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Lass uns reisen!

Wir werden gemeinsam Neues entdecken, Altbekanntes aus einem anderen Blickwinkel betrachten und Wege zu mehr Gelassenheit und Stabilität für dich und deinen Hund finden. Ich stelle dir verschiedene Brillen zur Verfügung, durch die du Situationen anschauen und bewerten kannst. Manchmal reiche ich dir auch eine Lupe, damit du jedes Detail betrachten kannst, wenn du es genauer wissen möchtest.

Die erste Station unserer Reise findet am Meer statt. Bei allen weiteren Reisezielen lohnt es sich, immer mal wieder einen Blick zurück auf diese Geschichte zu werfen.

© Anna Auerbach/Kosmos

Hier bin ich mit Tobi, mein derzeitiges Lerngeschenk auf vier Pfoten. Vertrauen und Respekt im Miteinander sind immer mein persönliches Ziel. Der gemeinsame Weg dahin ist oft steinig, doch stets lohnenswert.

SZENE 1

Das Meer glitzert. Lilly liegt auf einer Luftmatratze auf dem Wasser, die Hände sind in das kühlende Nass getaucht und spüren den Wellengang. Sie genießt ihren Urlaub. Ab und zu blinzelt sie zum Strand und schaut zu ihren Hunden, Bella und Leo. Bella ist eine ehemalige Straßenhündin aus dem Tierschutz. Ihr weißes Fell leuchtet hell in der Sonne, und ihre schwarze Schwanzspitze sieht wie ein Pinsel aus, den man in schwarze Farbe getunkt hat. Sie tobt am Strand und freut sich wie immer ihres Lebens. Leo ist Lillys alter Golden Retriever, der eher gemütlich unterwegs ist und jetzt gerade in der Sonne döst, alle Viere von sich gestreckt. Plötzlich kommen zwei fremde Hunde an den Strand gestürmt. Beide Hunde haben ein präsentes Auftreten. Mit aufgestellter Rute staksen sie auf Bella und Leo zu. Bella reagiert als Erstes und geht am Boden schnuppernd in einem Bogen auf die Hunde zu. Leo bleibt liegen. Bella nimmt Kontakt über das Riechen am Hinterteil des einen Hundes auf. Schnell entspannt sich die Situation. Die angespannten Muskeln der fremden Hunde lockern sich. Es wird ein kleines Laufspiel unternommen. Leo wird ebenfalls munter und buddelt ein Loch, die anderen Hunde buddeln mit. Die Besitzerin der beiden Vierbeiner kommt jetzt auch dazu. Sie nickt Lilly kurz zu und geht zusammen mit ihren Hunden am Strand weiter.

Lilly schließt die Augen und genießt den leichten Wellengang.

SZENE 2

Bella und Leo beschäftigen sich noch eine Weile mit dem gebuddelten Loch und legen sich nach getaner Arbeit hin. Auf einmal wird es laut. Kinderstimmen brüllen, Erwachsene schimpfen und ein Bollerwagen poltert. Ein ganzer Pulk von Menschen kommt über die Düne. Bella schaut interessiert und richtet neugierig ihre Ohren auf. Eine Schar von Kindern läuft die Düne runter – direkt auf die Hunde zu. Bella wartet noch eine Weile ab, doch als diese sie freudig ansprechen, läuft sie ihnen entgegen. Leo bleibt liegen und wird von einigen Kindern gestreichelt. Ein jüngeres Kind stolpert und fällt direkt auf Leo. Leo beschnuppert es und schleckt ihm über das Gesicht. Das Kind lacht und steht wieder auf. Der Pulk zieht vorbei – es kehrt wieder Ruhe ein.

SZENE 3

Lilly liegt weiterhin auf ihrer Luftmatratze und döst.

Nach einer längeren Zeit der Ruhe kommt eine Frau mit ihrem angeleinten Hund an den Strandabschnitt. Sie zögert, als sie die beiden unangeleinten Hunde sieht und nimmt die Leine merklich kürzer. Sie geht einen größeren Bogen um Bella und Leo, die kurz die Neuankömmlinge anschauen, ihren Blick dann abwenden und liegen bleiben. Sie merken: Hier ist kein Kontakt erwünscht.

