Geschichten Ohne Strom
Eine Anthologie
AlphaLimaEchoXray - Andrea Nesseldreher - Christina Marie Huhn - Ella Stein - Judith Hages - Markus Mattzick - Michael Krause-Blassl - Nico von Cracau - Tira Beige - Tom U. Behrens
Das Buch
Das Buch:
An einem Nachmittag im Sommer fällt der Strom aus.
Komplett. Keine Elektrizität aus der Steckdose, keine Dynamos, keine Batterien funktionieren. Der Verkehr kommt zum Erliegen, die Wasserversorgung bricht zusammen und die Telekommunikation fällt aus.
Ein Szenario für postapokalyptische Geschichten.
Aber nicht nur: Zehn Autorinnen und Autoren haben Gedichte und Geschichten über diese Welt »Ohne Strom« geschrieben. Der Reiz dabei ist einerseits, dass die meisten aus einem anderen Genre kommen und in diesem „Ohne Strom“ geschrieben haben, und einige den Sprung gewagt und genrefremd gearbeitet haben.
Ein Gedicht und vierzehn Kurzgeschichten bieten kurzweilige Unterhaltung.
Michael Krause-Blassl
Gedichte ohne Strom
GEDICHT
Eine Zukunft ohne Strom? Für viele undenkbar. Das Gedicht zeigt auf erschreckende Weise, was uns bevorstehen könnte.
Andrea Nesseldreher
Insel ohne Strom
KINDERGESCHICHTE
Zwei Kinder, zwei Diebe und ein Stromausfall auf einem Schiff. Eine spannende Kindergeschichte über zwei mutige Geschwister, die über sich hinauswachsen.
Ella Stein
Katharina
oder
Hotel ohne Strom
BEZIEHUNGSDRAMA
In der Ehe von Lorenz und Nicole kriselt es immer wieder, auch während des gemeinsamen Trips in die Berge. Kurz bevor der Strom ausfällt, lernt er an der Hotelbar die attraktive Katharina kennen.
Tom U. Behrens
Der Schattenmann
oder
Aufzug ohne Strom
THRILLER
Es sollte ein perfekt kalkulierter Auftragsmord werden. Doch der Schattenmann hat nicht damit gerechnet, während eines Stromausfalls mit seinem Opfer in einem Fahrstuhl festzustecken …
Tira Beige
Verwegenheit ohne Strom
EROTIK
Lea lässt sich auf einen gewagten Flirt mit dem verheirateten Nils ein. Ist der Stromausfall vielleicht ein Zeichen dafür, noch einen Schritt weiterzugehen?
Markus Mattzick
Schrei ohne Strom
POSTAPOKALYPSE
Ein Stromausfall sorgt auf einer deutschen Autobahn dafür, dass das Chaos ausbricht und Menschen zum Äußersten getrieben werden. Hier bekommt jeder, was er verdient...
Markus Mattzick
Herbst ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Dirk muss sich nach dem Stromausfall in Umbach zurechtfinden. Er erlebt hautnah mit, wie die Gewalt die Oberhand gewinnt und gerät dabei selbst in Lebensgefahr.
Markus Mattzick
Weihnachten ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Auch Tobias ist ein Opfer des Stromausfalls in Umbach geworden. Weihnachten steht er vollkommen isoliert da und ringt sich zu einem letzten, tragischen Ausweg durch …
Christina Marie Huhn
Stromlos am See
oder
See ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Eine Dorfgemeinschaft wird durch einen Stromausfall erschüttert. Mine und Juliane versuchen jeden Tag aufs Neue ihr Leben zu meistern. Doch wie lange noch?
Judith Hages
Aus
oder
Heimweg ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Während eines Stromausfalls bricht Panik aus. Mitten auf der Straße findet Marie ein kleines Mädchen namens Ida. Da deren Mutter vor wenigen Minuten verstorben ist, muss Marie die Rolle als Ersatzmutter übernehmen – und das mitten im größten Chaos ihres Lebens.
AlphaLimaEchoXray
Tagebuch des Grauens
oder
Familie ohne Strom
TWITTERTHREAD/POSTAPOKALYPSE
Das Leben geht weiter – auch ohne Strom? Auf authentische Weise beleuchtet der Twitterthread, wie die Tage aussehen könnten, wenn das Schreckensszenario einsetzt.
Nico von Cracau
Allein ohne Strom
HORROR
Mathilda arbeitet als Krankenschwester. Sie steckt mit einem gerade erst Verstorbenen in einem Aufzug fest, als mit einem Schlag der Strom ausfällt. Bald ist sie nicht nur allein mit ihrer Angst, sondern wird auch von Hunger und Durst überfallen, die sie zum Äußersten treiben …
Markus Mattzick
Wanderschaft ohne Strom
HORROR
Stefan und Marion flüchten nach einem Stromausfall aus der Zivilisation hinein in die Natur. Hier treffen sie auf ein Rudel verwilderter Hunde, das sie angreift und so dafür sorgt, dass die Menschen selbst zu Tieren werden.
Ein Buch entsteht selten als Einzelarbeit.
Diese Anthologie ist all denen gewidmet, die Autorinnen und Autoren mit Rat und Tat zur Seite stehen! Vielen Dank für eure Hilfe!
Vorwort
Hallo,
und willkommen (zurück) in einer »Welt Ohne Strom«!
Zehn Schreibende haben sich dorthin getraut und ihre Eindrücke mitgebracht. Die Bandbreite reicht von Lyrik und einer Kindergeschichte über Beziehungsdrama und Thriller, bis hin zu Horror und Erotik. Dazu noch Postapokalyptisches und als besondere Literaturform ein Twitterthread.
Genau wie im Roman »Ohne Strom - Wo sind deine Grenzen?« spielt die Ursache des Stromausfalles keine Rolle, es geht darum, wie Menschen die Folgen eines Blackouts auf sehr verschiedene Weisen erleben.
