sich eine Weile, und Catherine beteuerte, dass sie sich sehr auf die Rückkehr ihrer drei Kinder freute, die mit den Großeltern an die Nordsee gefahren waren.

Zum Abschied umarmte Denise die Schwägerin und versprach, sie sehr bald wieder zu besuchen. An der Tür warf sie ihr noch eine Kusshand zu, dann verließ sie eilig das Haus. Es war nicht weit zu ihrem Elternhaus. Die Gäste begrüßten sie mit Hallo, und inzwischen wurde eifrig gesungen. Spät in der Nacht ging ein wunderschöner Tag zu Ende, den Denise niemals mehr vergessen würde.

*

Endlich Freitag!

Fröhlich verabschiedete sich Denise von ihren Freundinnen. Es war der letzte Schultag der Woche, der bereits nach dem gemeinsamen Mittagessen beendet wurde. Stefanie, ihre beste Freundin, verabschiedete sich wie immer mit Küsschen von ihr. Allen anderen winkte sie fröhlich zu und machte sich dann auf den Weg zu ihrer Pension, wo sie von Montag bis Freitag wohnte. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch den Zug um fünfzehn Uhr erwischen.

Während der Heimfahrt gingen Denise verschiedene Gedanken durch den Kopf. Sie freute sich auf die Eltern und die Katzendame Blümchen, die sie mit der Mutter zusammen vor einigen Jahren aus dem Tierheim geholt hatte. Blümchen und sie waren in den Jahren zu einem untrennbaren Gespann geworden. Jeden Sonntagabend, wenn sie ihre Tasche für die Schule packte, saß Blümchen auf dem Stapel Wäsche, den sie eigentlich in die Tasche packen wollte. Damit gab die Katze ihr ganz deutlich zu verstehen, dass sie es gar nicht mochte, wenn sie nicht zu Hause war. Natürlich freute sich Denise über die Zuneigung ihres Tierchens, gleichzeitig jedoch packte sie das schlechte Gewissen, weil sie Blümchen ganze fünf Tage allein lassen musste.

Gleichmäßig rollten die Räder über die Schienen, und Denise merkte, wie sie müde wurde. Einschlafen durfte sie jedoch nicht, denn sonst bestand die Gefahr, dass sie ihre Haltestelle verschlief. Gerade waren ihrer Augen zugefallen, da holte eine fremde Männerstimme sie in die Realität zurück. »Ist der Platz noch frei?«

Erschrocken schaute Denise auf. »Ich … Ja, natürlich.« Sie griff nach ihrer Tasche, die auf dem Nebensitz stand, und stellte sie auf den Boden. Dann erst betrachtete sie unauffällig den fremden Mann, der jetzt mit finsterem Gesicht neben ihr Platz nahm. Offensichtlich ging es ihm nicht gut. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Wie meinen Sie das? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so hilfsbedürftig aussehe, dass Sie mir diese Frage stellen müssen.« Sein Gesicht wurde eine Spur freundlicher.

»Entschuldigen Sie bitte.« Es war Denise sichtlich peinlich, dass sie anscheinend die falschen Worte gewählt hatte. Eigentlich hatte sie ihn nur ein wenig aufmuntern wollen.

»Wofür?« Offensichtlich gefiel dem Fremden dieses Katz-und-Maus-Spiel. Die Verlegenheit in Denises Gesicht war unübersehbar. Er grinste.

»Ach, eigentlich für gar nichts. Ich hätte nichts sagen sollen.« Denise merkte, wie sie sich mit jedem weiteren Wort immer tiefer ins Fettnäpfchen stellte. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte sich einen anderen Platz gesucht. Aber im ganzen Abteil war inzwischen nicht ein einziger mehr frei. Deshalb beschloss sie, gar nichts mehr zu sagen. Sie nahm ihre Zeitung und tat, als würde sie interessiert einen Artikel lesen.

»Ich fahre bis Baden-Baden. Sie auch? Übrigens, ich bin Marcel Soltau. Es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe. Es hat mir plötzlich Spaß gemacht. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse.« Versöhnlich und ein wenig zerknirscht streckte er ihr die Hand hin.