Lilly paddelt mit den Armen auf ihrer Luftmatratze langsam Richtung Strand. Ihre Hunde begrüßen sie dort freudig und werden ausgiebig gestreichelt. Sie packt ihr Handtuch und die Luftmatratze zusammen, Leinen hatte sie nicht dabei. Lilly geht zurück zu ihrem kleinen Häuschen am Meer, Bella und Leo folgen ihr.

© Horst Streitferdt

Neue Situationen können sehr aufregend sein, wie würde sich dein Hund verhalten?

WAS DENKST DU ÜBER DIESE SZENEN?

Du kannst sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Zum Beispiel mit der problemfokussierten Sicht: Was hätte alles passieren können! Lilly hat nicht verantwortungsvoll gehandelt. Was, wenn es zu einem Beißvorfall unter den Hunden gekommen wäre oder Leo das Kind gebissen hätte, als es plötzlich auf ihn gefallen ist? Du kannst auch nach innen hören und deine Gefühle und Emotionen wahrnehmen. Vielleicht bist du ein wenig traurig, denn so entspannt wärst du auch gerne im Umgang mit deinen Hunden. Oder du freust dich, dass Lilly so tolle Hunde hat und selbst zur Entspannung findet. Vielleicht zweifelst du an dir oder an der Geschichte. Was hast du alles verkehrt gemacht, denn deine Hunde sind nicht so entspannt? Gibt es denn überhaupt so gelassene Hunde?

»Zweifel und Unsicherheit begleiten die meisten Hundehalterinnen im Alltag.«

Diese Gefühle nagen an einem. Und sie werden sichtbar: In der Körpersprache zeichnen sich die Gedanken ab und haben damit einen direkten Einfluss auf den Hund. Dazu aber später mehr.

Eventuell hinterlässt die Vorstellung der Geschichte ein ungutes Gefühl bei dir, weil du, wie ich auch, bereits unverträgliche Hunde an der Leine hattest und genau diese Situation: unangeleinter Hund am Strand zusammen mit einer sorglosen Besitzerin, deine größte Befürchtung ist, wenn du im Urlaub bist. Ich verstehe dich gut!

© Horst Streitferdt

Versteht mein Hund mich? Auch kleine Unsicherheiten werden in der Körpersprache und Mimik sichtbar.

BLICK DURCH DIE RESILIENZBRILLE

Betrachten wir die Szenen jedoch einmal durch die Resilienzbrille. Sicher hast du erkannt, dass beide Hunde sich von nichts aus der Ruhe bringen ließen. Die Besitzerin Lilly ist in die Geschehnisse am Strand nicht eingeschritten, weil sie es nicht musste. Es gab keinen Klärungsbedarf. Die Hunde haben alle Situationen selbstständig gut gemeistert. Das spricht für eine emotionale Stabilität und zeigt auf, wie die Resilienz auch im Alltag wirken kann. Du findest bei Bella und Leo einige Resilienzfaktoren, die zu einem angemessenen Umgang geführt haben: eine Sozialkompetenz und Anpassungsfähigkeit, ein selbstwirksames und sicheres Handeln, eine optimistische Sicht auf die unerwarteten neuen Situationen und damit einhergehend eine große Portion Gelassenheit. Ein resilientes Denken und Handeln schützt nicht nur in den Fällen großer Krisen, es findet auch im Kleinen statt und hilft, den ganz normalen Alltag mit seinen Herausforderungen zu bestehen – bei unseren Hunden wie auch bei uns.

In diesem Buch zeige ich dir die Wege auf, die du mit deinem Hund gehen kannst, um genau diese Krisen-Reaktionskraft zu stärken. Das Wunderbare daran ist die Wirkung direkt an der Wurzel des Stresssystems. Ein Resilienztraining ist kein oberflächlicher Anstrich, der aufgetragen wird und wenig Beständigkeit zeigt. Es ist ein Tiefengrund, der stets seine nachhaltige Wirkung hat. Ein resilientes Denken und Handeln ist keine Methode, keine Ideologie und keine Trainingsrichtung. Es ist eine Art Meta-Kompetenz, die andere Fähigkeiten zum Umgang mit Stress und Traumata erst sichtbar werden lässt.

