Triskele

Miku Sophie Kühmel

Triskele

Drei Schwestern. Ein Roman.

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Miku Sophie Kühmel

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Eigenlizenz

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Simone Andjelković

Coverabbildung: Julia GR

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491553-1

 

Yayoi Kusama

Die Erblasserin Simone Zinnober,

geboren am 9.1.1955 in Arendsee,

deutsche Staatsangehörige,

zuletzt wohnhaft in Arendsee,

ist am 29.2.2020 in Arendsee verstorben.

 

Sie vererbt an ihre Kinder

  1. Mercedes Zinnober, geb. in Arendsee am 21.3.1972

  2. Mira Zinnober, geb. in Arendsee am 3.3.1988

  3. Matea Zinnober, geb. in Arendsee am 3.10.2004

zu drei gleichen Teilen.

 

Dem Wunsch der Verstorbenen, die Katze Muriel als vierte Erbin einzusetzen, kann aus juristischen Gründen (§ 90a BGB) nicht nachgekommen werden.

Arendsee, den 26.3.2020

 

Meine lieben Töchter,

 

mit ein bisschen Glück bin ich jetzt tot, und ihr seid wahrscheinlich nicht besonders überrascht. Ihr habt es kommen sehen. Ich weiß, dass ich manchmal sehr laut darüber nachgedacht habe. Das mag eine Zumutung gewesen sein. Überhaupt: Ich musste mir mein Leben lang anhören, was für eine schlechte Mutter ich war. Weil ich zu jung war, zu alt oder zu mittel. Weil ich zu viel arbeitete oder zu wenig. Und wenn ihr ab heute von mir erzählt, könnt ihr euch aussuchen, wie genau ich jede Einzelne von euch verhunzt habe. Und spätestens dann werdet ihr drei Grazien merken: Einmal alle vier Jahre an mich denken langt.

Gerade sitze ich in Omis Garten, und in der Datscha schaut Muriel Tatort. Das ist wohl eine der wenigen Sachen, die ich bereue, nicht zu erleben: Wie sie versuchen, dieses verdammte Rundfunkorchestergejazze noch mal zu modernisieren. Und wie wir auf die Straße gehen werden dafür, mit Transpis und Trillerpfeifen. Denn wenn es um unseren heiligen Sonntagabend geht, dann verstehen wir keinen Spaß, nein nein: Wir sind das Volk, du bist Deutschland, Einigkeit und Recht und Tatort. Aber das wird mich alles nicht mehr betreffen.

Möglich wäre auch ein Ahorn – natürlich nur wegen der Nasen im Herbst, ist klar. Ohne lange Nase kann man das nicht ertragen, dieses Gestehe an Gräbern. Oder ihr findet eine Kastanie, dann ist aber Helmpflicht angesagt im Herbst, und ich habe jede von euch Füchsinnen schon einmal heimlich ohne Helm Rad fahren sehen, aber wehe, das schleift sich ein. Ihr wisst, jetzt erst recht: Eulenaugen sehen alles –

In der Küche steht der Dreck. Was der erste Abend zu Beginn lang erwarteter Sommerferien so anrichten kann.

Die Decken in dieser Wohnung hängen so tief, als wären sie stetig ein paar Zentimeter abgesunken, seit ich vor zwanzig Jahren ausgezogen bin. Auf dem Weg vom Gästebett durch den Flur bis hierher an den Kühlschrank bin ich immer wieder gestolpert, über abgestrampelte Hosen oder aus den Regalen gezogene Bücher. Wir haben das Ausräumen bis jetzt vor uns hergeschoben. Nur in einer Ecke im Arbeitszimmer habe ich schon Platz geschaffen, als ich vor Wochen hier eingezogen bin, mit meinem Handgepäckkoffer aus Aluminium, der nur ein paar Kleidungsstücke enthielt. Das meiste waren Unterlagen, farbechte Materialproben, Technik für die Videotelefonate.

In dem kleinen, leuchtenden Fenster sehen meine Kolleginnen nur mich, und nur das obere Drittel, in der Regel in eine Bluse gehüllt, die ich nach dem Ende der Meetings sofort abstreife, um in weichem Jersey den Rest des Tages zu bestreiten. Doch für diese halbe Stunde setze ich mich zusammen, knote die Haare nach oben, und ansonsten sieht man nur die in Marineblau

Ich ziehe die Kanne aus der Kaffeemaschine und gieße mir den kalten Rest von gestern Nachmittag ein; er ist hellbraun und eigenartig süßlich. Ich hatte vergessen, wie weich das Wasser in unserer Heimatstadt ist. Die tiefen Pastateller staple ich in den Topf. Vor ein paar Jahren hatte Mone das Geschirr mit Zwiebelmuster final verbannt und sich mit glatt-glänzend weißem Porzellan von Arcor eingedeckt.