Einen Moment lang überlegte Denise, ob Sie sie ergreifen sollte. Immerhin hatte dieser Marcel sie ganz schön in eine Zwickmühle gebracht. Doch dann siegte ihr gutes Herz. Sie lächelte ihn an. »Ist schon in Ordnung. Ich wollte Ihnen was Gutes tun und Sie haben mich dafür ausgelacht. Ist doch gerechte Arbeitsteilung, oder?«

»Also doch sauer«, stellte Marcel gleichmütiger fest, als es ihm zumute war. Jetzt tat es ihm ehrlich leid, dass er sie nicht ernst genommen hatte. Doch wo gab es heute noch Menschen, die anderen mit ehrlichem Herzen helfen wollten? Ihm war jedenfalls noch keiner begegnet. Deshalb hatte er ihr das Mitgefühl anfangs auch nicht geglaubt. »Es … tut mir Leid, ich bekenne mich des Vergehens für schuldig.« Er sah richtig zerknirscht aus.

Denise konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verbeißen. Sie errötete und senkte den Kopf, denn inzwischen wurden sie bereits von den anderen Fahrgästen neugierig beobachtet. »Ich nehme es Ihnen wirklich nicht übel«, versicherte sie, ohne aufzusehen. »Wir teilen uns die Schuld, dann sind wir auf einer Ebene.«

»Das klingt wunderbar.« Marcel nahm ihre Hand und betrachtete sie lange. »Künstlerhände«, murmelte er vor sich hin. »Dass wir uns heute hier begegnet sind, ist schon ein seltsamer Zufall. Heute Nachmittag ging mein Auto kaputt, ich musste es in die Werkstatt bringen. Normalerweise fahre ich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zuerst habe ich mich sehr darüber geärgert, dass mir bei meiner letzten Fahrt für diese Woche so etwas passieren musste. Jetzt bin ich froh drüber, denn sonst hätten wir uns vermutlich nicht kennengelernt. Das wäre ein Verlust für mich gewesen.«

Seine Worte berührten sie auf eine seltsame Weise. Zum ersten Mal schaute sich Denise ihren Gesprächspartner genauer an. Auch wenn sie ihn nur von der Seite sehen konnte, stellte sie dennoch fest, dass er ausgesprochen attraktiv war. Er hatte eine gerade, ein wenig schmale Nase, eine ausgeprägte Stirn und ein ebenmäßiges Kinn, das von Stärke und Durchsetzungsvermögen zeugte.

»Und – wie fällt Ihr Urteil aus? Bin ich durchgefallen?« Wieder grinste er und schaute ihr nun ebenfalls ins Gesicht. »Schönheit liegt im Auge des Betrachters, doch in Ihren Augen kann ich nichts erkennen. Ich bin auf Ihre Worte angewiesen. Also, bin ich es wert, dass Sie sich mit mir auf einen Kaffee verabreden? Vielleicht morgen, Samstag? Ich würde mich sehr freuen.«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, begann Denise zu stottern. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte sich noch nie mit einem jungen Mann verabredet, den sie nicht von der Schule oder Nachbarschaft her kannte, und eigentlich wollte sie das auch gar nicht. Doch Marcel hatte so einen offensichtlichen Charme, dass sie gar nicht hätte ablehnen können. »Also gut, ich werde meine Eltern fragen, ob ich morgen für eine Weile gehen darf. Lang kann ich ohnehin nicht bleiben. Ich muss mich um meine Schwägerin kümmern, der es zurzeit nicht so gut geht.«

»Ich habe nicht vor, Ihnen den ganzen Samstag zu stehlen. Es handelt sich lediglich um eine Tasse Kaffee«, versicherte er eifrig. Plötzlich war es ihm sehr wichtig, dass sie eine gute Meinung von ihm hatte. »Ich hol Sie ab, wenn Sie erlauben.«

Nun musste Denise doch lachen. »Wir können uns gern duzen«, sagte sie, noch immer lachend. »Es sieht sicher komisch aus, wenn sich zwei junge Leute ganz förmlich siezen.«