© Anna Auerbach/Kosmos

Was kann ich zulassen, wo sollte ich einschreiten? Ein resilienter Hund zeigt kaum eine schnelle Eskalation unangemessener Verhaltensweisen.

Ich freue mich, dich auf diese Reise mitzunehmen und dir mit deinem Hund mehr Stärke und Kraft für den Alltag zu geben. Denn wie der Stressforscher Hans Selye es gerne formuliert, gehören Stress und Konflikte als Würze des Lebens dazu. Und wäre es nicht schön, wenn du und dein Hund einen besseren Umgang damit bekommen und sogar gestärkt aus den Widrigkeiten des Alltags herausgehen könnt? Dann lass uns loslegen!

LOS GEHT DIE REISE: BITTE EINSTEIGEN!

© Anna Auerbach/Kosmos

Ein wichtiges Gepäckstück: die Resilienzbrille

Wozu ist die Resilienz gut, was kann sie bewirken und was nicht? Welche Stolpersteine können auf dem Weg zur Resilienz liegen und wo gilt es, ein kritisches Auge darauf zu werfen?

Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von der Resilienzbrille. Das ist eine „Wissensbrille“, die du aufsetzen kannst, um Situationen oder ein Verhalten zu bewerten. In der Mensch-Hund-Beziehung gibt es viele verschiedene Brillen, beispielsweise die Kommunikationsbrille für die verständlichen Gespräche, die Beziehungs- und Bindungsbrille in unterschiedlichen Stärken, die lupenreine Verhaltensbrille, die Erziehung- und die Traumabrille mit all ihren Facetten.

© Anna Auerbach/Kosmos

Das Wissen um das Stresssystem deines Hundes verhilft ihm zu mehr Gelassenheit in konfliktreichen Situationen.

Die Resilienzbrille wirft einen Blick auf die Wurzel des Stresssystems. Sie verschafft dir einen guten Überblick, wie dein Hund und du im Stress aufgestellt seid. Stellenweise betrachten wir das Thema auch durch eine Lupe. Hier wird es dann etwas fachlicher und tiefgehender.

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Eine klare Sicht auf das Verhalten des Hundes im Stress hilft dabei, ihn besser zu verstehen und passend zu reagieren.

Was ist Resilienz?

Vielleicht hast du dieses Wort bereits des Öfteren gehört. Gerade in unsicheren Zeiten wird von einer guten Resilienz und ausreichender Stresskompetenz gesprochen, die dabei helfen, Widrigkeiten und Krisen gesund zu überstehen.

Resilienz ist unsere psychische Widerstandsfähigkeit. Es braucht Kompetenzen, die uns durch schwierige Zeiten bringen und uns Sicherheit verschaffen, um sie geistig und körperlich gesund bestehen zu können. Die Resilienz wird auch als das ganz normale Wunder bezeichnet. Denn jeder trägt sie in sich: die Kraft, sich selbst heilen und unterstützen zu können. Manchmal ist diese durch Erlebnisse vergraben und muss erst freigeschaufelt werden. Dieses „Schaufeln“ ist ein gutes Sinnbild für die Arbeit an der Resilienz.

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Obwohl eine unruhige Zeit vor dir steht, kannst du gelassen bleiben, wenn du deine Fähigkeiten kennst.

DER WORTURSPRUNG

Das lateinische Wort „Resilire“ bedeutet „zurückspringen, abprallen“. Der Begriff Resilienz kommt ursprünglich aus der Werkzeugkunde und definiert ein Material, welches nach einer Bearbeitung wieder in die eigentliche Form zurückfindet. Auch Ökosysteme können resilient sein, wenn sie sich nach einem Zusammenbruch wieder aufbauen. Ein Beispiel findest du in Tschernobyl, wo sich nach der atomaren Katastrophe die Natur wieder selbst aufgebaut hat. Dreißig Jahre nach diesem verheerenden Vorfall ist es ein Naturparadies geworden, in dem sich seltene Tierarten den Lebensraum zurückerobert haben.