In der Essecke hat sich eine Müllhalde angesammelt, leere Flaschen und Plastikverpackungen, von den Krümeln ganz zu schweigen. Es hat mich überrascht, wie viel Spezi in Mateas zierlichen Körper hineinpasst. Aber sie trinkt die Brausen wie Wasser, und wird von dem bisschen Extra-Koffein sicherlich nicht früher aufwachen als sonst. Ich bin froh um die Sommerferien und dankbar dafür, dass ich das Mädchen für die nächsten Wochen nicht mehr um halb sechs aus dem Bett scheuchen muss.

Die Uhr, die über der Tür zu ihrem Zimmer hängt und im Takt des roten Zeigers tickt, zeigt halb zehn. Da Mira ihre Ankunft für die Mittagszeit angekündigt hat, wird es vermutlich nicht vor fünfzehn Uhr werden. Ich atme schwer aus, zähle die Stunden, die mir bis zu ihrem Aufschlagen bleiben, und nehme mir vor, bis mindestens neun Uhr fünfundvierzig an dieser süßen kalten Tasse Kaffee zu trinken, den Wolken beim Sichverziehen zuzusehen, dem Zerren in meinem oberen Rücken nachzuspüren. Und sonst nichts.

Dabei flimmern, wie meist, wenn ich die Augen in

Auch damals hatte sich nur die halbe Hausgemeinschaft daran gehalten, und viele von denen, die ich als Kind fürchtete, wohnen immer noch hier. Einige haben sich mittlerweile halbiert, sind schwindsüchtig oder verwitwet. Omi hatte Mone diese Wohnung vermitteln können, über Kontakte, und für mich ergab das Sinn: dass eben Omis Kontakte so alt sein mussten wie sie und wir deswegen die einzigen Leute im Haus waren, deren Haarfarbe nicht mindestens Salz und Pfeffer war.

 

Mira sieht wie immer sehr schön aus, auf diese zerwühlte Mira-Art. Ihre wachen, klaren Augen leuchten auch, wenn rundherum der Mascara verwischt ist.

»Was machst du denn schon hier?«

»Da staunste, wa?« Mira imitiert sehr gern sehr schlecht den Berliner Dialekt. »Schon gut«, fügt sie an, bevor ich reagieren kann, und lässt ihre

»Oh Schwesterherz!«, und statt mich zu umarmen, bückt sie sich und streichelt der steinalten Russisch Blau über den Kopf, die Mira mit milchigen Augen mustert. Ich vergesse oft noch immer, dass es Muriel gibt. Sie ist hier eingezogen, lange nachdem ich fort war. Mone hat sie aufgenommen, weil sie nur drei Beine hat. Ein Mängelexemplar. Wenn schon so eine polierte Rassekatze, dann eine mit Behinderung. Wegen der Barmherzigkeit; obwohl wir noch nie religiös gewesen sind. Muriel bewegt sich lautlos und klaglos durch die Wohnung. Sie ist so groß wie ein Bügeleisen, und als Mira sie aufhebt und kost, sieht es ein bisschen aus, als würde die Katze sich ekeln. Die kleinen Schulterblätter unter dem Pelz drehen sich gegeneinander, ihr Schwanz kringelt sich ein. Weil sie aber von mir noch kein Frühstück bekommen hat, lässt sie die Umklammerung über sich ergehen. Schleimerin. Als könnte sie meine Gedanken hören, mustert sie mich, während Mira sie summend über die Schulter legt und in die Küche trägt.

»Huch, was war hier denn los? Bin ich zu spät zu ner Party?«

Mira kramt routinierter, als ich das von ihr erwarten würde, schließlich wohnt auch sie schon eine Dekade nicht mehr hier, eine Packung Kekse aus dem Schrank und setzt sich neben Muriel auf den Boden, die das Futter aus der kleinen Aluschale schlabbert und dabei unappetitliche Genussgeräusche von sich gibt – ein zerrendes Brummen ist das, verschlafen-befriedigt.