Spannende Unterhaltung wünschen
Alex, Andrea, Christina Marie, Ella, Judith, Michael, Nico, Tira Beige, Tom und Markus
»Der äußere Fortschritt hat uns vom Ochsenkarren zum Düsenflugzeug geführt, aber innerlich hat sich das Individuum überhaupt nicht verändert.«
(Krishnamurti)
Ohne Strom
wird das Leben sehr schwer
ohne Strom
geht vieles nicht mehr.
Ohne Strom
platzt die dünne Schicht
von Kultur und Zivilisation
ohne Strom
scheinen Frieden und Liebe
wie Lügen und Hohn.
Ohne Strom
müssen wir weit in die Natur zurück
ohne Strom
finden wir nur in Kleinigkeiten
ein wenig Glück.
Ohne Strom
gilt es nur zu überleben
ohne Strom
wird es vieles nicht mehr geben.
»Wir haben Ideale ohne Zahl gehabt,
alle heiligen Bücher sind voll davon,
doch wir sind weiterhin gewalttätig.«
(Krishnamurti)
Über Michael Krause-Blassl
Michael fiel mir das erste Mal auf Facebook auf, wo er einerseits in verschiedenen Gruppen, in denen ich ebenfalls bin, Lyrik teilte, aber auch, weil er jemand ist, der in der Gegend um Wetzlar öfter Lesungen gehalten hat (aktuell wegen Corona etwas weniger). Nach einem ersten Kontaktversuch meinerseits war er es dann auf einmal, der mich kontaktierte, weil er (musikalische) Unterstützung für eine Lesung benötigte. Unsere gemeinsame Bekannte Andrea Nesseldreher hatte mich empfohlen.
Schnell haben wir festgestellt, dass wir gut harmonierten und nachdem ich ihn bei einer Lesung musikalisch unterstützt hatte, haben wir eine erste gemeinsame Lesung gehalten, weitere Veranstaltungen folgten. Wir hoffen, dass wir ab Sommer da wieder etwas mehr machen können.
Der pensionierte Lehrer hält Schreibkurse an der VHS und für Kinder, schreibt sowohl Lyrik als auch Prosa und ist das Genre betreffend für mich schwer einzuordnen. Seine spannende Vita führte schon zu dem einen oder anderen längeren Gespräch.
http://www.wüstenvogel.de
Die Geschwister standen auf dem Sonnendeck der Autofähre »Uthlande«, die sie zur Insel Amrum bringen sollte. Die Geschwister waren die einzigen Passagiere an Deck, denn es nieselte, war windig und kalt. Ihre Eltern saßen im warmen Salondeck und tranken Kaffee und »Tote Tante«, so nannte man hier im Norden heißen Kakao mit einem Schuss Rum.
Anna zog die Kapuze ihrer Regenjacke fester um den Kopf und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Nordsee. Die Wellen trugen Schaumkrönchen und bewegten sich beinahe so, als wären sie lebendig. Trotz des Seegangs stampfte die behäbige Fähre unbeirrt gegen den Wind an und bewegte sich auf ihre Lieblingsinsel zu. Das Wummern der Dieselmotoren war auf dem Schiff allgegenwärtig.
»Wer den Leuchtturm als Erstes sieht, hat gewonnen!«, rief Finn.
»Und muss dem anderen im Café Pustekuchen ein Eis ausgeben!«, erwiderte seine Schwester Anna. Sie hielt ihrem Bruder die Hand hin und Finn schlug ein.
»Abgemacht!«
Es war Tradition unter den Geschwistern, nach dem Amrumer Leuchtturm Ausschau zu halten. Schlechtes Wetter konnte sie nicht davon abhalten. Finn blickte über die Reling auf das Autodeck unter ihnen. 75 Autos fanden dort in fünf engen Reihen Platz. In der letzten Reihe stand außerdem ein großer LKW. Er trug den Aufdruck der Supermarktkette, die auf Amrum einige Läden betrieb.
Finn bemerkte, dass eine schwarz gekleidete Gestalt sich zwischen die Autos schob. Die Person sah sich nach allen Seiten um und machte sich an einer Autotür zu schaffen. Finn stieß Anna an.
»Guck mal, der da, der sieht aus, als ob er das Auto aufbricht«, sagte er leise und deutete auf das Autodeck.
»Stimmt, mit Schlüssel wäre das Auto schon offen.«
Die dunkel gekleidete Gestalt öffnete nun die Tür, schob sich auf den Fahrersitz und stieg nach wenigen Sekunden mit einem kleinen, schwarzen Gegenstand in der Hand wieder aus.
»Das ist ein Navi!«, flüsterte Finn aufgeregt. »Der hat das Navi geklaut!«
Eine zweite Person, mit einer dunkelgrünen Jacke bekleidet, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, tauchte in der Autoreihe auf, hielt der ersten Gestalt einen Rucksack hin und das offensichtlich geklaute Navi verschwand darin.
Die erste Gestalt machte sich an zwei weiteren Autos in gleicher Weise zu schaffen, stieg kurz ein und reichte der Zweiten mehrere Gegenstände, die diese im Rucksack verschwinden ließ.
Atemlos und starr vor Entsetzten beobachteten Anna und Finn die Diebe. Diese sahen sich zwar immer wieder um, hatten die beiden Kinder auf dem Sonnendeck aber noch nicht entdeckt. Vermutlich gingen sie davon aus, dass sich bei Wind und Nieselregen dort niemand aufhielt.
»Die klauen Navis!«, hauchte Anna.
»Krass! Was machen wir denn jetzt?«, überlegte Finn.
»Mach mal einen Film, als Beweis!«
»Gute Idee.« Finn zog sein Handy aus der Tasche und richtete die Kamera auf die Diebe, die gerade ein weiteres Auto aufbrachen. Er beendete die Aufnahme, nachdem ein weiteres Gerät in den Rucksack gewandert war. Anna bemerkte einen Totenkopf-Aufdruck auf dem Rucksack.
»Gibt’s hier an Bord Polizei?«
»Ich glaub nicht. Wir sagen erst mal Mama und Papa Bescheid.«
Die Geschwister liefen zu ihren Eltern und berichteten aufgewühlt, was sie beobachtet hatten. Der Vater runzelte die Stirn. »Und ihr seid sicher, dass es Diebe waren?«
»Auf jeden Fall, das haben wir genau gesehen«, sagte Finn.