Selbst in der Zahnmedizin findet dieses Wort Gebrauch, wenn die Mundschleimhaut bei äußeren Einflüssen nachgibt. Eine Gesellschaft wird ebenfalls als resilient bezeichnet, sobald sie nach einer Katastrophe wie einer Überschwemmung oder einer Pandemie wieder in den Alltag zurückfindet, inklusive des Lerneffekts, das nächste Mal besser darauf vorbereitet zu sein.

»Die Resilienz ist mit einem Baum zu vergleichen, der durch die starken Wurzeln einen widerstandsfähigen Stamm und eine grüne Baumkrone besitzt und so auch trockene Zeiten gut übersteht.«

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Eine Arbeit an der Resilienz bedeutet, die Wurzeln zu stärken, die das gesamte System unterstützen.

In diesem Buch geht es vor allem um die individuelle und persönliche Resilienz deines Hundes. Diese Resilienzdefinition hat ihre Ableitung aus der Psychologie und Pädagogik. Als eine Art Immunsystem schützt sie die Psyche deines Vierbeiners vor krankmachenden Einflüssen. Je resilienter dein Vierbeiner ist, desto gelassener kann er auf Stress, Konflikte und Reize reagieren, desto schneller wird er sich nach Krisen wieder entspannen und regenerieren können.

Die Geschichte der Resilienz

Die wissenschaftliche Forschung untersucht schon seit fast 100 Jahren den Begriff der Resilienz, deren Definition und wie sie im Menschen entstehen kann.


Es gibt vier große Wellen der Resilienzforschung, die ihren Anfang während des Zweiten Weltkriegs fand. Damals ging es in erster Linie um die vom Krieg geprägten Kinder. Einigen erging es durch das Erlebte sehr schlecht, andere zeigten sich psychisch und körperlich gesünder. Woher kam dieser Unterschied, fragten sich die Forscherinnen? Es folgten viele Untersuchungen, und so fand der Begriff Resilienz in den 1950er-Jahren den Weg in die Psychologie. Um diese Widerstandsfähigkeit besser zu verstehen, ging es in der ersten Welle zuerst um das „Was“: Was ist Resilienz und was macht sie aus?

Die zweite Welle konzentrierte sich auf die Prozesse der Resilienz, also eher um das „Wie?“. Wie entsteht Resilienz? Welche Risikofaktoren gibt es, die zu einer mangelnden Resilienz führen? Der Blick auf den Menschen führte dabei immer weiter weg von seinen Krankheiten, hin zu der Gesunderhaltung – der sogenannten Salutogenese.

Die dritte Welle beschäftigte sich dann mit der Förderung der Resilienz. Was braucht es, um eine gesunde Resilienz zu entwickeln?

© Anna Auerbach/Kosmos

Resilienz garantiert eine gute Lebensqualität bis ins hohe Alter. Das zeigt uns hier Akim, 12 Jahre alt, fast blind und taub, doch immer noch voller Lebensfreude.

Die moderne Forschung

Jede Welle ließ neue Erkenntnisse und Rückschlüsse zu. Die derzeitig vierte Welle bringt weitere interessante Neuigkeiten. Vor allem durch die Neurowissenschaft, die aufzeigt welche Prozesse im Gehirn ablaufen. Dabei werden auch die körpertherapeutischen Einflüsse auf die Resilienz betrachtet. Dieses Forschungsfeld zeigt sich vielversprechend und wird noch viel Gutes für uns und vor allem für unsere Hunde bereithalten. Als körpersensible Lebewesen sind sie sehr offen für diese Form der Therapie.

Die Forschung zeigt deutlich auf, dass die Resilienz ein Prozess ist und kein feststehendes Wesensmerkmale. Das macht ihre Möglichkeiten der Gesunderhaltung so interessant und besitzt einen großen Mehrwert für alle Lebewesen.

»Da alle resilienten Prozesse im Gehirn von Mensch und Hund ähnlich ablaufen, gelten viele Merkmale auch als übertragbar.«

Dein Hund kann resilient werden

Dank der Neuroplastizität des Gehirns kann eine Arbeit an der Resilienz immer Früchte tragen, egal wie alt dein Hund ist oder welche Vorgeschichte er hat.