Ich setze eine frische Kanne Kaffee auf, was Mira mit einem wohligen Seufzen von ihrem Platz zwischen Heizung und Katze aus quittiert und sich weiter mit Kekskrümeln bestreut. Mira ist deutlich die Hübscheste von uns, aber sie hat wirklich sehr große Vorderzähne, mit denen sie Gebäck schon immer ein bisschen genagt hat wie ein Backenhörnchen. Ich erinnere mich dunkel daran, ihr das einmal gezeigt zu haben, als wir jung waren. Guck, so machen das Chip und Chap im Fernsehen, und dann hatte das kleine blonde Mädchen, mit dem ich nur die Augenfarbe teilte, wie wild drauflosgenagt. Selbst jetzt hält sie die Kekse mit acht Fingern wie ein sehr großer Feldhamster.

»Haft du an die Kartonf gedacht?«

»Selbftverftändlif!«, antworte ich. Mir war noch beigebracht worden, dass sich so was nicht gehört, mit vollem Mund umherzusabbeln. Aber als ich die letzten Male mit Mone gefrühstückt hatte, war auch sie trotz Birchermüsli in den Backen nie um eine laute Antwort verlegen gewesen. Solche Regeln, merkte ich spätestens da, konnten sich ändern.

Die Kaffeemaschine brodelt. Unser Schweigen

Mateas Haare sind tagsüber glatt, aber vor elf stehen sie strubbelig nach den Seiten ab. So wird sichtbar, dass sie sich blonde und kupferne Töne eingefärbt hat. Sie verbringt überhaupt einen ausnehmend großen Teil ihrer Zeit mit Färben, Cremen, Striegeln und nennt das Selfcare.

»Matimatimati!«

Mira wickelt sich fröhlich um die nackten Beine derselben, die immer nur in überlangen T-Shirts schläft, die sonst so gar nicht in ihre Garderobe passen wollen: viele haben florale Muster oder Animal Print, auf den meisten steht eine Form von Fast Fashion Poesie, sporty spirit endless summer florida easy come miami beach easy go royal palmes avenue united states …

Ohne hinzuschauen, wuschelt Matea Mira durchs Haar, wenig überrascht, vermutlich haben sie während Miras ganzer Herfahrt gechattet. Dann machen sie irgendeinen Witz, den ich nicht verstehe, und lachen so laut, dass Muriel sich verschreckt durch den Türspalt hinter Matea hindurch ins Dunkle drückt.

 

»Hier verändert sich einfach nie irgendwas, kann das sein?«

Miras große Augen tasten die Kleinstadt ab, die sich vor uns auf der Heckscheibe teilt. Hin und wieder lasse auch ich den Blick schweifen über eierschalenfarbene Doppelhäuser, Koniferenhecken, Hüpfkästchen auf den Gehwegen, Carports.

Ich will Mira gern widersprechen, dass sich die Dinge sehr wohl verändern, weil ich ihr gern widerspreche und

»Bis zur Tankstelle durfte ich gehen, bis dahin und nicht weiter!«

Tatsächlich hatte Mone ihr kurz vor dem Anbruch des neuen Jahrtausends verboten, allein bis in den Stadtkern zu laufen. Nur bis zur Tankstelle durfte sie Federball spielen, Roller fahren und mit dem Nachbarshund Schröder spazieren gehen. Die Regel war neu und hatte für mich in den Achtzigern nicht gegolten. Andererseits war zu der Zeit die Tankstelle kein so aufregender Ort gewesen, und die Innenstadt hatte mit wesentlich weniger bunten Schaufenstern und mehrstöckigen Drogerie-Tonträger-Spielwaren-Paradiesen gelockt. Kinderschänder gab es, laut Omi, in der DDR auch keine. Alles war eng, aber überschaubar, Arbeit war leicht zu finden, und eine Wohnung auch, und keiner musste Hunger leiden.

»KÖNNEN WIR ZUM ZIRKUS FAHRN

»Aber die stehen trotzdem hinten am Platz, ich seh die jeden Morgen vom Bus«, sagt Matea vom Rücksitz, »die haben Tiger und Krokodile!«

Ihre perlmutt-schimmernde Bomberjacke blitzt mich aus dem Rückspiegel an.