Marcel fühlte sich überrumpelt, doch es war ihm nicht unangenehm. »Ich bin einverstanden«, stimmte er zu. »Den Bruderschaftskuss holen wir dann beim Kaffee nach.« Als er ihr Erschrecken bemerkte, schmunzelte er in sich hinein. »Das gehört nun mal dazu. Ich habe diese Tradition nicht erfunden.« Sein Grinsen wurde breiter. »Ich bin Marcel, ohne Soltau.« Er reichte ihr erneut die Hand. »Und wer bist du?«

»Mein Name ist Denise Montand, und ich bin die Tochter eines Arztes und einer Grundschullehrerin.« Sie erwähnte ihre Eltern nicht ohne Stolz. »Ich hatte nach dem Abi, das ich ein Jahr früher abschließen konnte als meine Mitschüler, den Wunsch, Tänzerin zu werden. Daran arbeite ich jetzt von Montag bis Freitag. Am Wochenende bin ich bei meinen Eltern. Meistens arbeite ich in Mutters Gemüsegarten. Ich bin sehr gern in der Natur.« Verlegen schwieg sie. Wieder einmal war ihr Temperament mit ihr durchgegangen. Dann merkte sie nicht, dass sie womöglich zu viel von sich erzählte, was ihr Gegenüber vielleicht gar nicht so genau wissen wollte oder sollte.

»Freut mich, Denise. Auf eine gute Freundschaft.« Endlich hielt der Zug in Baden-Baden. Marcel stieg aus und reichte Denise die Hand unter dem Vorwand, ihr helfen zu wollen. Auch als sie bereits den Parkplatz erreicht hatten, wo ihr Vater auf sie wartete, hielt er ihre Hand noch immer. Verlegen machte sich Denise los, als sie das Familienauto entdeckte. »Dann bis morgen, Marcel. Ich freue mich«, fügte sie hastig hinzu, weil sie gemerkt hatte, dass ihr Verhalten ihn etwas enttäuschte.

»Ich freue mich auch.« Er schlug ihr eine Uhrzeit vor, und Denise sagte ihm dafür ihre Anschrift. Dann verabschiedeten sie sich, und Denise lief eilig zu ihrem Vater, der bereits ausgestiegen war.

»Hast du jemanden kennengelernt?«, fragte er, und seine Neugierde war nicht zu übersehen. »Ist es jemand von der Schule? Ich habe ihn noch nie in deiner Nähe gesehen.«

Denise ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schnallte sich an. Das gab ihr die Gelegenheit, über die Antwort nachzudenken. Sie beschloss, einfach bei der Wahrheit zu bleiben. »Er saß im Zug neben mir. Wir kamen ins Gespräch und haben uns gut verstanden. Er hat mich für morgen Nachmittag zum Kaffee eingeladen. Wir wollen in das neue Café in der Einkaufspassage gehen. Du hast hoffentlich nichts dagegen?«

Pierre Montand starrte angestrengt auf die Straße. Mit der Möglichkeit, dass seine Tochter jetzt schon einen Mann kennenlernen würde, der ihr so wichtig war, dass sie ihm sogar ihren Samstagnachmittag schenkte, der eigentlich der Familie vorbehalten war, hatte er nicht gerechnet. Insgeheim musste er sich eingestehen, dass es ihm gar nicht gefiel, Denise gehen zu lassen.

»Wenn du etwas dagegen hast, Paps, werde ich natürlich absagen. Vielleicht hast du recht, ich kenne ihn ja gar nicht.« Sie tat ziemlich gleichgültig, obwohl sie plötzlich das Gefühl hatte, auf etwas Wichtiges zu verzichten. Marcels Charme hatte sie vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen.

»Frag deine Mutter. Ich denke, bei diesem Thema bin ich nicht gerade kompetent. Eher voreingenommen«, fügte er mit einem sarkastischen Unterton hinzu. »Welcher Vater mag es schon, wenn die einzige Tochter plötzlich die Gesellschaft eines anderen Mannes seiner eigenen Gesellschaft bevorzugt. Aber ich muss lernen, zu akzeptieren. Das ist der Lauf der Zeit.«

Denise schluckte. Sie wusste selbst nicht, warum ihr plötzlich ein Schluchzen im Hals steckte. Die Worte ihres Vaters hatten irgendwie nach Abschied geklungen. Es war das gleiche Gefühl wie an ihrem Geburtstag.