Einige Hunde haben durch ihre Genetik, Persönlichkeit und den passenden Lernerfahrungen einen größeren Vorsprung und sind bereits sehr gut in diesem Bereich ausgestattet. Hier zeigt das „ganz normale Wunder“ der Resilienz täglich seine Wirkung. Ein gutes Beispiel konntest du bei unserer ersten Station am Meer lesen: Bella ist solch ein resilienter Hund. Sie hat sich angepasst und angemessen verhalten, ohne dass ein ständiger Eingriff durch Lilly nötig war. Andere Hunde dürfen hier noch wachsen und brauchen etwas mehr Unterstützung, um zukünftig gelassener mit Stress und Konflikten umgehen zu können.

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Die Neuronen im Gehirn eines Lebewesens sind stets aktiv, neue Informationen sorgen für eine gute Stimulation.

EXKURS NEUROPLASTIZITÄT

Das Datennetzwerk im Gehirn

Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, jederzeit neue Synapsen und Nervenzellen zu bilden. Ein Lernen von neuen Verhaltens- und Denkweisen ist immer möglich. Nach dem Motto „Use it or loose it!“ wird durch die Ansprache der Synapsen das Datennetzwerk ausgebaut. Ein gutes Beispiel dafür ist das „positive Denken“. Es sorgt für positive Emotionen und ist ein Faktor für Entspannung und Gelassenheit. Wird durch ein Training geübt, in vielen Dingen erst einmal das Positive zu sehen, statt gleich das Problem, sorgt die Neuroplastizität dafür, dass sich diese Art des Denkens ausweitet. Wie ein trainierter Muskel wird der Blick für das Positive immer stärker. Durch diesen Prozess stoßen wir positive Botenstoffe an, dadurch reagiert unser gesamter Organismus auf diese Veränderung. Das klappt auch bei deinem Hund!

Selbst bei Hirnschädigungen kann durch die Neuroplastizität vieles aufgefangen werden. Andere Areale im Gehirn übernehmen durch Training und regelmäßige Ansprache die Funktion. So ist unser Gehirn ein Anpassungswunder, geprägt durch das, was wir fühlen, denken und tun.

© Anna Auerbach/Kosmos

Nach stressigen Situationen wieder in die Entspannung zu finden, schafft vor allem ein resilienter Hund.

Die Resilienz erkennt man in der Krise

Ob dein Hund resilient ist oder hier noch wachsen darf, erkennst du erst klar und deutlich, wenn er vor einer potenziell belastenden Situation steht, sie erlebt hat und nachfolgend, wie schnell er wieder in ein entspanntes Verhalten findet.

Wie verhält sich dein Vierbeiner in unvorhersehbaren und neuen Situationen? Mit welcher Bewertung geht er in eine neue Begebenheit? Wie schnell schafft er sich nach stressigen Ereignissen zu beruhigen? Welche Strategien nutzt er, um einen Konflikt aufzulösen?

Die Antworten auf die Fragen sind genauso individuell, wie alles an deinem Hund. Denn was für den einen Hund ein kleines stressiges Erlebnis bedeutet, welches schnell wieder abgeschüttelt wird, kann für den anderen eine stark negativ behaftete Situation darstellen und einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

© Horst Streitferdt

Wie werden neue Situationen bewertet? Skeptisch, misstrauisch und eher ernst …

© Horst Streitferdt

Immer lieb? Einigen Rassen sagt man dieses nach. Manchmal zu ihrem Leidwesen, wenn ihre Gutmütigkeit über die Maße strapaziert wird.

DIE KRITISCHE RESILIENZBRILLE

Fast könnte man meinen, die Resilienz sei ein Allheilmittel. Doch wie jeder Aspekt im Hundetraining gehört auch ein wissenschaftliches und kritisches Durchleuchten dazu. Gerade bei unseren Hunden, die einen natürlicheren Umgang mit Verhaltensweisen wie beispielsweise der Aggression haben, kann schnell gedacht werden, ein resilienter Hunde sei immer lieb und brav, einfach zu erziehen und läuft problemlos überall mit. Solch ein Denken führt zu Missverständnissen und ist zudem stressverschärfend.