»Und Piraten, was ist mit Piraten? Und Räubern? Und Cowboy und Indianer?«, hakt Mira nach, ich weiß, sie zitiert ein Buch, aber mir fällt nicht ein, welches. Nach ihrem abgebrochenen Studium ist sie durch geisteswissenschaftliche Institute getingelt, erst nach fünf oder sechs Semestern fanden wir heraus, dass sie nicht mehr wirklich studierte, gelesen hat sie in dieser Zeit aber unendlich viel – und ich fand, dass das eher wie ein jahrelanger Urlaub klang.

Ich verschlucke die Frage, ob sie »Indianer« als Wort noch benutzen sollte, und fühle mich wie ein Familienvater vor dem Sonntagsausflug, als ich verkünde, dass wir vorbeifahren könnten, sobald wir das Leergut los seien. Während Matea im Rückspiegel lächelt, setzt Mira sich eine Sonnenbrille auf und dreht das Radio laut.

»Ach du Schande, Radio Brocken. Dass es das noch gibt«, sage ich.

Mira will lachen, aber als eine Moderatorin euphorisch die folgende Sternstunde irgendeiner Boygroup ankündigt, schaltet sie das Radio wieder aus, auch, weil Matea Laute von sich gibt, als müsste sie sich gleich übergeben. Keine der beiden bemerkt, dass wir gerade

Unser Zimmer hatte einen Erker, und weil es nach Südwesten ausgerichtet war, hatten wir den ganzen Tag über Licht. Wenn ich dort, in den Sitzsack gemummelt, saß und las, ging rechts von mir die Sonne auf – der Schatten meines Kopfes verlief über den Tag einmal im Bogen auf dem Dielenboden um mich her, als wäre ich eine Sonnenuhr, und am Abend schien mir das orange Leuchten wärmend in mein linkes Ohr. Mone und ich lebten dort in einer Art Wohngemeinschaft, einer staatlich gestifteten. Schließlich brauchte es pro Kopf nur ein Zimmer, mit sozialistischen Formeln gerechnet, und ein Kinderkopf zählte höchstens halb so viel. Anderthalb Zimmer: Das waren der Raum mit dem Erker und die Kartoffelkammer. Der Rest der Wohnung war von Omi bewohnt. Omi, die mir auch mit Mitte vierzig schon uralt vorkam und die immer früh aufstand, um das gute Fleisch zu kaufen und mit Glück ein paar Erbsen im Glas. Daraus kochte Mone dann Essen für uns alle, weil Omi noch arbeitete und den ganzen Tag im Wald war. Omi kümmerte sich um Mone, und Mone konnte sich deshalb um mich kümmern, die zärtliche Hand weiterreichen.

Noch heute träume ich hin und wieder davon, in dieses Haus zurückzukehren und dort eine alte Frau zu sein, in Omis Schaukelstuhl vielleicht – doch das Haus ist kernsaniert und glatt geschmirgelt, vielleicht haben sie den Holzboden erhalten. Wahrscheinlicher ist, dass sie alles mit Terrakotta planiert haben. Landhausgefühle,

An den Containern sind wir für uns. Um die Wette schmeißen wir Gläser ein und rufen dabei die Farben WEISS GRÜN BRAUN WEISS WEISS BRAUN BRAUN.

Vielleicht ist es die Verlassenheit der Nebenstraße, in der die Luft sich staut. Vielleicht ist es, weil die Gläser nach dem Werfen zerbrechen, bald stehen wir jedenfalls in einer Wolke aus üblen Gerüchen. Fliegen surren um den Container wie wild, sie sind laut, der Boden unter unseren Schuhen ist klebrig, und als Matea das letzte Silberzwiebelglas eingelocht hat, sacken ihre Schultern nach unten. Sie lehnt sich mit der neuen Jacke, ich will erst intervenieren, an den vergilbten Weißglascontainer, zieht die Nase hoch. Als Mira und ich zu ihr gehen, wird Matea dabei immer kleiner, ein stilles Schluchzen entweicht ihr, viel Luft und kaum Stimme. Mira wickelt sich erneut um sie, diesmal obenrum, und ich bin mir nicht sicher, ob Matea das hilft, aber wenigstens rutscht sie so nicht zu Boden und verdirbt sich ihre Klamotten komplett. Es wird immer heißer, diese Straße ist wie ein

Mira streichelt ihren Kopf, verzwirbelt zärtlich die blonden und kupfernen Strähnen zu Spiralen. Ich bin mir nicht sicher, ob das Matea beruhigen soll oder sie selbst, während sie nachfragt:

»Die Zwiebeln?«

»Ja. ›Wurschtperlen‹ hat sie dazu gesagt.«

»Wurschtperlen?«

»Ist ja widerlich«, entfährt es mir, und Matea nickt verheult.