»Ich werde nicht gehen. Marcel ist zwar nett, aber so nett nun auch wieder nicht, dass ich dafür die wenige Zeit, die ich für meine Familie habe, opfere.« Diese Entscheidung war ihr sehr schwergefallen. Immerhin hätte dies die erste Verabredung ihres Lebens sein sollen. Sogar Stefanie, ihre beste Freundin, hatte längst einen festen Freund, mit dem sie einen großen Teil ihrer Freizeit verbrachte.

Pierre spürte den inneren Kampf seiner Tochter. Das hatte er nicht gewollt. Denise war jetzt achtzehn und somit volljährig. Sie konnte selbst entscheiden, was ihr wichtig war. »Es tut mir leid, Schatz, dass ich dir offensichtlich die Freude verdorben habe. Das wollte ich nicht. Natürlich sollst du dich mit diesem Marcel treffen. Ich möchte nur wissen, wer er ist und wo er wohnt. Immerhin ist er einige Jahre älter als du. Da haben die Männer schon ganz andere Gedanken im Kopf als nur Kaffee trinken.«

Denise lachte verlegen. »Was du immer denkst, Paps. Ich habe Marcel vor zwei Stunden das erste Mal gesehen. Wir wollten uns lediglich treffen, um uns ein wenig zu unterhalten. Da ist doch nichts dabei.«

»Natürlich nicht.« Pierre atmete erleichtert auf, als er in die Straße einbog, wo er mit seiner Familie lebte. Es war ein wunderschönes Haus mit einem großen Vorgarten und einem Anbau, in dem er seine Praxis hatte. Dr. Montand war bei seinen Patienten beliebt, und manchmal kamen sie nur vorbei, um sich eine Weile mit ihm zu unterhalten, wenn das Wartezimmer gerade mal leer war. Dann setzten sie sich auf die Bank neben der Garage und redeten über Gott und die Welt.

»Da ist ja mein kleines Mädchen.« Eva kam mit strahlendem Gesicht angelaufen und nahm Denise noch am Auto in die Arme. »Schön, dass du wieder zu Hause bist. Es geht dir doch gut, oder?« Forschend schaute die Mutter in Denises Gesicht. »Heute Abend gibt es für jeden einen großen Teller Bowl. Ich habe sie extra deinetwegen mit Vollkornreis zubereitet, weil du den so liebst. Das ist dir doch recht?«

Denise lachte herzlich. Sie liebte die stürmische Begrüßung ihrer Mutter. Keiner in der Familie war so authentisch wie sie. Bei ihr wusste man immer, was Sache war und musste nicht erst lange fragen. »Wunderbar. Hast du den Lachs wieder mit deiner berühmten Sauce zubereitet? Ich liebe deine Saucen«, fügte sie mit genießerischem Augenaufschlag hinzu.

»Alles so, wie du es dir gewünscht hast. Dann lass uns endlich ins Haus gehen.« Sie nahm Denises Arm, Pierre trug ihre Reisetasche, und Sam, die wunderschöne Hündin, die eigentlich Samira hieß, erwartete sie bereits an der Haustüre. Das Tier war sehr gut erzogen und wusste, dass es nicht einfach auf die Straße springen durfte. Dafür hatte Raoul gesorgt, dem Sam eigentlich gehörte. Die Australian Shepherd Hündin lebte erst seit Kurzem bei Eva und Pierre, seit es Catherine meistens nicht gut ging. Sie schaffte kaum ihren Haushalt, und auch die drei Kinder waren im Moment eine große Belastung für sie. Die früher langen Spaziergänge mit dem Hund konnte sie zurzeit nicht mehr machen. So sehnte die ganze Familie den Tag herbei, an dem endlich Catherines und ­Raouls viertes Kind geboren wurde und alles wieder seinen alten Gang ging.