© Horst Streitferdt

… oder grundsätzlich offen, neugierig und in freudiger Erwartung?

Denn den „immer lieben“ Hund gibt es nicht immer. Wer so denkt, wird schnell enttäuscht oder frustriert sein. Doch es gibt wunderbare vierbeinige Persönlichkeiten, die es wert sind, sie anzunehmen mit all ihren Ecken und Kanten.

Wie viel Platz hat das natürliche Hundeverhalten in der Resilienz? Deinen Hund zu stärken, bedeutet auch Ideen, Meinungen und Motivation wachsen zu lassen. Es gibt Hunde, die sich gerne und leicht anpassen, genauso wie starke Persönlichkeiten mit einer hohen Motivation und eigenständigem Denken und Handeln. Die Hundewelt ist bunt in ihrer Vielfalt.

»Ein Training zur Veränderung des Denkens und Handelns ist jederzeit möglich.«

© Anna Auerbach/Kosmos

Andere Rassen müssen hier eher mit Vorurteilen kämpfen.

ZUSAMMENFASSUNG: WAS IST RESILIENZ?

Die Resilienz eines Lebewesens ist eine Art Meta-Kompetenz. Sie hilft, eigene Kompetenzen im Umgang mit Stress, Problemen und Widrigkeiten nutzen zu können, vor allem um geistig und körperlich gesund zu bleiben. Sie lässt neue Bewältigungsstrategien entdecken und Handlungsmöglichkeiten wachsen. Außerdem schafft sie Raum für Ruhe und Regenerationsphasen, damit die Kräfte wieder gesammelt werden, um im Alltag weiter bestehen zu können.

WAS IST RESILIENZ NICHT?

ein starres System

ein Tefloneffekt, an dem alles abperlt

eine Methode

ein einmaliges Training

nur von der Persönlichkeit abhängig

immer lächeln

nie wieder Stress oder Konflikte erleben

immer einen lieben Hund haben

© Anna Auerbach/Kosmos

Ein resilienter Hund mit eigener Meinung in bestimmten Situationen.

Die Reise der Resilienz

Komm mit auf den Weg zu mehr Gelassenheit und Krisen-Reaktionskraft! Du und dein Hund, ihr werdet mehr Stärke und Kraft für den Alltag gewinnen und sogar gestärkt aus den Widrigkeiten des Alltags herausgehen!

REISEVORBEREITUNG — DAS PUZZLE DER RESILIENZ

© Anna Auerbach/Kosmos

Puzzleteil 1:
Konflikt, Krise, Trauma und die Resilienz

Die Basis eines guten Trainings ist das Verständnis für den Hund und sein Verhalten, damit der gemeinsame Weg in die passende Richtung geht und keiner auf der Strecke bleibt.

Die Resilienz ist ein sogenanntes Multi-Faktoren Modell, d. h., sie ist abhängig von vielen Faktoren. Wenn du etwas in dem Bereich verändern möchtest, lohnt es sich, so individuell wie möglich darauf zu schauen und sich zeitgleich der Komplexität bewusst zu sein.

Da die Resilienz erst bei negativen Erlebnissen sehr wichtig wird, schauen wir uns einmal an, wann wir überhaupt von einer Krise, einem Konflikt oder sogar von einem Trauma sprechen.

© Stefan Holzinger (fellnasenshooting)

RESILIENZ HAT VIELE EINFLÜSSE
Rasseeigenschaft, Persönlichkeit, Lern- und Bindungserfahrung so wie die Umweltbedingungen.
Ein Konflikt bedeutet noch keine Krise, wenn das Stresssystem grundsätzlich stabil ist.

DER KONFLIKT

Ein Konflikt ist ein kurzzeitiges Ereignis. Es stellt eine Art kleine Herausforderung dar und bringt eine Anpassung des Verhaltens mit sich. Es kommt dabei noch nicht zu einem vollständigen Verlust der Sicherheit, sondern es ist eher ein kurzes Verlassen der Komfortzone.