»Können wir vom Schiff aus die Polizei anrufen? Und die verhaftetet die Diebe dann am Fähranleger?«, fragte Anna.
»Das ist eine gute Frage. Wir sollten den Kapitän einschalten«, schlug die Mutter vor. »Geht ihr zur Brücke, ich bleibe hier.«
Finn, Anna und ihr Vater machten sich auf den Weg zur Brücke. An der Tür wollte einer der Seeleute sie abfertigen. »Es tut mir leid, wir können im Augenblick keine Fahrgäste auf die Brücke lassen. Wir haben Ostwind und extremes Niedrigwasser, die Mannschaft braucht alle erdenkliche Konzentration, um das Schiff in der Fahrrinne zu halten. Beim nächsten Mal können Sie gerne einen Blick auf die Brücke werfen.«
Papa kratzte sich am Kopf. »Wir möchten nicht zusehen, sondern eine Stratftat melden.«
»Eine Strafttat?«
»Ja, meine Kinder haben beobachtet, wie Autos aufgebrochen und Gegenstände entwendet wurden.«
»Ich hab einen Film als Beweis.« Finn hielt sein Handy hoch.
»Okay«, sagte der Mann. »Dann kommen Sie rein.« Er wandte sich an den Mann, der vor den Steuerinstrumenten saß. »Bernd? Kommst du kurz rüber? Ich übernehme für dich.«
»Bernd Krüger, Kapitän der Uthlande«, stellte sich der Angesprochene vor. Mit seinem dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Vollbart sah er wie ein echter Kapitän aus.
Papa stellte sich, Anna und Finn vor und die Kinder berichteten, was sie gesehen hatten. Finn zeigte sein Handyvideo.
Kapitän Krüger strich über seinen Bart. »Tatsächlich, das scheinen professionelle Autoknacker zu sein. Das habt ihr gut beobachtet«, lobte er. »Das ist in den letzten Monaten häufiger vorgekommen und es scheint, als hättet ihr die Täter auf frischer Tat ertappt. Ich benachrichtige die Polizei auf Amrum. Es wird dann eine Durchsuchung aller Personen und Gepäckstücke geben.« Er wandte sich an Finn. »Dein Video liefert dazu wichtige Hinweise. Man erkennt die Statur und die Kleidung die der Täter. Die Polizei befragt euch sicher auch.«
Anna und Finn kehrten mit stolz geschwellter Brust auf das Salondeck zur Mutter zurück. »Stell dir vor, wir werden als Zeugen befragt, wenn wir in Wittdün sind.«
Mama nickte lächelnd. »Da beginnt unser Urlaub ja gleich mit einem echten Abenteuer.« Voller Ungeduld rutschten Anna und Finn auf ihren Sitzen hin und her. Sie konnten kaum abwarten, bis die »Uthlande« endlich den Fähranleger von Wittdün erreichen würde. Anna starrte auf den Bildschirm, der die Schiffsposition anzeigte und wünschte sich, der blinkende Punkt, würde sich schneller bewegen. Vergessen war die Wette um den Leuchtturm.
»Können wir nicht schneller fahren?«, stöhnte Anna. Aber die Fähre stampfte mit derselben Geschwindigkeit durch das nordfriesische Wattenmeer, wie sie es immer tat.
Mit einem Mal erstarb das eintönige Wummern der Dieselmotoren. Irritiert blickten sich die Fahrgäste um. Die Gespräche an den einzelnen Tischen verstummten und es war geradezu gespenstisch still.
»Was ist denn los?«, fragte Anna in die Stille hinein. Papa zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« Im Flüsterton fügte er hinzu: »Es ist wohl mit dem Motor etwas nicht in Ordnung. Bestimmt gibt es gleich eine Durchsage von Kapitän Krüger.«
»Das Licht ist aus«, bemerkte Finn. Zwar war es helllichter Tag, über den Tischen im Salon waren die Lampen dennoch angeschaltet gewesen. Nun brannten sie nicht mehr. Auch der Bildschirm war dunkel.
Ringsherum wurden wieder Stimmen laut. »So ein Mist!«, schimpfte ein Mann am Nachbartisch, der an seinem Laptop gearbeitet hatte. »Jetzt ist der Strom weg. Hoffentlich ist meine Datei nicht kaputt, wenn der Strom wieder angeht«, sagte er zu der Frau, die ihm gegenübersaß. »Müsste es nicht eigentlich mit dem Akku laufen?«, fragte die Frau.
»Mein Handy geht auch nicht«, hörten sie jemanden von einem weiter entfernten Tisch sagen.
»Vielleicht hat die Polizei das Schiff gestoppt?«, überlegte Finn. »Wegen der Diebe?«
»Das glaube ich nicht. Und selbst wenn, gäbe es keinen Grund den Strom auszuschalten«, sagte Papa.
Eine Weile geschah nichts. Die Fahrgäste unterhielten sich und spekulierten, was passiert war. Unruhig standen einige auf, gingen zwischen den Tischen entlang und sahen sich um. »Was ist denn hier los?«, fragte ein Fahrgast eine der Bedienungen, die ebenfalls ratlos um sich blickten.
Gerade als jemand sagte »Ich gehe jetzt zum Käpt´n, ich will wissen was los ist«, näherten sich Kapitän Krüger und zwei weitere Männer in Uniform der Schiebetür zum Salon. Normalerweise hätte sich die Tür automatisch geöffnet, aber jetzt tat sich nichts. Der Kapitän öffnete eine Klappe oberhalb der Tür und entriegelte sie. Dann schob er die Tür von Hand beiseite und trat ein.
»Moin. Werte Fahrgäste, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass unser Schiff einen Motorschaden erlitten hat und auch sonst alle Systeme ausgefallen sind.«
Ein Raunen ging durch die Anwesenden.