Überschwänglich begrüßte Denise den schönen Hund, der voller Freude an ihr hochsprang. Kaum hatte sie die Diele betreten, kam auch schon Blümchen anmarschiert mit stolz erhobenem Kopf und aufgestelltem Schwanz, der sich an der Spitze nach unten klingelte. Das sollte heißen, dass die Katze ihr die fünf Tage Abwesenheit großzügig verziehen hatte.

Denise stand in der Diele und schaute von einem zum anderen, ihre Augen strahlten, und man konnte ihr ansehen, wie glücklich sie in diesem Moment war. »Ich hab euch alle so lieb. So lieb«, wiederholte sie mit zitternder Stimme. Hastig schluckte sie das Schluchzen hinunter, das ihr plötzlich im Hals steckte. »Und jetzt habe ich Hunger.«

*

Es war ein Wetter wie im Bilderbuch. Schon morgens lachte die Sonne vom Himmel, und Sam konnte es gar nicht erwarten, dass Denise die Leine in die Hand nahm und ihr damit signalisierte, dass jetzt ein ausgedehnter Spaziergang fällig war.

»Was hältst du davon, Sam, wenn wir zum Bach gehen? Vielleicht haben wir Glück und können junge Enten beobachten.« Denise löste die Leine, und Sam sprang fröhlich davon. Ganz in Gedanken versunken folgte ihr Denise. Sie liebte diese Spaziergänge, wenn sie mit niemandem reden musste und ganz sie selbst sein konnte.

Immer wieder blieb das junge Mädchen stehen und betrachtete mit liebevollem Herzen die Umgebung. Denise liebte ihre Heimat. Zwar hatte sie noch nicht viel von der Welt gesehen, dennoch war sie überzeugt davon, dass es nirgends so schön war wie hier. Nur wenige Schritte vom Haus entfernt begann bereits die unverfälschte Natur. Saftig grüne Wiesen dehnten sich aus, nur durchzogen von einem breiten geschotterten Weg, auf dem höchstens hin und wieder ein Traktor fuhr. Auf der linken Seite konnte sie in der Ferne die dunkle Wand des Nadelwaldes erkennen, nach rechts jedoch gab es nur Wiesen.

Endlich hatte sie den Bach erreicht, der sich bereits seit ewigen Zeiten durch ein kleines Tal schlängelte, das er vermutlich irgendwann einmal selbst gegraben hatte. Rechts und links des Wasserlaufs erhob sich nur wenige Meter hoch eine sanfte Steigung, die über und über bewachsen war mit wunderschönen Blumen. Dazwischen gediehen verschiedene Büsche in üppiger Pracht. Sogar einige blühende Jasminsträucher waren dabei, obwohl sie in dieser Gegend eigentlich nur den Vorgärten vorbehalten waren.

Denise ließ sich auf einem der wenigen Felsen nieder, die hier verstreut lagen. Niemand wusste, wie sie an diesen Ort gekommen waren, doch sie vervollständigten das Bild eines kleinen Paradieses. »Sam, komm hierher. Da kannst du ins Wasser.« Sie deutete auf die Stelle, wo das Bachufer nicht hoch war. Sie beobachtete den Hund, der begeistert durch das sanft plätschernde Wasser watete. Sie hob ihr Gesicht dem Wind entgegen, der ihre Haut streichelte und nach Frühling und nach Blüten duftete. In diesem Augenblick wünschte sie sich, die Zeit möge stehen bleiben. Sie fühlte sich am Ziel ihrer Träume, denn nichts konnte sie glücklicher machen als dieser Augenblick.

Aus dem Gefühl heraus erhob sie sich und begann zu tanzen. Sie bewegte sich harmonisch zum Plätschern des Wassers, zum Gesang der Vögel und zu ihren Träumen, die ihr Herz erfüllten. Ihre langen schwarzen Haare, die sie im Nacken mit einem blauen Band zusammengebunden hatte, bewegten sich mit dem Wind. Ein Fremder, der sie so sah, hätte glauben können, eine Wassernymphe sei dem schimmernden Bach entstiegen.