© Horst Streitferdt

»Die persönliche Resilienz ist wie ein großes Puzzle aus vielen Teilen. Es dauert, bis es passend zusammengesetzt ist, es ändert sich sogar immer mal wieder. In der Gesamtheit zeichnet sich das Bild dann passend zum Mensch-Hund-Team ab.«

Daily hassles

Konflikte können als „daily hassles“ bezeichnet werden, sogenannte alltägliche Ärgernisse oder Unannehmlichkeiten, die es gilt zu bewältigen. Das Stresssystem wird dabei kurz hochgefahren und reguliert sich dann. Nach einiger Zeit befinden sich Körper und Geist weitestgehend wieder im Gleichgewicht. Es gibt auch Konflikte, die mehr Unterstützung brauchen, doch insgesamt werfen sie das Stresssystem nicht völlig aus der Bahn. Hier wirken noch die natürlichen Regulationsmöglichkeiten ohne große Mühe. Die Konfliktfähigkeit eines jeden Lebewesens ist von dem inneren Sicherheitsgefühl abhängig. Wurde ein Trauma erlebt, können sich aus kleinen Konflikten schnell große Krisen entwickeln. Die natürliche Regulationsfähigkeit funktioniert nicht richtig, hier spricht man auch von einem dysfunktionalen Konflikt- oder Stresssystem.

© Anna Auerbach/Kosmos

Hunde reagieren individuell auf Stress. Die Rassezugehörigkeit trifft keine alleinige Aussage über die Reaktionswahrscheinlichkeit.

DIE KRISE

Eine Krise ist grundsätzlich ein größerer Verlust des Sicherheitsgefühls. Ist sie nur kurzzeitig und das Lebewesen findet wieder zurück in ein entspanntes Verhalten, sagt man diesen Krisen nach, dass hier ein Wachstum möglich sei.

»Nach einer gesund überstandenen Krise ist die Resilienzkraft gewachsen.«

© Horst Streitferdt

In der Krise geht die Sicherheit verloren, der Umgang mit Stress zeigt sich hier besonders deutlich.

Neue Handlungsmöglichkeiten wurden entdeckt und das Wissen geschaffen, so etwas überstehen zu können. Daraus ergibt sich mehr Selbstwirksamkeit für die nächsten kleinen und großen Krisen. Allerdings braucht es hier mehr Kraftaufwand, um sich wieder in den regulierten Sicherheitszustand einzupendeln. Hier hilft eine gute Basis an Stress- und Resilienzkompetenzen. Bei uns Menschen kann dieses Resilienzwachstum im Unterschied zu Hunden sogar in Gedanken entstehen: Durch Selbstreflektion und Vorstellungskraft können wir uns bereits auf Stressoren einstellen und uns wappnen. Dieser Unterschied wird in der Verhaltenstherapie als „in vivo“ und „in sensu“ bezeichnet. Hunde werden übrigens ausschließlich „in vivo“ trainiert.

IN VIVO und IN SENSU

Die Verhaltenstherapie hat viele unterschiedliche Herangehensweisen.

In vivo (lat. im Lebendigen) bedeutet direkt vor Ort, also am Reiz mit dem Lebewesen zu arbeiten. So kann beispielsweise bei Höhenangst eine Konfrontationstherapie in der Höhe stattfinden. In sensu (lat. in der Empfindung) bedeutet, mit der Vorstellungskraft zu arbeiten – bei Menschen ein sehr wirkungsvolles Mittel, um Gedanken und Verhaltensweisen neu auszurichten. So können z. B. durch Rollenspiele zukünftige Situationen durchgespielt und damit besser gelöst werden. Bei Hunden arbeiten wir fast ausschließlich „in vivo“. Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn es um die Übertragung aus dem verhaltenstherapeutischen (Menschen-)Wissen auf den Hund geht.

Gerade die bei Hunden oft genannte systematische Desensibilisierung ist bei Menschen gut untersucht. Sie läuft in den meisten Fällen „in sensu“ ab. Eine Übertragung auf den Hund muss genau geprüft werden, bevor der eindeutig definierte Begriff verwendet wird. Bei unseren Vierbeinern würde man eher von einer Reizsensibilisierung „in vivo“ sprechen: also direkt am Reiz arbeitend.