»Ja, ultrawiderlich.«

Wir lachen. Nicht aus voller Kehle, aber immerhin lachen wir, jede ein bisschen, und Matea zittert etwas weniger. Es ist die Stille zwischen den Sätzen, die besonders schmerzt. Es ist eine Stille, in die Mone etwas sagen müsste, in der ich sie wenigstens anrufen können müsste und fragen, was wir tun sollten, was Matea jetzt beruhigen würde. Ihre Taten haben nicht immer für sie gesprochen – zu meiner Zeit war sie zum Beispiel entschiedene bis militante Vegetarierin gewesen, von wegen ›Wurschtperlen‹ –, aber wenn jemand reden konnte, dann sie. Dieses Talent habe ich nicht von ihr geerbt. Als Kind war es mir meist peinlich, wie viel sie sprach, und das auch noch mit jedem, der ihr begegnete. Als sie mich das erste Mal während des Studiums

Erst als meine Freundin Leni mich zu ihren Eltern in einen Vorort Stuttgarts mitgenommen hatte, verstand ich, was das in diesem neuen alten Land für ein himmelweiter Unterschied war. Ob sie Marke trugen oder nicht, ob sie Marke fuhren oder nicht, ob sie Marke aßen oder nicht. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie vor ihren Eltern geoutet war oder ob die nicht vielleicht

Was ich nicht verstand, war der freiheitliche Umgang mit den größeren Dingen; nach dem Studium etwa fragte Leni niemand. Sie war eingeschrieben für Kunstgeschichte (ohne Lehramt!), und solange ihre Eltern nicht wussten, dass sie wohl niemals mit einem Verlobungsring von einem Medizin- oder Juraball kommen würde, interessierte das alles wenig. Einmal tätschelte ihr Vater ihr lächelnd die Hand, während sie von den Plänen für ihre Abschlussarbeit erzählte, als wäre ihm daran am wichtigsten, dass seine Tochter sich nicht langweilte. Ich war zu dieser Zeit mit meinem Studium beinahe fertig und arbeitete nebenher, illustrierte auftragsweise und hatte mich mit Mone früh darauf geeinigt, dass ich Graphikerin werden sollte, weil das keine der Horrorkarrieren war, vor denen die improvisierte, weil postrevolutionäre Berufsberatung mich das

Ich hatte alle meine Pflichtfächer belegt, aber schlich mich in den freien Stunden gern in die Vorlesungen der Kunstgeschichte. Am liebsten saß ich bei einem Professor, der über Großstadtexpressionismus um 1900 sprach. Leni saß in der letzten Reihe, machte aber einmal eine besonders bemerkenswerte Bemerkung. Ich weiß noch, dass es um Sterne ging. Sie war dabei weit zurückgelehnt, und ihre Stimme trug durch den ganzen Saal. Dass sie einen Kaugummi kaute, machte es noch lässiger. Für den Rest des Semesters setzte ich mich in ihre Peripherie. Ich hatte den Eindruck, dass sie meistens nicht zuhörte, ihre Beobachtungen waren aber so spannend und so konzis gefasst, dass ich der Überzeugung war, sie müsse zwei Gehirne haben: eines, das aufpasste und lauschte, und eines, das leise mit den Kommilitoninnen flüsterte und kicherte. Das erste hatte mich für sie eingenommen, das zweite musste ich gewinnen. Nur wie?

»Was, ›Lenin‹?«, fragte ich tumb nach, als ich mich in der Raucherecke dazu überwunden hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen und ihr Feuer anzubieten, und sie sah mich für eine Sekunde an wie ein Reh auf der Fahrbahn. Dann lachte sie und sagte, das sei ihr wirklich noch nie passiert, »nein, Leee-niii!«. Ich nickte und rauchte ein bisschen schneller, lehnte mich an den warmen Sandstein des Unigebäudes. Leni. Das mochte ich. Den Klang. Sie rauchte Parisienne, was ich prätentiös

»Meinen Namen nicht kapieren und selbst Mercedes heißen, echt.«

 