Selbstvergessen tanzte Denise ihre Träume, und ein entrücktes Lächeln umspielte ihren schönen Mund. Sie merkte nicht, wie die Zeit verging, und erst, als jemand ihren Namen rief, zuckte sie zusammen und hielt in der Bewegung inne. Erschrocken schaute sie in die Richtung, aus der die Männerstimme gekommen war. »Marcel! Ist es schon so spät?«

Der Mann schüttelte den Kopf und stieg vorsichtig die nur zu erahnende Treppe zu ihr hinunter. »Ich war gerade in der Gegend, und da dachte ich, dass ich dich abholen könnte. Ich habe mit deinem Vater gesprochen, er scheint sehr nett zu sein. Er sagte mir, wo ich dich vermutlich finden könne, und er hatte recht.« Ein bewundernder Blick traf das Mädchen.

Denise fühlte sich etwas unbehaglich, sie mochte es nicht, wenn sie in ihren Träumen unterbrochen und aus ihrer Versunkenheit gerissen wurde. Es fühlte sich an wie ein körperlicher Schmerz, und sie brauchte eine Weile, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden.

»Du schaust mich an, als würdest du überlegen, ob du mich beißen oder verhauen sollst.« Da war er wieder, Marcels trockener Humor. Nicht jeder verstand ihn, und nicht jeder mochte ihn. In Denises Gegenwart jedoch dachte er nicht lange darüber nach, denn er war sich sicher, dass sie ihn verstand.

Er sollte sich nicht geirrt haben. Denise lachte herzlich. »Wenn mein Vater dich geschickt hat, dann bedeutet das, dass er nichts gegen unsere Bekanntschaft hat, solange du ihn nicht vom Gegenteil überzeugst. Und das wirst du doch nicht tun, oder?« Der Schalk blitzte in ihren Augen. Es machte ihr plötzlich richtig Freude, dieses Wortgeplänkel mit ihm fortzuführen.

»Ich werde auf dich aufpassen, wie dein Vater es von mir erwartet. Du hast sehr schön getanzt. Ich hätte dir noch ewig zusehen können.« Marcel blickte sie bewundernd an. Denise hatte etwas ganz besonderes an sich. Sie hatte es schon gestern geschafft, ihn von seinen finsteren Gedanken abzulenken, er hatte sich so sehr über seine Autopanne geärgert. Heute schaffte sie es, dass er sich allein beim Blick in ihre Augen leicht wie eine Feder fühlte. »Willst du noch eine Weile bleiben, oder fahren wir in die Stadt?«

Denise wäre gerne noch geblieben, doch die Unbeschwertheit, die sie eben noch tanzen ließ, war mit einem Mal verschwunden. »Gehen wir zurück. Ich muss nur Sam zu meiner Mutter bringen und mich umziehen.«

Sie bekamen gerade noch den letzten Tisch mit Blick auf die Straße. Marcel bestellte für sich einen Kirschkuchen und Denise bekam ein prächtiges Stück Schwarzwälder Kirschtorte.

»Darf ich eigentlich gar nicht essen, weil ich sonst womöglich zunehme. Mein Tanzpartner würde mir das übel nehmen, wenn er einige Kilos mehr stemmen müsste.« Sie lachte und ließ sich die Torte auf der Zunge zergehen.

»Du willst also wirklich Tänzerin werden?«

»Warum zweifelst du daran? Ich liebe es zu tanzen und alles um mich herum zu vergessen. Im Tanz kann ich meine Gefühle besser ausdrücken als mit Worten.« Denise schaute verträumt aus dem großen Fenster zu den übergroßen Blumenkübeln. Bald würde es auch hier blühen und grünen.

Marcel griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. Es war einfach nur ein Impuls, und doch spürte er, dass diese Berührung etwas mit ihm machte. Sein aufgeregter Herzschlag beruhigte sich, und auch die vielen Gedanken, die sich in seinem Kopf meist in verschiedene Richtungen gleichzeitig bewegten, schwiegen plötzlich. »Du tust mir gut, Denise, weißt du das?« Er erschrak, als er die Worte ausgesprochen hatte. Noch nie zuvor hatte er so etwas zu jemandem gesagt.