Für Hunde bedeutet das, im alltäglichen Leben trainiert zu werden, um Erfahrungen zu sammeln und nicht unter sterilen Laborbedingungen. Nur so erhöht sich die Resilienz.

© Anna Auerbach/Kosmos

Ein Training im Leben, denn das lässt sich nicht aussperren.

© Anna Auerbach/Kosmos

Umso besser, wenn sich der Konflikt positiv auflöst.

DAS TRAUMA

Bei einem Trauma findet ein vollständiger Verlust der Sicherheit statt. Das Lebewesen schafft es kaum in ein entspanntes Verhalten zurück. Der Körper und Geist finden sehr schwer eine Bewältigungsmöglichkeit. Damit nicht allzu schnell von einem Trauma gesprochen oder umgekehrt ein Trauma nicht erkannt wird, ist es wichtig, den Begriff etwas genauer anzuschauen. Denn wird ein traumatisierter Hund als unerzogen eingestuft, entsteht ein ganz anderer Umgang mit ihm. Oder umgekehrt, ein unerzogener Hund, der kaum Grenzen kennt, wird in die Schublade „Trauma“ gesteckt. In beiden Fällen würde man nicht passend handeln, und der Hund oder die Umwelt sind die Leidtragenden.

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Trauma, Krise oder Konflikt? Es bedarf einer umfassenden Betrachtung, bevor beurteilt wird.

Begriffsdefinition Trauma

Ein Trauma beschreibt in erster Linie eine Verletzung. Diese kann auch körperlich sein, in dem die Haut oder der Knochen verletzt wird. Das Psychotrauma verletzt die Seele.

Es ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung. Es kann kurz oder lang anhaltend sein oder ein katastrophenartiges Ausmaß haben. Das Ereignis ruft bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervor. Diese Definition ist nach der Weltgesundheitsorganisation im ICD-11 Katalog zu finden, der dazu dient, Krankheiten und Gesundheitsprobleme zu klassifizieren.

Ist eine Bewältigung oder Kontrolle nicht möglich, kann eine Belastungsstörung entstehen. Hier spricht man von der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Selbst Menschen, die nicht unmittelbar bedroht worden sind, aber direkt dabei waren, können traumatisiert sein.

Ein Trauma bedeutet eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Das Vertrauen in einen selbst und in die Umwelt ist verloren. Gefühle wie Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit sind überpräsent. Das traumatisierte Lebewesen zeigt sich nachhaltig beeindruckt, und es finden kaum noch passende Regulationsprozesse statt. Es kommt zu einer ständigen Überreaktion des Nervensystems oder geht in die Erstarrung bis hin zur gefühlten Ohnmacht über.

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Entwicklungstrauma

Dieses Trauma hat seinen Ursprung in frühester Kindheit. In dieser Zeit sind die Mechanismen zur Verarbeitung noch nicht ausreichend vorhanden, um fortwährende negative Ereignisse zu bewältigen. Es besteht eine absolute Abhängigkeit gegenüber der Umwelt. Solche Ereignisse können andauernde Gewalterfahrungen, Hilflosigkeit, Ohnmachtsgefühle oder erlebter Missbrauch sein. Auch eine ständige Aktivierung des Stresssystems kann zu solch einem Trauma führen. Das junge Lebewesen fühlt sich einer dauerhaften Gefahr ausgesetzt. Bei einem Entwicklungstrauma verliert sich der Kontakt zu sich, seinem Körper, seinen Emotionen oder zu Teilen davon.

Die Auswirkungen sind tief greifend auf die Entwicklung der Psyche und des Gehirns. Eigene Bedürfnisse werden nicht mehr erkannt und ausgedrückt, wichtige Sozialkompetenzen in ihrem Wachstum unterdrückt, und das Bindungsverhalten zeigt gestörte Merkmale. Insgesamt findet ein in sich gestörtes Regulationsverhalten von Emotionen und Affekten statt. Bereits im Mutterleib haben solch prägende Erlebnisse einen Einfluss auf die Entwicklung des Stresssystems.