»Sie haben sicher bemerkt, dass der Strom an Bord des Schiffes ausgefallen ist. Wir haben dafür keine Erklärung. Weder Funkgeräte noch Telefone funktionieren. Daher haben wir auch keine Möglichkeit, Hilfe von Amrum oder vom Festland anzufordern.« Kapitän Krüger sah sich um. »Funktioniert eines Ihrer Handys?«
Wer bislang noch nicht auf sein Handy geschaut hatte, nahm es nun in die Hand, nur um festzustellen, dass bei allen Geräten das Display dunkel blieb. Kapitän Krüger erntete nur Kopfschütteln. Das Gemurmel wurde lauter.
»Wir werden langsamer.«
Finn sah aus dem Fenster. Das Schiff trieb zwar weiter vorwärts, hatte aber deutlich an Fahrt verloren.
»Was passiert jetzt?«, rief jemand.
»Wie kommen wir hier weg?«
Anna umklammerte Mamas Hand. »Sinkt das Schiff jetzt?«, flüsterte sie. In ihre Augenwinkel stahlen sich Tränen.
Kapitän Krüger antwortete an Mamas Stelle. »Nein, Anna.«
Anna freute sich, dass er sich an ihren Namen erinnerte.
»Das Schiff wird ganz sicher nicht sinken«, sagte er leise zu ihr.
Dann wandte er sich laut an alle anderen Fahrgäste: »Im Augenblick sind wir manövrierunfähig. Unser Bordmechaniker wird versuchen, den Motor wieder in Gang zu bringen, aber sicherheitshalber werden wir das Schiff evakuieren. Bitte bewahren Sie Ruhe und halten Sie sich an die Anweisungen der Crew.«
Das anfänglich verhaltene Raunen verwandelte sich schlagartig in lautes Stimmengewirr. Alle redeten und riefen durcheinander, Kinder begannen zu weinen, Hunde bellten und viele Fahrgäste sprangen aufgewühlt auf. Einige wollten an den Crew-Mitgliedern vorbei laufen, um auf das Autodeck zu gelangen. Kapitän Krüger hielt sie auf. »Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass Sie das Autodeck nicht mehr betreten dürfen.«
»Warum?«
»Ich will doch noch meine Sachen holen!«
»Meine Papiere sind im Auto!«
»Ich brauche meinen Rucksack, da sind wichtige Medikamente drin!«
Der Kapitän schüttelte jedoch energisch den Kopf. »Wenn jeder noch Gepäck mitnimmt, sind die Rettungsboote überladen, das kann ich nicht verantworten.«
Als er das Wort Rettungsboot erwähnte, schrien mehrere Fahrgäste erschrocken auf. Eine Frau wies aus dem Fenster. »Bei dem Wetter in einem Rettungsboot? Wie soll das gehen?«
«Wir werden alle sterben!«, jammerte eine Frau mit panischer Stimme.
Finns Augen weiteten sich. Papa der bislang ruhig geblieben war, stand nun ebenfalls auf. »Bitte bleiben Sie ruhig! Panik bringt uns nicht weiter!«, rief er in die Menge.
Der Kapitän blickte ihn dankbar an und ergänzte. »Es besteht keine unmittelbare Gefahr. Wir beginnen nun mit dem Abfieren der Rettungsinseln.«
In diesem Moment durchfuhr ein heftiger Ruck das Schiff und es kam unmittelbar zum Stehen. Diejenigen, die gestanden hatten, stürzten zu Boden oder konnten sich gerade noch irgendwo festhalten. Auch Papa strauchelte und taumelte gegen Anna. Einige schrien, andere stöhnten. Wieder war Kinderweinen zu hören.
Jetzt wurde auch der ruhige Kapitän unruhig. Mit gehetztem Blick sah er sich um. »Ist jemand verletzt?«
Niemand antwortete. Einige Personen rieben sich Schulter oder Knie, aber ernsthafte Blessuren schien niemand zu sein haben. Der Kapitän atmete auf.
»Was war das?« Finn sprach aus, was alle dachten.
Einer von der Crew antwortete. »Wir sind vermutlich auf eine Sandbank längs der Fahrrinne aufgelaufen. Wir haben ablaufendes Wasser und der Ostwind treibt das Wasser noch schneller hinaus als gewöhnlich. Die Fahrrinne ist an dieser Stelle relativ eng und wir haben das Fahrwasser verlassen.«
Finn blickte aus dem Fenster und stellte fest, dass in unmittelbarer Nähe zum Schiff tatsächlich eine Sandbank lag, die in regelmäßigem Abstand von den Wellen überspült wurde.
Die Crew begann, die Passagiere in Gruppen von etwa 20 Personen einzuteilen, darum bemüht, Familien nicht zu trennen. Jeder der Seeleute und der Stewards, die für die Bewirtung an Deck zuständig waren, sprach den Menschen aufmunternde oder beruhigende Worte zu, denn allmählich spitzte sich die Situation zu. Einige Personen, mehrere Kinder und zwei ältere Damen hatten zu schluchzen begonnen und waren kaum noch zu beruhigen. Einige andere versuchten sich vorzudrängeln. Kapitän Krüger sorgte mit befehlsgewohnter Stimme jedoch rasch für Ordnung.
»Es besteht kein Grund zur Panik oder zum Drängeln. Wir haben ausreichend Rettungsinseln an Bord. Sie werden gerade klar gemacht. Es bekommt jeder einen Platz, das garantiere ich Ihnen.«
Finn fiel erst jetzt auf, wie viele Personen sich an Bord der Fähre befanden. Er konnte schlecht schätzen, aber mehr als 500 mussten es sein. Finn, Anna und die Eltern waren mit der ersten Gruppe auf das Sonnendeck geschleust worden, weil sie zufällig dicht an der Tür gesessen hatten.
Finn dachte an die Diebe. Die Diebstähle interessierten im Augenblick aber keinen mehr. Vermutlich hatte der Kapitän zwar vor dem Stromausfall über Funk eine Meldung an die Polizeistation auf Amrum abgesetzt, doch jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
Draußen erhielten Anna, Finn und ihre Eltern eine Rettungsweste, die sich im Inneren der Sitzbänke an Deck befanden. Einer der Seeleute sorgte dafür, dass alle die Westen korrekt anlegten.