Denise blickte ihn nachdenklich an. Auch sie konnte spüren, dass sich gerade etwas zwischen ihnen veränderte. War sie im Begriff, sich in diesen Mann zu verlieben? Nein, das wollte sie auf gar keinen Fall. Sie liebte ihre Jugend, ihre Unbeschwertheit und die Freiheit, selbst zu entscheiden, was sie tun oder lassen wollte. Einige Male hatte sie schon mitbekommen, dass ihre Freundinnen nicht immer glücklich waren in ihren Beziehungen. Das wollte sie sich ersparen, wenigstens noch für eine Weile. Hastig zog sie ihre Hand zurück.

Erschrocken starrte Marcel sie an. »Habe ich etwas getan, das dich verärgert hat?« Sofort war das Durcheinander in seinem Kopf wieder da.

Denise schüttelte den Kopf. Verlegen strich sie sich eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesicht, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Hast du nicht. Es ist nur … Du bist mein erstes Date, und ich habe etwas Schwierigkeiten, mich richtig zu verhalten.« Sie spürte, wie sie errötete.

Die Erleichterung stand Marcel ins Gesicht geschrieben. »Wenn man sich kennenlernt, gibt es kein Richtig und kein Falsch. Es muss einfach passen. Auch wenn es dir etwas verfrüht erscheint, habe ich bei uns beiden das Gefühl, dass es passen könnte. Du bist noch sehr jung …«

»Letzten Samstag bin ich achtzehn geworden«, antwortete Denise sofort. »In einem Jahr beende ich meine Ausbildung. Ich weiß noch nicht, wie es dann weitergehen wird mit mir. Vielleicht habe ich das Glück und bekomme eine Anstellung an einem Theater. Wenn nicht, werde ich mich um Aufträge bemühen. Irgendetwas wird schon klappen.«

»Davon bin ich überzeugt. Doch eigentlich wollte ich etwas ganz anderes von dir hören. Denkst du, du könntest mich irgendwann ein bisschen mögen?«

»Du bist mir sympathisch, sonst würden wir beide jetzt nicht hier sitzen«, antwortete Denise zögernd. »Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Ich will jetzt noch keine Beziehung. Aber eine Freundschaft könnte ich mir durchaus vorstellen.« Sie fühlte sich ein wenig überrollt, denn so hatte sie sich den Nachmittag nicht vorgestellt. »Ich möchte meine Jugend genießen, ohne Bindung und ohne frühe Verpflichtungen. Das heißt nicht, dass wir nicht irgendwann zusammenkommen könnten, wenn es sich ergeben sollte. Ich hoffe, diese Antwort genügt dir.«

Marcel nickte nachdenklich. »Das ist fast mehr, als ich erhofft hatte. Ich hatte befürchtet, du würdest mich mit Schimpf und Schande davonjagen. Doch ich musste es fragen, denn ich habe gern geklärte Verhältnisse.«

»Die haben wir ja jetzt hergestellt. Belassen wir es bitte dabei und wechseln das Thema.« Sie schaute demonstrativ auf ihre zierliche Armbanduhr. »Ich sollte nach Hause. Ich habe meiner Schwägerin Catherine versprochen, dass ich ihr heute eine Weile Gesellschaft leiste, solange mein Bruder unterwegs ist. Außerdem muss ich bügeln, das kann Catherine zurzeit nicht. Würdest du mich bitte heimbringen?«

»Selbstverständlich, wenn du das möchtest.« Marcel beglich die Rechnung, dann nahm er Denises Arm und stellte erleichtert fest, dass sie es zuließ. »Werden wir uns wieder sehen?«

Denise schwieg. Erst als sie beim Auto angekommen waren, schaute sie ihn an und nickte. »Gern, wenn du das möchtest. Du weißt jetzt, wo ich wohne.« Die restliche Fahrt schwieg sie, und auch Marcel wusste nichts mehr zu sagen. Denise war zwar nicht sein erstes Date gewesen, jedoch das erste, das so seltsam abgelaufen war. Sie war tatsächlich die erste Frau, die noch keine Beziehung gehabt hatte.