Der Zirkus ist genau der richtige Ort, an dem uns so ein Moment hätte passieren sollen: dramatisch und nostalgisch und aus der Zeit gefallen. Aber so ist das Leben nicht, ein paar große Gesten, die Highlights des Spiels zusammengeschnitten und dazwischen stimmungsvolles Stock Footage – die Umbrüche lauern im Kleinen. Ein Stolpern auf gebohnerter Treppe oder eine Ampelphase, die nicht abgewartet wird, können uns in der Mitte durchtrennen, und ein Nervenzusammenbruch passiert gegebenenfalls ungeduscht zwischen Gurkengläsern. Auf dem Vorplatz des Zirkus stehen wir dann einfach nur da, zwischen Wohnwagen und Käfigen. Keine Schwanenfrau am Eingang, kein Clown, der Popcorn verkauft. Einzig: der auf seiner Stange kauernde Graupapagei, der, als er unserer ansichtig wird, noch immer ruft: »süß oder salzig«. Die Höcker der Kamele und Dromedare hängen an den Seiten hinab, während die Träger sich dünne Beine in weiche Bäuche stehen, wie Ballons, aus denen ganz langsam die Luft entweicht.

Das um sich greifende Elend ist bei Tageslicht ohne kreischende Kinder und blinkende Plastikspielzeuge

 

Mira arbeitet sich durch die Küchenschränke in Eiche rustikal, durch mehrere Dekaden Porzellan und Besteck – dass es zwischen dem aktuellen weißen und dem alten Zwiebelmuster auch eine petrolfarbene und eine zitronengelbe Phase gegeben hat, war mir gar nicht klar gewesen. Das meiste hiervon spenden wir, während Mati ihr eigenes Zimmer in Boxen verstauen soll.

Ich sitze im Schlafzimmer, packe für jede von uns eine Kiste mit Andenken – ein Tipp von witweninfo.de. Alle drei Boxen sind halb voll mit den fast unbenutzten Pullovern Mones; im Klimakterium hatte sie zu frieren aufgehört. Wir lauschen dabei nur dem wackligen Rhythmus der anderen: durch die Zimmertüren ein undeutliches Gerumpel. Ein Zeichen, dass wir alle da sind. Meine Hände riechen nach altem Staub, nach Zedernholzplättchen aus den Nullerjahren, Lavendelbeuteln aus den Neunzigern und Mottenkugeln aus den Achtzigern, während Schränke und Nachttische als ausgehöhlte Gerippe dastehen. Nur die alte Kommode im Flur, die drei Schubladen hat, jede unterschiedlich groß und auf ihre eigene Weise schwergängig, lassen wir. Die nehmen wir mit, wie sie ist, obwohl sie weder in meine, noch in Miras Einrichtung so recht passen wird. Sie ist eines der wenigen Möbel, die wir alle von jeher kennen und die keine Überarbeitung erfahren hat. Über ihren Ursprung wissen wir nichts, und es lebt niemand mehr, den wir fragen könnten. Die Kommode steht da, mit

 

Achteinhalb Stunden bevor der Speditionsservice Brandt, der hoffentlich nichts mit Markus Brandt aus meiner Abiturklasse zu tun hat, vor unserer Tür steht, verklebe ich die letzte Box. Obwohl die Pappkartons sich in allen Zimmern und selbst dem schmalen Flur stapeln, hallt die Wohnung nun unter unseren Schritten, als Mira und ich zu Mateas Zimmertür gehen, um ihr gute Nacht zu sagen, ihr vielleicht zuzusprechen, dass alles irgendwie – wenn auch nicht schön, dann erst mal neu und irgendwann wieder Gewohnheit – werde. So etwas in der Art habe ich jedenfalls im Kopf, aber üblicherweise redet Mira besser. Das hat schon mit Mone so funktioniert, und Matea hat immerhin die gleichen strengen Augenbrauen wie sie.

Als wir die Zimmertür öffnen, trifft den Boden ein Schlag: ein Bündel unaufgefalteter Umzugskartons kippt um und begräbt unter sich ein Wirrwarr aus Klitter. Ein Chaos aus Kabeln und Steckern und CD-Hüllen, sogar Laufwerke und außerdem ein Haufen Feenstaub: Perlen und Federn und Glitzer und glitzernder Kleber und glitzernde Scheren und Haarbänder und fluoreszierende Stifte, und überall verstreut liegt bunter

Der Schrei steigt in meiner Kehle hoch und schwillt an, mir wird heiß, im Gehörgang fühle ich die tickenden Sekunden der Uhr über der Tür, noch sechseinviertel Stunden, und ich bin hundemüde und der Zeitplan wäre perfekt aufgegangen –

RAM