Zwei Mitglieder der Crew waren dabei, einen kleinen Behälter mithilfe eines Krans ins Wasser abzulassen. An langen Seilen wurde der Kasten mit einem Kran über Bord gehievt.
»In die kleine Kiste sollen alle Passagiere hineinpassen?« Finn riss ungläubig die Augen auf.
Einer der Seeleute hörte ihn und rief ihm zu: »Eine solche Rettungsinsel kann 200 Personen aufnehmen.«
Die weiße Box hatte die Wasseroberfläche erreicht und tanzte auf den Wellen. Einer aus der Crew löste mit einem Seil den Mechanismus aus. Die Box klappte auf und mittels Druckluft wurde eine gigantische Rettungsinsel aufgeblasen.
Dicht an der Bordwand entlang wurde ein schlauchartiges Gebilde aus Stoff angebracht, in dessen Inneren sich eine Treppe aus Netzgewebe befand. Zwei Crewmitglieder kletterten über die Reling nach unten in die Rettungsinsel, die sich inzwischen vollständig entfaltet hatte und einem riesigen, teilweise überdachten Schlauchboot glich. Die ersten Passagiere kletterten vorsichtig die schwankende Behelfstreppe hinab und kamen wohlbehalten unten an.
Anna und Finn standen mit den Eltern dicht an der Reling und beobachteten alles genau. Während Anna stumm die Hand der Mutter umklammerte, stellte Finn pausenlos Fragen. Einige konnte der Vater beantworten, andere Informationen erhielten sie von den Seeleuten.
»Warum funktioniert der Kran ohne Strom?«
»Das ist ein Davit-Kran, der funktioniert nur mit Schwerkraft.«
Nun waren auch Anna, Finn und ihre Familie an der Reihe. Mama stieg als Erste hinab. »Es ist gar nicht so schwierig, Anna!« rief sie. »Nur Mut!«
»Das ist so ähnlich wie das Klettergerüst auf dem Spielplatz.« Auch Finn versuchte seiner Schwester Mut zu machen. Ganz einerlei war ihm jedoch selbst nicht, als er hinter ihr her kletterte. Die Nottreppe schwankte unter seinen Schritten. Finns Herz klopfte bis zum Hals und er war erleichtert, als Mama ihn unten in Empfang nahm. Papa folgte als Letzter.
Sie fanden einen überdachten Sitzplatz. Es nieselte noch immer. Der Wind hatte zwar abgeflaut, doch war er kräftig genug, um die Rettungsinsel schaukeln zu lassen. Finn und Anna waren froh über ihre warmen Jacken. Finn beobachtete die Evakuierung des Schiffes. Zwei weitere Rettungsinseln wurden besetzt. Anna dagegen wollte nichts davon sehen und vergrub ihr Gesicht an Mamas Brust.
Die Seile, die die Insel noch mit der »Uthlande« verbanden, wurden gekappt und das Gefährt trieb rasch mit der Strömung davon. Die beiden Crewmitglieder hatten die in der Insel verstauten Ruder übernommen und stießen die Insel immer wieder von der nahen Sandbank ab.
»Wir haben Glück«, rief der eine den Passagieren zu. »Das ablaufende Wasser zieht uns in Richtung Amrum und der Wind weht aus der richtigen Richtung. Wenn es gut läuft, treiben wir direkt auf den Wittdüner Hafen zu.«
»Stimmt, wir sind ja direkt vor Wittdün!«, rief Finn. Anna blickte auf. Der Wittdüner Fähranleger war nur wenige hundert Meter entfernt.
Die meisten Passagiere hatten sich inzwischen beruhigt, vereinzeltes Schluchzen und leises Gemurmel war zu hören. Der kühle Wind ließ die meisten frösteln. Familien saßen dicht nebeneinander, viele umarmten sich.
Finn hörte dem leisen Gespräch der beiden Seeleute zu.
»Anscheinend hat noch keiner mitbekommen, dass wir Hilfe benötigen.«
»Wie auch? Wir konnten ja weder funken noch telefonieren.«
»Aber wir sind so dicht vor Amrum, da muss doch einer von der Insel sehen, was hier los ist.«
»Das kann ich mir auch nicht erklären.«
Finn blickte zum Fähranleger. Sie waren ein gutes Stück näher gekommen, aber weder kam ihnen ein Schiff zu Hilfe, noch waren Personen zu sehen, die die Ankunft der Rettungsinseln vorbereiteten. Finn drehte sich um und konnte drei weitere Rettungsinseln hinter der ihren erkennen. Alle wurden vom Wind und dem Sog des ablaufenden Wassers in die gleiche Richtung getrieben und schaukelten nur ein paar dutzend Meter voneinander entfernt auf dem Wasser.
»Da!«, rief plötzlich einer der Seeleute. »Da ist einer von der Reederei!«
»Hallo! Hilfe! Wir brauchen Hilfe!«, schrie der andere.
Die Passagiere, die gesessen hatten, standen nun auf und begannen ebenfalls laut zu rufen.
»Hilfe!«
»Wir sind in Seenot!
»SOS!«
Alle schrien durcheinander. Der Reedereimitarbeiter wurde aufmerksam und gab winkend Handzeichen.
»Er hat uns gesehen«, sagte Anna erleichtert.
»Warum tun die nix?«, fragte Finn.
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte einer der Seemänner wütend. »Die sollen ein Schiff schicken, das uns in den Hafen schleppt.«
»Und wo bliebt eigentlich die »Ernst-Meier-Hedde«?«
Finn wusste vom letzten Urlaub auf Amrum, dass das der Name des Seenotrettungskreuzers war, der im Amrumer Seezeichenhafen lag und bei Notfällen zum Einsatz kam.
Sie waren inzwischen so nah an den Amrumer Hafen heran getrieben, dass sie verstehen konnten, was der Mann am Ufer rief.
»Können nichts tun! Stromausfall!«, brüllte er aus Leibeskräften.
»Stromausfall?«
»Auch auf der Insel?«
»Und warum fährt dann kein anderes Schiff mehr?«
Die gleichen Fragen schwirrten quer über die Rettungsinsel und nun wurden die Passagiere doch wieder unruhig. Einer sprang sogar auf und begann, seine Kleidung auszuziehen. »Ich schwimme jetzt, ich will nicht mehr warten, bis wir hier ertrinken!«
Die beiden Seeleute hatten ihre liebe Not, alle zu beruhigen.
Der Mann am Ufer hatte weitere Männer herbeigerufen. Einige Personen kamen aus dem Reedereigebäude gelaufen und trugen Bündel auf ihren Armen.
Die Seeleute und vier weitere Passagiere versuchten nun mit Hilfe der Paddel, die Rettungsinsel in Richtung der Kaimauer zu bewegen. Sie paddelten aus Leibeskräften und nach ein paar Minuten war das scheinbar Unmögliche geschafft. Sie warfen den Männern am Ufer ein Seil zu, mithilfe dessen die Insel an den Rand der Kaimauer gezogen wurde. Jemand hatte eine Strickleiter organisiert und an einem Poller befestigt. Über die Leiter verließen die Geretteten die Rettungsinsel, allen voran ein kleines Mädchen. Von unten gestützt und von oben gezogen, stand sie bald darauf sicher am Ufer und eine Dame legte ihr eine Decke um. Auch Anna, Finn und die Eltern erhielten Decken.
»Ich würde Ihnen gerne etwas Warmes zu trinken anbieten, aber wir haben einen Stromausfall, scheinbar auf der ganzen Insel. Ich kann weder Tee noch Kaffee kochen«, sagte die Dame. Ein Schildchen an der Brust wies sie als Mitarbeiterin der Reederei aus.
»Danke, es geht schon«, sagte Mama.
»Wir sind erst mal froh, an Land zu sein.«
Die Familie umarmte sich. An der Kaimauer hörten sie ein Streitgespräch zwischen einem der geretteten Passagiere und einem Reedereimitarbeiter.
»Warum ist keine Rettungsmannschaft anwesend? Wo ist die Polizei? Was ist mit der Seenotrettung, die müssten doch längst vor Ort sein!«
»Es wusste niemand von der Havarie der Fähre. Wir haben erst vor ein paar Minuten gesehen, was passiert ist.«
»Wie kann das sein? Das ist ihr verdammter Job, sich um Verunglückte zu kümmern. Nicht mal Kaffee gibt es hier!«
»Wir haben einen inselweiten Stromausfall und haben mit anderen Problemen gekämpft. Es gibt nicht mal mehr Telefon.«
»Das wird Folgen haben. Ich mache sie schadenersatzpflichtig. Ich bin Anwalt.«
Der Reedereimitarbeiter zuckte die Achseln. »Wenn Sie meinen, dass Ihnen das was nützt.«
Der Mann war noch immer erbost, musste aber einsehen, dass er im Augenblick nichts ausrichten konnte.
»Der ist vielleicht doof!« Anna zog die Decke fester um sich. »Der soll froh sein, dass er nicht ertrunken ist.« Finn nickte. Er blickte noch einmal auf sein Handy, doch noch immer blieb das Display dunkel. Auch die Handys von Mama und Papa funktionierten nicht.
»Was passiert denn jetzt?«
Papa, der sonst auf fast alles eine Antwort hatte, wusste in diesem Fall auch keinen Rat.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Am besten, wir sehen uns nach einer Unterkunft um, bis die Fähre in den Hafen geschleppt wird und wir unser Auto wieder bekommen. Aber wie, ohne Internet und Telefon?«
Zwei Polizisten auf Fahrrädern trafen ein und notierten die Namen aller Geretteten.
»Wir müssen überprüfen, ob alle Passagiere der Uthlande gerettet wurden.«
»Das dauert aber noch, denn die Passagierlisten im Computer können wir wegen des Stromausfalls nicht einsehen.«
»Weiß man den Grund des Stromausfalls?«, fragte Papa.
»Leider nein. Es weiß auch niemand, warum keine Autos mehr fahren. Sie sind Touristen, nehme ich an?«, fragte der Polizist.
»Ja.«
»Haben Sie eine Unterkunft?«
»Jein«, antwortete Papa. »Wir wollen zelten und haben einen Platz reserviert. Aber unser Zelt ist im Auto an Bord der Fähre.«
»Ich kann Ihnen leider wenig Hoffnung auf ein anderes Quartier machen. Die Insel ist ausgebucht. Es ist Hochsaison.« Der Polizist blickte in Richtung der havarierten Fähre. »Außer vielleicht die 18 Uhr-Fähre kommt nicht und einige Betten bleiben deswegen frei. Aber ohne Telefon lässt sich das nicht koordinieren. Am besten, Sie begeben sich zum Campingplatz, vielleicht haben die eine Lösung.«
Dann wandte sich der Polizist dem nächsten Grüppchen zu. Die Menge der Geretteten aus der ersten Rettungsinsel löste sich allmählich auf. Einheimische machten sich auf den Heimweg, Touristen gingen zu ihren Unterkünften.
Finn, Anna und die Eltern mieteten Fahrräder im Fahrradverleih direkt am Fähranleger und Papa zahlte für drei Tage in bar. Bis dahin würde der Strom zwar sicherlich wieder da sein, aber dann konnten sie die Räder für Ausflüge über die Insel nutzen.
Glücklicherweise hatte es aufgehört zu nieseln, als sie sich auf den Weg durch Wittdün hindurch machten. Überall schnappten sie Gesprächsfetzen auf, in denen es sich um den Stromausfall drehte.
»Ich kaufe ein paar Brötchen«, rief Mama, als sie an der Bäckerei vorbei fuhren.
»Gute Idee.«
Sie hielten an und als Mama an der Reihe war, waren die meisten Regale leer. Nur ein halbes Dutzend Brote, ein paar Brötchen und etwas Kuchen waren noch zu sehen.
»Ich hätte gern zehn Brötchen.«
»Ich bedauere«, sagte die Verkäuferin. »Sechs Vollkornbrötchen kann ich Ihnen anbieten. Die Leute kaufen wie blöd, seit der Strom ausgefallen ist. Als ob der nicht bald wiederkäme.« Die Verkäuferin lachte.
Mama kaufte zusammen mit den Brötchen noch ein Brot und eine Kuchenplatte. Dann setzten sie ihren Weg fort und erreichten den Campingplatz nach zehn Minuten.
Der Campingplatzinhaber empfing sie in seinem Büro. »Familie Jung? Moin. Sie hatten reserviert, ich erinnere mich.«
»Ja, wir hatten reserviert, für ein Zelt. Aber die Fähre hatte einen Motorschaden. Wir wurden evakuiert und mussten unsere Campingausrüstung auf dem Schiff lassen. Ich habe keine Ahnung, wann wir unsere Sachen wiederbekommen.«
»Was denn, die Fähre auch? Hier bei uns springen die Autos nicht an. Und der Strom ist auf der ganzen Insel ausgefallen, soweit ich gehört habe. Merkwürdig.«
»Wir wissen jetzt nicht, wo wir unterkommen sollen. Die Insel ist wohl ausgebucht.«
»Das stimmt. Aber Sie haben Glück. Ich habe heute eine Stornierung reinbekommen für einen der Wohnwagen, die wir vermieten. Den können Sie für´s Erste haben.«
Mama atmete erleichtert auf. »So ein Glück! Vielen Dank!«
»Ich hab schon gedacht, wir müssten heute unter der Brücke schlafen«, scherzte Papa.
»Auf Amrum gibt es doch gar keine Brücke?« Anna sah Papa skeptisch an.
»Das ist ja das Schlimme!«, gab Papa zurück. Anna drehte ihm eine Nase.
Der Campingplatzinhaber nahm einen Schlüssel vom Schlüsselbrett und ging voraus. Während sie das Sanitärgebäude passierten, erklärte er: »Leider funktioniert wegen des Stromausfalls die Wasserversorgung nicht und natürlich können Sie momentan auch nicht in der Gemeinschaftsküche kochen. Aber Sie haben Gasherd und Toilette im Wagen, damit sind Sie unabhängig. Unser Laden hat noch geöffnet. Im Moment akzeptieren wir allerdings nur Barzahlung, bis die Kasse wieder funktioniert. Ihre Gastkarte kann ich Ihnen auch erst dann ausstellen. Ich denke aber, morgen ist alles wieder in Ordnung. So ein Stromausfall dauert ja nicht ewig.«
Er schloss den Wagen mit der Nummer sieben auf und zeigte ihnen alles. Anna und Finn begutachteten begeistert die Etagenbetten und stritten sofort, wer oben schlafen durfte.
Mama ließ sich auf die Sitzbank sinken. »Mein Gott, was für ein Abenteuer. So hatte ich mir unseren Urlaub nicht vorgestellt. Erst Seenot, dann Stromausfall und jetzt sitzen wir hier ohne unser Gepäck. Ich hoffe, das bald alles wieder normal ist.«
Papa nickte.
Dann stand Mama wieder auf und ging zur Tür. »Ich gehe uns etwas zu essen kaufen.«
Während die Mutter zum Einkaufen ging, erkundeten Anna und Finn den Campingplatz. Auf dem großen freien Platz vor den Versorgungsgebäuden standen Tische und Bänke. Einige waren besetzt und auf der vordersten Bank saßen zwei Mädchen. Das jüngere Mädchen schien in Annas Alter zu sein und beäugte die Geschwister neugierig. Das zweite Mädchen war deutlich älter und musterte sie abfällig mit mürrischem Gesichtsausdruck.
Dennoch sprach Anna die beiden an. »Hallo. Ich bin Anna und wer seid ihr?«
»Was geht´s dich an?«, versetzte die Ältere.
Die Jüngere stieß sie in die Seite. »Sei nicht so unfreundlich.« Sie wandte sich an Anna. »Ich bin Mia und das ist meine Schwester Kim. Sie ist sauer, weil sie nicht mit ihren Kumpels abhängen kann, sondern auf mich aufpassen muss.«
Kim schnaubte und wischte eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie trug einen Undercut mit lila gefärbten Strähnen.
Anna deutete auf Finn. »Das ist mein Bruder Finn. Wohnt ihr auch hier auf dem Platz?«
Mia nickte. »Ja, dort drüben im Zelt, mit unserer Mutter. Die ist gerade nicht da. Sie musste ins Krankenhaus nach Föhr und kommt nachher mit der letzten Fähre zurück.«
Kim fuhr sie an. »Musst du gleich alles austratschen? Das muss doch nicht jeder wissen.«
Mia grinste. »Mama will nicht, dass jemand weiß, dass wir Mädels alleine sind.«
Bei dem Wort Mädels verdrehte Kim die Augen.
»Sie hat immer Angst um uns. Aber erstens kann Kim mich beschützen, sie kann nämlich Taekwondo. Und zweitens kommt Mama gleich zurück.« Mia sah auf ihre Uhr. »Glaube ich zumindest, meine Uhr funktioniert nämlich nicht mehr. Genau wie Kims Handy.«
Kim stöhnte. »Erinnere mich bloß nicht daran.« Sie nahm ein Handy aus der Jackentasche und blickte darauf. »Ich wollte heute Abend noch meine Kumpels treffen. Aber ohne Handy kann man sich ja nicht verabreden.«
»Du sollst die eh nicht mehr treffen, hat Mama gesagt. Die sind kein Umgang für dich«, sagte Mia.
»Was weißt du schon.« Mit einem wütenden Schnauben steckte Kim das Handy wieder ein.
Jetzt schaltete sich Finn ein. »Handys funktionieren nicht mehr, auch kein Telefon und kein Strom. Autos fahren nicht und die Fähre, mit der wir gekommen sind, hatte einen Motorschaden. Wir waren in Seenot und sind mit einer Rettungsinsel nach Wittdün gekommen.«
Mia machte große Augen. »Echt?« Auch Kim zeigte sich ein kleines bisschen beeindruckt.
Finn und Anna berichteten über die Rettungsaktion. »Und weil der Motor von unserer Fähre nicht mehr lief und auch andere Motoren nicht laufen, könnte es sein, dass auch die Fähre nicht fährt, mit der eure Mutter kommen wollte.«
Kim kniff die Augen zusammen. »Du machst Witze!«, blaffte sie Finn an. »Dann muss ich den ganzen Abend bei dir bleiben.« Sie bedachte ihre Schwester mit einem wütenden Blick und verschränkte die Arme. »Na toll. Dann kann ich das Treffen mit Aik und Joris ja gleich vergessen.«
Mia hingegen schien Finns Vermutung zu ängstigen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Meinst du wirklich, dass Mama nicht kommt? Oder ist die Fähre vielleicht gesunken, wenn der Motor kaputt ist und Mama ist ertrunken?«
Kim rollte wieder mit den Augen. »Ach, so ein Quatsch. Du musst nicht alles glauben, was der da erzählt.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Finn. »Und hör auf zu flennen, du Heulsuse. Mama wird schon gleich kommen, die lässt uns doch nicht einfach im Stich.«
Finn ärgerte sich über Kims herzlose Reaktion. »Woher willst du das wissen? Du hast ja überhaupt nicht mitgekriegt, was da draußen los ist.«
»Ach ja und du bist der Seenotexperte, bloß weil du mit ´nem Rettungsboot hierher geschippert bist?«
»Nee, aber ich hab mitgekriegt, was alles nicht funktioniert und kann zwei und zwei zusammenzählen«, erwiderte Finn.
»Mitgekriegt, mitgekriegt«, äffte Kim ihn nach. »Du bist wohl Mister Oberschlau!«
Währenddessen hatte Anna einen Arm um Mia gelegt, der dicke Tränen über die Wangen kullerten. »Deine Mama wird schon bald kommen, wenn nicht heute Abend, dann morgen Früh.« Anna versuchte zu trösten. »Und nur weil der Motor bei so einem Schiff kaputt ist, geht es nicht gleich unter. Unsere Fähre ist auf eine Sandbank aufgelaufen und einfach stehen geblieben und nicht untergegangen.«
Obwohl Anna Mia Mut zusprach, konnte sie deren Angst verstehen. Sie selbst hatte sich sehr gefürchtet, als die Passagiere der Uthlande evakuiert worden waren. Mia wischte die Tränen vom Gesicht und sah Anna mit bangem Blick an. »Meinst du wirklich?«
Anna nickte. »Klar!« Sie drehte sich zu Finn und Kim um, die sich noch immer anzickten. »Hört auf, das bringt doch nix.« Die beiden verstummten.
In der Zwischenzeit hatte Mama im Laden die nötigsten Dinge eingekauft und trug alles in einem der Einkaufskörbe, die eigentlich nur im Laden verwendet werden durften. Weil sie keine Tasche dabei hatte, hatte die Verkäuferin ihr erlaubt, den Korb mitzunehmen und ihn später zurückzubringen.
»Wir essen jetzt zu Abend. Kommt bitte mit«, sagte sie zu Anna und Finn.
»Mama?« Anna hatte während des Gesprächs einen schnellen Entschluss gefasst. »Dürfen Mia und Kim bei uns mitessen?«
Irritiert blickte die Mutter sie an. »Warum denn das? Bestimmt gibt es bei ihnen auch gleich Abendessen.« Man konnte Mama ansehen, dass sie nicht begeistert darüber war, zwei fremde Kinder zum Abendessen einzuladen. Anna blieb hartnäckig.
»Nein, die beiden sind alleine hier, ihre Mutter ist im Krankenhaus und kommt erst morgen wieder zurück. Wir haben uns gerade angefreundet. Bitte Mama!« Anna lächelte zuckersüß. Kim und Finn war jedoch anzusehen, dass sie sich alles andere als angefreundet hatten.
Mama zögerte und blickte zwischen den Kindern hin und her. »Na gut, meinetwegen. Aber nur, weil heute irgendwie so ein komischer Tag ist.« Mama lächelte die fremden Mädchen an. »Ihr könnt gerne bei uns mitessen.«
Kim sah sie mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Überraschung an. »Nee, danke, ich bin nicht scharf auf Familienabendessen. Geh du ruhig mit, Mia, ich komm allein zurecht.«
Mia stemmte die Hände in die Hüften. »Du hast Mama versprochen, auf mich aufzupassen. Also halt dich gefälligst dran.« Zu Mama sagte sie: »Meine Schwester ist gefährlich, sie kann Taekwondo. Legen Sie sich nicht mir ihr an!«
Mama sah zu Kim, die mit finsterem Blick auf den Boden starrte und nickte. »Ja, das werde ich mir merken.« Man sah ihr an, dass sie auch vorher schon der Überzeugung gewesen war, mit Kim solle man sich besser nicht anlegen.
Kim lenkte ein. »Von mir aus!«, knurrte sie.
Und so kam es, dass Familie Jung mit zwei wildfremden Mädchen zu Abend aß. Auf dem Gaskocher im Wohnwagen hatte Mama zwei Dosen Ravioli warm gemacht. Weil es kein fließendes Wasser gab, wischte sie die Teller anschließend mit einem Tuch ab und verteilte unter den Kindern noch Schokolade. Mama hatte auch eine Packung Teelichter gekauft und als es dunkel wurde, zündeten sie einige davon an und spielten ein Kartenspiel, dass sie im Wohnwagen gefunden hatten.
»Eigentlich ganz romantisch, so ein Stromausfall«, meinte Anna.
»Na, ich kann mir Schöneres vorstellen«, erwiderte Mama.
»Morgen ist der Strom sicher wieder da«, sagte Papa.
Später brachte Papa Kim und Mia ebenfalls mit Kerzenlicht zu ihrem Zelt – trotz Kims Protest. Im Wohnwagen lagen Finn und Anna in ihren Betten - mit normalen Kleidern und in Bettzeug ohne Bettwäsche, denn ihre Schlafsäcke und die Koffer mit den Kleidern und Schlafanzügen waren noch auf der Fähre. Um das Zähneputzen waren sie nicht herum gekommen - Mama hatte im Laden auch Zahnbürsten gekauft.
Am